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Forschungsbericht 2017 – Schwerpunkt: Gesundheit von Kindern und Jugendlichen

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Forschungsbericht

Forschung und Entwicklung

Schwerpunkt: Gesundheit von Kindern und Jugendlichen

2017

ZĂźrcher Fachhochschule

www.zhaw.ch


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Gesundheit von Kindern und Jugendlichen

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Rund um die Geburt Auch depressive Mütter fokussieren auf das Kind Das Netzwerk der Hebammen nutzen

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Interventionen bei Säuglingen und Kleinkindern «Hands on – hands off» Mobil mit dem E-Rolli Mit dem Körper handeln lernen

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Gesundheit von Schulkindern Fundament für ein gesundes Leben Wenig Fakten, viel Meinung bei ADHS

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Erwachsen werden mit Hindernissen Erschwerter Ablösungsprozess Ein Leben lang im Abseits

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Fünf Forschungsstellen unter einem Dach

18 Forschungsstelle Ergotherapie 19 Forschungseinblick: Den Emotionen auf der Spur 21 Projektauswahl 22 Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften 23 Forschungseinblick: Tragendes Netzwerk für die Sturzprävention 25 Projektauswahl 26 27

Forschungsstelle Hebammenwissenschaft Forschungseinblick: Wochenbettbetreuung für alle dank vernetzter Hebammenarbeit 29 Projektauswahl 30 Forschungsstelle Pflegewissenschaft 31 Forschungseinblick: Schulungsprogramm mit Hand und Fuss 33 Projektauswahl 34 Forschungsstelle Physiotherapiewissenschaft 35 Forschungseinblick: Smarte Hilfe für mehr Beinfreiheit 37 Projektauswahl

38 Zahlen und Fakten 39 Impressum

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Geschätzte Leserinnen und Leser

Andreas Gerber-Grote

Markus Melloh

Wie steht es um die Gesundheit und die Versorgung von Kindern und Jugendlichen? In unterschiedlichen Projekten, von denen einige im ersten Teil dieser Broschüre beschrieben sind, fokussieren die Forscherinnen und Forscher am Departement Gesundheit auf ausgewählte Aspekte dieser Fragestellung. Denn Antworten darauf zu finden, ist uns wichtig. In den ersten Lebensjahren legen wir das Fundament für unser Gesundheitsverhalten im Erwachsenenalter, die frühe Phase ist daher wegweisend. Um die wissenschaftlichen Erkenntnisse innerhalb des Themenschwerpunkts weiter voranzutreiben, haben wir am Departement Gesundheit Ende 2016 einen Call für entsprechende Forschungsvorhaben lanciert. Die Beteiligung war gross. Wir freuen uns, einige der Anträge in naher Zukunft als neue erfolgreiche Projekte umgesetzt zu sehen. Dass Fachhochschulforschung auch im Bereich Health Technology in der höchsten Liga mitspielen kann, zeigt unter anderem das von Horizon 2020 geförderte Projekt «XoSoft» (vgl. S. 35). Die Voraussetzungen dafür sind gut: Die Drittmittel unseres Departements liegen stabil bei über zwei Millionen Franken, wobei Stiftungen und NGOs sowie die öffentliche Hand nach wie vor zu den wichtigsten Finanzierungsquellen gehören. Die Projekte, die wir mit dieser Unterstützung umsetzen, reihen sich ein in ein Kontinuum, das von Grundlagenforschung über angewandte Forschung bis zur Versorgungsforschung reicht. Ziel ist letztlich stets dasselbe: Die Gesundheitsversorgung zu verbessern – regional, national sowie in internationalen Kooperationen. Dank Verträgen mit Universitäten im In- und Ausland werden wir unseren Studierenden und Mitarbeitenden bald auch anschlussfähige Doktoratsprogramme anbieten können. Die nächsten Jahre bleiben also spannend. Eine anregende Lektüre wünschen

Prof. Dr. Andreas Gerber-Grote

Prof. Dr. Markus Melloh

Direktor Departement Gesundheit Ressortleiter Forschung & Entwicklung / Dienstleistungen ZHAW

Leiter Institut für Gesundheitswissenschaften Verantwortlicher Bereich Forschung & Entwicklung Department Gesundheit

Departement Gesundheit

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Gesundheit von Kindern und Jugendlichen In der Kindheit werden die Weichen gestellt für die Gesundheit im Erwachsenenalter – ein Prozess, der schon vor der Geburt beginnt. Doch nicht allen Kindern werden dabei die gleichen Chancen zuteil. Die einen sind aus sozialen Gründen benachteiligt. Andere kommen mit einer Einschränkung zur Welt, erkranken oder verunfallen und müssen sich ihren Platz in der Gesellschaft erkämpfen. Am Departement Gesundheit der ZHAW suchen Expertinnen und Experten in unterschiedlichen Projekten nach Lösungen, um das Gesundheitspotenzial von Kindern auszuschöpfen und ihre Chancen auf ihrem Weg ins Erwachsenendasein zu verbessern.

Departement Gesundheit

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Rund um die Geburt

Auch depressive Mütter fokussieren auf das Kind Eine häufige Komplikation nach der Geburt sind Postnatale Depressionen, das ist bekannt. Wie aber werden betroffene Frauen und ihre Familien im Alltag am besten unterstützt? Antworten kennt Pflegewissenschaftlerin Susanne Knüppel Lauener.

«Ich bekomme zwar Hilfe, aber nicht diejenige, die ich möchte.» Solche Aussagen hat Susanne Knüppel Lauener bei den Recherchen zu ihrer Dissertation oft gehört. Die Pflegewissenschaftlerin hat in einer qualitativen Studie untersucht, wie sich Postnatale Depressionen auf den Alltag betroffener Frauen auswirken – ein Bereich, der vorher wenig beachtet und untersucht worden war. «Dabei ist bekannt, dass Postnatale Depressionen auch das Familiensystem und besonders die Entwicklung des Kindes beeinflussen können», sagt Susanne Knüppel Lauener. So weiss man etwa aus der Mannheimer Risikokinderstudie, einer Langzeitstudie von der Geburt bis zum Erwachsenenalter, dass Kinder postnatal depressiver Mütter ein erhöhtes Risiko haben, später selbst an einer Depression zu erkranken. Rasch an emotionalen Grenzen Susanne Knüppel Lauener führte ihre Datensammlung im Kanton Tessin durch. Sie arbeitete mit Mütterberaterinnen (Pflegefachfrauen) zusammen, die in der geburtlichen Nachversorgung tätig sind. Von 635 Frauen, die von Juni 2012 bis August 2013 einem Screening zugestimmt hatten, zeigten 34 Frauen (5.5 Prozent) Anzeichen einer Postnatalen Depression (PnD). 29 von ihnen besuchte Susanne Knüppel Lauener zu Hause und befragte sie ausführlich. Das wichtigste Ergebnis: «Die betroffenen Frauen müssen für einen gelingenden Alltag unterstützt werden», sagt Susanne Knüppel Lauener. Denn Frauen mit einer Postnatalen Depression sind psychisch nicht in der Lage, Schwierigkeiten auszuhalten oder die vielfältigen Aufgaben zu bewältigen, mit denen sie in der neuen, ungewohnten Mutterrolle konfrontiert sind. «Sie geraten rasch an ihre Grenzen», so die ZHAW-Dozentin. Was aber ist mit Hilfe genau gemeint? «Es bedeutet nicht unbedingt, den Müttern das Kind zwischendurch abzunehmen, sondern sie zum Beispiel im Haushalt zu entlasten; Unterstützung zu bieten, um den Alltag zu strukturieren und zu gestalten.»

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Bindung zum Kind ermöglichen Susanne Knüppel Lauener widerlegt mit ihren Befunden ein oft gehörtes Vorurteil über Postnatale Depression: dass betroffene Frauen für ihr Baby ganz unerwartete Gleichgültigkeit verspürten, ja es gar ablehnten. Die Pflegeforscherin hat die Mütter bei ihrer Recherche ganz anders erlebt: «Sie sind aufs Kind fokussiert», sagt sie. Die typische Aussage einer depressiven Mutter laute dann auch: «Ich habe sehr wenig Energie, und die, die ich habe, konzentriere ich auf mein Kind.» Dabei beschränkten sich die Mütter aber oft auf rein praktische Handlungen – das Kind füttern, mit ihm spazieren gehen, wickeln, ins Bettchen legen. Zu emotionaler Tiefe reiche die Kraft nicht aus. Die Unterstützung einer Mutter mit Postnataler Depression muss darauf abzielen, ihr Freiraum zu verschaffen, damit sie eine Bindung zu ihrem Kind aufbauen kann: So lautet das Fazit der Studie von Susanne Knüppel Lauener. Die Ergebnisse erlauben es nun, Empfehlungen für den praktischen Pflege- und Beratungsalltag abzuleiten. Die Pflegeforscherin ist überzeugt: «Ein gelungener Alltag schafft gute Voraussetzungen, damit sich Mutter, Kind, Partnerschaft, das ganze Familiensystem gut entwickeln.»

Postnatale Depressionen: Der Alltag von betroffenen Frauen und ihren Familien Projektleitung: Dr. Susanne Knüppel Lauener Projektpartner: Mütter- und Väterberatungen im Kanton Tessin Finanzierung: Stiftung Pflegewissenschaften Schweiz


Das Netzwerk der Hebammen nutzen Frühkindliche Förderung ist wichtiger denn je. Den frühsten Einblick in Familien mit Bedarf haben frei praktizierende Hebammen. Hier liegt Potenzial brach.

Je früher Kinder aus sozial benachteiligten Familien gefördert werden, desto besser stehen ihre Chancen, sich gut zu entwickeln und etwa den Schuleintritt ohne Verzögerung zu meistern: Diese Erkenntnis hat in den letzten Jahren zu zahlreichen Angeboten frühkindlicher Förderung geführt. «Chancengleichheit» oder zumindest «Chancengerechtigkeit» heisst die Losung, in der Schweiz wie auch in anderen Ländern. Nur: Wie erkennt man, welche Familien sozial benachteiligt sind? Und wie kann man diese Familien so unterstützen, dass die Kinder tatsächlich gefördert werden? Eindrücke während der Wochenbettbetreuung «Frei praktizierende Hebammen haben einen optimalen Einblick in die Familien», sagt Pehlke-Milde, Professorin für Hebammenwissenschaft und Leiterin der entsprechenden Forschungsstelle am Departement Gesundheit. Die meisten frischgebackenen Mütter lassen sich im Wochenbett bis 56 Tage nach der Geburt von einer frei praktizierenden Hebamme zu Hause betreuen. Bei manchen beginnt die Begleitung schon während der Schwangerschaft. «Viele Hebammen fangen bei ihren Hausbesuchen auch soziale Schwierigkeiten auf», erklärt Jessica Pehlke-Milde, «und sie vermitteln den Familien den Zugang zu frühkindlichen Förderungsangeboten.» Interdisziplinärer Austausch Die Hebammenwissenschaft geht davon aus, dass sich dieses Potenzial noch besser nutzen lässt. Vor allem, wenn sich frei praktizierende Hebammen untereinander austauschen und interdisziplinäre Netzwerke pflegen. Deshalb analysiert die Forschungsstelle in einer laufenden Studie die Netzwerkarbeit frei praktizierender Hebammen: ihre Struktur, ihre Eigenschaften und Entwicklungsmöglichkeiten. Dazu wurden Hebammen aus verschiedenen Kantonen zu ihren persönlichen Erfahrungen interviewt. In einem zweiten Schritt wurden alle frei praktizierenden Hebammen der Schweiz online befragt. «Unser Ziel ist, Handlungsempfehlungen für die interdisziplinäre Netzwerkarbeit abzuleiten, die es für eine optimale Versorgung der sozial benachteiligten Familien mit neugeborenen Kindern braucht», sagt Jessica Pehlke-Milde. Die Ergebnisse werden auf November 2017 erwartet.

Forschende Hebammen Die Projekte der Forschungsstelle Hebammenwissenschaft drehen sich um die Betreuung von Frauen, Kindern und Familien während Schwangerschaft und Geburt, im Wochenbett und während der Stillzeit. «Wir verstehen Gesundheit als Zusammenspiel von biologischen, psychischen und sozialen Aspekten», sagt Forschungsleiterin Jessica Pehlke-Milde. So erkläre sich auch, dass sie und ihr Team sich für eine bessere geburtshilfliche Versorgung von benachteiligten oder von Armut betroffenen Familien engagieren. Ein wichtiges Thema für die Forschung seien zudem die hohen Interventionsraten in der Geburtshilfe, etwa durch medizinisch nicht begründete Kaiserschnitte. «Die Studienlage zeigt eindeutig, dass die Spontangeburt der optimale Start ins Leben ist», so Jessica Pehlke-Milde. «Mit unseren Projekten an der ZHAW wollen wir Frauen helfen, diesen Weg zu gehen.»

Netzwerkarbeit der frei praktizierenden Hebammen in der Schweiz: Zugang der Familien mit Neugeborenen zu weiteren Angeboten der frühen Förderung Projektleitung: Prof. Dr. Jessica Pehlke-Milde, Astrid Krahl Projektteam: Rebekka Erdin Finanzierung: Nationales Programm gegen Armut, Familystart Zürich

Departement Gesundheit

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Interventionen bei Säuglingen und Kleinkindern «Hands on – hands off» Die Physiotherapie-Dozentin Schirin Akhbari Ziegler vergleicht zwei verschiedene Therapieansätze bei Säuglingen, die an neuromotorischen Störungen leiden.

Frühe Therapien für eine bessere Selbständigkeit Die Wirksamkeit von Interventionen überprüfen oder neue Technologien für Betroffene einführen: Das will die Forschungsstelle Physiotherapiewissenschaft mit ihren angewandten Forschungsprojekten. Ähnlich die Stossrichtung bei den Forscherinnen und Forschern in der Ergotherapie: Sie wollen Menschen mit Einschränkungen ermöglichen, ihren Handlungsspielraum zu erweitern und dadurch selbständiger zu werden.

«Hands on – hands off» – so lautet die Kürzestformel des Dissertationsprojekts von Schirin Akhbari Ziegler. «Hands on» ist der traditionelle Ansatz: Eltern bringen ihr Kind zur Therapie – ins Ambulatorium, in die Praxis –, die Therapeutin «hantiert» mit dem Kind, am Schluss zeigt sie den Eltern Übungen für zu Hause. «Hands off» funktioniert umgekehrt: Die Therapeutin besucht die Familie zu Hause, und die Eltern führen mit ihrem Kind Alltagshandlungen durch: baden, zu Essen geben, anziehen usw. Die Rolle der Therapeutin beschränkt sich auf das Coaching. Handelnde sind die Eltern – und das Kind selbst. COPCA, kurz für Coping With and Caring for Infants With Special Needs, nennt sich dieser neue, aus den Niederlanden stammende Ansatz. «Das Konzept basiert auf der Entwicklungstheorie der selektiven neuronalen Gruppierung», erklärt Akhbari Ziegler. «Diese besagt, dass Kinder mit Bewegungsstörungen aktiv lernen, indem sie über Versuch und Irrtum die besten Lösungen finden.» Traditionell sehr heterogen Für ihre Vergleichsstudie musste die Dozentin und Kinderphysiotherapeutin erst einmal die Inhalte traditioneller Säuglingsbehandlung erfassen. «Diese ist nicht klar definiert, wir stellten eine grosse Heterogenität fest», resümiert Akhbari Ziegler. Wie wirk-

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sam die Behandlung sei, dafür gebe es keine Evidenz. Eltern würden im Schnitt nur zu 20 Prozent einbezogen. Anders die COPCA-Methode, die sich ganz auf die Angehörigen abstützt: «Die Rückmeldungen in den Niederlanden sind sehr positiv. Eltern berichten, es sei zu Hause einfacher, mit dem Kind zu üben, weil vertraute Gegenstände oder die Geschwister involviert würden.» Wirkung bei den Betroffenen Ob COPCA auch besser ist für das betroffene Kind, ist indes noch nicht belegt. Das will Schirin Akhbari Ziegler in ihrer randomisierten Studie herausfinden. 68 Frühgeborene mit neuromotorischen Störungen will sie studieren. Die eine Hälfte wird traditionell, die andere nach COPCA behandelt, wobei die Eltern mit beiden Methoden einverstanden sind und ein Computer die Zuteilung vornimmt. Bislang sind erst 13 Kinder rekrutiert. Mit der Anwendung will Akhbari Ziegler jedoch nicht bis zum Ende der Studie warten. Zusammen mit zwei Kolleginnen lässt sie sich in den Niederlanden zur COPCA-Trainerin ausbilden. «Wir hoffen, die Methode bald als separate Weiterbildung anbieten zu können.»

Physiotherapeutische Intervention bei Säuglingen mit neuromotorischen Funktionsstörungen Projektleitung: Schirin Akhbari Ziegler Projektpartner: Universität Groningen (NL), Universitäts-Kinderspital beider Basel, Universitätsspital Zürich, Kantonsspital Winterthur, Ostschweizer Kinderspital Finanzierung: Stiftung Cerebral, Anna Müller Grocholski-Stiftung, Jubiläumsstiftung der Mobiliar


Mobil mit dem Elektro-Rollstuhl Ergotherapieforscherin Brigitte Gantschnig will herausfinden, wie wirksam ein frühes Training mit dem Elektro-Rollstuhl ist.

In der Schweiz werden jährlich etwa 150 Kinder mit Zerebralparese geboren. Durch die Hirnschädigung sind viele Funktionen eingeschränkt, auch die Mobilität. Betroffene bekommen hierzulande in der Regel erst im Jugend- oder Erwachsenenalter einen Elektro-Rollstuhl. Dabei weiss man etwa aus Schweden, dass auch Kleinkinder damit umzugehen lernen und so eine altersgemässe Mobilität erlangen. «Das fördert ihre gesamte Entwicklung, die Selbständigkeit und das Selbstwertgefühl», sagt Brigitte Gantschnig, Professorin für Ergotherapie und stellvertretende Leiterin der entsprechenden Forschungsstelle. In einer Beobachtungsstudie wollen Brigitte Gantschnig und Susanne Rönnfeld, Ergotherapeutin am Ostschweizer Kinderspital, nun selbst überprüfen, wie wirksam ein frühes Training mit dem Elektro-Rollstuhl ist. Bis zu zehn Kinder mit infantiler Zerebralparese im Alter von zwei bis vier Jahren sind an der Studie beteiligt. Was ist vorne, was ist hinten? Die Elektro-Rollstühle seien intuitiv per Joystick zu bedienen – mit der Hand, dem Fuss oder dem Mund. Trainiert wird im Zentrum für Kinderneurologie, Entwicklung und Rehabilitation am Ostschweizer Kinderspital St. Gallen. Was bewirkt das Training konkret? «Es vermittelt den Kindern vielfältige Erfahrungen», erklärt Brigitte Gantschnig. «Ein Beispiel von vielen ist die Erfahrung von Raum, denn diese fehlt ihnen in ihrer Entwicklung.» Das bedeutet: Die Kinder müssen lernen, was vorne, was hinten, was links und rechts ist; wie sich der eigene Körper im Raum befindet. «Wir lassen sie zum Beispiel bewusst mit Widerständen kollidieren, damit sie merken: Ich muss rückwärtsfahren.» Haben die Kinder diese Raumvorstellung einmal erfasst, steigt ihre Lernkurve steil an. Sie erfahren Autonomie – ich kann von der Mutter weg und wieder zu ihr hin – und Selbstwirksamkeit – ich entscheide selbst, ob ich zu Tisch komme. «Auf Ebene der Teilhabe am täglichen Leben passieren da grosse Schritte», sagt Gantschnig.

Elektro-Rollstuhl-Training bei kleinen Kindern mit infantiler Zerebralparese Projektleitung: Prof. Dr. Brigitte Gantschnig Projektteam: André Meichtry Projektpartner: Ostschweizer Kinderspital St. Gallen Finanzierung: Ebnet Stiftung, Stiftung Cerebral, Stiftung für Ergotherapie Zürich, Stiftung für Abendländische Kultur

Departement Gesundheit

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Mit dem Körper handeln lernen Ergotherapie-Professorin Heidrun Becker vergleicht in ihrem Lehrbuch verschiedene Therapien zum Erlernen von Bewegung.

Kinder und Erwachsene mit zerebralen Lähmungen haben Probleme, Bewegungen und Handlungen erfolgreich auszuführen. Ein häufiges Handicap ist der gestörte Muskeltonus: Sind zum Beispiel die Handmuskeln zu stark angespannt, lässt sich der Griff nicht öffnen, Gegenstände können nicht losgelassen oder adäquat genutzt werden. Bei niedrigem Tonus ist der Griff zu locker – Gegenstände fallen immer wieder aus der Hand. «Um angemessene Bewegungen zu erlernen, sind Betroffene auf Therapie angewiesen», sagt Heidrun Becker, Professorin und Forschungsleiterin Ergotherapie an der ZHAW. Individuelle Lösungen In der Ergotherapie und der Physiotherapie stehen verschiedene Therapieansätze zur Verfügung, die Betroffene dabei unterstützen, Bewegungen und Handlungen zu erlernen. Aber wie sollen Therapeutinnen entscheiden, welches Vorgehen bei welchem Patienten am besten ist? Heidrun Becker gibt mit ihrem Buch «KörperLernen – Therapieansätze und Strategien für motorisches und Handlungslernen» einen Überblick über verschiedene Therapieansätze und vergleicht diese miteinander. «Ich habe mich auf Ansätze konzentriert, die auf das Lernen mit dem Körper fokussieren», erklärt Becker. Darunter das Bobath-Konzept, das Affolter- beziehungsweise St.-Galler-Modell, die Konduktive Förderung und weitere. Anhand von Theorien aus der Philosophie, Soziologie und Kognitionswissenschaft bringt sie die verschiedenen Lernmöglichkeiten in einen Gesamtzusammenhang und erklärt, wie das Lernen mit dem Körper geschieht. Das Werk – ursprünglich Beckers Dissertationsprojekt – ist vor Kurzem in einer komplett überarbeiteten Auflage erschienen. «Es hilft Praktikerinnen und Praktikern anhand von Fallbeispielen und Fragen, ihre Therapieplanung zu reflektieren und individuelle Lösungen für und mit ihren Patienten zu finden», sagt die Autorin.

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KörperLernen. Therapieansätze und Strategien für motorisches und Handlungslernen. Prof. Dr. Heidrun Becker, unter Mitarbeit von Gabriele Eckhardt. München: Elsevier 2016.


Gesundheit von Schulkindern

Fundament für ein gesundes Leben Julia Dratva beschäftigt sich an der ZHAW mit der Gesundheitssituation von Kindern und Jugendlichen. Diese Lebensphase prägt die Gesundheit des ganzen weiteren Lebens und bietet daher viel Präventionspotenzial. Doch an die nötigen Daten zu kommen, ist gar nicht so einfach.

Weshalb hat man in den 1990er-Jahren bemerkt, dass Jugendliche plötzlich mehr Alkohol tranken und sich auf Pausenhöfen und in Clubs ein neues Gesundheitsproblem zusammenbraute? Wieso konnte man ein Gesetz erlassen, das die Zunahme eindämmte? «Der gesteigerte Alkoholkonsum ist bei der ‹Health Behaviour in School-aged Children Study (HBSC)› herausgekommen, einem Langzeitmonitoring zur Gesundheit von Jugendlichen», sagt Julia Dratva, Professorin für Public Health und Leiterin der Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften. Von einer Befragung zur nächsten hatte der Alkoholkonsum stark zugelegt – vor allem bei den Mädchen. Und weil die Jugendlichen auch danach befragt wurden, was sie tranken, wurde klar: Es lag an den Alcopops, die gerade auf den Markt gekommen waren. «Erst aufgrund dieser Daten ist man auf das Problem aufmerksam geworden und konnte eine Gesetzeslücke schliessen. Alcopops wurden dem Spirituosensteuergesetz unterstellt und die Verkaufsaltersgrenze wurde auf 18 Jahre heraufgesetzt.»

sundheitszustand von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz überhaupt zur Verfügung stehen. Die Bilanz ihrer Untersuchung fällt ernüchternd aus: Die Datenlage ist unzureichend. Einige Daten werden gar nicht erhoben, andere liegen zwar vor, werden aber nicht für Monitoring oder Forschung bereitgestellt.

Frühzeitig Gegensteuer geben Das Beispiel macht deutlich: Daten über die Gesundheit und das Gesundheitsverhalten der Bevölkerung sind wichtige Grundlagen der Gesundheitspolitik. Diese braucht es dringend, um Trends rechtzeitig zu erkennen und gesundheitspolitisch Gegensteuer zu geben, wenn etwas aus dem Ruder läuft. «Allerdings sind Gesundheitsdaten gerade bei Kindern und Jugendlichen nicht in dem Masse verfügbar, wie man es sich als Public-Health-Expertin wünscht, um fundierte Entscheidungen zu treffen», sagt Dratva.

Kinderärztliche Daten liegen brach «Man muss nur an die regelmässigen Kontrolluntersuchungen beim Kinderarzt oder an die Untersuchungen in der Primarschule denken, Gesundheitsinformationen werden dort in Hülle und Fülle gesammelt», sagt Dratva. Diese bleiben jedoch bei den Kinderärzten, und auch die Daten aus den schulärztlichen Untersuchungen werden zu wenig ausgeschöpft. Kinder werden überwiegend ambulant behandelt und besuchen selten ein Spital. Dort würden ihre Daten in die Spitalstatistik einfliessen, wie das bei älteren Patienten der Fall ist. «Deshalb sind wir über den Gesundheitszustand von Erwachsenen auch viel besser informiert», sagt Julia Dratva.

Auch dem Bundesrat ist die Kinder- und Jugendgesundheit ein besonderes Anliegen. Gemäss einer Studie des Bundesamts für Gesundheit (BAG) sind etwa 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz in ihrer gesunden Entwicklung gefährdet. Ungesundes Ernährungs- und Bewegungsverhalten spielen dabei ebenso eine Rolle wie ein erhöhter Konsum von Tabak, Alkohol, illegalen Drogen oder psychoaktiven Medikamenten. Vor diesem Hintergrund hat sich Julia Dratva im Auftrag des BAG mit der Frage beschäftigt, welche Informationen über den Ge-

«Gesundheitsdaten sind bei Kindern nicht in dem Masse verfügbar, wie man es sich als Public-Health-Expertin wünscht, um fundierte Entscheidungen zu treffen.»

Am wenigsten Daten liegen für Kinder bis zum fünften Lebensjahr vor. Dabei ist diese frühe Kindheit prägend für das ganze Leben. Aus diesem Grund werden Geburtsdaten registriert, leider nicht mit allen relevanten Angaben, und alle zehn Jahre wird eine Studie zum Thema Stillen und Säuglingsernährung durchgeführt. Ab dem Schulalter gibt es mehr Studien und je nach Kanton auch

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schulärztliche Daten. Für das Alter von 11 bis 15 Jahren werden mit der HBSC-Studie wichtige und international vergleichbare Daten erfasst. Für diese Studie, die es seit über 30 Jahren gibt, werden Jugendliche in 47 nordamerikanischen und europäischen Staaten über ihre Gesundheit befragt. Der gesteigerte Alkoholkonsum durch die Alcopops kam so zu Tage. Ab dem 15. Lebensjahr schliesslich tauchen Jugendliche in den nationalen Befragungen auf, jedoch immer seltener bei der Vorsorge oder dem Kinderarzt. Insgesamt präsentiert sich die Datenlage lückenhaft, wie auch der letzte Schweizer Gesundheitsbericht feststellt. Dass in der Schweiz Informationen, die vorhanden sind, nicht zentral erfasst werden, ist laut Dratva eine vergebene Chance, eine solidere Gesundheitspolitik zu machen. «An der ZHAW arbeiten wir deshalb an Vorschlägen, welche Daten zu Kinderund Jugendgesundheit aus der Sicht von Public Health relevant sind und wie man sie erfassen kann.»

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Entwicklung von Erhebungsinstrumenten zur Schliessung von Datenlücken zu Kinderund Jugendgesundheit Projektleitung: Prof. Dr. med. Julia Dratva Projektteam: Anna Späth Projektpartner und Finanzierung: Bundesamt für Gesundheit


Wenig Fakten, viel Meinung bei ADHS Wenn Kinder und Jugendliche in der Schule Probleme haben, muss die Modediagnose ADHS herhalten. Doch Peter Rüesch, Professor für Gesundheitswissenschaften, warnt: So eindeutig ist die Faktenlage nicht.

Obwohl ADHS heutzutage in aller Munde und die Diagnose verhältnismässig rasch ausgesprochen ist, fehlen in der Schweiz wesentliche Informationen dazu. Die Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften führt deshalb Untersuchungen durch, mit deren Hilfe man die Erkrankung und den gesellschaftlichen Umgang damit besser verstehen möchte. «Uns geht es dabei um das Wohl der Kinder», sagt Peter Rüesch, der die entsprechenden Projekte leitete. Knaben erhalten häufiger Ritalin Unter anderem fanden Rüesch und sein Team heraus, dass sich die Ritalin-Verschreibungen zwischen 2008 und 2010 im Kanton Zürich verdoppelt haben. Bis 2012 blieben sie auf dem etwa gleichen Niveau; neuere Zahlen fehlen. Im Kanton Zürich wurden von etwa 3000 untersuchten Kindern 2.6 Prozent mit Ritalin behandelt, um das ADHS in den Griff zu bekommen, wobei Knaben das Medikament weitaus häufiger bekamen als Mädchen. Konkret waren es knapp 4 Prozent bei den Knaben, bei den Mädchen etwas mehr als 1 Prozent. Mit der Frage, wie man ADHS-Kinder fördern soll, beschäftigt sich Rüesch derzeit in einer gross angelegten Studie, an der

nebst Gesundheitswissenschaftlern der ZHAW auch Forschende der Universität Freiburg und des Collegium Helveticum (ETH / Universität Zürich) beteiligt sind. Darin werden in der ganzen Schweiz psychologische, medizinische und soziale Faktoren untersucht, die zur ADHS-Diagnose, zur Auswahl von Fördermassnahmen und zu einer Verschreibung von Medikamenten führen. Lösungen vor Ort gefragt Im Rahmen dieses Projekts, dessen Resultate gerade erst ausgewertet werden, haben Rüesch und sein Team auch den Alltag von ADHS-betroffenen Familien untersucht. «Wir haben uns vor allem dafür interessiert, wie sich Diagnose, Fördermassnahmen und Medikamente auf das Wohlergehen der Kinder auswirken», sagt Rüesch. Es gehe nicht darum, die medikamentöse Behandlung von ADHS zu verteufeln, sondern sie kritisch zu hinterfragen. Vermehrt in den Blick zu nehmen sei in diesem Zusammenhang die Problemlösekompetenz vor Ort. Dazu Rüesch: «Wir müssen uns fragen, wie wir Eltern und Lehrpersonen dabei unterstützen können, Kinder mit Aufmerksamkeitsproblemen erfolgreich im Alltag zu begleiten – und zwar auch dann, wenn keine Medikamente zum Einsatz kommen.»

Gesundheitspotenzial realisieren Die Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften befasst sich vor allem mit dem Gesundheitssystem. Die Versorgung Einzelner und der Bevölkerung mit gesundheitsrelevanten Produkten und Dienstleistungen steht dabei im Vordergrund. «Mit unseren Studien wollen wir einer grösstmöglichen Anzahl Menschen helfen, ihr Gesundheitspotenzial zu realisieren», sagt Leiterin Julia Dratva. Denn die meisten Menschen in der Schweiz lägen unterhalb dieses Potenzials.

Entscheidungsprozesse für Interventionen bei ADHS Projektleitung: Prof. Dr. Peter Rüesch, Dr. iur. Sandra Hotz, Dr. Amrei Wittwer Projektteam: Sibylle Juvalta, Dominik Robin Projektpartner: Universität Freiburg, Collegium Helveticum Finanzierung: Stiftung Mercator

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Erwachsen werden mit Hindernissen Erschwerter Ablösungsprozess Pflegewissenschaftlerin Veronika Waldboth erforscht, wie junge Menschen, die auf die Betreuung durch ihre Angehörigen angewiesen sind, erwachsen werden. Der Weg ist steinig – für sie selber, aber auch für ihre Familien.

Sich von der Familie ablösen, Distanz schaffen, die Identität entwickeln und das Leben in Angriff nehmen – eigentlich ist dies das Natürlichste der Welt im Leben eines jungen Menschen. Für Eltern und Geschwister bedeutet es zugleich, sich auf Neues einzustellen. Von solcher Normalität kann bei Jugendlichen, die an Muskeldystrophie leiden, keine Rede sein. Von früher Kindheit an ist ihre Muskulatur schwach und sie wird im Laufe der Zeit noch schwächer. Dass sie mit dreizehn Jahren im Rollstuhl sitzen und intensive Pflege brauchen, ist keine Seltenheit. «Den Ablösungsprozess, der sonst zu diesem Alter gehört, können sie gar nicht durchmachen», sagt Pflegewissenschaftlerin Veronika Waldboth. «Sie sind ja auf die ständige Betreuung durch Angehörige angewiesen.» Das Forschungsprojekt, das sie an der Forschungsstelle Pflegewissenschaft gerade abgeschlossen hat, beleuchtet die Schwierigkeiten, mit denen Jugendliche mit neuromuskulären Erkrankungen und ihre Angehörigen konfrontiert sind. Das Fazit: Den Drang nach Selbständigkeit und Distanz können Betroffene kaum umsetzen. Tod ist früh ein Thema Waldboths Forschung gibt Einblicke in die Dynamik von Familien, die durch die Erkrankungen unter besonderem Druck stehen. Existenzielle Fragen etwa stehen bei den Betroffenen deutlich stärker im Fokus als bei gesunden Gleichaltrigen. «Dabei geht es zum Beispiel um die eigene Endlichkeit», führt Waldboth aus. Auch die Eltern und andere Angehörige müssen sich damit auseinandersetzen, dass ihre Kinder, Enkel oder Geschwister früh sterben werden. «Das hat selbstverständlich Auswirkungen auf das ganze Familiensystem», sagt die Pflegeforscherin. Während der Tod bei den Jugendlichen erst ab einem bestimmten Zeitpunkt in das Bewusstsein rückt, beschäftigen sich die Eltern bereits bei der Diagnose mit diesem Thema. Über der hoffnungsfrohen Zeit, die Eltern mit ihren Kindern sonst verbringen, liegt ein Schatten. «Um diese Spannung auszuhalten, entwickeln sie Bewältigungsstrategien», erläutert Veronika Waldboth. Wie diese aussehen und wie den Eltern geholfen werden kann, besser mit der Belastung umzugehen, ist ebenfalls Thema ihres Forschungsprojekts.

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Versorgung integrieren Angehörige durch qualifizierte Pflegeinterventionen unterstützen: Dieser Ansatz bildet einen Schwerpunkt in der Pflegeforschung der ZHAW. «Wir sind bestrebt, Versorgung zu integrieren, also Menschen mit Pflegebedarf entlang einer gesamten Behandlungskette pflegerisch zu unterstützen», sagt Heidi Longerich, Leiterin des Instituts für Pflege. So entspringen der Forschungsstelle Pflegewissenschaft auch immer wieder Projekte, welche die Versorgung von Kindern und Jugendlichen sowie deren Familien im Fokus haben.

Interventionsstrategien entwickeln Die durch Pflegearbeit entstehende Belastung von Angehörigen ist in der Pflegeforschung bereits früher intensiv studiert worden. Vernachlässigt wurde hingegen die Frage, wie sich die Krankheit insgesamt auf familiäre Verhältnisse auswirkt. Gerade diese Beziehungen müssen während des Erwachsenwerdens der Betroffenen starke Spannungen aushalten. Deshalb sagt Veronika Waldboth: «Es geht mir in dieser Forschung nicht darum, die Auswirkungen lediglich zu beschreiben, sondern auch darum, Interventionsstrategien zu entwickeln.» Die Pflegeforscherin hofft, mit künftigen Forschungsarbeiten dazu beizutragen, das konstante Spannungsfeld, in dem die Familien leben, zu entschärfen. «Ich bin fest überzeugt, dass die Pflege helfen kann, betroffene Familien zu entlasten.»

Erwachsen werden mit einer neuromuskulären Krankheit: Erfahrungen von betroffenen Jugendlichen und ihren Familien Projektleitung: Veronika Waldboth Projektpartner: King’s College London Finanzierung: Stiftung Pflegewissenschaft Schweiz


Ein Leben lang im Abseits Für junge Erwachsene mit psychischer Beeinträchtigung kann eine IV-Rente eine Sackgasse bedeuten, denn sie haben kaum Chancen, Zugang zum Arbeitsmarkt zu finden. Mit diesem Phänomen befasst sich Ökonomin Szilvia Altwicker-Hámori.

Psychische Erkrankungen sind die häufigste Ursache dafür, dass junge Menschen zu Rentnern werden, bevor ihr Erwachsenenleben richtig begonnen hat. Ihre Aussichten, jemals einer Erwerbsarbeit nachzugehen, sind eher gering. Mit diesem Phänomen beschäftigt sich Ökonomin Szilvia Altwicker-Hámori in ihrer Foschung an der ZHAW. Nur wenige der jungen IV-Bezüger schaffen es, die Rente hinter sich zu lassen und ohne Unterstützung auszukommen. Menschen zu helfen, gar nicht erst in diese Spirale zu geraten, ist deshalb entscheidend: Zu diesem Schluss kommt eine Studie zu jungen IV-Bezügern, die Altwicker-Hámori und ihre Kollegen von der Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen durchgeführt haben.

«Die Erkenntnisse können helfen, Massnahmen zu entwickeln, um jungen Erwachsenen mit erhöhtem IV-Risiko rechtzeitig Hilfe anzubieten.»

Berentung kontraproduktiv? Wie im dazugehörigen Bericht dargestellt, sind psychische Ursachen bei den jungen Erwachsenen in etwa zwei Dritteln aller Fälle Ursache für den IV-Bezug, wobei die Berentung bisweilen zu einem Ereignis wird, das den ganzen weiteren Lebensweg bestimmt. Sie kann sich kontraproduktiv auswirken und sogar dazu beitragen, die Krankheit zu festigen. Denn bei den jungen IVBezügern fehlen die positiven Begleiterscheinungen der Erwerbsarbeit, die helfen, ein selbständiges Leben zu führen. Dazu gehören finanzielle Autonomie, soziale Kontakte und sozialer Status, aber auch ein strukturierter Tagesablauf oder die Erfahrung, als nützlich und kompetent wahrgenommen zu werden.

Klar ist: Es ist für alle am besten, wenn junge Erwachsene ihr Leben auf eigenen Beinen meistern können. Doch weshalb werden gewisse junge Menschen zu IV-Bezügern, während es anderen in der gleichen Situation gelingt, ein selbständiges Leben zu führen und einer Arbeit nachzugehen? Mit dieser Frage beschäftigt sich Szilvia Altwicker-Hámori in einer weiteren Studie. «Es gibt eine Reihe von potenziellen Risikofaktoren», sagt sie. «Wenn man sie kennt, kann man Massnahmen planen, um eine frühe Verrentung zu verhindern.» Zu den möglichen Risiken zählen Defizite in der Bildung – etwa ein fehlender Schulabschluss oder eine fehlende Berufsausbildung. Risikofaktoren vertieft eruieren Die Forscherin plant, Daten der «Syntheseerhebung Soziale Sicherheit und Arbeitsmarkt» (SESAM) zu analysieren, um so zu mehr Informationen über Risikofaktoren zu gelangen. «Uns interessiert etwa, ob junge Erwachsene mit gesundheitlichen Einschränkungen in Berufen, die einen hohen physischen Einsatz erfordern, ein erhöhtes Berentungsrisiko haben», sagt sie. Auch der Frage, ob Partnerschaft und familiäre Unterstützung eine Rolle spielen, möchte die Forscherin nachgehen. «Die Erkenntnisse können helfen, Massnahmen zu entwickeln, um jungen Erwachsenen mit erhöhtem IV-Risiko rechtzeitig Hilfe anzubieten.»

Risikofaktoren einer Invalidisierung bei jungen Erwachsenen Projektleitung: Dr. Szilvia Altwicker-Hámori Projektteam: Dr. Isabel Baumann, Prof. Dr. med. Julia Dratva Projektpartner: Nationaler Forschungsschwerpunkt «NCCR LIVES» des Schweizerischen Nationalfonds Finanzierung: Arcas Foundation

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Fünf Forschungsstellen unter einem Dach Praktische Relevanz und Interdisziplinarität prägen die wissenschaftliche Arbeit der fünf Forschungsstellen am Departement Gesundheit. Nebst berufsspezifischen Themen der Ergotherapie, der Physiotherapie, der Pflege und des Hebammenwesens untersuchen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler übergreifende Fragestellungen der Gesundheitsversorgung. Partnerschaftliche Kooperation wird dabei grossgeschrieben: zwischen den Forschungsstellen und den Departementen der ZHAW, aber auch mit Partnerhochschulen und Praxispartnern im In- und Ausland. Die Forschungsstellen leisten so einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssicherung und zur Weiterentwicklung der Gesundheitsberufe und des Gesundheitssystems in der Schweiz.

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Forschungsstelle Ergotherapie

Hauptanliegen der Forschungsstelle Ergotherapie ist es, eine hohe Qualität ergotherapeutischer Angebote im Rahmen der Gesundheitsversorgung zu sichern. Die Projekte nehmen Forschungsfragen aus der Versorgungspraxis auf und werden in enger Kooperation mit Partnern realisiert. Die Ergebnisse fliessen durch Aus- und Weiterbildung sowie Veröffentlichungen wieder in die Praxis ein. Forschungsschwerpunkte sind: die Entwicklung und Evaluation neuer Technologien, innovativer Therapieansätze und Versorgungsmodelle, die Evaluation ergotherapeutischer und interprofessioneller Interventionen, die Erfassung und Dokumentation des Erlebens von Patientinnen und Klienten und die Förderung der Inklusion von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft.

Forschungsteam Heidrun Becker, Prof. Dr., Leiterin Brigitte Gantschnig, Prof. Dr., stv. Leiterin Anja Kollmar, MSc Ursula Meidert, lic. phil. Silke Neumann, MSc Christina Schulze, Dr.

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Den Emotionen auf der Spur Kein Gespräch, kein Lachen, kein Nicken, kein Blickkontakt. Demenzbetroffene mit Apathie reagieren kaum auf äussere Reize. Doch empfinden sie tatsächlich weniger Gefühle, wie in der Literatur manchmal behauptet wird? Oder dringen ihre Reaktionen nicht bis zu uns durch? Ein Projekt der Forschungsstelle Ergotherapie sucht Antworten.

Schweizweit sind rund 140 000 Menschen an Demenz erkrankt. Viele von ihnen leiden unter Apathie, im Spätstadium sind es rund 90 Prozent der Patientinnen und Patienten. Sie zeigen wenig Interesse, geben nichts von sich preis und reagieren kaum auf äussere Reize, weshalb sie selten angesprochen und schnell übersehen werden. Im Pflegeheim machen sie weder Lärm noch Ärger. Als Betreuende kann man sich auch später noch um sie kümmern, wenn die unruhigen oder aggressiven Patienten versorgt sind. Diese aufgeschobene Zuwendung und das damit verbundene Ausbleiben von Sinnesreizen verstärken wiederum die Apathie – ein Teufelskreis. In einer eigenen Welt Dieses Phänomen kennt Brigitte Gysin, Ergotherapeutin und heute Gerontologin in der Pflegimuri, Zentrum für spezialisierte Pflege. Sie erinnert sich an eine Patientin um die achtzig, die täglich von ihrem Ehemann besucht wurde. «Er sass neben ihr, streichelte ihre Hand, sprach mit ihr und gab ihr das Essen ein, wenn sie selbst nichts ass. Zurück kam: nichts. Keine Mimik, keine Antworten, keine Berührung.» Manchmal habe die Patientin kurz den Kopf zur Tür gedreht, wenn der Ehemann hereingekommen sei. Ansonsten sei sie einfach dagesessen, in ihrer eigenen Welt, zu der scheinbar nichts und niemand durchdringen konnte. «Es war, als wäre bloss ihre Hülle anwesend», so Gysin. Der Ehemann habe mehr als einmal Tränen in den Augen gehabt. Wie schwierig es für Angehörige und Pflegende ist, angesichts solcher Teilnahmslosigkeit nicht selbst apathisch und frus-

triert zu reagieren, weiss auch Yvonne Treusch, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsstelle Ergotherapie. Für ihr Dissertationsprojekt hat sie Menschen mit Demenz ergotherapeutisch behandelt. «Ich habe mich bei einigen Patienten gefragt, was sie wohl fühlen, wenn ich bei ihnen am Bett sitze», erzählt sie. Finden sie gut, was ich mache? Stört es sie? Ist es ihnen völlig gleichgültig?» Als sie sich mit Forschungskollege Valentine Marcar darüber austauschte, wurde dieser hellhörig. Als Neuropsychologe weiss er um die motivierende Wirkung von Gefühlen – positiven wie negativen: «Wenn uns etwas wütend macht, dann fluchen wir oder hauen mit der Faust auf den Tisch. Macht uns etwas Spass, möchten wir es sofort wiederholen», veranschaulicht er. «Fehlen hingegen die Emotionen, treibt uns auch nichts mehr an.» Gefühlsreaktionen messen Die Fragestellung, die sich für die beiden Forschenden herauskristallisierte, war: Funktioniert das neuronale Netzwerk, das für die Emotionen zuständig ist, bei Demenzbetroffenen mit Apathie noch? Zur Beantwortung ihrer Frage konnten Treusch und Marcar nicht auf klassische neurowissenschaftliche Methoden zurückgreifen: Die enge, laute Röhre für eine Magnetresonanztomografie hätte die Demenzpatienten zu sehr aus dem Konzept gebracht, ebenso die Elektrodenkappe für eine Elektroenzephalografie. Eine niederschwellige Alternative bestand darin, ein Pulsoxymeter und zwei Elektroden an den Fingern der Versuchspersonen anzubringen. Damit lassen sich Veränderungen der Hautleitfähigkeit und Schwankungen bei der Herz-

frequenz messen – beides Reaktionen des vegetativen Nervensystems, die bei gesunden Menschen zuverlässig auf Emotionen hinweisen. In einer Pilotstudie legten die Forschenden zwölf Demenzbetroffenen mit Apathie eine Reihe von Bildern vor und massen, ob sich Hautleitfähigkeit und Herzfrequenz bei deren Betrachtung veränderten. Als Stimuli verwendeten sie einerseits Fotografien aus den Biografien der Teilnehmenden und andererseits Bilder aus dem International Affective Picture System, einer Datenbank mit Fotografien, die beim Durchschnittsbetrachter bestimmte Empfindungen wie Freude, Unbehagen oder Erregung hervorrufen. Angenehme Reize zeigen Wirkung Kein klares Muster stellten die beiden Wissenschaftler bei der Herzfrequenz fest. Laut Valentine Marcar ist dies möglicherweise darauf zurückzuführen, dass das Herz bei älteren Menschen grundsätzlich unregelmässiger schlägt: «Vielleicht ist der Herzschlag bei unserer Zielgruppe kein geeignetes Messinstrument.» Für eine klare Aussage sei die Stichprobe aber zu klein gewesen. Anders als bei der Herzfrequenz zeigten sich bei der Hautleitfähigkeit deutliche Ausschläge. Yvonne Treusch staunt heute noch über das Resultat: «Bei gewissen Studienteilnehmern hatte ich den Eindruck, dass sie durch die Bilder hindurchschauten und sie gar nicht wahrnahmen. Trotzdem veränderte sich ihre Hautleitfähigkeit. Hinter der Fassade spielte sich emotional also durchaus etwas ab.» Besonders deut-

Ergotherapie

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lich zeigten sich die vegetativen Reaktionen bei Fotos von früher oder angenehmen Bildstimuli wie Baby- oder Welpenfotografien. Umgemünzt auf den Alltag könnte dies laut Marcar bedeuten, dass sich die Betroffenen mit positiven Anreizen wie Lob oder Zuspruch eher aus der Reserve locken lassen als mit Tadel oder Einschüchterung. Und es lohnt sich doch Die Ergebnisse der Pilotstudie möchten die beiden Forschenden nun in einer grossen Untersuchung in Zusammenarbeit mit diversen Deutschschweizer Alters- und Pflegeheimen verifizieren. Diesmal schliessen sie nebst Demenzpatienten mit Apathie auch solche ohne Apathie ein, um einen Vergleich zwischen den Reaktionen beider Gruppen zu ziehen. Zudem erheben sie, welche pharmakologischen und psychosozialen Massnahmen die Studienteilnehmer in Anspruch nehmen. Denn in der Schweiz erhalten etwa 70 Prozent der

Apathie bei Demenz Projektleitung: Dr. Yvonne Treusch, Dr. Valentine Marcar Projektpartner: Universität Zürich, diverse Alters- und Pflegeheime in der Deutschschweiz Finanzierung: Alzheimer Schweiz, Stiftung für Ergotherapie Zürich

Pflegeheimbewohner mit Demenz Neuroleptika, die dämpfend wirken und apathisches Verhalten begünstigen. «Wir möchten sehen, wie stark Medikamente, aber auch Therapien oder Gruppenaktivitäten die emotionalen Reaktionen beeinflussen», erläutert Yvonne Treusch. In der Hauptstudie versuchen die beiden Wissenschaftler zudem, genauer zu differenzieren, auf welche Stimuli die Teilnehmenden besonders positiv reagieren. «In der Ergotherapie suchen wir oft den Bezug zur eigenen Biografie. Da interessiert es mich natürlich, ob dies in unserem Kontext auch wirklich sinnvoll ist», so Treusch. Aus den Resultaten lassen sich konkrete Instrumente entwickeln, mit denen Angehörige und Pflegepersonal arbeiten können – etwa in der Pflegimuri, die ebenfalls an der Studie teilnimmt. Gerontologin Brigitte Gysin erhofft sich eine Bestätigung

für das, was viele Pflegende und Betreuende intuitiv annehmen: dass es sich lohnt, Demenzbetroffene mit Apathie aktiv in den Heimalltag einzubinden. «Zu wissen, dass wir das Wohlbefinden unserer Bewohnerinnen und Bewohner positiv beeinflussen können, auch wenn wir es von aussen nicht immer sehen, wirkt motivierend und ist für unsere Arbeit unglaublich wertvoll.» Doch was, wenn sich in der Hauptstudie weder bei der Herzfrequenz noch bei der Hautleitfähigkeit eindeutige Veränderungen zeigen? Wäre dies der Beweis dafür, dass die Emotionsfähigkeit erloschen ist? Valentine Marcar verneint: «Was wir suchen, ist, metaphorisch gesprochen, eine Stimme im Sturm. Hören wir sie, bedeutet dies, dass sie noch vorhanden ist. Hören wir sie nicht, ist der Sturm möglicherweise einfach zu laut.»

Wer leidet an Apathie? Apathie gehört zu den häufigsten neuropsychiatrischen Symptomen bei Demenz und wird in der Literatur oft als Störung der Motivation auf den Ebenen Kognition, Verhalten und Emotion beschrieben. Die Betroffenen wirken teilnahmslos und zeigen kein Interesse und eine fehlende Erregbarkeit gegenüber äusseren Reizen. Häufige Begleitsymptome sind Appetitlosigkeit, Niedergeschlagenheit und Schlafstörungen. Abhängig von der Form der Demenz weisen zwischen 60 bis über 90 Prozent der Betroffenen im Laufe ihrer Erkrankung Symptome einer Apathie auf. Apathisches Verhalten tritt aber auch bei psychischen Krankheiten wie Depression, Schizophrenie oder Autismus auf. Eine ausgeprägte Schilddrüsenunterfunktion oder schwer verlaufende Infektionskrankheiten können ebenfalls Apathie hervorrufen.

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Projektauswahl der Forschungsstelle Ergotherapie

Aktivierung HF Der Stand und die Entwicklungsperspektiven des Berufes der Aktivierungsfachfrau/-mann HF werden evaluiert. Projektleitung: Brigitte Gantschnig Projektpartner und Finanzierung: Medi, Zentrum für medizinische Bildung Bern

Apathie bei Demenz Die Studie evaluiert die emotionale Reaktion als Grundlage für Betreuung und Therapie. Projektleitung: Yvonne Treusch, Valentine Marcar Projektpartner: Universität Zürich, diverse Alters- und Pflegeheime in der Deutschschweiz Finanzierung: Alzheimer Schweiz, Stiftung für Ergotherapie Zürich

Berufskarrieren und Berufsverweildauer Gesundheitsberufe: TheraCoops Taugen Genossenschaften als Geschäftsmodell für die Zukunft der therapeutischen Berufe? Projektleitung: Ursula Meidert Finanzierung: Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation

Bessere Mobilität für Menschen mit Behinderung Die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung in Bezug auf Mobilität werden zusammengefasst und auf den Kontext in Zürich übertragen. Projektleitung: Brigitte Gantschnig Projektpartner und Finanzierung: Tixi Zürich

Elektro-Rollstuhl-Training Die Studie evaluiert die Wirksamkeit von Elektrorollstuhltraining zur Förderung von Mobilität und Partizipation von Kindern mit Zerebralparese. Projektleitung: Brigitte Gantschnig Projektpartner: Ostschweizer Kinderspital St. Gallen Finanzierung: Ebnet Stiftung, Stiftung Cerebral, Stiftung für Ergotherapie Zürich, Stiftung für Abendländische Kultur

Frühkindlicher Autismus Die Wirksamkeit verschiedener Frühinterventionsmethoden bei frühkindlichem Autismus wird evaluiert. Projektleitung: Christian Liesen, Heidrun Becker Projektpartner: Departement Soziale Arbeit der ZHAW Finanzierung: Bundesamt für Sozialversicherungen

Gesundheitsförderungsprogramm «bliib gsund» Das Projekt unterstützt den Aufbau eines ergotherapeutischen Gesundheitsförderungsprogramms für Personen über 50 Jahre. Projektleitung: Julie Page Projektpartner: Linthpraxen GmbH Finanzierung: Stiftung für Ergotherapie Zürich, Linthpraxen GmbH, ErgotherapeutInnen-Verband Schweiz

iCareCoops Das Projekt will mittels einer innovativen Plattform mit ICT- und AAL-basierten Services Seniorengesellschaften in Europa fördern. Projektleitung: Diotima Bertel, Heidrun Becker Projektpartner: Synyo (AT), Siveco (RO), CoopEU (BE), VIA University College (DK), ZDUS (SI), Ideal Development ApS (DK) Finanzierung: Active and Assisted Living Programme (EU), Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation

Internationale Bodenseehochschule: Living Lab (AAL) Wie lassen sich bei Menschen mit erhöhtem oder hohem Assistenzbedarf Barrieren bei der Nutzung von umgebungsunterstützenden Technologien abbauen? Projektleitung: Guido Kempter, Heidrun Becker Projektpartner: Fachhochschule Vorarlberg, 12 Hochschulen im Bodenseeraum, 10 Sozialdienstleister, 12 Technologieanbieter, School of Engineering und Departement Life Sciences und Facility Management der ZHAW Finanzierung: Interreg Alpenrhein-BodenseeHochrhein, Europäischer Fonds für Regionale Entwicklung, Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation

PEDI-CAT für den deutschsprachigen Raum Übersetzung und Adaption des Pediatric Evaluation of Disability Inventory Computer Adaptive Testing (PEDI-CAT) für den deutschsprachigen Raum. Projektleitung: Christina Schulze Projektpartner: Boston University College of Health & Rehabilitation Sciences: Sagent College (US), Pediatric Rehabilitation Research Center of Excellence for Rehabilitation Medicine Utrecht (NL), Institut für Übersetzen und Dolmetschen der ZHAW (CH), Klinik für Kinder- und Jugendchirurgie am Landeskrankenhaus Universitätsklinikum Graz (AT); Frühdiagnosezentrum Würzburg (D), Rehabilitationszentrum Affoltern am Albis des Universitätskinderspital Zürich (CH) Finanzierung: Stiftung für Ergotherapie Zürich, Batzebär Universitätskinderklinik Bern, ErgotherapeutInnen-Verband Schweiz

Rollen-Checkliste Transkulturelle Übersetzung und Validierung der Rollen-Checkliste. Projektleitung: Ursula Meidert Projektpartner: School of Health and Rehabilitation Sciences, Indiana University (US), Department of Occupational Therapy, Prosthetics and Orthotics and Akershus University College of Applied Sciences (NO), Queen Margaret University (UK), Linköping University (SE), Tokyo Metropolitan University (JP) Finanzierung: Stiftung für Ergotherapie Zürich

Quantified Self: Schnittstelle zwischen Lifestyle und Medizin Technikfolgenabschätzungsstudie zum Trend der Selbstvermessung. Projektleitung: Heidrun Becker Projektpartner: Institut für Physiotherapie, School of Management and Law und School of Engineering der ZHAW, Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (DE) Finanzierung: Zentrum für TechnologiefolgenAbschätzung TA-Swiss

Kontakt Prof. Dr. Heidrun Becker Telefon 058 934 64 77 heidrun.becker@zhaw.ch

Spielplatz für alle Die Studie evaluiert den Spielplatz als Ort der Begegnung für Kinder mit und ohne Einschränkungen. Projektleitung: Christina Schulze Projektpartner: Andreas Bänziger, Ines Wenger, Luleå University of Technology (SE), University College Cork (IE) Finanzierung: Béatrice Ederer-Weber Stiftung, Stiftung Denk an mich

Ergotherapie

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Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften

Public Health braucht Diversität und Multidisziplinarität. In der Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften sind deshalb unterschiedliche Fachbereiche und Expertisen vertreten: von Psychologie, Soziologie, Ökonomie und Statistik bis zu Physiotherapie oder Medizin. Verfolgt wird eine Lebenspannenperspektive, die vulnerable Bevölkerungsgruppen und sensible Zeitpunkte berücksichtigt, um einen nachhaltigen Beitrag zu Public Health zu erbringen. Die Forschungsstelle beschäftigt sich mit Fragen zu Gesundheitsförderung und Prävention, zu Epidemiologie und Determinanten von Gesundheitsproblemen sowie zu Gesundheitssystemen und -versorgung. Unter der neuen Forschungsleiterin Julia Dratva liegt der Fokus in Zukunft auf Kinder- und Jugendgesundheit sowie Gesundheit im Alter. Das Team verfügt über ein breites Know-how sowohl in quantitativ-statistischen als auch qualitativen Forschungsmethoden. Den Transfer von neuem Wissen in die Anwendung leistet die Forschungsstelle durch ihre Zusammenarbeit mit Praxispartnern, mit wissenschaftlichen Tagungsbeiträgen und Publikationen, mit Veranstaltungen für die breite Öffentlichkeit sowie mit Lehrveranstaltungen.

Forschungsteam Julia Dratva, Prof. Dr. med., Leiterin Szilvia Altwicker-Hámori, Dr. Isabel Baumann, Dr. Rebecca Crawford, Prof. Dr. Andrea Glässel, Dr. Marion Huber, Prof. Dr. Sibylle Juvalta, MSc

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Markus Melloh, Prof. Dr. med. Dominik Robin, lic. phil. René Schaffert, lic. phil. Peter Rüesch, Prof. Dr. Thomas Volken, Prof. Dr. Frank Wieber, Prof. Dr.


Tragendes Netzwerk für die Sturzprävention Damit Präventionsmassnahmen bei sturzgefährdeten Menschen greifen, braucht es ein funktionierendes Versorgungssystem. Dieses zu verbessern, bezweckt das Via-Sturzpräventionsprojekt. In der Evaluationsstudie dazu zeigt die Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften, dass nebst dem Engagement der involvierten Fachpersonen vor allem auch die Motivation und die Möglichkeiten der Betroffenen berücksichtigt werden sollten.

Ein plötzliches Schwindelgefühl, eine Schwäche im Bein oder ein rutschiger Untergrund – ein Sturz geschieht schneller, als man denkt. Glück hat, wer bloss mit einer Schürfung oder Prellung davonkommt. Doch selbst wenn der Zwischenfall keine körperlichen Konsequenzen nach sich zieht: Er kann Unsicherheit hervorrufen und das Vertrauen in die eigenen motorischen Fähigkeiten beeinträchtigen – gerade bei älteren Menschen. Sie sehen in der Treppe zur Wohnung vielleicht plötzlich Gefahrenpotenzial und vermeiden es zunehmend, nach draussen zu gehen. Ihr Bewegungsradius verkleinert sich, was ihre Lebensqualität beeinträchtigt und zugleich den altersbedingten Muskelabbau beschleunigt. Weitere Stürze sind vorprogrammiert. Jede dritte Person über 65 stürzt mindestens einmal pro Jahr. Die Folgen sind Einschränkungen im Alltag der Betroffenen und hohe Gesundheitskosten für die Allgemeinheit. Die demografische Entwicklung

verschärft das Problem. Doch Studien zeigen, dass Präventionsmassnahmen wie Kurse, Vitamin-D-Supplementation oder das Beseitigen von Stolperfallen die Zahl der Stürze und ihre Folgen reduzieren. Auf diese Erkenntnis stützt sich das Projekt «Optimierung der Sturzprävention bei Personen mit erhöhtem Sturzrisiko», das Teil der mehrjährigen Via-Initiative von Gesundheitsförderung Schweiz ist (vgl. Box). Augenmerk auf Fachpersonen Im Fokus des Präventionsprojekts steht für einmal nicht die sturzgefährdete Person selbst, sondern ihr (para-)medizinisches Versorgungsnetz, das heisst Hausärzte, Physio- und Ergotherapeuten sowie Mitarbeitende der Spitex oder von Pro Senectute. Ihnen sollen Fortbildungsangebote, Hilfsmittel und Tools dabei helfen, gefährdete Senioren besser zu erfassen, abzuklären und zu behandeln. Das Projekt wurde von 2014 bis 2016 in den Regionen Sargans, Prättigau und Chur als Pilot durch-

geführt. Um herauszufinden, welche der Bemühungen erfolgversprechend respektive welche Anpassungen notwendig sind, beauftragte Gesundheitsförderung Schweiz die Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften mit einer Evaluationsstudie. «Uns interessierte, inwiefern sich die Einstellungen, die Kompetenzen und die Arbeitsweise der Akteure innerhalb des Versorgungssystems verändert haben», erklärt Frank Wieber, Projektleiter und Professor für Public Health. «Denn wenn sich das System und die Zusammenarbeit darin verbessert, können wir annehmen, dass längerfristig auch sturzgefährdete ältere Menschen profitieren.» Um die Wirkung des Projekts auf das Versorgungssystem in den Pilotregionen zu erfassen, führte das Forschungsteam eine Onlinebefragung, leitfadengestützte Interviews und ein Fokusgruppeninterview mit Vertretern der verschiedenen involvierten Berufsgruppen durch.

Wirkungsmodell für das Evaluationsprojekt Input

Output

Outcome

Impact

Ressourcen – Finanzielle Ressourcen des Via-Pilotprojekts – Personelle Ressourcen des Via-Pilotprojekts (Projektleitung, Mitglieder Koordinations- und Steuerungsgruppe, Mitarbeitende Gesundheitsberufe)

Massnahmen – Angebot an Fort- und Weiterbildungen – Angebot an Hilfsmitteln und Tools – Beteiligte Akteure und ihre Aktivitäten – Angebot an Information und Kommunikation

Unmittelbare Wirkungen – Erfolg der Fort- und Weiterbildungen – Erfolg der Hilfsmittel und Tools – Erfolg des Betriebs der Netzwerke – Erfolg der Sensibilisierung

Weitergehende Wirkungen – Stürze werden reduziert – Patienten, die Stürze erlebt haben, haben eine höhere Lebensqualität

Quelle: ZHAW, orientiert sich an Bertelsmann Stiftung

Gesundheitswissenschaften

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Sturzrisiken melden und abklären Was sich bei der Analyse der so ermittelten Daten zeigte: Die beteiligten Akteure finden Sturzprävention wichtig, denn das Problem ist verbreitet. Hausärzte, Ergound Physiotherapeuten wie auch Fachpersonen von Pro Senectute und Spitex schätzten, dass bis zu 40 Prozent der von ihnen betreuten Personen über 75 Jahre sturzgefährdet sind. Entsprechend hoch war die Bereitschaft, Sturzrisiken zu melden, besonders bei Spitexmitarbeitenden. Oft wurden dafür die für das Projekt entwickelten Meldeblätter eingesetzt, wobei es teilweise zu Doppelspurigkeiten mit bereits vorhandenen Dokumentationssystemen kam. Laut Frank Wieber lohnt es sich deshalb, die Prozesse und die verwendeten Dokumente in Zukunft noch besser auf das Bestehende abzustimmen. Idealerweise nicht nur regional, sondern national. Die Meldeblätter bewirkten, dass die vermuteten Sturzrisiken systematischer erfasst wurden, und förderten die Feedbackkultur unter den Fachleuten. So informierten die Hausärzte die Akteure, von denen eine Meldung ausging, immerhin in über der Hälfte der Fälle über die Ergebnisse weiterer Abklärungen und über Verordnungen. Für die Abklärung setzten sie spezifische Tests und Hilfsmittel ein. Als wichtige Ressourcen nannten sie aber auch ihr Fachwissen und ihre Erfahrung. Gleichgewichtstraining klingt besser Nur in einem Drittel der Fälle folgte auf die genauere Abklärung auch eine Verordnung mit Bezug zur Sturzprävention, meist für Physiotherapie, selten für ergotherapeuti-

Evaluation Via-Pilotprojekt Sturzprävention Projektleitung: Prof. Dr. Frank Wieber Projektteam: Dr. Isabel Baumann, Dr. Andrea Glässel, Prof. Dr. Peter Rüesch, Prof. Dr. Thomas Volken Finanzierung: Gesundheitsförderung Schweiz

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sche Massnahmen, die auch allfällige Stolperfallen im Wohnumfeld berücksichtigen. Gefragt nach den Gründen für den geringen Prozentsatz an Verordnungen, nannten die Hausärzte oft die Tatsache, dass andere therapeutische Massnahmen im Vordergrund standen, aber auch eine fehlende Bereitschaft von Seiten der Betroffenen. «Einige Befragte berichteten, dass sturzgefährdete Personen Physiotherapie ablehnten, weil der Weg für sie zu mühsam sei», führt Frank Wieber aus. «Andere vermuteten, dass die Senioren ihre Unsicherheit beim Gehen und Stehen zwar unterschwellig wahrnehmen, sie aus Sorge vor Stigmatisierung aber leugnen oder bagatellisieren. Schliesslich gesteht niemand gerne Schwäche oder Gebrechlichkeit ein.» Generell ist Sturzprävention laut Einschätzung der Befragten kein attraktives Thema bei der Zielgruppe. Akzeptierter sind neutralere Begrifflichkeiten wie Gleichgewichtsoder Beweglichkeitstraining. Laut Frank Wieber ist es deshalb sinnvoll, die Bezeichnungen sorgfältig zu wählen, gerade auch für die Öffentlichkeitsarbeit: «Wenn wir wollen, dass Präventionsmassnahmen greifen, müssen wir die Betroffenen motivieren und mit ins Boot holen.» Vernetzung dank Fortbildung Motiviert zeigten sich viele Berufsvertreter, wenn es um Fortbildungen zum Thema Sturzprävention ging. Geschätzt daran wurde nebst inhaltlichen Gesichtspunkten und Praxisnähe die soziale Komponente, besonders bei interprofessionellen Angeboten. «Wenn man die Leute persönlich kennt, dann ist die Schwelle niedriger, einmal anzurufen oder nachzufragen», bringt

es eine Ergotherapeutin aus dem Prättigau auf den Punkt. Gleichzeitig lassen die Aussagen der involvierten Akteure darauf schliessen, dass es schwierig sein wird, das Thema nachhaltig zu verankern. Denn Sturzprävention ist nur eines von vielen wichtigen Themen in ihrem Alltag und die Ressourcen sind limitiert. Eine mögliche Lösung sieht das Forschungsteam in einem modularen Fort- und Weiterbildungsprogramm, das umfassendere Einführungs- und kompakte Auffrischungsveranstaltungen umfasst. So könnten die Teilnehmenden je nach Vorwissen und Verfügbarkeit Kurseinheiten auswählen. Der Wille, sich auszutauschen und zu vernetzen, ist grundsätzlich da, wobei bestimmte Berufsgruppen – etwa Hausarzt und Physiotherapeut oder Hausarzt und Spitex – bereits heute relativ eng zusammenarbeiten, während die Zusammenarbeit zwischen Spitex und Physio- oder Ergotherapie noch wenig ausgeprägt ist. Dass das Pilotprojekt dennoch einen eher geringen Einfluss auf die interprofessionelle Zusammenarbeit zeigte, führt Studienleiter Frank Wieber auf die beschränkten Zeitressourcen der involvierten Berufsgruppen zurück, aber auch auf die begrenzten Möglichkeiten, die Koordinations- und Vernetzungsleistungen abzurechnen. Sowieso sieht er in der Kompensation von Leistungen einen wichtigen Punkt: «Würden alle beteiligten Berufsgruppen für sämtliche Aufgaben in der Sturzprävention angemessen entschädigt, wäre dies wohl eine wirkungsvolle Motivationsspritze – diesmal nicht für die sturzgefährdeten Personen selbst, sondern für die Akteure im Versorgungssystem.»

Via – Best Practice Gesundheitsförderung im Alter Seit 2011 führt Gesundheitsförderung Schweiz zusammen mit zehn Kantonen das Projekt «Via – Best Practice Gesundheitsförderung im Alter» durch. Ziel des Projekts ist es, die Gesundheit älterer Menschen zu fördern, ihre Selbstbestimmung und Selbstständigkeit zu stärken und ihre Lebensqualität zu erhalten und zu verbessern. Die relevanten Partner werden beispielsweise durch die Bereitstellung von wissenschaftlichen Grundlagen und Umsetzungshilfen, durch Vernetzungsaktivitäten und durch Information und Beratung unterstützt.


Projektauswahl der Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften

Neuroenhancements bei Kindern Die Studie untersucht am Beispiel von ADHS Faktoren und Mechanismen, die zur Verschreibung von MPH (z. B. Ritalin) führen, und analysiert den Verlauf der Massnahmen aus der Perspektive von Kindern und Eltern. Projektleitung: Sandra Hotz, Dominik Schöbi, Peter Rüesch Projektpartner: Collegium Helveticum, Departement für Psychologie der Universität Freiburg Finanzierung: Mercator Stiftung

Blutversorgung in der Schweiz: Szenarien 2015−2035 Wie wird sich der zukünftige Bedarf an Blut sowie Blutprodukten in der Schweiz bis zum Jahr 2035 entwickeln? Projektleitung: Thomas Volken Projektpartner: Blutspende SRK Schweiz, Regionale Blutspendedienste, Swissmedic Finanzierung: Stiftung Lindenhof

Prostate Cancer E-Health-Tutorial Entwicklung einer Onlineplattform für Patienten zu den Therapiemöglichkeiten bei Prostatakrebs. Projektleitung: Peter Rüesch, Urs Dahinden Projektpartner: Schweizerisches Institut für Informationswissenschaften der Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur Finanzierung: Krebsforschung Schweiz

Bestandsaufnahme zu aktuellen und geplanten Kommunikationsaktivitäten im Bereich NCD und Sucht Eine Bestandsaufnahme zur Kommunikation von Prävention im Bereich NCD, Sucht und psychische Gesundheit bildet die Grundlage zur Entwicklung einer nationalen NCD-SuchtKommunikationsstrategie. Projektleitung: Julia Dratva Projektpartner und Finanzierung: Bundesamt für Gesundheit

Entwicklung von Erhebungsinstrumenten zur Schliessung von Datenlücken zu Kinder- und Jugendgesundheit Priorisierung von Datenlücken in der Schweiz und Entwicklung von Konzepten für die Schliessung dieser Datenlücken. Projektleitung: Julia Dratva Projektpartner und Finanzierung: Bundesamt für Gesundheit

Validierung des MyPOS-Fragebogens Der MyPOS-Fragebogen zu Lebensqualität von Myelompatienten wird für die Anwendung in der Schweiz übersetzt und validiert. Projektleitung: Julia Dratva Projektpartner: Kantonsspital Münsterlingen, Kantonsspital Aarau, Onkozentrum Hirslanden Zürich Finanzierung: Celgene

Evaluation Via – Pilotprojekt Sturzprävention Das Projekt untersucht die Wirksamkeit und Wirkungsweise des Sturzpräventionsprojekts mit dem Ziel, Abklärung, Zuführung und Betreuung von sturzgefährdeten älteren Menschen (75+) zu verbessern. Projektleitung: Frank Wieber Projektpartner und Finanzierung: Gesundheitsförderung Schweiz

Risikofaktoren einer Invalidisierung bei jungen Erwachsenen Anhand des Datensatzes «Syntheseerhebung Soziale Sicherheit und Arbeitsmarkt» (SESAM) werden Risikofaktoren einer Invalidisierung bei jungen Erwachsenen mit gesundheitlichen Einschränkungen untersucht. Projektleitung: Szilvia Altwicker-Hámori Finanzierung: Arcas Foundation, National Centre of Competence in Research «Overcoming Vulnerability – Life Course Perspectives» (NCCR LIVES)

Bessere Daten zur Qualität der häuslichen Pflege (Spitex) In der Schweiz besteht wenig Wissen zu Angebot, Nachfrage und Qualität der Pflege zu Hause. Die Studie analysiert die noch wenig ausgewertete Datenbank von Spitex Schweiz und entwickelt sie weiter. Projektleitung: Peter Rüesch Projektpartner: Institut für Sozial und Präventivmedizin Universität Bern, Schweizerisches Gesundheitsobservatorium, Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie, Spitex Schweiz Finanzierung: Schweizerischer Nationalfonds (NFP 74)

Berufskarrieren Pflege: Längsschnittstudie nach dem Berufseinstieg Als Teil eines nationalen Projekts der Hochschulen Gesundheit zur Entwicklung einer Strategie gegen den Fachkräftemangel werden Pflegende zu ihren Laufbahnen befragt. Projektleitung: René Schaffert Projektpartner: Eidgenössisches Hochschulinstitut für Berufsbildung Finanzierung: Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation

Kompetenzen zur interprofessionellen Zusammenarbeit und geeignete Unterrichtsformate Im Projekt werden interprofessionelle Kompetenzen und Unterrichtsangebote für den Schweizer Kontext erarbeitet und ein Rahmenwerk zur interprofessionellen Ausbildung und Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe entwickelt. Leitung: Marion Huber Projektpartner: Universität Zürich, Careum, Universitätsspital Zürich Finanzierung: Bundesamt für Gesundheit

Kontakt Prof. Dr. med. Julia Dratva, Leiterin Telefon 058 934 63 72 julia.dratva@zhaw.ch

Motivation in der Alkoholabhängigkeitstherapie Das Projekt untersucht die Rolle motivationaler Prozesse für die Erreichung des Abstinenzziels während und nach einer stationären Alkoholabhängigkeitstherapie. Projektleitung: Susanne Rösner, Frank Wieber Projektpartner und (Teil-)Finanzierung: Forel Klinik

Gesundheitswissenschaften

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Forschungsstelle Hebammenwissenschaft

Die Forschungsstelle Hebammenwissenschaft fördert die evidenzbasierte Praxis in der Geburtshilfe, die Qualitätssicherung der Hebammenarbeit und die bedürfnisorientierte Versorgung während Schwangerschaft, Geburt und früher Kindheit. Im Mittelpunkt steht die bestmögliche Betreuung von Frauen, Kindern und Familien während Schwangerschaft und Geburt, im Wochenbett und während der Stillzeit. Das Team besteht aus Forscherinnen der Hebammen- und Pflegewissenschaft, der Soziologie, Psychologie, Statistik und Epidemiologie mit Expertisen in Praxis und Forschung. Es verfügt über breites sowie spezialisiertes Methodenwissen und ist in der Entwicklung und Umsetzung praxisorientierter Forschungsprojekte ebenso erfahren wie in der Durchführung multizentrischer, internationaler Studien. Die enge Zusammenarbeit mit Praxisvertretern aus dem Gesundheits- und Sozialbereich gewährleistet einen konsequenten Praxisbezug, während die internationale Vernetzung den Wissenstransfer im Forschungsgebiet unterstützt. Aufträge und Projektfinanzierungen erhält die Forschungsstelle bisher unter anderem vom Schweizerischen Nationalfonds, vom Bundesamt für Gesundheit, vom Schweizerischen Hebammenverband und von der Kommission für Technologie und Innovation.

Forschungsteam Jessica Pehlke-Milde, Prof. Dr., Leiterin Rebekka Erdin, MSc Mechthild M. Gross, Prof. Dr. habil. Susanne Grylka-Bäschlin, MSc Astrid Krahl Irina Radu, MA

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Wochenbettbetreuung für alle dank vernetzter Hebammenarbeit Endlich ist das Baby da. Der Spitalaustritt steht kurz bevor – und mit ihm all die neuen Herausforderungen im Alltag. Über einen Pool von frei praktizierenden Hebammen gewährleistet der Verein Familystart Zürich die medizinische Grundversorgung von Mutter und Kind in der ersten Zeit zu Hause. Die Forschungsstelle Hebammenwissenschaft evaluiert das Angebot in einer Studie.

Ein Piepen in der Handtasche. Franziska Summermatter blickt auf ihr Mobiltelefon. Eben ist ein SMS von Familystart Zürich eingegangen. «Liebe Hebammen. Wer hat Zeit, eine Frau in Wipkingen zu betreuen? Spontangeburt gestern, Montag. Die Frau kann am Donnerstag nach Hause.» Summermatter blickt in ihre Agenda, überlegt kurz und schreibt zurück: «Ich kann das übernehmen.» Per Mail erhält sie wenig später die detaillierteren Informationen zu Mutter und Kind. Sie ruft die junge Frau an, klärt mit ihr die aktuelle Lage und vereinbart einen ersten Termin – alles in Englisch. Denn bei der Mutter handelt es sich um eine Eritreerin, die erst vor einigen Monaten als Flüchtling in die Schweiz kam. Hebammenberuf gewinnt Beachtung Bei einer Spontangeburt verlassen Mutter und Kind heute nach vier Tagen die Klinik. Dadurch verlagert sich ein wichtiger Teil

der Wochenbettbetreuung in den spitalexternen Bereich. Zu Hause leisten frei praktizierende Hebammen wie Franziska Summermatter einen wichtigen Beitrag zur medizinischen Grundversorgung von Mutter und Kind. «Die kürzer werdenden Spitalaufenthalte sind mit ein Grund, weshalb unser Berufsstand heute stärker wahrgenommen wird als früher», stellt die 54-Jährige fest. «Schliesslich ist es im Interesse aller Akteure im Gesundheitswesen, dass Mutter und Kind in der sensiblen Zeit nach der Geburt gut versorgt sind.» Doch eine frei praktizierende Hebamme für die Wochenbettbetreuung zu finden, ist nicht so einfach. «Viele meiner Berufskolleginnen sind voll ausgelastet», sagt Summermatter. Ausserdem können sie ihre effektiven Arbeitseinsätze kaum vorausplanen: Mal kommt ein Baby viel früher

als gedacht, mal verlässt eine Frau das Spital später oder braucht eine spezielle Betreuung. Zuweilen wissen die Mütter und ihre Familien bis zur Geburt gar nicht, dass sie sich in der ersten Zeit zu Hause auf das Know-how einer Hebamme abstützen können. So auch im Fall der jungen Eritreerin aus Wipkingen. Dann muss sehr kurzfristig eine Hebamme organisiert werden, was für die Pflegefachpersonen im Spital meist mit grossem Aufwand und unzähligen Telefonaten verbunden ist. Versorgung nach der Geburt An diesem Punkt setzt Familystart Zürich an: Über ein Netzwerk von frei praktizierenden Hebammen gewährleistet der Verein, dass jeder Mutter, die dies wünscht, in den ersten Tagen nach der Geburt eine Hebamme vermittelt wird. Damit zielt er einerseits auf einen gesunden Lebensstart für sämtliche Neugeborenen und anderer-

Studienaufbau in vier Modulen

Modul

Modul

Modul

Modul

Versorgungsgarantie Von Familystart Zürich erfasste Daten von 2016 zu den Müttern, der Vermittlung und den Hebammen

Ökonomischer Nutzen Befragung von Führungskräften und Mitarbeitenden der Geburtshilfe in den Vertragsspitälern

a) Charakteristika der vermittelten Familien Sekundäranalyse der Tätigkeitserfassung frei praktizierender Hebammen des SHV

a) Dienstleistungen der Hebammen Sekundäranalyse der Tätigkeitserfassung frei praktizierender Hebammen des SHV

b) Zufriedenheit der Nutzerinnen Telefoninterviews mit 15 betreuten Frauen

b) Zufriedenheit der Hebammen Fokusgruppeninterview mit 5 – 10 Hebammen

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Hebammenwissenschaft

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seits auf eine effiziente Auslastung der Hebammenressourcen. Für Frauen, die in einem Partnerspital von Familystart Zürich gebären – aktuell gehören das Stadtspital Triemli, das Universitätsspital Zürich und das Spital Zollikerberg dazu –, ist der Vermittlungsdienst unentgeltlich. Daneben betreibt der Verein ein 24-Stunden-Beratungstelefon. Doch kann die Versorgungsgarantie durch die Arbeit im Netzwerk tatsächlich gewährleistet werden? Und welchen effektiven Mehrwert bringt die Dienstleistung den Müttern, den vermittelten Hebammen, aber auch den Partnerspitälern? In einem Projekt unter der Leitung von Susanne Grylka evaluiert die Forschungsstelle Hebammenwissenschaft aktuell die Leistungen des Vereins. Die Studie soll das Entwicklungspotenzial des Angebots aufzeigen, dem Verein aber auch ein solides Fundament liefern, um mit weiteren Spitälern über eine Zusammenarbeit zu verhandeln. Gleiche Chancen am Lebensanfang Das Projekt gliedert sich in vier Module, die sich mit unterschiedlichen Aspekten auseinandersetzen. Während das erste Modul die Anmeldungen mit den effektiven Vermittlungen von Familystart Zürich vergleicht und so die Versorgungsgarantie überprüft, widmet sich Modul zwei dem ökonomischen Nutzen des Angebots für die Partnerspitäler. Es wird in Zusammenarbeit mit dem Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie durchgeführt. «In der Ferienzeit eine Wochenbetthebamme mit freien Kapazitäten ausfindig zu machen, heisst, eine Nadel im Heuhaufen zu suchen», weiss Projektleiterin Susanne Grylka. Für die Spitalmitarbeitenden bedeutet es eine enorme Entlastung, wenn sie, wie am Unispital Zü-

Evaluation Familystart Zürich Projektleitung: Susanne Grylka, Prof. Dr. Jessica Pehlke-Milde Projektpartner: Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie der ZHAW Finanzierung: Verein Familystart Zürich mit Mitteln des Lotteriefonds des Kantons Zürich

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rich, eine Wöchnerin per Knopfdruck für die Vermittlung durch Familystart anmelden können. Zeitgleich werden alle relevanten Daten zu Mutter und Kind übermittelt, was wiederum für die Hebamme, welche die Betreuung übernimmt, eine wichtige Informationsquelle ist. In Modul 3 verknüpfen die Forscherinnen die Daten der Mütter, die bei Familystart angemeldet wurden, mit den Informationen, die der Schweizerische Hebammenverband in der Tätigkeitserfassung der frei praktizierenden Hebammen sammelt – alles anonymisiert. Sie erhalten so einen Einblick in die soziodemografischen Daten, die Geburtsumstände und die psychosozialen Risikofaktoren der vermittelten Mütter. «Wir beobachten eine Tendenz, dass vor allem Mütter aus bildungsfernen Schichten und mit Migrationshintergrund vom Angebot profitieren; Frauen also, die sonst möglicherweise durch die Maschen unseres Versorgungssystems fallen», erläutert Susanne Grylka das Vorgehen. «Familystart leistet so auch einen Betrag zur Chancengleichheit.» In Telefoninterviews mit ausgewählten Nutzerinnen möchte sie herausfinden, wie zufrieden die Mütter mit den Dienstleistungen des Vereins waren. Dabei sollen Frauen befragt werden, die bereits während der Schwangerschaft eine Hebamme suchten, Frauen, die dies erst nach der Geburt taten, und Frauen, die in potenziell psychosozial belastenden Situationen leben, etwa Alleinerziehende oder Migrantinnen. Mehr Planungssicherheit Nicht zuletzt interessiert sich das Forschungsteam für die Arbeitssituation der Hebammen. Dazu evaluiert es, welche Leistungen die von Familystart vermittelten

Hebammen effektiv erbracht haben, und befragen Vereinsmitglieder in einem Fokusgruppeninterview zu ihrer Arbeitszufriedenheit. Susanne Grylka veranschaulicht in einem Beispiel, welchen Mehrwert sich der Verein für die Hebammen erhofft: «Fährt eine freischaffende Hebamme in die Ferien, kann sie im Voraus über einen Zeitraum von zwei bis vier Wochen keine Wochenbettbetreuungen annehmen, da das Baby ja auch vor oder nach dem errechneten Termin zur Welt kommen kann. In diesen Wochen hat sie möglicherweise freie Ressourcen. Familystart bietet hier eine gewisse Planungssicherheit.» Franziska Summermatter, eines der Gründungsmitglieder von Familystart Zürich, sieht in der besseren Auslastung einen Hauptnutzen der Netzwerkarbeit. In Zürich-Nord, wo sie arbeitet, hat sie sich mit Berufskolleginnen innerhalb des Netzwerks zusätzlich in einer Untergruppe organisiert. Über eine Whatsapp-Gruppe spricht sie mit ihren Berufskolleginnen Einsätze ab oder tauscht sich über schwierige Fragen aus. Summermatter würde sich wünschen, dass sich die Hebammen noch stärker von ihrem Einzelkämpferdasein lösen und ihre Einsätze ähnlich wie bei einer Taxizentrale geografisch besser koordinieren. «Wenn ich an einem Tag morgens und mittags einen Einsatz in ZürichSchwamendingen habe, ergibt es wenig Sinn, wenn ich dazwischen nach Wiedikon fahre», sagt sie. Auch für Teilzeitmodelle sieht sie innerhalb eines Netzwerks Potenzial. Denn ebendies sei für frei praktizierende Hebammen, die eigene Kinder betreuen und für ihre Berufstätigkeit nur fixe Tage zur Verfügung haben, ein grosses Anliegen.


Projektauswahl der Forschungsstelle Hebammenwissenschaft

Tätigkeitserfassung der frei praktizierenden Hebammen Im Auftrag des Schweizerischen Hebammenverbandes werden die Daten aus der Tätigkeitserfassung der frei praktizierenden Hebammen der Schweiz jährlich für einen Bericht ausgewertet. Projektleitung: Rebekka Erdin Finanzierung: Schweizerischer Hebammenverband

Evaluation Familystart Zürich In der Studie werden die im Jahr 2016 erbrachten Leistungen von Familystart Zürich evaluiert und der daraus resultierende Mehrwert für die Interessensvertreter beurteilt. Projektleitung: Susanne Grylka Projektpartner: Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie Finanzierung: Familystart Zürich mit Mitteln des Lotteriefonds des Kantons Zürich

Berufszufriedenheit Hebammen Dieses Projekt umfasst eine Bestandsaufnahme zur Berufssituation der Hebammen im Kanton Zürich und die Entwicklung eines innovativen Versorgungsmodells in Schweizer Geburtenabteilungen. Projektleitung: Susanne Grylka Finanzierung: Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation

Netzwerkarbeit frei praktizierender Hebammen in der Schweiz Die Studie untersucht den Zugang frei praktizierender Hebammen zu sozial benachteiligten Familien und analysiert Struktur, Merkmale und Entwicklungsmöglichkeiten der damit verbundenen Netzwerkarbeit. Projektleitung: Astrid Krahl, Jessica Pehlke-Milde Finanzierung: Familystart Zürich, Nationales Programm gegen Armut

Paare und ihre Wahrnehmung von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft und Stillzeit Auf der Grundlage eines soziokulturellen Ansatzes wird untersucht, wie Paare den moderaten Alkoholkonsum während Schwangerschaft und Stillzeit als Risiko wahrnehmen. Projektleitung: Jessica Pehlke-Milde, Raphaël Hammer, Yvonne Meyer Projektpartner: Haute Ecole de Santé Vaud Finanzierung: Schweizerischer Nationalfonds

Bridge – Barrierefreie Kommunikation in der geburtshilflichen Versorgung allophoner Migrantinnen Die Studie analysiert Kommunikationsschwierigkeiten in der perinatalen Gesundheitsversorgung von fremdsprachigen Migrantinnen, um daraus Handlungsempfehlungen abzuleiten. Projektleitung: Paola Origlia Ikhilor, Jessica Pehlke-Milde Projektpartner: Berner Fachhochschule, Schweizerisches Tropen- und Public HealthInstitut, Familystart beider Basel, Schweizerischer Hebammenverband Finanzierung: Bundesamt für Gesundheit, Fachstelle für Rassismusbekämpfung

Giving Birth Die Studie analysiert Erwartungen und Erfahrungen gesunder Erstgebärender in der Schweiz, um darauf basierend ein Modell zu entwickeln. Projektleitung: Valerie Fleming Projektpartner: Haute Ecole de Santé Vaud Finanzierung: Schweizerischer Nationalfonds

Kontakt Prof. Dr. Jessica Pehlke-Milde, Leiterin Telefon 058 934 64 66 jessica.pehlke-milde@zhaw.ch

Hebammenwissenschaft

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Forschungsstelle Pflegewissenschaft

Die Forschungsstelle Pflegewissenschaft engagiert sich für die klinische Pflegepraxis mit Forschungsprojekten, Beratung und Schulung. Dabei bestimmen Fragestellungen des Pflegealltags die Zielrichtung der wissenschaftlichen Tätigkeit. Die angestammten Schwerpunkte Ageing und integrierte Versorgung werden in Anbetracht der alternden Gesellschaft laufend weiterentwickelt. Gerade in Übergangssituationen – etwa von zu Hause in eine Institution – bedarf die Versorgung älterer Menschen besonderer pflegerischer Aufmerksamkeit. Zusammen mit Institutionen des Gesundheitswesens sowie unter Einbezug von Familien und sozialem Umfeld (Family Nursing) entwickeln die Pflegeforschenden Projekte, suchen nach innovativen Lösungen und begleiten Evaluationen. Hauptziel ist es, pflegerisches Wissen zu sichern, neu zu bündeln und mit der Praxis zu vernetzen. Auch die Nachwuchsförderung ist der Forschungsstelle wichtig. Ihre Projekte werden von der Europäischen Union, dem Schweizerischen Nationalfonds und der Kommission für Technologie und Innovation gefördert.

Forschungsteam Andrea Koppitz, Prof. Dr., stv. Leiterin Astrid Braun, MScN Susanne de Wolf-Linder, MSc Christina Uta Grosse, Dr. Daniela Händler-Schuster, Prof. Dr. Hannele Hediger, lic. phil.

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Anita Keller-Senn, MScN Susanne Knüppel Lauener, Dr. Diana Schmidli-Waser Susanne Suter-Riederer, MScN Veronika Waldboth, MScN Nicole Zigan, MNS


Schulungsprogramm mit Hand und Fuss Chronische Wunden an den unteren Extremitäten gehören zu den möglichen Spätfolgen von Diabetes mellitus. Ein Schulungsprogramm für Betroffene soll das Risiko für Rückfälle mindern. Ob und unter welchen Voraussetzungen es tatsächlich wirksam ist, untersucht die Forschungsstelle Pflegewissenschaften in einer Studie.

Diabetes mellitus zählt zu den Volkskrankheiten des 21. Jahrhundert. Über 500 000 Personen sind laut Schätzungen in der Schweiz betroffen, weltweit sind es 415 Millionen – Tendenz steigend. Eine schwerwiegende Komplikation, die etwa bei einem Viertel aller Diabetespatienten auftritt, ist der diabetische Fuss. Er entsteht durch einen über Jahre konstant hohen Blutzuckerspiegel, wobei Blutgefässe und Nerven geschädigt werden. Dadurch entsteht eine Durchblutungs- und Empfindungsstörung, die zu schlecht heilenden Ulzerationen an den Füssen führt. Auch wenn die offene Stelle nach einer erfolgreichen Intervention vollständig verheilt, ist das Risiko gross, dass sich eine neue Wunde entwickelt. Nach einem Jahr erleiden 34 Prozent der Betroffenen einen Rückfall, nach fünf Jahren sind es bereits 70 Prozent. Die Folgen können gravierend sein: Der diabe-

tische Fuss ist die häufigste Ursache für nicht-unfallbedingte Amputationen. Die Scham überwinden Wirksame Massnahmen, um solche Ulzerationen zu verhindern oder sie wenigstens frühzeitig zu erkennen, sind Fusspflege und regelmässige Inspektionen. Doch Patienten würden selten entsprechend geschult, weiss Pflegewissenschaftlerin Anita Keller-Senn, die nebst ihrer Tätigkeit an der Forschungsstelle Pflegewissenschaft als Pflegeexpertin im Fachbereich Endokrinologie arbeitet. «Die Füsse sind etwas sehr Intimes, oft auch Schambehaftetes», sagt sie. «Offene Wunden verstärken das Schamgefühl natürlich zusätzlich.» Immer wieder hat Keller-Senn erlebt, dass Patienten Läsionen an den Füssen lange gar nicht bemerkten oder sie dem Arzt gegenüber erst sehr spät erwähnten.

«Ich wollte meinen Patienten aus pflegerischer Sicht mehr bieten als einfach bloss einen Verbandwechsel», erinnert sie sich an die Anfänge ihres Projekts 2008. Damals arbeitete sie noch auf der Gefässchirurgie, wo Diabetespatienten oft über viele Wochen lagen. Um für sie und ihre Angehörigen ein Schulungsprogramm zu entwickeln, vertiefte sich Keller-Senn in die Forschungsliteratur, ermittelte Vorwissen und Bedürfnisse der Patienten, tauschte sich mit Fachkolleginnen aus und analysierte die Rahmenbedingungen. So entstand ein Schulungs- und Beratungskonzept mit vier Informationsbroschüren. Darin erfahren Betroffene unter anderem, wie sie Warnsignale frühzeitig erkennen, was sie mit Fussgymnastik bewirken können, wie sie ihre Füsse richtig pflegen und inspizieren und wie sie ihre Beobachtungen sinnvoll dokumentieren.

Studienablauf Messpunkte über 6 Monate und Follow-up nach 12 Monaten

Mt. 1

Mt. 3

Mt. 6

Mt. 12

T1

T2

T3

T4

KG Anfrage Patient

KG IG T R

Einverständniserklärung

Basisdaten

Kontrollgruppe Interventionsgruppe Messzeitpunkte Randomisierte Zuteilung zu KG oder IG

T0 T0

R

IG

Edukation Training Beratung

Beratung

Telefonischer Kontakt

Pflegewissenschaft

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Selbstwirksamkeit stärken Ob ihr Schulungsprogramm tatsächlich Wirkung zeigt, evaluiert Anita Keller-Senn nun mit einem Team der Forschungsstelle Pflegewissenschaft in einer vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Studie. «Wir untersuchen, ob Betroffene, welche die Schulung durchlaufen, eine neu auftretende Fussulzerationen früher erkennen oder sogar vermeiden können», sagt sie. «Unsere Hypothese ist, dass sie sich im Vergleich zur Kontrollgruppe sicherer im Umgang mit ihren Beschwerden fühlen und weniger Komplikationen haben.» In Zusammenarbeit mit der Universitätsklinik Balgrist rekrutierte das Forschungsteam 118 Hochrisikopatientinnen und -patienten, das heisst Personen mit Diabetes mellitus, die sich in ambulanter Behandlung befanden und entweder an einer akuten Fussulzeration litten oder bereits eine Amputation der unteren Extremitäten hinter sich hatten. Die rekrutierten Personen wurden randomisiert entweder der Interventions- oder der Kontrollgruppe zugeteilt. Während die Kontrollgruppe vom Behandlungsteam der Universitätsklinik Balgrist die reguläre Wundversorgungspflege verordnet bekam, erhielten die Personen in der Interventionsgruppe darüber hinaus eine Fusspflegeschulung, ein individuelles Fertigkeitentraining sowie Beratung. Miteinbezogen wurden nach Mög-

Ambulant pflegegeleitetes Schulungsprogramm für Patienten mit einer diabetischen Fussulzeration Projektleitung: Prof. Dr. Lorenz Imhof Projektmanagement: Anita Keller-Senn Projektteam: Carmen Kerker-Specker, Geneviève Blanc, Jutta Dreizler, Astrid Braun, Prof. Dr. Romy Mahrer, Anita Keller-Senn Projektpartner: Universitätsklinik Balgrist Finanzierung: Schweizerischer Nationalfonds, Stiftung Pflegewissenschaft Schweiz

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lichkeit auch Angehörige, so dass die Fusspflege bei einer negativen Krankheitsentwicklung von diesen übernommen werden konnte. Dazu Keller-Senn: «Ist ein Betroffener beispielsweise stark adipös oder hat der Diabetes seine Sehkraft beeinträchtigt, wird er Mühe haben, die Füsse selbst zu inspizieren.» Die Daten zum Zustand der Patienten wurden bei Studienstart sowie zu vier verschiedenen Zeitpunkten während des darauffolgenden Jahres erhoben. Schulung im häuslichen Umfeld In der Pilotstudie, die der Hauptstudie vorausging und 19 Teilnehmende aus fünf Deutschschweizer Akutspitälern umfasste, wurden die Patienten noch ambulant in den einzelnen Wundambulatorien geschult. «Wir haben gesehen, dass dies für die Betroffenen zu aufwändig war und ihre Lebensumstände zu wenig berücksichtigte», sagt Keller-Senn. Aus diesem Grund wurden Schulung und Beratung für die Hauptstudie ins häusliche Umfeld verlegt. Auf diese Weise waren die Pflegenden näher am Alltag ihrer Patienten, sahen, wie sie sich zu Hause bewegten, welche Stolpersteine vorhanden waren oder welche Hausschuhe sie trugen. Ihre Beratungen konnten sie so an die individuellen Bedürfnisse und lokalen Gegebenheiten anpassen. Eben dies scheint sich bewährt zu haben: «Bei allen Patienten in unserer

Studienpopulation ist die Erkrankung bereits weit fortgeschritten. Sie leiden an einer Vielzahl von Symptomen, haben vielleicht Herzprobleme und Depressionen, müssen zum Augenarzt und in die Dialyse», führt Keller-Senn aus. In den Beratungen haben sich so vielfältige Themen herauskristallisiert, die weit über die Wundproblematik hinausreichen. Die finale Auswertung der Daten zeigt, dass über die Hälfte der Studienteilnehmer nach einem Jahr neue Fussulzerationen entwickelten. Allerdings ist diese Zahl bei den Patienten, die das zusätzliche Schulungsprogramm absolvierten, tiefer als bei den Patienten mit regulärer Wundversorgung. In der Interventionsgruppe waren signifikant weniger Notfallbesuche und stationäre Behandlungen nötig als in der Kontrollgruppe und auch ihr spezifisches Wissen zur Fusspflege war nach zwölf Monaten klar besser. Abschliessend betont Keller-Senn, dass sich der diabetische Fuss als einzelnes Phänomen nicht sinnvoll behandeln lässt. Stattdessen müssen die gesamte Krankheit und der Umgang mit ihr im Alltag im Blickfeld bleiben. «Dafür braucht es das häusliche Umfeld und dafür braucht es Pflegeexpertinnen APN, die einen breiten Horizont mitbringen, die Fäden zusammenhalten und in der jeweiligen Situation flexibel reagieren können.»

Verheerende Kombination von Nervenschäden und Durchblutungsstörungen Nervenschädigungen sind eine häufige Folge von Diabetes und können das Schmerzempfinden der Betroffenen vermindern. Ein Steinchen im Schuh, eine verrutschte Socke oder ein Hautriss, der beim Schneiden der Zehennägel entsteht, bleiben so häufig unbemerkt und können sich zu einer Wunde entwickeln. Begünstigt wird dieser Vorgang durch die gleichzeitig bestehenden Durchblutungsstörungen, die den Transport von Stauerstoff und Nährstoffen in die unteren Extremitäten behindern. Aus der kleinen Verletzung oder Druckstelle entwickelt sich eine schlecht heilende Wunde, die sich entzündet und sich in die Tiefe des Gewebes ausbreitet.


Projektauswahl der Forschungsstelle Pflegewissenschaft

Pflegegeleitete Beratung für Angehörige von älteren Menschen Die Beratung Angehöriger im Rahmen des Projekts soll es älteren Menschen ermöglichen, so lange wie möglich zu Hause zu bleiben. Projektleitung: Andrea Koppitz, Susanne Suter-Riederer Projektparter: Stadt Winterthur, Spitex Winterthur Finanzierung: Ebnet-Stiftung, Walder-Stiftung

Nursing Home Care Index Entwicklung und Testung eines Instruments zur Beurteilung der Betreuungsqualität in Pflegeheimen durch Mitarbeitende, Senioren und deren Angehörige. Projektleitung: Andrea Koppitz Projektpartner: Zentrum Schönberg Bern, Senesuisse Verband Finanzierung: Hedwig-Widmer Stiftung, Verband Senesuisse

FairCare – The network based solution for collaborative future care Entwickeln von Informations- und Kommunikationstechnologien für nachhaltige Lösungen in der Betreuung und Pflege einer älter werdenden Gesellschaft. Projektleitung: Kurt Promberger, Andri Färber, Andrea Koppitz Projektpartner: Europäisches Konsortium mit Österreich, Italien, Ungarn, Spanien, den Niederlanden und der Schweiz Finanzierung: EU Horizon 2020 – Ambient Assisted Living

Pain Intervention for People with Dementia in Nursing Homes Die Studie untersucht, wie bei demenzerkrankten Menschen in Heimen Schmerzen reduziert werden können. Projektleitung: Andrea Koppitz, Georg Bosshard Projektpartner: Sattelbogen Bischofszell, Stiftung Drei Tannen Wald, Zweckverband Pflege & Betreuung Mittleres Tösstal, Zulidad-Studienpartnerschaft Finanzierung: Stanley Thomas Johnson Stiftung (SAMW), Bundesamt für Gesundheit, Alzheimer Schweiz, Ebnet-Stiftung

AIDA-Care Die Studie evaluiert die Praktikabilität eines Programms zur aufsuchenden und individuellen Demenzabklärung (AIDA) des Zentrums für Gerontologie der Universität Zürich. Projektleitung: Andrea Koppitz Projektpartner: Projektgemeinden im Kanton Zürich Finanzierung: Gesundheitsdirektion Zürich, Kurt-Friess-Stiftung

Erwachsen werden mit einer neuromuskulären Krankheit: Erfahrungen von betroffenen Jugendlichen und ihren Familien Wie erleben Jugendliche mit einer neuromuskulären Krankheit und ihre Familien die Phase der Adoleszenz? Projektleitung: Veronika Waldboth Projektpartner: King’s College London Finanzierung: Stiftung Pflegewissenschaft Schweiz

Prevention Nursing Home Admission Das Projekt untersucht die Akut- und Übergangspflege. Projektleitung: Andrea Koppitz, Susanne Suter-Riederer Projektpartner: Pflegezentren Zürich Finanzierung: Krankenpflegefonds Zürich

Developing Brief Emergency Care Interventions to Reduce Severe Hypoglycaemia Die Studie untersucht Charakteristika, Auslöser und Behandlung von Menschen mit Diabetes mellitus und einer schweren Hypoglykämie in der Notfallversorgung. Projektleitung: Anita Keller-Senn Projektpartner: King’s College London Finanzierung: Stiftung Pflegewissenschaft Schweiz

Audiovisuelle Beeinträchtigung im Alter Wie erleben und bewältigen hör- und sehbeeinträchtigte Personen über 70 Jahre, die zu Hause leben, die Veränderungen ihres Alltags? Projektleitung: Daniela Händler-Schuster Projektpartner: Pro Audito Aarau, Bern, Horgen, St. Gallen, Winterthur Finanzierung: Ebnet-Stiftung, Zürcher Stiftung für das Hören, R.+S. Braginsky Stiftung, Max Bircher-Stiftung, W.H.-Spross-Stiftung

Psychosoziale Pflege und Betreuung Die Ergebnisse der Studie stellen detaillierte Kenntnisse zum Klientel der Fachstelle psychosoziale Betreuung bereit und bilden das Fundament für die Entwicklung von Rollenprofil und Schwerpunkten beim Einsatz von Pflegefachpersonen. Projektleitung: Susanne Knüppel Lauener Projektpartner und Finanzierung: Spitex Zürich (Spitex Zürich Limmat AG, Spitex Zürich Sihl, Stiftung Alterswohnungen der Stadt Zürich)

End-of-Life Care Die Studie evaluiert Pflegemassnahmen am Lebensende. Projektleitung: Andrea Koppitz Projektpartner und Finanzierung: Bethesda AG

Das Erleben der mobilitätsfördernden Pflegeintervention Das Projekt evaluiert die mobilitätsfördernde Pflegeintervention bei Patientinnen und Patienten mit Multipler Sklerose und Hirnschlag, um bei Pflegenden ein vertieftes Verständnis für die Lebenswelt der Betroffenen zu ermöglichen. Projektleitung: Susanne Suter-Riederer Projektpartner: Universität Witten-Herdecke (DE) Finanzierung: Schweizerische MS-Gesellschaft, Stiftung Pflegewissenschaft Schweiz

Einbezug, Zusammengehörigkeitsgefühl und Pflegebereitschaft im häuslichen Umfeld Wie nehmen Familienangehörige das Involviertsein in die Pflege wahr, welchen Einfluss hat dies auf die Pflegebereitschaft und welche Rolle spielt dabei das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Familie? Projektleitung: Irène Ris Projektpartner: Spitex Zürich Limmat AG, Universität Witten-Herdecke (DE) Finanzierung: Krankenpflegefonds Zürich

Kontakt Heidi Longerich, Leiterin a.i. Telefon 058 934 63 01 heidi.longerich@zhaw.ch

Pflegewissenschaft

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Forschungsstelle Physiotherapiewissenschaft

Die Forschungsstelle Physiotherapiewissenschaft fördert die Qualität und Weiterentwicklung der Physiotherapie und engagiert sich in der Aus- und Weiterbildung. Das Team setzt sich aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Disziplinen Physiotherapie, Psychologie, Soziologie und Bewegungswissenschaften zusammen. Ein modernes Labor für Bewegungsanalyse und mobile Messgeräte bilden den Kern der Forschungsinfrastruktur. Die Forschungsschwerpunkte umfassen das klinische Assessment, die Wirksamkeit physiotherapeutischer Interventionen, die Entwicklung und Implementierung neuer Technologien sowie Modelle der Gesundheitsversorgung. Zu den Auftraggebern und Praxispartnern gehören öffentliche Institutionen, Spitäler, Praxen und Unternehmen. Kooperationen werden mit anderen ZHAW-Instituten, Schweizer Fachhochschulen sowie Universitäten in der Schweiz und Europa gepflegt. Die Forschungsstelle beteiligt sich erfolgreich an kompetitiven Forschungsförderungen wie jene der Kommission für Technologie und Innovation, des Schweizerischen Nationalfonds oder von Horizon 2020 der Europäischen Kommission.

Forschungsteam Markus Wirz, Prof. Dr., Leiter Christoph Bauer, MSc, stv. Leiter Schirin Akhbari Ziegler, MSc Pierrette Baschung, MSc Marina Bruderer-Hofstetter, MSc Markus Ernst, MPTSc Eveline Graf, Dr. Sabina Hotz, Dr. Omega E. Huber, Prof. Dr. Barbara Köhler, Prof. Dr.

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Hannu Luomajoki, Prof. Dr. André Meichtry, MSc Karin Niedermann, Prof. Dr. Carole Pauli, MSc Anne-Kathrin Rausch-Osthoff, MSc Astrid Schämann, Prof. Dr. Jeannette Saner, MSc Mandy Scheermesser, lic. phil. Christa Wachter Oberli


Smarte Hilfe für mehr Mobilität im Alltag Eine intelligente Leggings soll Menschen, die beim Gehen eingeschränkt sind, individueller unterstützen, als es gängige Hilfsmittel tun. «Dank Sensoren versteift sich das Material genau dort, wo es nötig ist», sagt Markus Wirz, Professor und Leiter der Forschungsstelle Physiotherapiewissenschaft. Sein Team testet derzeit Prototypen im Bewegungslabor. Für das Projekt XoSoft spannt die ZHAW mit anderen europäischen Partnern zusammen.

Das Alter, ein Schlaganfall oder ein Unfall – es gibt viele Gründe, weshalb jemand nicht mehr gut zu Fuss ist. Gehhilfen unterstützen Betroffene dabei, dennoch voranzukommen. Sie sind allerdings meist schwer, sperrig und passen sich den Bewegungsabläufen kaum an. Kommt hinzu, dass sie stigmatisierend wirken. Wer sich auf einen Rollator stützt, wird als alt wahrgenommen. Gehbehinderte Menschen zögern daher häufig, auf Hilfsmittel zurückzugreifen. Im schlimmsten Fall ziehen sie sich zurück, beschränken sich selbst und büssen an Mobilität ein. «Dabei wäre Bewegung gerade für sie enorm wichtig», sagt Markus Wirz, Leiter der Forschungsstelle Physiotherapiewissenschaft. Insbesondere nach einem Sturz sei es entscheidend, aktiv zu bleiben – «sonst verschlechtert sich der physische Zustand kontinuierlich». Bequem und lernfähig Sein Team forscht daher an einer Alternative zu Krücken, Rollatoren und Elektrorollstühlen. Es arbeitet an einer leichteren Stützstruktur namens XoSoft, die dünn wie eine Leggings ist, bequem unter der Kleidung getragen werden kann und sich dem Träger individuell anpasst. Sensoren und biomimetisch kontrollierte Aktuatoren sorgen dafür, dass sich das neoprenartige Gewebe im richtigen Moment an der richtigen Stelle versteift und später nachgibt, um die Gliedmassen wieder frei bewegen zu lassen. Das weiche Exoskelett besteht aus einzelnen Modulen für Knöchel, Knie und Hüfte und kann den jeweiligen Einschränkungen entsprechend zusammengesetzt werden. Im Gegensatz zu herkömmlichen Gehhilfen beeinflusst es die

Bewegungen des Trägers nur dort, wo dieser darauf angewiesen ist. Die Beine werden besser aktiviert. Fachperson wird alarmiert XoSoft soll darüber hinaus eine interaktive Schnittstelle für gesundheitsbezogenes Feedback bieten. Das heisst, die integrierte Software soll die Daten der Bewegungsabläufe einer medizinischen Fachperson weiterleiten. Diese kann dadurch eine Kontrollfunktion wahrnehmen und aktiv werden, sollte sich der Gang des Nutzers verschlechtern. Sie erfährt darüber hinaus, wenn einzelne Komponenten ausgetauscht werden müssen. Während feste Exoskelette für Menschen gedacht sind, die im Rollstuhl sitzen, soll XoSoft bei leichten bis moderaten Mobilitätseinschränkungen zum Einsatz kommen. Es richtet sich damit an eine breitere Nutzergruppe und soll dereinst auch deutlich günstiger sein. «Die Nutzer werden unabhängiger», sagt Wirz. Ihre Lebensqualität verbessere sich. Da sie sich mehr bewegten, hätten sie ein geringeres Risiko, zusätzliche Beschwerden wie etwa Diabetes Typ 2, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Blutdruckprobleme oder Arthrose zu entwickeln. Europaweit vernetzt Neben der Forschungsstelle Physiotherapiewissenschaft ist auch die School of Engineering der ZHAW in das Projekt involviert. Am Institut für Mechatronische Systeme werden die Sensoren entwickelt, welche die Festigkeit der Leggings steuern. Zudem werden hier die einzelnen Komponenten zusammengefügt, die aus

ganz Europa kommen. Das Projekt XoSoft ist nämlich nicht nur interdisziplinär, sondern auch international angelegt. Die ZHAW arbeitet dafür mit acht europäischen Partnern zusammen. Darunter sind fünf Forschungsinstitute, drei Unternehmen, die in der Entwicklung von Exoskeletten und Orthesen Erfahrung aufweisen, sowie Rehakliniken. Die Arbeiten finden im Rahmen des europäischen Forschungsprogramms Horizon 2020 statt. «Wie Bundesrat Johann Schneider-Ammann jeweils sagt, ist dies die Champions League», sagt Markus Wirz. «Dass wir da dabei sind, macht uns stolz.» Die Konkurrenz ist gross Das Horizon-2020-Programm ist bei Forschenden äusserst beliebt; auf Ausschreibungen gehen jeweils Dutzende Bewerbungen ein. Eine der Aufnahmebedingungen besteht darin, dass mindestens drei Einrichtungen aus unterschiedlichen EU-Mitglied- oder assoziierten Staaten zusammenspannen. Die ZHAW ist Teil eines Konsortiums, mit dem sie 2014 bereits die Entwicklung eines festen Aussenskeletts («Robo-Mate») in Angriff genommen hat. XoSoft startete im Februar 2016. Das Projekt ist auf drei Jahre angelegt und verfügt über ein Budget von 5.4 Millionen Franken. Die wissenschaftliche Koordination liegt beim Instituto Italiano di Tecnologia; der Bund kommt für die Kosten auf, die in der Schweiz entstehen. Der Forschungsstelle Physiotherapiewissenschaft finanziert er 2.5 Vollzeitstellen. Auf Nutzerbedürfnisse fokussiert «Wir stehen zwischen der technischen Seite und den Anwendern», sagt Carole

Physiotherapiewissenschaft

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Pauli, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsteam, das die Entwicklungen der Projektpartner im Bewegungslabor testet. In einem ersten Schritt haben sie und ihre Forschungskollegen analysiert, wie weit sich bestehende Technologien für XoSoft eignen. Nun werden Tests mit Prototypen durchgeführt – zuerst an gesunden, dann an gehbehinderten Personen. Die Wissenschaftler zeichnen genau auf, wie die Probanden alltägliche Bewegungen mal ohne, mal mit wenig und mal mit mehr Unterstützung meistern und welche Kräfte dabei auf die Gelenke wirken. Sie fordern die Testpersonen dazu auf, eine gerade Strecke zu gehen, einen Tritt hochzusteigen, eine Kurve zu machen, sich zu setzen und sich mit einem ausgestreckten Arm nach vorn zu beugen. Neben den Messungen führen sie Befragungen durch. Sie klären, welche Wünsche die Betroffenen an das Produkt und sein Design haben. Dasselbe wollen sie von Ärzten, Angehörigen und Pflegefachleuten wissen. Schwierige Suche nach Probanden «Es ist nicht ganz einfach, geeignete Testpersonen zu finden», sagt Carole Pauli. Sie müssten einerseits jene spezifischen Einschränkungen haben, bei denen man die Stützhilfe einsetzen wolle, und andererseits zeitlich flexibel sein. Gerade ältere Personen, die in ihrer Gehfähigkeit erst leicht beeinträchtigt sind, liessen sich nur beschränkt über Gesundheitseinrichtungen ansprechen. Als Schwierigkeit erwähnt sie zudem die räumliche Distanz unter den einzelnen Projektpartnern. Sich

XoSoft – Modulares Soft-Exoskelett zur Unterstützung von Menschen mit eingeschränkter Mobilität Projektleitung: Dr. Eveline Graf, Prof. Dr. Markus Wirz Projektteam: Christoph Bauer, Carole Pauli Projektpartner: ZHAW School of Engineering (CH), Istituto Italiano di Tecnologia (IT), Consejo Superior de Investigaciones Cientificas (ES), Saxion University of Applied Sciences (NL), University of Limerick (IE), Roessingh Research and Development (NL), Accelopment AG (CH), Geriatrie-Zentrum Erlangen (DE), Össur (IS) Finanzierung: EU Horizon 2020

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XoSoft Kommunikation und vernetzte Gesundheit

Medizinische Fachperson

Server Technischer Support

HüftTagesaktivität

KnieSprunggelenk

Zentrale Verarbeitung Datensammlung Kontrolle des Antriebselements Energieversorgung

Modulare Komponenten Patienten können ein, zwei oder alle drei Module zusammen tragen

Messung und Antrieb Gelenk mit variabler Stabilisierung Multi-Gelenk-Antrieb Trägheitssensoren für 3D-Kinematik Intelligente softmechanische Sensoren Drucksensoren

über Skype auszutauschen, sei schwieriger, als sich regelmässig zu Gesprächen zu treffen, was einzig mit den Kollegen vom Institut für Mechatronische Systeme möglich sei. «Die Grösse des Entwicklungsteams ist eine Herausforderung», sagt auch Wirz. Entsprechend zentral seien neben den wöchentlichen Videokonferenzen persönliche Treffen an Meetings und Kongressen. Die Nachfrage steigt «Hilfsmittel, wie wir eines entwickeln, erleben einen grossen Boom», sagt der Forschungsleiter weiter und verweist darauf,

dass die Zahl der älteren Menschen exponentiell zunimmt. Die Nachfrage vervielfacht sich ebenso. Sie ist letztlich auch der Antrieb für die Forschenden. «XoSoft soll nicht einfach eine Spielerei mit technologischen Möglichkeiten sein», so Wirz, «sondern den Patienten effektiv zu mehr Mobilität im Alltag verhelfen. Wir arbeiten mit unserem Produkt an der Gesundheitsversorgung der Zukunft.» So ist es dem Forschungsleiter ein Anliegen, dass die Leggins nach Ablauf der dreijährigen Forschungsphase von einem Industriepartner oder Spin-off weiterentwickelt und dereinst produziert wird.


Projektauswahl der Forschungsstelle Physiotherapiewissenschaft

Spine Posture Monitoring Entwicklung eines Messsystems bestehend aus einem Textil mit integrierten Sensoren. Damit wird die Wirbelsäulenbewegung in Therapie und Alltag in Echtzeit überwacht. Projektleitung: Carole Pauli Projektpartner: Eidgenössische Materialprüfungsund Forschungsanstalt Finanzierung: Kommission für Technologie und Innovation

Physical Activity in Patients with COPD Die Studie zielt darauf ab, die körperliche Aktivität von Patienten mit chronisch obstruktiver Lungenerkrankung zu erhöhen. Dazu wird evaluiert, welche Wirkung Beratung in der pulmonalen Rehabilitation erzielt. Projektleitung: Anne-Kathrin Rausch Projektpartner: Kantonsspital Winterthur Finanzierung: Lungenliga

Equinus Health Die Studie beabsichtigt, eine Bestandsaufnahme der Rückengesundheit bei Schweizer Reitpferden zu erheben. Projektleitung: Christoph Bauer Projektpartner: Vetsuisse-Fakultät der Universität Zürich, Departement für Pferde Finanzierung: Universität Zürich

ICF-basierter Fragebogen zu Harn- und Stuhlinkontinenz Entwicklung und erste Validierung des ICFInkontinenz-Assessment-Formulars (ICF-IAF) als standardisiertes Erhebungsinstrument zur patientenorientierten Therapieplanung und Evaluation. Projektleitung: Barbara Köhler, Lorenz Radlinger Projektpartner: Berner Fachhochschulen, Praxen, Stadtspital Triemli Finanzierung: intern, Stadtspital Triemli

Longback-Studie In dieser Langzeitstudie werden gleichzeitig klinische, somatische und psychosoziale Faktoren für Rückenschmerzen erhoben und in einen Zusammenhang gebracht. Projektleitung: Sabina Hotz Finanzierung: Schweizerischer Nationalfonds

Prehabilitation – Enhanced Recovery after Colorectal Surgery Studie zur Untersuchung des Effekts von präoperativer Physiotherapie auf die Erholung nach kolorektalen Eingriffen gemäss ERASBehandlungspfad (Enhanced Recovery after Surgery). Projektleitung: Markus Wirz Projektpartner und Finanzierung: Kantonsspital Winterthur

Physiotherapeutische Intervention bei Säuglingen Projekt zur Evidenz der Physiotherapie bei Säuglingen mit neuromotorischen Funktionsstörungen. Projektleitung: Schirin Akhbari Ziegler Projektpartner: Universität Groningen (NL), Universitäts-Kinderspital beider Basel, Universitätsspital Zürich, Inselspital Bern, Ostschweizer Kinderspital Finanzierung: Diverse Stiftungen

Evaluation Sturzpräventionsprojekt Evaluation des Sturzpräventionsprogramms «Sicher durch den Alltag» bei zuhause lebenden Senioren: Ist es nachhaltig wirksam und wirtschaftlich? Projektleitung: Karin Niedermann Projektpartner: Rheumaliga Schweiz Finanzierung: Age-Stiftung, Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz

XoSoft Entwicklung eines modularen Soft-Exoskelett zur Unterstützung von Menschen mit eingeschränkter Mobilität. Projektleitung: Eveline Graf, Markus Wirz Projektpartner: ZHAW School of Engineering (CH), Istituto Italiano di Tecnologia (IT), Consejo Superior de Investigaciones Cientificas (ES), Saxion University of Applied Sciences (NL), University of Limerick (IE), Roessingh Research and Development (NL), Accelopment AG (CH), Geriatrie-Zentrum Erlangen (DE), Össur (IS) Finanzierung: EU Horizon 2020

Advanced Practice in Physiotherapy Basierend auf Erkenntnissen aus der Literatur, der Befragung von Physiotherapeuten und Interviews mit Stakeholdern werden AdvancedPractice-Modelle mit Potenzial für neue Karrieremöglichkeiten entwickelt. Projektleitung: Irina Nast Projektpartner: Haute Ecole Spécialisée de Suisse occidentale Finanzierung: Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation, Stiftung Physiotherapie Wissenschaften

Valedo Nackentherapie Die Studie zielt auf eine Verbesserung der Bewegungstherapie für die zervikale Wirbelsäule mittels computerisiertem Training, Feedback und Verlaufskontrolle. Projektleitung: Christoph Bauer Projektpartner: Hocoma AG, Zentrum für Signalverarbeitung und Nachrichtentechnik der ZHAW, Kantonsspital Winterthur, Universitätsklinik Balgrist Finanzierung: Kommission für Technologie und Innovation

T-chair Entwicklung eines robotischen Reha-Geräts für Schlaganfallpatienten zur Regeneration der Rumpfmuskulatur und zur Steigerung der Balance im Sitzen. Projektleitung: Daniel Baumgartner, Jürg Meier, Christoph Bauer Projektpartner: Kliniken Valens und Walenstadtberg Finanzierung: Kommission für Technologie und Innovation

Swiss Learning Health System Entwicklung von Policy Briefs und Durchführen von Stakeholder-Dialogen zum konservativen Management von Knie-Osteoarthritis in der Schweiz. Projektleitung: Karin Niedermann Projektpartner: Universität Luzern Finanzierung: Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation

ToneFit Reha Entwicklung eines portablen Trainingsgerätes für die Verbesserung der kardiopulmonalen Funktion und des Gleichgewichts bei Patienten mit nichtübertragbaren Krankheiten. Projektleitung: Eveline Graf Projektpartner: Reha Rheinfelden, Bexplora AG, NTB Interstaatliche Hochschule für Technik Buchs Finanzierung: Kommission für Technologie und Innovation

Kontakt Prof. Dr. Markus Wirz, Leiter Telefon 058 934 63 21 markus.wirz@zhaw.ch

Physiotherapiewissenschaft

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Zahlen und Fakten

Mitarbeitende in Vollzeitäquivalenten (VZÄ) und effektiv pro Forschungsstelle

Doktoranden nach Forschungsstelle 2015 und 2016 VZÄ

Pers.

34.3

46

Forschungsstelle Ergotherapie

5.2

7

Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften

8.1

10

Forschungsstelle Hebammenwissenschaft

3.4

6

Forschungsstelle Pflegewissenschaft

9.6

12

8

11

Gesamthaft

Forschungsstelle Physiotherapiewissenschaft

Nicht mitgezählt sind Mitarbeitende der Bachelor- und Masterstudiengänge, die gleichzeitig in der Forschung tätig sind. Quelle: HR ZHAW, Stand Dezember 2016

2015

2016

Forschungsstelle Ergotherapie

2

Forschungsstelle Hebammenwissenschaft

2

Forschungsstelle Pflegewissenschaft

2

4

Forschungsstelle Physiotherapiewissenschaft

6

6

Quelle: interne Statistik

Publikationen nach Publikationstyp 2015 – 2016 70

Anzahl laufender Forschungsprojekte nach Hauptfinanzierungsquelle 1. 1. 2015 – 31. 12. 2016

60 50 40 30

Andere 7 % Unternehmen 8 %

EU 6 %

20 10

SNF 6 %

0 KTI 10 %

2014 2015 2016 Z eitschriftenbeitrag peer-reviewed Z eitschriftenbeitrag nicht peer-reviewed, Publikumszeitungen, Forschungsberichte B uchbeitrag M onografie oder Sammelband

NGOs 12 %

Quelle: Publikationsreporting Departement Gesundheit 2014 – 2016

Öffentliche Hand 18 % Quelle: interne Statistik

Stiftungen 33 %

Entwicklung Drittmittel 2014 – 2016 2.5 Mio. 2 Mio.

Forschungsschwerpunkte – Evaluationsforschung – Fachkräftemangel – Gesundheitsversorgung – Interprofessionalität – Kinder und Jugendliche – Neue Technologien – Patientenorientierte klinische Forschung

38

1.5 Mio. 1 Mio. 0.5 Mio. 0

2014 2015 2016

Quelle: Jahresrechnungen 2012 – 2014

Weitere Informationen: zhaw.ch/gesundheit/forschung


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