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Wirtschaft Bundesweiter BIP-Vergleich

„Berlins Aufholjagd“ – Plötzlich macht die Hauptstadt Deutschland stärker

Finanzredakteur
42.000 Pro-Kopf – Berlins Bruttoinlandsprodukt wächst

Die deutsche Hauptstadt hatte es in den vergangenen Jahren nicht leicht: Das Wirtschaftswachstum hat den nationalen Durchschnitt jedes Jahr nach unten gezogen. Doch das hat sich geändert.

Quelle: WELT

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Arm, aber sexy – das war einmal. Jetzt liegt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Berlin erstmals über dem deutschen Durchschnitt. Grund dafür ist der Berliner Wirtschaftsboom der vergangenen Jahre. Und der Aufschwung dürfte weitergehen.

Seit Jahren kursiert im Internet eine Infografik mit einer klaren Botschaft: Berlin ist die einzige Metropole eines Industriestaates, die beim Wirtschaftswachstum den nationalen Durchschnitt nach unten zieht. Balken von verschiedener Länge zeigen an, dass keine andere Hauptstadt oder Hauptstadtregion in ihrem Land wirtschaftlich so schwach dasteht wie Berlin in Deutschland. Der Stadtstaat hat bildlich gesprochen den kürzesten Balken.

Nun werden sich Berlin-Skeptiker eine neue Illustration suchen müssen. Denn seit 2019 übersteigt das in der Hauptstadt erzielte Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf erstmals den deutschen Mittelwert – und hebt damit den Schnitt. Die Statistischen Ämter der Länder haben dazu gerade neue Zahlen vorgelegt. Demnach hat jeder Einwohner der Spree-Metropole vergangenes Jahr Güter und Dienstleistungen erzeugt, die einen Wert von knapp 42.000 Euro hatten. Das lag leicht über dem bundesweiten Pro-Kopf-BIP von 41.400 Euro.

Quelle: Infografik WELT

Grund dafür ist der Berliner Wirtschaftsboom der vergangenen Jahre, mit dem die Kapitale ihr „Arm-aber-sexy“-Image abgeschüttelt hat. Wie die Zahlen der Statistiker zeigen, hat kein Bundesland seit der Finanzkrise ein so starkes Wachstum erzielt wie Berlin: Zwischen 2009 und 2019 ist der Marktwert der dort produzierten Güter und Dienstleistungen um 54 Prozent nach oben gesprungen.

Damit ließ der Stadtstaat sogar Bayern und Baden-Württemberg hinter sich, lange Zeit die ökonomischen Zugpferde im Westen der Republik. „Vor allem in den zurückliegenden fünf Jahren hat sich Berlin als wirtschaftlich dynamischer Standort erwiesen, die Wachstumskurve ging seither ziemlich steil nach oben“, sagt Oliver Holtemöller, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Experte für regionale Wirtschaftsentwicklung. Im Jahr 2019 wuchs die Wirtschaft der Metropole an der Spree sogar um drei Prozent, mehr als alle in allen anderen Bundesländern. Die gesamte deutsche Volkswirtschaft schaffte nur 0,6 Prozent Zuwachs.

Ein Teil der Dynamik erklärt sich mit der starken Zunahme der Bevölkerung. Seit 2009 hat sich die Einwohnerzahl Berlins von 3,269 Millionen auf 3,769 Millionen erhöht, es sind also rund 400.000 Menschen dazugekommen, die Einwohnerzahl einer Großstadt wie Bochum. Nirgendwo sonst gab es einen so starken Zustrom.

Zuwanderung führt zur Immobilienhausse

„Auch die Erwerbstätigkeit hat zugenommen, die Produktivität gleichwohl nicht so sehr“, erklärt Holtemöller, der auch die Abteilung Makroökonomik am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) leitet und stellvertretender Präsident des IWH ist. Nach Angaben des Statistischen Landesamts Berlin-Brandenburg hat sich die Zahl der Erwerbstätigen seit 2009 um beachtliche 23 Prozent erhöht, doppelt so stark wie im Bund. Der Beschäftigungsboom hat mit zu einer breit angelegten Immobilienhausse beigetragen, von der nicht zuletzt die Bauwirtschaft enorm profitierte.

Das Bevölkerungswachstum ist jedoch nicht der einzige Grund für den Berlin-Boom. In den Jahren vor Corona floss sehr viel Geld in junge Unternehmen des Technologie- und Dienstleistungssektors. Start-ups siedelten sich in Deutschland mit Vorliebe an der Spree an.

Dennoch ist die Vorstellung von der Wirtschaftsmetropole Berlin, die wie ein Magnet alle Wertschöpfung weit und breit anzieht, eine Illusion. Denn überdurchschnittlich ist die Wirtschaftskraft an der Spree nur im Vergleich zum ganzen Land, das auch einige Problemregionen wie das Ruhrgebiet oder das Saarland umfasst.

Quelle: Infografik WELT

Die hoch industrialisierten westlichen Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg stellen es bei der Wirtschaftsleistung pro Einwohner ebenso in den Schatten wie die beiden anderen Stadtstaaten der Bundesrepublik. Hamburg bringt es mit 66.900 Euro auf ein BIP pro Kopf, das rund 60 Prozent über dem Berliner Stand liegt. Auch andere Großstädte Westdeutschlands, die Sitz internationaler Konzerne oder großer Mittelständler sind, kennen ein deutlich höheres Wohlstandsniveau.

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Was die Corona-Krise für die Wirtschaftsentwicklung bedeutet, ist noch schwer abzuschätzen. Teile des Dienstleistungssektors wie Reise oder Gastronomie leiden unter Reise- und Kontaktbeschränkungen. Andere Bereiche profitieren davon, zum Beispiel Telearbeit und digitale Anwendungen. Was Services anbelangt, von der Verwaltung bis hin zu Fintech, macht keine Region in Deutschland Berlin etwas vor.

Der Dienstleistungssektor stand 2019 für 86 Prozent der gesamten Wirtschaft. Über die Volatilität des Jahres 2020 hinaus bietet das Chancen. Die meisten Ökonomen erwarten daher, dass sich der Aufstieg der Kapitale nach der aktuellen Pandemie fortsetzen wird. „Berlins Aufholprozess dürfte weitergehen. Denn der Trend zu urbanen Ballungszentren ist ungebrochen“, sagt Holtemöller.

Es ist wohl mehr als ein Zufall, dass Berlin jetzt mit Delivery Hero nach der Deutschen Wohnen einen zweiten Konzern im Deutschen Aktienindex (Dax) bekommt. Die beiden Dax-Neuzugänge des Jahres 2020 kommen aus der Hauptstadt und repräsentieren Wirtschaftszweige, die für den Berlin-Boom charakteristisch sind: Die Deutsche Wohnen steht für die Immobilien, vor allem für Wohnimmobilien, Delivery Hero für Essens-Lieferdienste. Der Dax-Neuling, der am 24. August im Börsenoberhaus Wirecard ablöst, ist in 43 Ländern der Welt aktiv, freilich nicht in der Bundesrepublik.

Trotz dieser Erfolge bleibt die Metropole im internationalen Vergleich weiter eine Anomalie. Denn normalerweise konzentriert sich in Hauptstädten, die zugleich die größte Metropole ihres Landes sind in hohem Maß Wertschöpfung und Wohlstand. So liegt die Wirtschaftskraft im Großraum Paris, der Ile de France, fast drei Viertel über dem französischen Durchschnittswert.

In Großbritannien und in Belgien tragen die Hauptstädte sogar noch mehr zum nationalen Reichtum bei. Extremfall unter den großen EU-Volkswirtschaften ist die Republik Polen. Wer in Warschau lebt, erwirtschaftet im Schnitt weit mehr als das Doppelte des polnischen Durchschnitts, 28.500 Euro gegenüber 12.900 Euro. Die Menschen der ärmste Region Polens, Lubelskie, werden von den Hauptstädtern ökonomisch sogar um gut das Dreifache überragt.

Auch innerhalb Deutschlands gibt es erheblich regionale Unterschiede. Die Einwohner Hamburgs erzeugen in Euro gerechnet 2,3 mal mehr Güter und Dienstleistungen als die Menschen in Sachsen-Anhalt, dem ökonomisch schwächsten Bundesland. Einem BIP pro Kopf von fast 67.000 Euro stehen weniger als 29.000 Euro gegenüber.

Quelle: Infografik WELT

Allerdings sind solche Diskrepanzen in Europa nicht unüblich. Die europäische Statistikbehörde Eurostat vermeldet sechs EU-Länder, in denen die Wirtschaftsleistung der reichsten Region die der ärmsten um den Faktor drei in den Schatten stellen, neben Polen sind das Rumänien, die Slowakei, Ungarn, Tschechien und Irland.

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In einer Hinsicht hebt sich Europas größte Ökonomie, Deutschland, vom europäischen „Normalzustand“ ab: Das politische Zentrum beherbergt kaum internationale Großunternehmen, die von dort aus operieren. Selbst mit seiner nun leicht überdurchschnittlichen Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung bleibt Berlin weit hinter anderen Kapitalen zurück.

So verzeichnen die Statistiker für London ein BIP pro Kopf von 64.200 Euro, Banken, Versicherungen und anderen Konzernen sei Dank. Die Ile de France mit Paris wartet mit 59.700 Euro pro Kopf auf.

Im Deutschen Reich war Berlin auch Wirtschaftszentrum

Noch in jüngerer Vergangenheit waren die Verhältnisse umgekehrt. Vor dem Zweiten Weltkrieg galt Berlin nicht nur als Hauptstadt der Politik und der Kultur, sondern auch als ökonomisches Kraftzentrum des Deutschen Reiches. Unter historisch interessierten Ökonomen kursiert denn auch eine andere Grafik.

Sie stammt von dem Wirtschaftswissenschaftler Nikolaus Wolf und zeigt, dass sich Deutschlands Kapitale vom Kaiserreich über die Weimarer Zeit und sogar über den Weltkrieg hinaus innerhalb Deutschlands durch eine weit überdurchschnittliche Wertschöpfung auszeichnete. Selbst zur Zeit der Teilung konnte Berlin mit anderen deutschen Großstädten mithalten. Erst in den 1980er-Jahren begann der ökonomische Abstieg der Metropole, der der Stadt schließlich den Ruf einbrachte, „arm, aber sexy“ zu sein.

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