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Vitamin G Nr. 9/2020 - Dossierthema «Familiensache»

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Für Health Professionals mit Weitblick

FAMILIENSACHE

Erste Hebammen mit Masterdiplom

Firmen sollten Bewegung fördern

NR. 9 NOVEMBER 2020

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I N H A LT

DOSSIER:

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FAMILIENSACHE

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DIE FAMILIE IM WANDEL

Alleinerziehende, P atchwork- und Regenbogenfamilien: Der Diversität von Familienmodellen wird im Gesund- heitswesen nicht überall genügend Rechnung getragen.

«DAS ZIEL IST ES, DIE FAMILIEN ZU STÄRKEN»

Eine längere Begleitung durch die Hebamme hätte für Familien viele Vorteile, sagt Karin Brendel, Fachbereichs­- leiterin im Bachelorstudiengang Hebamme.

ALESSIO LERNT, SEINE RECHTE HAND 25 WIE ZU GEBRAUCHEN

Ob in der frühkindlichen Prävention oder bei der Pflege und Betreuung von Angehörigen: Familien spielen in der Gesundheitsversorgung eine wichtige Rolle. Wie Gesundheitsfachpersonen Familien unterstützen und in ihre Arbeit miteinbeziehen, zeigen die Beiträge in diesem Dossier.

Alessio D. hat eine seltene Erbkrankheit. Bei Hausbesuchen übt Ergotherapeutin Johanna Jeltsch mit dem aufgeweckten Jungen, wie er beide Hände benutzen kann. Das entlastet auch seine Familie.

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DAS FAMILIENSYSTEM IN BALANCE HALTEN

Wenn jemand erkrankt, sind Angehörige und enge Vertraute mitbetroffen. Der Ansatz der familienzentrierten Pflege und Beratung trägt diesem Umstand Rechnung.

SPEKTRUM

FORSCHUNG

WEITERBILDUNG

4 News aus dem Departement

32 Bewegung im Büro zahlt

36 «Schmerz hat viele Gesichter»

Gesundheit

sich aus

MEINUNG 5

Bersets Erstberater könnte eine Physiotherapeutin sein

Hannu Luomajoki, Leiter Mas- terprogramm für muskuloskelet- tale Physiotherapie, erklärt, weshalb der Direktzugang zur Fördern Unternehmen die Physio­therapie hilft, die Kosten Be­wegung ihrer Mitarbeitenden, im Gesundheitswesen zu profitieren beide Seiten davon. senken. Wie sich die Bewegungsför­derung im Arbeitsumfeld um­ setzen lässt, hat das Institut für Gesundheitswissen­schaften I M P O R T R ÄT im Auftrag des Bundes unter6 Powerfrau ohne Zeit für sucht. Langeweile

Marion Huber forscht und unter- richtet, malt, kocht und betreibt STUDIUM ein Guesthouse. Die stellvertretende Leiterin der Fachstelle 34 Den Masterabschluss in Interprofessionelle Lehre und der Hebammentasche Praxis ist ein Tausendsassa. Diesen Sommer haben die ersten Hebammen an der ZHAW ihren Masterstudiengang abge­schlossen. Drei Absolventinnen erzählen, wie ihre neuen Kompe­TITELSEITE: tenzen in den Arbeitsalltag Die klassische Kleinfamilie: Ein Ehepaar mit seinen einfliessen. leiblichen Kindern – über Jahrzehnte war dies im westlichen Kulturraum das einzige Familienmodell, das gesellschaftlich akzeptiert war. Verschiedene Entwicklungen, etwa die hohe Scheidungsrate oder die Anerkennung gleich­geschlechtlicher Partnerschaften, haben seither zu neuen Formen des familiären Zusammenlebens geführt.

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In der Arbeit von Gesundheits- fachpersonen spielen Schmer- zen eine zentrale Rolle. Doch wo liegen ihre Ursachen? Und wie lassen sie sich am besten behandeln? Das CAS «Schmerz Basic» vermittelt Expertise zum komplexen Thema.

G E W U S S T W I E!

38 Sturzfrei durch die Winterzeit

türze sind die häufigste S Unfallursache in der Schweiz. Wie das Risiko eines Sturzes mit ein paar einfachen Verhaltensweisen verringert werden kann, weiss Ergotherapeutin Dietlinde Arbenz.

39 A G E N DA CAMPUS 40


EDITORIAL

FAMILIEN SIND FÜR DIE VERSORGUNG UNVERZICHTBAR dene kanadische Professorinnen, Janice Bell und Lorraine Wright, nahezu ihr ganzes Leben an der Frage: Wie können Anund Zugehörige in den Prozess von Krankheit und Heilung integriert werden? Ihr Konzept der familienzentrierten Pflege wird seit ein paar Jahren auch bei uns gelehrt und findet mehr und mehr Anklang bei anderen Gesundheitsberufen. Ich meine, wir haben schon eine Menge erreicht, wenn man bedenkt, dass noch in den 1970er-Jahren Eltern ihre kranken Kinder nur wenige Stunden in der Woche im Spital besuchen durften. Heute beziehen wir Mütter und Väter in die Pflege und die Behandlung weitgehend ein. In der Versorgung von Erwachsenen, ob diese nun an Krebs oder an Diabetes leiden, braucht es noch einiges an Entwicklung: in der Haltung aller daran Beteiligten, aber auch bei den Ressourcen, die wir dafür aufwenden, um An- und Zugehörige einzubeziehen und zu unterstützen. In entsprechende Angebote und Modelle zu investieren, fällt oft schwer, weil die Pflege- und Betreuungsarbeit von Familien zu den wenig direkt messbaren Einflüssen auf Krankheit und Heilung gehört. Ich erhoffe mir, dass Sie, wo auch immer möglich, die Grenzen für den Einbezug von An- und Zugehörigen in Ihrem Umfeld verschieben und damit anderen die Möglichkeit geben, sich von einem «Familiensystem» getragen zu fühlen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine interessante Lektüre.

Auf das Familiensystem wurde im Gesundheitswesen bislang zu wenig eingegangen.

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s gibt glückliche Familien. Und es gibt unglückliche Familien, wie wir nicht nur vom Anfang von Tolstois «Anna Karenina» wissen. So oder so: Die Familie begleitet jede und jeden von uns das ganze Leben lang. Angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen können wir heute mit dem Begriff der Familie im erweiterten Sinn das Netzwerk von An- und Zugehörigen bezeichnen. Dazu gehören neben Familienmitgliedern auch Freunde; Menschen also, die wir als Nächste erleben und die uns in Krisen unterstützen. Auf dieses «Familiensystem» ist die Gesundheitsversorgung bisher viel zu wenig eingegangen. Daher arbeiten zwei mit dem Departement Gesundheit freundschaftlich verbunSie haben die Möglichkeit, ausgewählte Beiträge online zu lesen und zu diskutieren: blog.zhaw.ch/vitamin-g

Andreas Gerber-Grote

Direktor Departement Gesundheit

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SPEKTRUM

MAS PHYSICIAN ASSOCIATE SKILLS

NATIONALER GESUNDHEITSBERICHT

ÜBERARBEITETE AUSGABE

MIT NEUEM MAS ÄRZTLICHE AUFGABEN ÜBERNEHMEN

DATENLÜCKEN BEI KINDER- UND JUGENDGESUNDHEIT

STANDARDWERK FÜR HEBAMMEN

In den angelsächsischen Ländern gibt es die Funktion der Physician Associates schon seit den 1960er-Jahren: Gesundheitsfachpersonen, die im klinischen Bereich an der Schnittstelle von Ärzteschaft und interprofessionellen Behandlungsteams tätig sind und dabei ärztliche Tätigkeiten delegiert übernehmen. Mit dem Master of Advanced Studies (MAS) «Physician Associate Skills» bietet das Institut für Gesundheitswissenschaften am Departement Gesundheit eine neue Weiterbildung an, die Gesundheitsfachpersonen befähigt, an dieser Schnittstelle zu arbeiten. Absolventinnen und Absolventen übernehmen im Stations- oder Praxisalltag delegiert ärztliche Aufgaben und engagieren sich für eine effektive Kommunikation mit den Patientinnen und Patienten, Angehörigen sowie anderen Fachleuten und Berufsgruppen. Sie arbeiten interprofessionell und interdisziplinär, um eine optimale Patientenbehandlung und -schulung zu gewährleisten. Der MAS ergänzt und vertieft die Fähigkeiten, die das Departement Gesundheit seit 2016 in Zusammenarbeit mit dem Kantonsspital Winterthur im CAS «Klinische Fachspezialistin / Klinischer Fachspezialist» vermittelt. zhaw.ch/gesundheit/pa-skills

Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis 25 Jahre sind in der Schweiz insgesamt bei guter Gesundheit. Dies geht aus dem ersten zu dieser Bevölkerungsgruppe erstellten nationalen Gesundheitsbericht hervor, den das Schweizerische Gesundheitsobservatorium Obsan im Sommer publiziert hat. Mit dem Bericht sollen primär po­ litisch Verantwortliche «eine Grundlage für die Planung effizienter und wirk­ samer Gesundheitsförderung, Präven­ tion und Gesundheitsversorgung erhalten», wie das Obsan schreibt. Neben der erfreulichen Bilanz bemängelt der Bericht jedoch die lückenhafte Daten­ lage zur Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Am Bericht waren auch Forschende des ZHAW-Departements Gesundheit beteiligt: Sie verfassten die Kapitel «Körperliche Gesundheit und Entwicklung» sowie «Chronische Krankheiten und Behinderungen».

Sie dient Hebammen als umfassen­­­des Lehrbuch und Nachschlagewerk in der Ausbildung, beim Berufsein­stieg und in der täglichen Praxis: Die «Hebammenkunde» befasst sich auf über 1100 Seiten mit sämtlichen Handlungsfeldern der Hebammenarbeit: von der Begleitung der Frauen, Neu­ge­ bo­re­nen und Familien bis hin zur Forschung und Lehre. Mit einprägsamen Texten, Praxistipps sowie rund 800 Abbildungen werden selbst komplexe Themen verständlich erklärt. Die überarbeitete und erweiterte 6. Auflage enthält aktuelle Evidenzen, Forschungsergebnisse und Leitlinien. Die neuen Herausgeberinnen, zu denen mit Karin Brendel auch eine Dozentin am Departement Gesundheit gehört, legten grossen Wert auf die Verknüpfung von praxis- und evidenzbasiertem Wissen. Zum Buch beigetragen haben mit Mona Schwa­ger, Regula Hauser, Kristin Hammer, Christine Loytved und Ka­tharina Albert weitere HebammenExpertinnen des Depar­tements. Hebammenkunde Lehrbuch für Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Beruf Andrea Stiefel, Karin Brendel, Nicola Bauer (Hrsg.) 6. aktualisierte und erweiterte Auflage (2020) Thieme Verlag, Stuttgart

STUDIE ZUM CORONAVIRUS

WER HAT ANTIKÖRPER ENTWICKELT? Forschende am Departement Gesund­heit untersuchen im Zusammenhang mit dem Coronavirus derzeit bei rund 600 Gymnasial- und Berufsschülerinnen und Schülern aus Winterthurer sowie bei ZHAW-Studierenden die sogenannte Seroprävalenz. Diese gibt Auskunft darüber, ob eine Person Antikörper gegen das Virus entwickelt hat. Die Studie «Corona Immunitas – Winterthur» der Forschungsstelle für Gesundheitswissenschaften ist Teil der landesweiten Initia­tive «Corona Immunitas». Die Initiative der Stiftung 4

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«Swiss School of Public Health plus» soll politischen Entscheidungsträgern wich­ti­ge epidemiologische Daten zur Pandemie und zur Immunität der Schweizer Be­völ­ kerung gegen das Coronavirus liefern. Dazu werden verschiedenste Alters-, Be­rufs- oder Risikogruppen auf eine Ansteckung durch das Virus und die Entwicklung einer Immunität hin untersucht. Dabei soll auch erhoben werden, welche Effekte Schutzmassnahmen bei besonders exponierten Berufen oder bei Risiko­ gruppen haben.


MEINUNG

BIODESIGN-KURS

PRODUKTE ENTWICKELN IM GESUNDHEITSWESEN Wie lassen sich Bedürfnisse im Gesundheitswesen erkennen? Und wie können diese mit innovativen Produkten und Dienstleistungen bedient werden? Im neuen CAS «Swiss Biodesign for Medtech Innovators» der ZHAW School of Management and Law lernen Teilnehmende, unbefriedigte Bedürfnisse im klinischen Setting zu analysieren und für diese neue Produkte im Bereich der Medizinal- und Gesundheitstechnologie zu entwickeln. In dem berufs­ begleitenden Kurs kommt das Biodesign-Trainingskonzept der Stanford University zur Anwendung, bei der die Marktanalyse direkt in den Spitälern eine wichtige Rolle spielt. Ab Frühlingssemester 2021 wird ein interdisziplinärer Biodesign-Kurs auch für die Master­ studiengänge an den ZHAW-Departementen Gesundheit, School of Engineering sowie Management and Law angeboten. zhaw.ch/imm/casswissbiodesign

INSTITUT FÜR PHYSIOTHERAPIE

WEITERBILDUNG UNTER NEUER LEITUNG Seit Anfang Oktober verantwortet Thomas Benz die fachliche Leitung der Bereiche Weiterbildung und Dienstleistung am Institut für PhysioThomas Benz therapie. Benz leitete elf Jahre das interdisziplinäre Therapieteam des Schmerzzentrums an der RehaClinic Bad Zurzach. Als Physiotherapeut sowie Bewegungs- und Sportwissenschaftler war er in seiner beruflichen Laufbahn in unterschiedlichsten Anstellungen im Akutbereich, in ambulanten Settings sowie bei einer Versicherung tätig. Seit 2012 doziert er zudem an verschiedenen Bildungs­einrichtungen mit Fokus auf die Rehabilitation von Schmerzpatientinnen und -patienten.

PROF. DR. HANNU LUOMAJOKI Leiter Masterprogramm «Muskuloskelettale Physiotherapie»

BERSETS ERSTBERATER KÖNNTE EINE PHYSIO­T HERAPEUTIN SEIN

U

m das Kostenwachstum im Gesundheitswesen zu dämpfen, hat Bundesrat Alain Berset diesen Sommer ein umfassendes Massnahmenpaket vorgestellt. Es sieht unter anderem vor, dass sich Krankenversicherte nicht mehr direkt bei einem Spezialisten anmelden dürfen, sondern immer zuerst eine Erstberatungsstelle aufsuchen müssen. Gesundheitsminister Berset sprach von Hausärzten, telemedizinischen Zentren oder HMO-Praxen als mögliche «Erstberater». Die Rolle könnten jedoch auch Physiotherapeutinnen und -therapeuten übernehmen. Denn 30 bis 40 Prozent der Personen, die einen Hausarzt aufsuchen, haben Beschwerden am Bewegungsapparat, zum Beispiel Rückenschmerzen, Probleme in den Knien oder andere Abnützungserscheinungen in Gelenken und Muskeln. Solche Beschwerden bedeuten allerdings nicht, dass man krank ist: Rund 95 Prozent davon sind eben keine Krankheit, sondern einfach «nur» Beschwerden. In diesen Fällen sind keine medizinischen Massnahmen nötig. Es braucht keine Labordiagnostik und selten bildgebende Verfahren wie Röntgen oder MRI. Auch auf Medikamente kann häufig getrost verzichtet werden: Sie sind gemäss neusten Studien nicht so effektiv wie bislang angenommen.

Kurzum, ein Grossteil der Betroffenen könnte sich den Gang zur Hausärztin sparen. Sinnvoller wäre es – und ganz im Sinne von Bundesrat Berset –, wenn die Leute mit Beschwerden am Bewegungsapparat zuerst in die Physiotherapie gehen würden. Das hat verschiedene Vorteile: Studien aus dem Ausland haben gezeigt, dass der Direktzugang zur Physiotherapie deutlich tiefere Kosten verursacht, da weniger Operationen, bildgebende Verfahren und medikamentöse Behandlungen durchgeführt werden. Nachgewiesen wurde auch, dass der Direktzugang nicht zu Lasten der Betroffenen geht: Fälle, bei denen eine medizinische Behandlung nötig war, wurden von den Physiotherapeuten erkannt und an die entsprechenden Spezialistinnen überwiesen. Und nicht zuletzt zeigt sich bei den Patienten und den Ärztinnen eine hohe Zufriedenheit mit dem Modell: Bei den Ersteren, weil sie schneller zu einer Therapie kommen, bei den Letzteren, weil sie entlastet werden. Der Direktzugang zur Physiotherapie ist in 74 Ländern weltweit längst Tatsache – mit durchgehend guten Erfahrungen. Machen wir ihn auch in der Schweiz zur Realität, Herr Berset! // blog.zhaw.ch/vitamin-g

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I M P O RT R ÄT

POWERFRAU OHNE ZEIT FÜR LANGEWEILE Sie forscht und unterrichtet, malt, kocht und betreut Gäste in ihrem Guesthouse: Marion Huber ist ein Tausendsassa und hat schon viel in ihrem Leben erlebt. Etwas vom Eindrücklichsten war für die stellvertretende Leiterin der Fachstelle Interprofessionelle Lehre und Praxis am Departement Gesundheit die Arbeit mit Wachkoma-Patienten. VON MARION LOHER

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s gibt etwas, das Marion Huber in ihrem Leben gar nicht mag – und das ist Routine. «Ich brauche Abwechslung, viel Abwechslung sogar», sagt die 54-Jährige und lacht. Vor kurzem hat die Dozentin am ZHAW-Departement Gesundheit das von ihren Eltern geerbte Haus im Schwarzwald zu einem Guesthouse umgebaut. Schon bald möchte sie dort an den Wochenenden für ihre Gäste kochen sowie Ski- und Wandertouren anbieten. Die Arbeit an der ZHAW soll deswegen aber nicht zu kurz kommen. «Ich hatte in meinem Leben meist mehrere Jobs gleichzeitig», sagt die ausgebildete Physiotherapeutin mit einem Augenzwinkern. Kreativer Ausgleich Marion Huber arbeitet seit 2008 an der Hochschule. Sie hat die interprofessionelle Ausbildung in den vier Gesundheitsberufen Pflege, Hebamme, Physio- und Ergotherapie mit aufgebaut. Mittlerweile ist sie stellvertretende Leiterin der Fachstelle Interprofessionelle Lehre und Praxis, Verantwortliche für studienübergreifende Mo­ dule sowie Fachverantwortliche und Do-

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zentin für das Wissenschaftliche Arbeiten. Entspannt und lässig gekleidet in Jeans und Bluse sitzt die umtriebige Wissenschaftlerin an diesem Nachmittag in der Kantine des neuen Hochschulgebäudes. Ihr Sprachtempo ist hoch, sie hat viel zu erzählen. «Ich bin selten nur an einem Projekt dran, fahre meistens mehrgleisig», sagt sie und wirft ihre langen, graumelierten Haare in den Nacken. In den letzten Monaten hat die gebürtige Deutsche vor allem die Umstrukturierung des Gesamtunterrichts der interprofessionellen Module beschäftigt. «Das war viel Arbeit, auch weil Corona innert kurzer Zeit mehr E-Didaktik forderte.»

Aufgewachsen ist die Tochter einer Pianistin und Stieftochter eines Arztes in Verbier im Kanton Wallis. Im Alter von acht Jahren zog es die Familie zurück nach Deutschland, mit 25 Jahren kam Marion Huber wieder in die Schweiz. Zuvor hatte sie ihr Abitur in einem Internat in Niedersachsen abgeschlossen. Ihr Schwerpunktfach damals war Kunst, wobei es ihr besonders die Malerei angetan hatte. Wenn immer möglich nahm sie Pinsel und Farbkasten in die Hand und malte. Einige ihrer Bilder wurden auch ausgestellt. Ganz auf die Malerei zu setzen, habe sie sich aber nicht getraut. «Ich hätte mich zu oft zu stark verbiegen müssen.» Sie entschied


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Eine Frau mit verschiedensten Interessen und meist mehreren Jobs gleichzeitig: Marion Huber, stellvertretende Leiterin der Fachstelle Interprofessionelle Lehre und Praxis am Departement Gesundheit.

sich für eine Ausbildung zur Physiotherapeutin. Das Malen aber blieb – mit Ausnahme einiger Jahre – ihr liebstes Hobby. Mittlerweile hat sie ein eigenes Atelier, wo sie praktisch jeden Abend vor der Leinwand sitzt. Oft malt sie schon am Morgen, beim Kafi, bevor sie an die Hochschule geht – sofern ihr Hund nicht die ganze Aufmerksamkeit fordert. Es braucht einen Perspektivenwechsel Als stellvertretende Leiterin der Fachstelle Interprofessionelle Lehre und Praxis ist es ihr wichtig, unter den verschiedenen Gesundheitsberufen ein gemeinsames Sprachverständnis zu schaffen. So finden am Departement Gesundheit regelmäs­ sig Lehrveranstaltungen statt, an denen an­gehende Pflegefachleute, Hebammen, Physio- und Ergotherapeutinnen und -therapeuten sowie Gesundheits­förde­ rinnen und -förderer teilnehmen und zusammen Themen bearbeiten. «Wir sensibilisieren Studierende dafür, einander besser zuzuhören und nachzufragen, wenn sie etwas nicht verstehen.» Es gebe Begriffe, die von allen Berufsgruppen verwendet werden, jede aber etwas anderes darunter verstehe. «Wir müssen lernen, die Perspektive zu wechseln und nicht per se vom eigenen Verständnis auszugehen», so die Expertin. Für eine gute und professionelle Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich sei dies enorm wichtig, nur so könnten Missverständnisse, Doppelspurigkeiten und Behandlungsfehler am Patienten vermieden werden. Seit 2017 ist dies nicht mehr bloss trockene Theorie für die Studierenden. Im Rahmen des Modells ZIPAS, der Zürcher inter­ professionellen klinischen Ausbi­ldungs­sta­tion, können sie dieses berufsübergreifende Arbeiten in Spitälern unter Super­vision an echten Patientinnen und Patienten praktizieren. Dass es diese Möglichkeit gibt, ist auch Marion Huber zu verdanken. Sie hat viel Erfahrung in dieser Art der Zusammenarbeit und das Konzept mitgestaltet. Bevor sie an die ZHAW kam, hatte sie in der Rehabilitationsklinik REHAB-AG Basel die Wachkomastation mitaufgebaut und war dort während 15 Jahren zunächst

als Physiotherapeutin, dann auch als Heilpraktikerin und später als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Im Team wurde aber nicht «nur» interprofessionell, sondern bereits transprofessionell gearbeitet. «Wir hatten alle dieselben Weiterbildungen, obwohl wir aus unterschiedlichen Berufsgattungen kamen. So erledigten alle die gleichen Aufgaben am Patienten.» Sie nahm ihre Wachkoma-Patienten oft mit nach draussen. «Wir legten uns ins Gras oder spielten Fussball», erzählt sie. «Ich fand das sinnvoller, als sie durchzubewegen.» Für die Physiotherapeutin war es körperlich anstrengend, da sie alle Be­ wegungen mit dem Pa­tienten synchron machte. Trotzdem: Die Mühen lohnten sich. «Es gab kaum einen Patienten, der nicht reagierte, und wenn es nur die Körperspannung war, die rauf oder runter ging.» Marion Huber bezeichnet sich selbst als «ener­getisch nervösen Menschen, der im Leben schnell unterwegs ist». Nie hätte sie deshalb gedacht, dass sie einmal mit Wachkoma-Patienten arbeiten würde. Sie hatte grossen Respekt davor, sich auf deren Tempo einzulassen. Doch wie so vieles in ihrem Leben hat sie es einfach getan, weil sie spürte, dass es richtig war. «Als ich den ersten Patienten behandelte, konnte ich automatisch runterfahren.»

setzt wird. Für ihre Doktorarbeit validierte sie das Instrument. Heute ist sie nur noch unregelmässig in der Basler Rehabilitationsklinik. Team und Stimmung seien nicht mehr wie früher, musste sie feststellen. Ein guter Zeitpunkt für die international anerkannte Wissenschaftlerin, einen Gang runterzuschalten. Nach 15 Jahren, in denen sie sich selten mehr als eine Woche Ferien im Jahr und kaum mehr als vier Stunden Schlaf pro Nacht gönnte, will sie es beruflich ein wenig ruhiger angehen und ihren Fokus verstärkt auf die Studierenden und die Forschung, aber auch auf die Malerei und das Guesthouse legen. Von Routine ist Marion Huber dennoch weit entfernt. //

«Ich bin selten nur an einem Projekt dran, fahre meistens mehrgleisig.»

Auch Rückschläge halten sie nicht auf Irgendwann aber stiess sie mit ihrem Wissen an Grenzen und sie wollte mehr. Doch eine durch einen Zeckenbiss ausgelöste Borreliose, die zu einer vorübergehenden Halbseitenlähmung führte, und ein Snowboard-Unfall, bei dem sie sich den Unterschenkel zertrümmerte, stoppten die Powerfrau abrupt. Mehr als zweieinhalb Jahre war sie ausser Gefecht gesetzt. Doch sie kämpfte sich zurück und begann, nebst der Arbeit auf der Wachkoma-Station an der Universität Basel Psychologie zu studieren. Im Rahmen ihrer Masterarbeit im Fachgebiet Neurowissenschaften entwickelte sie ein interprofessionelles Beobachtungsraster für Menschen im Wachkoma, das inzwischen in diversen Zentren in der Schweiz und in Deutschland einge-

MARION HUBER ist seit 2009 stellvertretende Leiterin der Fachstelle Interprofessionelle Lehre und Praxis am Departement Gesundheit. Seit 2008 verantwortet sie die studiengang­ übergreifenden Module und seit 2013 das Fach Wissenschaftliches Arbeiten, bei dem sie auch als Dozentin tätig ist. Nach dem Abschluss zur diplomierten Physio­ therapeutin und Heilpraktikerin studierte sie Psychologie an der Universität Basel und schloss mit der Masterarbeit im Fach­gebiet Neurowissenschaften ab. Seit 2015 ist sie zudem Professorin für Inter­professionelle Zusammenarbeit und Kommunikation. Die 54-Jährige wohnt in Schaffhausen und steht kurz davor, ihren Wohnsitz nach Winterthur und in den Schwarzwald zu verlegen.

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NEUER GESUNDHEITSCA MPUS

W I L L KO M M E N I M H AU S A D E L I N E FAV R E Im Sommer ist das Departement Gesundheit in sein neues Zuhause auf dem Winterthurer Sulzerareal eingezogen. Benannt nach einer bekannten Walliser Hebamme, bietet der Neubau nicht nur eine moderne und grosszügige Infrastruktur für Studierende und Mitarbeitende, sondern mit seiner unkonventionellen Architektur auch viel fürs Auge. Ein kleiner Einblick.

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NEUER GESUNDHEITSCA MPUS

Aussen Industriecharme, innen Hochschulatmosph채re: Der Charakter der Giesserei, die fr체her hier stand, blieb in der Fassade des Haus Adeline Favre erhalten. Im Neubau werden jedoch keine Stahlteile mehr gegossen, sondern Health Professionals praxisnah aus- und weitergebildet (linke Seite). Viel Platz f체rs gemeinsame Lernen, den spontanen Austausch und die Zn체nipause: Das verschachtelte Atrium erinnert mit den zahlreichen Terrassen, dem OutdoorMobiliar und der in den Beton gemeisselten Kunst am Bau an ein urbanes Quartier (rechte Seite).

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Alleinerziehende Mütter und Väter: In der Schweiz ist die Scheidungsrate die letzten Jahre zwar leicht gesunken, doch nach wie vor gehen 40 Prozent aller Ehen in die Brüche. Hinzu kommen unverheiratete Paare, die ihre Beziehung beenden. Die Folge: Alleinerziehende Personen und ihre Kinder bilden die zweithäufigste Familienkonstellation. Den Löwinnenanteil machen alleinerziehende Mütter aus.


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FA M I L I E N S A C H E Der Vater, der die Schürfung am Knie seiner Tochter versorgt. Die Enkelin, die mit ihrem gebrechlichen Grossvater einen Spaziergang macht. Der Sohn, der die Mutter betreut, während sie mit Grippe im Bett liegt. Diese Art der einfachen familiären Gesundheits­versorgung kennen die meisten von uns. Doch Familien leisten noch viel mehr. Sie spielen deshalb in der Gesundheitsförderung und Prävention, bei der Pflege und Betreuung, bei Therapien und Behandlungen eine wichtige Rolle. Wie sie unterstützt und in die Arbeit von Gesundheits­ fachpersonen einbezogen werden können, zeigt dieses Dossier.

Die Bilder zum Dossierthema zeigen beispiel­h aft die heutige Diversität familiären Zusammenlebens. Die Aufnahmen mit den Playmobilfiguren sind an beliebten Winterthurer Familienausflugzielen entstanden: Im Technorama (linke Seite), im Totentäli (Cover), auf dem Spielplatz Nägelsee (S. 17), im Skills Park (S. 24) und an der Töss (S. 31).

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D O S S I E R|FA M I L I E N S A C H E

D I E FA M I L I E I M WA N D E L Die bürgerliche Kernfamilie war in der westlichen Gesellschaft über Jahrzehnte das dominierende Familienmodell – und ist es auch heute noch. Historisch gesehen noch sehr jung, wurde sie in den vergangenen Jahrzehnten jedoch um neue Formen des Zusammenlebens ergänzt. Im Gesundheitswesen wird dem nicht überall genügend Rechnung getragen. VON TOBIAS HÄNNI

E

ine Frau, ein Mann und ihre leiblichen Kinder: Lange galt diese Zusammensetzung als Archetyp einer Familie. Und auch wenn das familiäre Umfeld vieler Menschen in Westeuropa längst nicht mehr diesem Bild entspricht, weil sie in Patchwork- oder Regenbogenfamilien leben oder alleinerziehend sind, heisst es auf der deutschsprachigen Ausgabe von Wikipedia: «Die menschliche Kernfamilie besteht aus einer Mutter und einem Vater sowie ihren gemeinsamen leiblichen Kindern, die in einem Haushalt zusammenleben.» Angesichts des gesellschaftlichen Wandels werde das Modell in neuer Zeit hinterfragt, so Wikipedia weiter und verweist dabei auf einen Artikel der deutschen «Zeit» von März 2020: «Das Ende der Kernfamilie». Ob diese in nächster Zeit tatsächlich dem Niedergang geweiht ist, scheint jedoch fraglich. So kam der Bundesrat in seinem Familienbericht 2017 zum Schluss, dass «die Zweielternfamilie statistisch vorherrschend bleibt» (siehe auch Grafik). Zumindest für die Schweiz könne höchstens von einem moderaten Trend zur Pluralisierung von Familienformen ausgegangen werden. «Patchworkfamilien, Regenbogenfamilien oder Dreigenerationenfamilien gibt es, aber ihre Verbreitung ist deutlich geringer, als viele mediale und politische Diskurse zur Vielfalt modernen Familienlebens andeuten», kommt der Bundesrat zum Schluss. Ob die bürgerliche Kernfamilie langsam zum Auslaufmodell wird oder nicht, klar ist auf jeden Fall: Historisch gesehen ist sie noch sehr jung: «Das heute vorherrschende Familienmodell hat sich erst im 19. Jahrhundert als relevantes Sozialgebilde durchgesetzt», sagt der Soziologe Michael Gemperle, der am Departement Gesundheit in der Hebammenforschung tätig ist. V O N D E R H A U S H A LT S G E M E I N S C H A F T  …

Zwar sei die Kernfamilie in Mittel- und Westeuropa bereits im Mittelalter zahlenmässig der häufigste Familientyp gewesen – und nicht, wie oftmals angenommen – die mehrgenerationelle Grossfamilie, so Gemperle. «Gesellschaftliche Bedeutung hatte das Konzept der Kleinfamilie damals aber kaum. Das gesellschaftlich relevante Sozialgebilde war die Haushaltsgemeinschaft», hebt Gemperle hervor. Zu dieser zählten neben dem Ehepaar und den Kindern auch Arbeitskräfte, etwa Knechte und Mägde. «Es handelte sich in erster Linie um eine Arbeitsgemeinschaft, in der sich der Platz des Einzelnen nicht 12

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durch die Blutsverwandtschaft bestimmte, sondern durch seine Stellung im Produktionsprozess», erläutert Gemperle. …  Z U R B Ü R G E R L I C H E N FA M I L I E

Gegen Ende des Mittelalters fand laut dem Soziologen dann ein tiefgreifender Wandel statt: Arbeiten und Wohnen trennten sich zunehmend, angetrieben unter anderem durch die wachsende Bedeutung der Lohnarbeit. «Vor allem in den wohlhabenden städtischen Haushalten fand dabei eine zunehmende Intimisierung der Kernfamilie und der Beziehung zwischen Eltern und Kindern statt», sagt Gemperle. Mit dem Aufstieg des Bürgertums im 19. Jahrhundert erhielt das Modell für immer weitere Bevölkerungskreise Bedeutung. «Gleichzeitig fanden auch Grossfamilien und Mehrgenerationenhaushalte infolge der gestiegenen Lebenserwartung, der Industrialisierung und des Bevölkerungswachstums eine nie dagewesene Verbreitung, nicht zuletzt zur Bewältigung wirtschaftlicher Not.» Zum dominanten und gesellschaftlich prägenden Modell wurde die bürgerliche Kernfamilie laut Gemperle deshalb erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts, insbesondere während des rasanten wirtschaftlichen Aufschwungs der 1950er- und 1960er-Jahre. «Der Anstieg der Reallöhne ermöglichte es plötzlich auch den Arbeiterfamilien, das bürgerliche Leitideal zu leben: Die Frau blieb zuhause und kümmerte sich um Haushalt und Familie.» K I N D E R A L S KO N S TA N T E

Während die mittelalterliche Kernfamilie um den Vater als Oberhaupt der Haushaltsgemeinschaft konstruiert war, ist das zentrale Element des bürgerlichen Familienmodells das Kind. «Es bedurfte dafür einer eigentlichen Entdeckung der Kindheit und der Eigenarten des Kindseins ab dem 17. Jahrhundert. Diese führte dazu, dass die Kinder zunehmend aus der Welt der Erwachsenen ausgeschlossen wurden», erklärt Michael Gemperle die Entwicklung. Eine zentrale Rolle spielte dabei der Schulbesuch. Immer wichtiger wurde auch die Erziehung, durch welche die Kinder den gesellschaftlichen Status der Familie zumindest erhalten, im besten Fall aber verbessern sollten. «Das Kind ist seither das definierende Element sämtlicher Familienmodelle», sagt Gemperle. Ob bei Patchworkfamilien, Alleinerziehenden oder Regenbogenfamilien: Kinder seien die Konstante. Diese Konstante


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zeigt sich auch in der Definition der Familie durch die Eidgenössische Kommission für Familienfragen (EKFF), eine ausserparlamentarische Kommission und beratendes Organ des Bundesrates. Die EKFF definiert die Familie als «jene Lebensformen, die in den Beziehungen von Eltern und Kindern im Mehrgenerationenverbund begründet und gesellschaftlich anerkannt sind». Die Definition ist laut der EKFF «bewusst offen gehalten». Sie verzichte auf wertende Aussagen und trage der Vielfalt der Familienformen und dem wandelnden Verständnis von Familie Rechnung. GESUNDHEITSWESEN: DIVERSER UMGANG

Für die Kommission ist Familie nicht bloss Privatsache, sondern «von grundlegender Bedeutung für das menschliche Zusammenleben». Sie bedürfe deshalb der «gesellschaftlichen Anerkennung und Unterstützung». Doch wie anerkannt ist die Familie im Gesundheitswesen? Und welche Unterstützung erhalten Angehörige verschiedenster Familienmodelle in diesem gesellschaftlich relevanten Sektor? «Eine allgemeine Aussage zum Einbezug der Angehörigen im Gesundheitswesen lässt sich nicht machen – dafür ist der Umgang mit dem Thema innerhalb des Sektors zu unterschiedlich», sagt Raphaël Hammer, Medizinsoziologe und Professor an der Hochschule für Gesundheit Waadt (HESAV, HES-SO) in Lausanne. Familien und deren zunehmender Diversität Rechnung getragen werde wohl am stärksten im ambulanten Bereich. «Die Spitex beispielsweise erhält häufig direkten Einblick in das soziale Umfeld der Klienten und kann dieses in ihre Arbeit mit einbeziehen.» In der stationären, klinischen Medizin hingegen finde die Familie häufig keine grosse Beachtung – geschweige denn neue Formen des familiären Zusammenlebens. Auch wenn sich einzelne Medizinerinnen und Mediziner durchaus für die Thematik interessieren würden, fehle ihnen wohl schlicht die Zeit, sich auch noch um die Familie der Patienten zu kümmern, sagt Hammer. «Vor allem bei operativen Eingriffen wird der Patient als Einzelperson betrachtet und behandelt.» Im Gegensatz dazu werde etwa bei psychischen Problemen das familiäre Umfeld in der Behandlung schon länger berücksichtigt. Das gilt ebenso für die nichtärztlichen Gesundheitsberufe. Laut Michael Gemperle wurden diese Berufe in den letzten Jahrzehnten mit dem stärkeren Einbezug der Sozialwissenschaften zunehmend für das Familiensystem ihrer Klientinnen oder Patienten sensibilisiert. «Psychologie und Soziologie sind längst fester Bestandteil in der Ausbildung der Gesundheitsberufe. Damit sind auch das Wissen über neue Familienmodelle und das Verständnis für diese grösser als noch vor ein paar Jahren.»

Hammer. So haben gleichgeschlechtliche Paare das Besuchsrecht auf der Intensivstation eines Spitals in vielen Kantonen nur, wenn sie in einer eingetragenen Partnerschaft leben – die in der Schweiz erst 2007 eingeführt wurde. «Das Gesundheitswesen handelt in dieser Hinsicht nicht aktiv, sondern reagiert – teilweise auch etwas träge – auf die gesetzlichen Anpassungen.» Das hat laut Hammer auch damit zu tun, dass Entscheidungsträger, wenn es um sensible Bereiche wie das Arztgeheimnis geht, juristisch auf der sicheren Seite sein wollen. Allerdings werde das Gesetz der Realität nicht immer gerecht, sagt Hammer. «Das zeigt sich exemplarisch bei den pränatalen Screeningtests. Die schwangere Frau hat per Gesetz das Recht zu entscheiden, ob sie solche Tests durchführen will oder nicht.» Den Entscheid dafür oder dagegen fälle sie in den allermeisten Fällen jedoch nicht allein, sondern mit dem Partner. Auch weitere Angehörige würden häufig in den Entscheid miteinbezogen. «Das Thema Familie bloss aus der juristischen Sichtweise zu beurteilen, greift deshalb zu kurz», so Hammer. Bei der Ärzteschaft als wichtigem Entscheidungs- und Verantwortungsträger in vielen Institutionen des Gesundheitswesens mangle es aber an einem Umgang mit dem Thema, der über den rein juristischen Aspekt hinausgehe. «Hier bräuchte es in der Ausbildung eine stärkere Sensibilisierung für das Thema Familie.» // Haushalte mit Kindern unter 25 Jahren:

Das bürgerliche Familienmodell bleibt in der Schweiz dominant 12,1 %

2,3 %

5,5 % 4,8 %

75,3 %

Ehepaare mit gemeinsamen Kindern

DA S G E S E T Z S A GT, WA S FA M I L I E I S T

Das Verständnis allein reicht jedoch nicht aus, um den diversen Familienkonstellationen der Klientinnen und Patienten gerecht zu werden. Der Umgang damit hängt auch von anderen Faktoren ab – darunter vor allem von den gesetzlichen Rahmenbedingungen. «In den Spitälern ist es entscheidend, wer nach dem Gesetz als enger Angehöriger gilt und damit zum Beispiel ein Informations- oder Besuchsrecht hat», sagt

Unverheiratete Paare mit gemeinsamen Kindern (inkl. Regenbogenfamilien) Patchworkfamilien (inkl. Regenbogenfamilien) Alleinlebende Mütter mit Kindern Alleinlebende Väter mit Kindern Quelle: «Familien in der Schweiz» – Statistischer Anhang des Familienberichts 2017. Basiert auf kumulierten Daten von 2012 bis 2014.

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O H N E D I E FA M I L I E GEHT’S NICHT Schulerfolg, berufliche Karriere, physische und psychische Gesundheit: In welchen familiären Verhältnissen ein Mensch seine frühe Kindheit verbringt, wirkt sich auf sein ganzes Leben aus. Frühkindliche Gesundheitsförderung und Prävention ist damit eine gesell­schaftlich wichtige Aufgabe. Und eine, die über das Familiensystem stattfinden muss. Die Herausforderung dabei: die richtigen Kanäle finden, um die Familien überhaupt zu erreichen. VON TOBIAS HÄNNI

In den ersten Lebensjahren eines Menschen ist die Familie das prägende soziale Bezugssystem. Sie beeinflusst die Gesundheit und den sozioökonomischen Status bis ins Erwachsenenleben.

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n der Fachliteratur wird sie manchmal als «hidden health care system», als verstecktes Gesundheitssystem, bezeichnet. Und sie gilt, was die Entwicklung eines Kindes in den ersten Lebensjahren angeht, als wichtigstes soziales System: die Familie. Das familiäre Umfeld spielt in der Bewältigung gesundheitlicher Herausforderungen häufig eine zentrale Rolle; geschätzt wird, dass bis zu drei Viertel aller Gesundheitsprobleme im Familien-, Freundes- oder

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Bekanntenkreis bewältigt werden. Das Familiensystem ist jedoch vor allem auch entscheidend im Hinblick auf einen gesunden Lebensstil und auf Verhaltensweisen, die solchen Problemen vorbeugen. Eine an sich banale, doch umso wichtigere Erkenntnis, wenn es um Gesundheitsförderung und Prävention in der frühen Kindheit geht. So schrieb das Bundesamt für Gesundheit (BAG) 2018 in einem Bericht zu dem Thema: «Da die Familie für ein Kind in den ersten Lebens-


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jahren das entscheidende soziale Bezugssystem bildet, ist frühkindliche Gesundheitsförderung und Prävention vor allem darauf ausgerichtet, Familien im Rahmen des Gesundheits-, des Bildungs- und des Sozialwesens interdisziplinär zu unterstützen.» Dieser primär settingorientierte Ansatz richtet den Fokus mehrheitlich nicht auf das Kind selbst, sondern auf seine relevante soziale und räumliche Umwelt aus, heisst es im Bericht. «Das ist in erster Linie die Familie des Kindes mit ihren primären Bezugspersonen sowie die Wohnumgebung.» Gelinge es, diese sozialen Systeme so zu beeinflussen, dass die direkte Umwelt des Kindes gesundheitsförderlicher werde, «dann können die Massnahmen ihre präventive Wirkung entfalten», schreibt das BAG. Und hebt dabei hervor, wie wichtig die frühkindliche Prävention für die weitere Entwicklung eines Menschen bis ins Erwachsenenalter ist. «Am umfassendsten belegt ist wohl der Zusammenhang von frühkindlicher Prävention, Schulerfolg und Erfolg auf dem Arbeitsmarkt.» Dieser Zusammenhang sei auch aus gesundheit­licher Sicht entscheidend, so das BAG. Denn zwischen Schulerfolg, sozioökonomischem Status und dem Auftreten nichtübertragbarer Krankheiten – wie Diabetes, Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen – bestehe eine starke Korrelation. Kurzum: Die familiären Bedingungen, in die ein Mensch geboren wird und in denen er die ersten Jahre aufwächst, sind ausschlaggebend dafür, ob er später ein gesundes sowie sozial und beruflich erfolgreiches Leben führt.

mut zu verringern und Schutzfaktoren – etwa ein positives Familienklima oder zusätzliche, verlässliche Bezugspersonen – zu stärken», sagt Zysset. Gelinge es zudem, bei einem Kind die internen Schutzfaktoren zu fördern, unter anderem ein positives Selbstbild, Problemlösefähigkeit oder Optimismus, dann könne sich dieses auch in einem widrigen Umfeld gut entwickeln. Doch wie stärkt man diese Schutzfaktoren, wenn Eltern zum Beispiel aufgrund einer Suchterkrankung oder eines Lebens in Armut keine Kraft oder Zeit haben, sich um die Gesundheit ihrer Kinder zu kümmern? «In solchen Fällen können neben speziellen Programmen für belastete Familien auch Kindertagesstätten ein Weg sein, um die Kinder in ihrer Entwicklung zu fördern», so Zysset. Insbesondere Kinder aus vulnerablen Familien profitierten am meisten von Ausflügen, einer gesunden Ernährung oder der sozialen Interaktion in Kitas.

«Das System Familie ist sehr privat, da lässt man nicht jeden rein.»

R I S I KO FA K TO R E N V E R R I N G E R N , S C H U T Z FA K TO R E N S TÄ R K E N

Um sicherzustellen, dass sich Kinder in den ersten Lebensjahren gesund entwickeln, muss Gesundheitsförderung und Prävention so früh wie möglich ansetzen. Das heisst, eigentlich schon vor der Geburt, wie Annina Zysset, wissenschaftliche Mit­arbeiterin an der ZHAW-Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften, hervorhebt: «Ne­ben negativen Folgen für das ungeborene Kind kann ein ungesundes Verhalten während der Schwangerschaft über epigenetische Mechanismen das Genmaterial nachhaltig verändern – und sich so auch bei nachfolgenden Generationen noch bemerkbar machen.» So schlägt sich beispielsweise eine ungesunde Ernährung oder Alkoholkonsum dauerhaft und an verschiedenen Stellen im Erbgut nieder. Zusammen mit anderen Forschenden des Departements Gesundheit hat Zysset im Auftrag des BAG eine Übersichtsstudie zu Gesundheitsförderung und Prävention in der frühen Kindheit – definiert als Lebensphase zwischen null und vier Jahren – verfasst. «In dieser Zeit lernen Kinder Verhaltensweisen grossmehrheitlich von ihren Eltern – diese sind damit vielfach der einzige Kanal, um die Kinder zu erreichen», sagt die Forscherin. Präventive und gesundheitsfördernde Massnahmen müssten deshalb primär bei den Eltern ansetzen und diese zu einem gesundheitsförderlichen Verhalten anregen. «Darüber hinaus sollten Familien darin unterstützt werden, Risikofaktoren wie Gewalt, Sucht oder Ar-

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Auf solche vulnerablen Familien legten die Forschenden des Departements Gesundheit in ihrer Übersichtsarbeit für den Bund ein be­ sonderes Augenmerk. Dazu zählen Familien mit Migrationshintergrund, einem erhöhten Armutsrisiko, Gewalterfahrungen, einer Suchtproblematik oder einer psychischen Erkrankung mindestens eines Elternteils. Bei betroffenen Familien besteht häufig eine Kombination dieser Faktoren. «Studien zeigen, dass Kinder aus solchen Familien oft bei schlechterer Gesundheit sind. Gleichzeitig nehmen die Familien gesundheitsfördernde und präventive Angebote weniger stark in Anspruch oder werden von diesen nicht erreicht», sagt Zysset. Die Forscherin hat im Rahmen der BAG-Studie diese Problematik genauer unter die Lupe genommen. Die Schwierigkeit dabei: Die Datenlage zur Gesundheit von Kindern zwischen null und vier Jahren ist in der Schweiz eher dürftig. Und Daten zu Vulnerabilitätsund Risikofaktoren werden bei Erwachsenen zwar erhoben, lassen sich jedoch ohne Angaben zur Elternschaft nicht einfach so auf Kinder übertragen. «Diese lückenhafte Daten­ lage macht es schwierig, herauszufinden, bei welchen Gruppen vulnerabler Familien der grösste Handlungsbedarf besteht», sagt Annina Zysset. F L I C K E N T E P P I C H A N A N G E B OT E N

Bei ihrer Recherche hat sich die Wissenschaftlerin auf bestehende Angebote zu Gesundheitsförderung und Prävention bei vulnerablen Familien konzentriert. Insgesamt 65 Projekte aus der ganzen Schweiz hat sie zusammengetragen, darunter Angebote und Anlaufstellen zur psychischen Gesundheit, zur Elternedukation, zur Ernährung oder zur Frühförderung. «Insgesamt gibt es ein breites Angebot für vulnerable Familien – von Kanton zu Kanton bestehen aber auch sehr grosse Unterschiede», sagt Zysset. So gebe es in grösseren und städtischen Kantonen meist ein weitaus grösseres Angebot an Projekten. Lücken zu identifizieren sei schwierig, da die Projekte weder national noch auf kantonaler Ebene von einer zentralen Stelle erfasst würden. «Es ist ein Flickenteppich an Angeboten von unterschiedlichsten Organi-

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sationen und staatlichen Stellen.» Eine der Empfehlungen der Forscherin ist deshalb der Aufbau einer nationalen Projektdatenbank oder von kantonalen Plattformen. «Das würde die Koordination unter den Anbietern verbessern und dabei helfen, Familien die passenden Angebote vermitteln zu können», so Annina Zysset. Ihre Untersuchung der Angebote zeigte auch die Erfolgsfaktoren bezüglich Erreichbarkeit und nachhaltiger Unterstützung vulnerabler Familien auf: Dazu gehören unter anderem ein professioneller und möglichst niederschwelliger Aufbau des Angebots sowie Personen, die als Multiplikatoren agieren. «Damit sind beispielsweise bei Familien mit Migrationshintergrund Personen gemeint, die denselben Hintergrund haben und im Projekt mitarbeiten», erläutert Zysset. Ein erfolgreiches Beispiel diesbezüglich seien die Femmes- und Hommes-Tische, bei denen in moderierten Runden unter anderem Fragen zum Schweizer Gesundheitssystem diskutiert werden. Die Moderatorin oder der Moderator stammt dabei häufig aus demselben Kulturkreis oder

MIT DIGITALEN ANGEBOTEN SPRACHLICHE HÜRDEN ABBAUEN Rund ein Fünftel der Schweizer Bevöl­kerung hat einen Migrationshintergrund. Während Migrantinnen und Migranten in ihren Herkunftsländern meist zu den ge­sündesten Individuen gehören und bei ihrer Ankunft in der Schweiz einen ähnlich guten oder besseren Gesundheitszustand aufweisen als die einheimische Bevölkerung, verliert sich dieser Vorteil häufig im Laufe der Zeit. Zur Verschlechterung der Gesundheit trägt neben anderen Faktoren oft auch die sprachliche Barriere bei. Sie ist eine hohe Hürde im Bereich der Gesundheitsversorgung, da sie einer­ seits den Zugang zu dieser Versorgung und zu Gesundheitsinforma­tionen, andererseits auch eine informierte Einwilligung zu Therapien und Behand­ lungen erschwert. Im inter­profes­sionellen Projekt «Digital Health für Eltern mit Migrationserfahrung» ent­wickeln Forschende der fünf Institute am Departe­ ment Gesundheit deshalb verschiedene digital ge­ stützte Gesundheitsversorgungsange­bote für werden­ de Eltern und Eltern mit Kleinkindern, die aufgrund kultureller und sprachlicher Barrieren beim Zugang zur Geburts­hilfe, Pflege, Ergotherapie, Physiothera­pie und Pädiatrie benachteiligt sind. Die Angebote sollen diesen Zugang verein­fachen und die Kompetenzen der Ziel­gruppe im Umgang mit dem Gesundheitswe­ sen erhöhen. Für das Projekt, das vom ZHAWForschungsschwer­punkt «Gesellschaftliche Integration» finanziert wird, arbeiten die Forschenden eng mit den Departementen Angewandte Lin­guistik, Angewandte Psychologie und Soziale Arbeit zusammen. 16

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derselben Sprachregion wie die Teilnehmenden. «So können Inhalte kulturspezifisch aufbereitet werden. Und die Sprachbarriere, die ein häufiges Hindernis beim Zugang zu Angeboten darstellt, kann überwunden werden.» U N KO N V E N T I O N E L L E K A N Ä L E F I N D E N

Wie sich Angebote für Familien – insbesondere für vulnerable – so entwickeln lassen, dass sie tatsächlich genutzt werden, ist auch im Bachelorstudiengang Gesundheitsförderung und Prävention ein wichtiges Thema. «Die Familie als kleinste soziale Einheit ist in der Arbeit von Gesundheitsförderinnen und Gesundheitsförderern eine der zentralen Zielgruppen», sagt Kerstin Jüngling, Dozentin und Fachbereichsleiterin Kommunikation und Transformation im Studiengang. Themen der Gesundheitsförderung und Prävention, die einen direkten Bezug zum Familiensystem haben, gebe es zahlreiche, zum Beispiel die Ernährung von Kleinkindern, die Mediennutzung und Digitalisierung oder die psychische Gesundheit der Eltern. «Die Studierenden lernen, die Relevanz eines Handlungsfelds einzuschätzen – und herauszufinden, was die Bedürfnisse der Familien in diesem sein könnten», erläutert Kerstin Jüngling. Danach ginge es um die entscheidende Frage: «Wie bekommen wir Zugang zu den Familien?» Diesen Zugang zu finden, sei nicht immer einfach, sagt die Sozialpädagogin. «Das System Familie ist sehr privat, da lässt man nicht jeden rein.» Den künftigen Gesundheitsförderinnen und -förderern werde im Studiengang deshalb vermittelt, bei der Planung von Projekten an Stakeholder zu denken, die den Kontakt zu den Familien ermöglichen könnten. «Bei einem Projekt in der türkischen Community Berlins wollte ich die Väter miteinbeziehen. Direkten Zugang zu diesen zu erhalten, war aber schwierig», veranschaulicht Kerstin Jüngling, die in Deutschlands Hauptstadt eine Fachstelle für Suchtprävention leitet. «Deshalb habe ich eine Moschee angefragt, ob ich während des Freitaggebets das Projekt vorstellen darf.» Die Moschee gab ihr die Erlaubnis – und Jüngling erreichte mit ihrem Projekt die türkischen Väter. Will Gesundheitsförderung und Prävention, dass die Botschaften bei den Familien tatsächlich ankommen und eine Wirkung erzielen, ist die Wahl der passenden Kommunikationskanäle deshalb zentral – und laut Kersting Jüngling keine einfache Aufgabe. «Welche Kanäle gewählt werden sollten, hängt von vielen Aspekten ab.» So gebe es Kulturen, in denen das Reden im Mittelpunkt stehe, das Lesen jedoch einen geringen Stellenwert habe. «Familien mit einem solchen kulturellen Hintergrund erreicht man nicht mit einer 20-seitigen Informationsbroschüre.» Gelingt es Gesundheitsförderinnen und -förderern jedoch, durch den richtigen Kanal Zugang zu den Familien zu finden und ihr Vertrauen zu gewinnen, «dann können sie über diesen Zugang Botschaften zu weiteren Handlungsfeldern vermitteln – und erreichen über die Familie zahlreiche weitere Settings.» //

blog.zhaw.ch/vitamin-g


Die Patchworkfamilie: Diese Familien sind bunt zusammengewürfelt. Mindestens eine Partnerin oder ein Partner bringt Kinder aus früheren Beziehungen mit, manchmal kommen gemeinsame Kinder hinzu oder die Kinder sind zu Besuch, die im Alltag bei der Ex-Partne­ rin, dem Ex-Partner leben. Eine veraltete – und eher negative – Bezeichnung für dieses Model ist Stieffamilie.


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« DA S Z I E L I ST E S , D I E FA M I L I E N Z U STÄ R K E N » Hebammen sind vor allem rund um die Geburt gefragt. Doch ihre Kompetenzen reichen von der Familienplanung bis zur frühen Elternschaft. Eine längere Begleitung durch die Hebamme hätte vor allem für vulnerable Familien viele Vorteile, sagt Karin Brendel, Fachbereichs­leiterin im Bachelorstudiengang Hebamme. VON ANDREA SÖLDI

Es habe viele Vorteile, wenn Hebammen auch vor und nach der Geburt stärker involviert werden, sagt Karin Brendel, die im Bachelorstudiengang Hebamme doziert.

Frau Brendel, normalerweise kommt die Hebamme rund um die Geburt ins Spiel. Das Konzept Family Systems Care sieht vor, dass sie die Familien über eine längere Zeitspanne betreut. Suchen Hebammen neue Aufgaben, weil ihnen die Arbeit ausgeht? Karin Brendel: Nein, natürlich nicht. Doch wir sind ausgebildet für die Begleitung von Paaren beginnend bei der Familienplanung über Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett bis zur Stillzeit und frühen Elternschaft. Derzeit liegt unser Hauptarbeitsfeld im Bereich Geburt und Wochenbett. In der Schwangerenvorsorge arbeiten wir eher wenig. Doch es hat viele Vorteile, wenn wir auch vorher und nachher noch etwas stärker involviert werden. Welche Vorteile sind das zum Beispiel? Aktuelle Forschungen zeigen, dass die Zufriedenheit der Frauen steigt. Zudem kommt es zu weniger medizinischen Interventionen, wenn wir bereits präventiv tätig werden kön18

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nen, also noch bevor sich akute Probleme bemerkbar machen. Beim Ansatz der Family Systems Care soll mit der kontinuierlichen Begleitung durch die Hebamme die Selbstständigkeit der Frauen und ihrer Partner gefördert werden. Wie konkret können Frauen während der Schwangerschaft vom Fachwissen einer Hebamme profitieren? Eine relativ häufige Komplikation ist der Gestationsdiabetes. Durch eine gezielte Beratung in den Bereichen Ernährung und Bewegung können wir die Therapie unterstützen und gleichzeitig die Gesundheitskompetenzen der Frauen langfristig verbessern. Werden Schwangere ausschliesslich von einer Gynäkologin betreut, wie hierzulande üblich, ist die Zeit für eine eingehende Beratung häufig zu knapp. Welches sind die Vorteile für Geburt und Wochenbett, wenn Hebammen die Frauen bereits kennen? Auch hier zeigen Studien, dass es weniger oft zu Interventio-


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nen bei der Geburt wie etwa einer Periduralanästhesie kommt, wenn die Frauen während der Schwangerschaft kontinuierlich begleitet wurden. So werden auch Wochenbettdepressionen frühzeitig erkannt. Wie können Hebammen mit einer Wochenbettdepression umgehen? Zuerst einmal ist es wichtig, die Frauen und ihr Umfeld auf die mögliche psychische Erkrankung vorzubereiten. Sie sollten den Unterschied zwischen dem Baby-Blues – einem kurzen Stimmungstief aufgrund der Hormonumstellung – und einer ausgeprägten Depression kennen. So sind sie für erste Anzeichen sensibilisiert. Wenn die Hebamme bereits vorher eine Beziehung zur Frau aufbauen kann, wird auch sie eine sich anbahnende Wochenbettdepression besser erkennen – zum Beispiel wenn die werdende Mutter oft Befürchtungen äussert, der neuen Rolle nicht gewachsen zu sein. Zudem ist die Hemmschwelle, um die Probleme anzusprechen, tiefer und man kann schneller reagieren. Was für Möglichkeiten haben Sie, wenn die Frau überfordert ist mit dem Baby? Wir unterstützen die Frauen dabei, sich Hilfe zu organisieren – zum Beispiel von einer Psychologin, einem Psychiater, von Sozialpädagogen oder auch aus dem privaten Umfeld. Ein probates Mittel ist das sogenannte Genogramm. Dabei handelt es sich um eine grafische Darstellung der Familiensituation sowie des Umfelds. Es kann Betroffenen helfen, die Ressourcen im eigenen Verwandten- und Bekanntenkreis besser zu erkennen und unterstützende Personen in den Familienalltag miteinzubeziehen. Ein anderes wichtiges Instrument ist das Hebammen-Assessment. Was ist ein Hebammen-Assessment? Mit dem Fragebogen können wir gemeinsam mit der Familie Herausforderungen, Ressourcen und Ziele festhalten sowie ihnen Informationen zukommen lassen. Dies ermöglicht den werdenden Eltern, informierte Entscheidungen zu treffen. Das Ziel ist es, die Familien zu stärken. Am besten ist es, wenn das Assessment bereits vor der Geburt erstellt wird, aber es ist auch im Wochenbett noch möglich. Besonders wertvoll ist der Ansatz bei vulnerablen Familien. Gibt es denn bereits Hebammen, die nach dem FamilySystems-Care-Ansatz arbeiten, oder ist das reines Wunschdenken? Ursprünglich kommt das Modell aus Kanada. In der Schweiz gibt es Hebammen-Netzwerke wie etwa Familystart in Zürich und Basel, die sehr familienzentriert und ressourcenorientiert arbeiten. Das Angebot ist aber meist auf die Betreuung im Wochenbett beschränkt und richtet sich vor allem an vulnerable Familien. Haben Sie selber entsprechende Erfahrungen gesammelt? In meiner Ausbildung Anfang der 1990er-Jahre in Deutschland lag der Fokus noch stark auf der Geburt – einer sehr medikalisierten Geburt zudem. Doch kurz danach setzte – wie in der Schweiz auch – allmählich ein Umdenken ein. Die Spitalaufenthalte wurden kürzer, womit die Hebamme im Wo-

chenbett eine grössere Rolle zu spielen begann. Später habe ich in Deutschland als freipraktizierende Hebamme gearbeitet und konnte die Familien umfassend über einen längeren Zeitraum betreuen. Zudem war ich von 2004 bis 2009 in den USA in einem Zentrum für schwangere Frauen im Teenager-Alter tätig und habe das Konzept namens Centering Pregnancy kennen gelernt. Da haben wir das Family-Systems-Care-Modell ebenfalls angewendet. Was bedeutet Centering Pregnancy? Die Idee ist aus der Not heraus entstanden: Eine amerikanische Hebamme stellte fest, dass sie mit den meisten Frauen immer wieder die gleichen Themen besprach. Deshalb begann sie, die Schwangerenvorsorge in der Gruppe anzubieten. Neben den Vorsorgekontrollen und der Wissensvermittlung wird damit der Austausch untereinander gefördert. Im neuen Therapie-, Trainings- und Beratungszentrum Thetriz wollen wir am Departement Gesundheit ebenfalls eine entsprechende Gruppe anbieten (siehe Zweittext). Wieso hapert es in der Schweiz derzeit mit dem Fa­milySystem-Care-Ansatz? Ich muss vorausschicken, dass die Gesundheitsversorgung in der Schweiz sehr gut ist im Vergleich mit anderen Ländern. Auch werdende Mütter erhalten rund um die Geburt eine gute Betreuung, wobei oft verschiedene Berufsgruppen involviert sind, die teilweise unterschiedliche Empfehlungen abgeben. In der Spitex-Pflege zum Beispiel wird der Ansatz aber bereits verschiedentlich angewendet. Und auch Hebammen, die ihn in der Aus- oder Weiterbildung kennengelernt haben, arbeiten entsprechend. In der Schweiz gibt es auch allerorts kostenlose Mütterund Väterberatungen, die nach der Zeit des Wochenbetts die Betreuung sehr kompetent übernehmen. Kommt es da nicht zu Doppelspurigkeiten, wenn die Hebammen in dieser Phase auch noch präsent sind? Im Bereich nach der Geburt gibt es tatsächlich eine kleine Überschneidung. Es kann sein, dass deshalb auf der einen oder anderen Seite vereinzelt Verlustängste vorhanden sind. Doch es geht nicht darum, sich gegenseitig etwas wegzunehmen. Im Gegenteil: Wir streben eine gute interprofessionelle

«Die Zufriedenheit der Frauen steigt.»

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Zusammenarbeit an. Schon heute stellen diese Fachpersonen ihre Arbeit im Hebammen-Studiengang vor. Jede ausgebildete Hebamme weist die Familien auf das Angebot hin. Und es gibt Hebammen, die sich zur Mütter- und Väterberaterin weiterbilden und in diesem Bereich arbeiten. Würden Family-System-Care-Hebammen das Gesundheitssystem finanziell stärker belasten? Nein. Ich bin überzeugt, dass es für die Krankenkassen günstiger wäre, wenn wir mehr Präventionsarbeit leisten könnten. Doch die Finanzierung ist tatsächlich die Krux der Sache: Die Anzahl bezahlter Hausbesuche ist begrenzt. Zusätzliche Termine werden meist nur aus medizinischen, nicht aber aus sozialen Gründen bewilligt. Was lernen die Studentinnen an der ZHAW über das Modell? Im Bachelorstudiengang lernen die Studierenden das Modell kennen. Im Masterstudiengang sowie in den Weiterbildungen wird dieses Wissen vertieft und der Einsatz von In-

strumenten wie Assessment und Genogramm geübt – zum Beispiel anhand von Simulationsklientinnen. Was glauben Sie, wann wird sich der Family-SystemCare-Ansatz in der Schweiz etablieren? Die familienzentrierte und ressourcenstärkende Betreuung ist vielerorts bereits Realität. Es braucht nun noch mehr begleitende Forschung, um das Modell zu evaluieren und die Vorteile aufzuzeigen. Was die Ausdehnung der Hebammentätigkeit auf eine längere Zeitspanne betrifft, sind wir noch nicht so weit. Damit dies möglich wird, ist eine gute Absprache mit anderen Playern rund um Schwangerschaft und Geburt nötig – etwa Ärzte, Spitäler sowie Mütter- und Väterberatungen. Wir stehen mit vielen bereits in Kontakt und versuchen, eine gute Zusammenarbeit aufzugleisen. Indem wir die Idee bei den Studierenden anstossen, legen wir einen guten Boden. Veränderungen entstehen häufig über die Ausbildung. // blog.zhaw.ch/vitamin-g

ZUSAMMEN SCHWANGER SEIN Im neuen Ambulatorium des Departements Gesundheit wagen sich Hebammen an neue Ideen: Eine Gruppe von Schwangeren geht zusammen den Weg bis zur Geburt. D as neu bezogene Haus Adeline Favre bietet nicht nur den Studierenden und Dozierenden des Departements Gesundheit einen Mehrwert, sondern auch der Bevölkerung: Mit dem Therapie-, Trainings- und Beratungszentrum Thetriz erhält sie ein ambulantes Gesundheitszentrum, in dem sämtliche Institute ihre spezifischen Fachkenntnisse direkt anwenden. So spielen Lehre, Forschung und Behandlung unmittelbar zusammen. Ein bisher einmaliges Angebot in der Schweiz ist die Schwangerenvorsorge in der Gruppe, die das Institut für Hebammen plant. Aktuell suchen die meisten werdenden Mütter für die medizinischen Checkups eine Arztpraxis auf und besuchen gleichzeitig einen Geburtsvorbereitungskurs, der von einer Hebamme geleitet wird. An der ZHAW will man nun die beiden Komponenten zusammenführen. Erfahrungen austauschen «Viele Frauen in dieser Situation beschäftigen sich mit ähnlichen Fragen», weiss Zentrumsleiterin Claudia Putscher, die selber lange als Hebamme tätig war. Gehe es etwa um den Umgang mit Übelkeit oder Wassereinlagerungen in den Beinen, könne ein Erfahrungsaustausch mit anderen Betroffenen die Tipps der leitenden Hebamme ergänzen. Weitere Themen werden Ernährung, Schlafstörungen oder die Vorbereitung auf die Geburt sein. 20

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Neben dem Gruppensetting wird jede Frau einen Moment alleine mit der Hebamme zur Verfügung haben. Dabei tastet die Hebamme den Bauch ab, um Lage und Wachstum des Ungeborenen zu beurteilen, und hört seine Herztöne ab. Bei Bedarf werden auch Blutanalysen durchgeführt. Weitere Kontrollen wie etwa Gewicht- und Blutdruckmessung sowie Urintests kann die Frau selber vornehmen. Einzig die Ultraschall-Untersuchungen – normalerweise zwei pro Schwangerschaft – finden weiterhin in einer Arztpraxis statt. Studentinnen lernen ganz praktisch Die Betreuung in der Gruppe soll etwa in der zwölften Schwangerschaftswoche beginnen und bis kurz vor der Geburt dauern. Vorgesehen sind sieben Treffen – gemäss der Anzahl Kontrollen, die von den Krankenkassen bezahlt werden. Wertvoll für die Frauen in dieser speziellen Situation ist auch die Möglichkeit, während des Kurses untereinander Kontakte zu knüpfen, die vielleicht sogar über die Schwangerschaft hinausgehen. Wie bei den meisten Angeboten im Thetriz werden auch bei der Schwangerengruppe Studierende beteiligt sein. So erleben sie die Freuden, aber auch Leiden und Ängste der werdenden Mütter unmittelbar und können ihre neu erworbenen Fachkenntnisse direkt anwenden. // Hinweis: Die erste Gruppe ist auf Mitte Januar 2021 geplant. Sollte sich die Corona-Situation bis dann wieder verschärfen, könnte ein Teil der Treffen online stattfinden. Mehr Infos zum Thetriz zhaw.ch/gesundheit/thetriz


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D I E P H Y S I OT H E R A P I E I N D E N FA M I L I E N A L LTAG INTEGRIEREN Das Potenzial des familienzentrierten Coachings ist in der pädiatrischen Physiotherapie zwar erkannt, wird aber häufig noch zu unterschiedlich interpretiert. Schirin Akhbari Ziegler, Expertin für pädiatrische Physiotherapie am Departement Gesundheit, hat die Rolle des Coaches bei der Behandlung von Frühchen untersucht – und deutliche Verbesserungen gegenüber der traditionellen Säuglingsbehandlung festgestellt. VON MARION LOHER

Familienzentriertes Coaching in der pädiatrischen Physiotherapie: Die Mutter nimmt aktiv an der spielerischen Behandlung teil, die Physiotherapeutin beobachtet, unter­s tützt und gibt Feedback.

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ine Mutter sitzt auf dem Boden, ihre Beine sind ausgestreckt. Dazwischen liegt ihr halbjähriges Kind auf dem Bauch und schaut mit grossen Augen zu ihr hoch. Es ist ein Frühchen, seine Motorik verlangsamt. Die Mutter hält in der linken Hand eine Rassel. Damit will sie das Kind animieren, über ihr Bein zu krabbeln – selbstständig. Unweit der Mutter beobachtet die Physiotherapeutin die Szene. Sie greift nicht ins Geschehen ein, sondern gibt der Mutter Tipps, wie sie das Kind weiter herausfordern kann. Diese dreht die Rassel. Immer wieder. Das Geräusch wird lauter. Das Kind jauchzt. Langsam bewegt es sich in Richtung Bein und versucht, darüber zu klettern. Es dauert etwas, doch

beim dritten Anlauf klappt es. Mutter und Physiotherapeutin schauen sich an und lächeln. Sie sind zufrieden. Für Schirin Akhbari Ziegler ist dies ein typisches Beispiel dafür, wie die physiotherapeutische Behandlung von Säuglingen und Kleinkindern mit neuromotorischen Funktionsstörungen heutzutage aussehen soll. «Der Physiotherapeut oder die Physiotherapeutin ist der Coach, er oder sie beobachtet, unterstützt die Eltern mit Strategien und gibt ihnen Feedback», sagt die Dozentin und Leiterin Schwerpunkt Pädiatrie des Masterstudiengangs Physiotherapie am Departement Gesundheit. «Der Fokus liegt dabei auf der Familie. Sie soll selbst entscheiden können, wie sie die Prinzipien der

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ZWEITER COPCA-KURS IM MAI 2021 GEPLANT Im Mai vergangenen Jahres hat an der ZHAW ein erster

COPCA-Kurs stattgefunden. «Das Interesse war noch relativ bescheiden», sagt Schirin Akhbari Ziegler, die den Kurs mit drei weiteren Kolleginnen geleitet hat. «Aber wir hoffen, dass es beim nächsten Mal bereits mehr Anmeldungen gibt.» Der Start des zweiten Kurses ist für Mai 2021 vor­gesehen. Die Ausbildung dauert insgesamt drei Mal zwei Tage. «Im Mai, im September und im Dezember findet jeweils an zwei Tagen ein Kontaktunterricht statt – entweder vor Ort oder virtuell. Dazwischen müssen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer immer wieder bei ihrem Coaching filmen und wir geben ihnen dann ein individuelles Feedback.» Im Fokus der Weiterbildung stehen die Planung, die Durchführung und die Evaluation einer familienzentrierten Früh­ intervention bei Säuglingen und Kleinkindern mit neuromoto­ rischen Entwicklungsauffälligkeiten. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erfahren, wie diese Kinder zu einem aktiven motorischen Verhalten herausgefordert werden können. Sie lernen Kommunikationsprinzipien aus dem Coaching kennen, wie zum Beispiel gutes Zuhören und richtige Fragen stellen. Ausserdem erfahren sie, wie sie in der Rolle als Coach die Familien in ihrem Alltag begleiten können. Die Ziele von COPCA sind das Empowerment der ganzen Familie in Entscheidungsprozessen sowie die Unterstützung der moto­ rischen Kapazitäten des Kindes, damit die Familie mit ihrem Kind im Alltag optimal partizipieren kann. Der Kurs richtet sich an Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten FH/HF und kann separat oder im Rahmen des CAS «Spezialbereiche der Pädiatrischen Physiotherapie» mit Vertiefungs­richtung COPCA absolviert werden. Das Interventionsprogramm «Coping with and Caring for Infants with special Needs» (COPCA) wurde von den beiden Niederländerinnen Mijna Hadders-Algra und Tineke Dirks entwickelt. Bei ihnen haben sich Schirin Akhbari Ziegler und weitere Physiotherapeutinnen vor gut fünf Jahren zum «Coach of COPCA» ausbilden lassen – als Erste weltweit. Nun möchten sie ihr Wissen und ihre Erfahrungen weiter­geben.

Weitere Infos zhaw.ch/gesundheit/weiterbildung

Im Vergleich zur traditionellen Therapie erzielt das COPCA-Programm bei Säuglingen mit neuromotorischen Einschränkungen langfristig deutlich bessere Resultate.

Entwicklungsstimulation am besten umsetzt.» Bei der traditionellen Behandlung sogenannter Risikosäuglinge ist dies anders. «Hier sind Physiotherapeutinnen und -therapeuten vor allem Lehrpersonen oder Instruktoren, die den Eltern klare Anweisungen geben, welche Intervention sie wie und wann mit ihrem Kind machen müssen.» Im Zentrum dieser traditionellen Säuglingsbehandlung (TIP), die bereits seit einigen Jahrzehnten angewendet wird, steht die Entwicklung des Kindes. Ein wichtiger Teil davon ist das sogenannte Fazilitieren. «Dabei begleitet der Therapeut oder die Therapeutin mit den Händen die Bewegungen des Kindes, bis es sie selbstständig ausführen kann», erklärt die Wissenschaftlerin. Verschiedene Studien sind allerdings zum Schluss gekommen, dass die Evidenz des Effekts dieser traditionellen neuromotorischen Therapieform unklar und damit limitiert ist. Eine Entwicklungsneurologin und eine Physiotherapeutin aus den Niederlanden haben deshalb gemeinsam das Interventionskonzept «Coping with and Caring for Infants with special Needs», kurz COPCA, entwickelt. Dieses Konzept stellt das aktive Handeln des Kindes und das Coaching der Eltern in den Mittelpunkt der Therapie. Dabei lernen die Eltern, das Kind zur Eigenaktivität herauszufordern und so die Therapie in den Alltag und in die Familie zu integrieren. DEUTLICHER UNTERSCHIED DURCH COACHING

Im Rahmen eines Forschungsprojekts hat Schirin Akhbari Ziegler die beiden physiotherapeutischen Interventionsmöglichkeiten untersucht sowie die Effekte von COPCA und TIP auf die motorische Entwicklung des Kindes miteinander verglichen. Hierfür hat sie unter anderem 16 Frühgeborene in den ersten 18 Monaten ihres Lebens wissenschaftlich be22

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gleitet. Kinder, die vor der 32. Schwangerschaftswoche auf die Welt kommen, zählen zur Gruppe der Risikosäuglinge, da sie in einem höheren Mass gefährdet sind, neuromotorische Auffälligkeiten zu entwickeln. «Wie hoch dieses Risiko ist, kann heute anhand verschiedener diagnostischer Instrumente bereits innerhalb der ersten drei bis vier Lebensmonate abgeschätzt werden», sagt Akhbari Ziegler. Dank des medizinischen Fortschritts entwickelten heutzutage nur noch zwischen fünf und neun Prozent eine schwere cerebrale Bewegungsstörung. Allerdings, fügt sie an, hätten rund 50 Prozent der Frühchen später im Leben mit einer Beeinträchtigung zu kämpfen, wenn auch mit einer weniger schwerwiegenden, wie etwa einem Aufmerksamkeitsdefizit, einer Lern- oder Koordinationsstörung. «Trotzdem oder gerade deswegen ist es wichtig, dass schon früh mit einer wirksamen Behandlung begonnen wird.» In der Studie bekamen die einen Säuglinge im ersten halben Jahr die familienzentrierte COPCA-Therapie, die anderen die Hands-on-Behandlung. «Die Untersuchung hat gezeigt, dass nach 18 Monaten die motorischen Fähigkeiten und das Verhalten bei jenen Kindern mit COPCA um einiges besser waren als bei jenen, die traditionell therapiert wurden.» Ein wichtiger Faktor, der zu diesem «signifikanten Unterschied» führte, sei das Coaching durch die Fachperson gewesen. Mit einer abwechslungsreichen Umgebung und mit Spielzeugen sowie mit Gestik und Mimik der Eltern wurden die betroffenen Säuglinge und Kleinkinder zu einem aktiven, explorierenden und variationsreichen motorischen Verhalten animiert. Trotz der kleinen Referenzgruppe von 16 Frühgeborenen ist das Resultat für die Wissenschaftlerin kein Zufall: «Es ist deutlich und untermauert andere wissenschaftliche Studien zu diesem Thema.»

sen auch einmal etwas falsch machen dürfen, denn für das motorische Lernen sind die Versuch-Irrtum-Erfahrungen besonders wichtig.» Der Coach muss laut Akhbari Ziegler im Weiteren lernen, zuzuhören, offene Fragen zu stellen und zu reflektieren, die Eltern müssen dagegen den Mut haben, zu sagen, was sie für sich, ihr Kind und ihre Familie wollen. «Der Coach weist die Familie nicht mehr wie bei der traditionellen Therapie an, was sie zu tun hat, sondern befähigt die Familienmitglieder, als aktive und gleichberechtigte Partner am Behandlungsprozess teilzunehmen und Entscheidungen zu treffen.» Für die Familie kommt diese Beteiligungsmöglichkeit oft unerwartet und kann zu Beginn eine Überforderung sein. «Diese anfänglichen Schwierigkeiten sind aber meistens schnell überwunden», weiss Schirin Akhbari Ziegler, «da die Eltern den kollaborativen Interventionsstil schätzen.» Davon profitiere nicht nur das Kind, auch das Selbstvertrauen, die Selbstwirksamkeit und die Selbstbestimmung der Eltern steigen. //

«Eltern schätzen den kollabo­ra­t iven Interventionsstil.»

«EINSTELLUNG UND ROLLE MÜSSEN SICH ÄNDERN»

Das Potenzial von Coaching ist in der pädiatrischen Physiotherapie zwar erkannt, noch wird es aber häufig eher unspezifisch und undefiniert angewendet. «Es gibt keine einheitliche Methode: Es wird mit verschiedenen Ansätzen und Annahmen gearbeitet», sagt Schirin Akhbari Ziegler. «Die Rolle des Coaches wird dabei oft unterschiedlich interpretiert.» Um dem entgegenzuwirken, hat sie ein Konzept für die Weiterbildung zum COPCA-Coach ausgearbeitet (siehe Zweittext). «Coaching ist sowohl für die betroffenen Familien als auch für die pädiatrischen Physiotherapeutinnen und -therapeuten anspruchsvoll und eine Herausforderung», sagt sie. Von den Familienmitgliedern werde verlangt, eine aktive Rolle im Interventionsprozess zu übernehmen, und von den Therapeuten, dass sie eine Haltung einnehmen, die sich stark von jener eines traditionellen Therapeuten unterscheide. Beide Seiten müssten ihre Einstellung, Rolle und Überzeugung ändern. «Kinder und vor allem solche mit einer Beeinträchtigung brauchen manchmal etwas länger, bis sie reagieren», sagt die Expertin. «Wir Erwachsenen haben oft keine Geduld und meinen, helfen zu müssen. Dies ist meistens aber nicht nötig: Kinder müs-

SCHIRIN AKHBARI ZIEGLER Schirin Akhbari Ziegler arbeitet am Institut für Physio­ therapie und ist verantwortlich für den Schwerpunkt Pädia­trie im Masterstudiengang Physiotherapie. Seit 2009 unter­richtet die gebürtige Thurgauerin an der ZHAW so­wohl auf Bachelor- und Masterstufe als auch in der Weiterbildung. Der Forschungsschwer­punkt der 54-Jährigen liegt in der physiotherapeutischen Frühintervention bei Säuglingen mit neuromotorischen Funktionsstörungen. Nebst ihrer Tätigkeit an der Hoch­schule hat sie von 2012 bis 2020 an der Uni­versität Groningen in den Niederlanden doktoriert. Ihre Doktorarbeit schrieb sie zum Thema «Implementation of COPCA – A family-centred early intervention programme in infant physiotherapy», die Dissertation verteidigte sie diesen September erfolgreich. Das aktuelle Forschungs­ projekt ist Teil dieser Doktorarbeit. Gleichzeitig hat sich Schirin Akhbari Ziegler in den Niederlanden zum Coach of COPCA ausbilden lassen und ist seitdem verantwortlich für die Durchführung des Weiterbildungs­ kurses an der ZHAW.

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Die Regenbogenfamilie: In der Schweiz können homosexuelle Menschen seit 2018 die Kinder ihrer Partnerin oder ihres Partners adoptieren. Allerdings bleibt ihnen das Recht, fremde Kinder zu adoptieren, verwehrt – wie auch der Zugang zur Fortpflanzungsmedizin. Mit der Initiative «Ehe für alle», die der Nationalrat im Sommer guthiess, sollen sie die selben Rechte wie heterosexuelle Ehepaare erhalten.


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WIE ALESSIO LERNT, SEINE RECHTE HAND ZU GEBRAUCHEN Jede Woche macht Ergotherapeutin Johanna Jeltsch von der Stiftung RgZ einen Hausbesuch bei Familie D. im Zürcher Unterland. Deren Sohn Alessio hat eine seltene Genkrankheit. Der aufgeweckte Junge soll lernen, im Alltag beide Hände einzusetzen. Das entlastet auch die Familie. VON SUSANNE WENGER

D

« E I N M E G A - E R F O LG » ienstagmorgen kurz Alessio bleibt zunächst auf dem Rünach neun Uhr, die cken liegen und dreht sich zur Seite, Herbstsonne scheint in um nach den Miniaturfahrzeugen zu das Wohnzimmer der greifen. Später setzt sich die Mutter Familie D. im Zürcher Unterland. Ingrid D. hinter ihren Sohn, so dass Alessio reckt erwartungsvoll den er sich aufsetzen kann. Um das aus Kopf, als Ergotherapeutin Johanna eigener Kraft zu tun, ist sein Rumpf Jeltsch den Raum betritt. Der bald noch nicht stabil genug. Doch mit Dreijährige liegt auf einer bunt gedem selbständigen Sitzen klappe es musterten Decke am Boden. Sein seit dieser Woche, erzählt die MutT-Shirt hat die gleiche Farbe wie ter: «Ein Mega-Erfolg.» Jetzt stösst die Hygienemaske der TherapeuAlessio die Autos mit der rechten tin. «Gell, du kennst mich nur mit Hand ein Rohr hinab und freut sich Maske», sagt sie mit lächelnden schelmisch, als eines bis zur FotoAugen zu dem Jungen. Der Schutz grafin rollt. Nach den Autos hantiert muss sein in diesen pandemischen er mit kleinen klingenden Schellen. Zeiten. Die beiden verstehen sich Dann zerknüllt er glänzendes Knistrotzdem, das wird rasch ersichtterpapier und zerreisst eine Zeilich. «Let´s surf», steht auf Alessios tungsseite. Diesmal mit beiden HänShirt. Es wirkt wie eine Auffordeden, um Kraft und Koordination zu rung an die junge Ergotherapeutin, fördern. Alessio ist konzentriert bei die seit rund drei Monaten wöder Sache. Die Therapeutin spricht chentlich vorbeikommt. ruhig mit ihm, hält Augenkontakt. Nach einer kurzen Besprechung Alessio wird von der Ergotherapeutin spielerisch Der Kleine hatte einen schwemit Alessios Mutter setzt sich Johandazu gebracht, seine rechte Hand einzusetzen. ren Start ins Leben. Kurz vor Weihna Jeltsch ganz unkompliziert auf Bis vor Kurzem gebrauchte er ausschliesslich die nachten 2017 kam er als Frühchen den Boden, rechts neben das Kind. linke – ein motorischer Ausfall als Folge der Sie beginnt, ihm seine heiss gelieb- Hirn­b lutung, die er zwei Tage nach der Geburt erlitt. zur Welt. Wegen Darmproblemen musste er sich rasch einer Operatiten Spielzeugautos zu reichen. Eins on unterziehen. Danach ging es dem Neugeborenen jedoch nach dem anderen, immer wieder, aus verschiedenen Winnicht besser, sondern immer schlechter. Sein Kreislauf brach keln. Die Position ist natürlich nicht zufällig. Alessio soll lerzusammen, die Nieren versag­ten, dazu kam die erwähnte nen, seine rechte Hand einzusetzen. Bis vor Kurzem geHirnblutung. Schliesslich fanden die Ärzte heraus, was Alesbrauchte er ausschliesslich die linke – ein motorischer Ausfall sio fehlte: Er hat eine sogenannte kongenitale Natriumverals Folge der Hirnblutung, die er zwei Tage nach der Geburt lust-Diarrhoe, verursacht durch eine zufällige Genmutation. erlitt. Um die Autöli mit der rechten Hand zu nehmen, muss Vereinfacht gesagt, braucht Alessio sehr viel mehr Natrium Alessio mal weiter nach hinten greifen, mal die Hand stärker als andere, weil sein Darm zu viel davon aufsaugt und der öffnen. Das Ambulanzfahrzeug nimmt er vom Boden auf, das restliche Körper dadurch unterversorgt ist. Postauto aus der Schachtel.

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Gewinnt Alessio dadurch ein wenig Selbständigkeit, kann dies auch die Mutter entlasten. Bereits stelle sie Fortschritte beim Gebrauch der rechten Hand fest, anerkennt Ingrid D. Das ist den Eltern mit Blick auf die spätere Einschulung des Knaben wichtig. Es war die Mutter, die gemerkt hatte, dass Alessio stets nur die linke Hand gebrauchte. Die 34-Jährige ist als pflegende Angehörige stark beansprucht. Sie wirkt engagiert und warmherzig, geht routiniert und unbefangen mit Alessios Schläuchen und Beuteln um. Die Krankheit ihres Sohnes ist extrem selten, weltweit sind nur knapp ein Dutzend Fälle bekannt. Ingrid D. und ihr Ehemann haben sich viel Wissen dazu angeeignet. Via Facebook stehen sie mit den Eltern anderer betroffener Kinder in Kontakt, von Finnland bis Australien. HEITERE PERSÖNLICHKEIT

«Jedes Kind bringt seine eigene Energie rein – das gefällt mir», sagt Ergotherapeutin Johanna Jeltsch.

SONDEN ERFORDERN HAUSBESUCHE

«Erst nach sieben Monaten Spitalaufenthalt konnten wir unseren Sohn mit nach Hause nehmen», blickt Ingrid D. auf die schwierige Zeit zurück. Seither wird Alessio über eine Dauerinfusion am Oberkörper Natriumchlorid – Kochsalzlösung – zugeführt. Eine weitere Sonde versorgt ihn durch die Bauchdecke mit künstlicher Ernährung. Er trinkt zwar aus dem Schoppen, benötigt aber nachts zusätzliche Nährstoffe parenteral, also direkt in den Blutkreislauf. Alessio braucht viel Pflege. Einen grossen Teil leistet die Mutter, unterstützt von der Kinderspitex. Neben Ergotherapie erhält das Kind wöchentlich Physiotherapie und Heilpädagogik. Die Fachleute besuchen ihn daheim, weil das viele Herumfahren wegen Alessios Infusionen zu aufwändig wäre. Dass sich die Therapeuten in ihrem Haus beinahe die Klinke in die Hand geben, nehmen Alessios Eltern in Kauf. Es sei ja zur Förderung des Kindes, hält Ingrid D. fest. Regelmässige Untersuchungen im Kinderspital kommen noch dazu. Ihr Sohn habe «eine gefühlte Million» Blutproben hinter sich, sagt die Mutter.

Im Frühling ging es Alessio gar nicht gut. Er musste oft erbrechen, war müde und schlapp. Eine weitere Operation am Darm war unumgänglich. «Seither ist Alessio auf einem Höhenflug», freut sich die Mutter. Er habe zugenommen, singe sieben Lieder auswendig, rede wie ein Papagei und freue sich, den älteren Bruder Dario vom Kindergarten abzuholen. Jetzt, wo es ihm gesundheitlich besser gehe, könne Alessio «er selber sein», sagt Ingrid D.: eine heitere Persönlichkeit, die gerne flirte und «den Löli» mache. Auch Ergotherapeutin Johanna Jeltsch geht bei ihrer Tätigkeit auf Alessios Persönlichkeit ein: «Ich möchte ihn motivieren, eine bestimmte Handlung auszuführen.» Die 28-Jährige, die ihr Studium an der ZHAW vor fünf Jahren abschloss, entschied sich bewusst dazu, mit Kindern zu arbeiten. Das sei sehr vielseitig, schwärmt sie. Bei der Frühberatungs- und Therapiestelle der Stiftung RgZ in Bülach therapiert Jeltsch aktuell Mädchen und Knaben zwischen zwei und fünfzehn Jahren. Jedes bringe seine eigene Energie rein: «Das gefällt mir.»

«Ich trete als Therapeutin in die Privatsphäre ein.»

Ü B E N F Ü R D E N A L LTA G

Ergotherapeutin Johanna Jeltsch wendet bei Alessio ein Fachprogramm an, dessen Wirkung nach Hirnverletzungen belegt ist. Er übt durch zahlreiche Wiederholungen, den inaktiven Arm zu benutzen und so den betreffenden Bereich im Gehirn zu vergrössern. «Ziel der Ergotherapie ist es, dass Alessio die erlernten Fähigkeiten in den Alltag übertragen kann», erklärt Jeltsch. Es könne beispielsweise darum gehen, beim Spielen Gegenstände mit beiden Händen zu untersuchen, einen Filzstift zu öffnen oder sich die Socken selbständig anzuziehen. Ergotherapie wolle stets eine im Alltag bedeutsame Handlung ermöglichen. 26

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RÜCKSICHTSVOLLES AUFTRETEN

Alessio ist derzeit der einzige kleine Klient, den Johanna Jeltsch in seinem Zuhause behandelt. Am Anfang war das auch für sie ungewohnt. Die Hausbesuche erforderten grosses Vertrauen der Familie, sagt sie, und ein rücksichtsvolles Auftreten von ihrer Seite: «Ich trete als Therapeutin in die Privatsphäre ein.» Der Vorteil sei, dass sie sich ein Bild der Gegebenheiten vor Ort machen könne. Das lasse sich sogleich in die Therapie einbauen. Inzwischen setzt die Ergotherapeutin das Handtraining am Stubentisch fort. Alessio sitzt im Therapiestuhl, der ihn aufrecht hält. Er blättert in einem Büchlein aus Karton, dort

drin ist ein Feuerwehrauto abgebildet. Bewegt man einen Schieber, ertönt das Horn. Alessio schiebt und schiebt, das ist ganz nach seinem Geschmack. Nun ist es aber schon nach zehn Uhr, die Therapiestunde endet. Der Knabe gähnt, er hat mit Hingabe mitgemacht. Noch ein paar Worte wechseln, dann verabschiedet sich Johanna Jeltsch für diese Woche. An der Haustüre winkt ihr Alessio auf dem Arm seiner Mutter nach. Mit beiden Händen. //

blog.zhaw.ch/vitamin-g

«ELTERN SIND EXPERTEN BEI IHREM KIND» Frau Stoffel, bei welchen Diagnosen wird Ergotherapie für Kinder eingesetzt? Anika Stoffel*: Da gibt es ein breites Spektrum. Das können verschiedene Krankheiten, angeborene oder erworbene Beeinträchtigungen sein, so zum Beispiel Cerebralparese – eine Bewegungsstörung aufgrund einer frühkindlichen Schädigung im Hirn. Oder auch Entwicklungsstörungen: wenn Kinder Schwierigkeiten haben in der Motorik, beim Lernen oder in der Wahrnehmung, etwa in der Verarbeitung von Sinnesreizen. Letzteres kann bedeuten, dass das Kind Geräusche oder Textilien nicht erträgt. Autismus-Spektrum-Störungen und Aufmerksamkeitsstörungen gehören ebenfalls zum Einsatzbereich. Was ist das Ziel der ergotherapeutischen Behandlung? In der Ergotherapie steht immer die Handlungsfähigkeit im Zentrum. Das Kind soll so selbständig wie möglich an den Aktivitäten des täglichen Lebens und an der Gesellschaft teilnehmen können. Darin unterstützen wir es. Primäres Ziel ist, dass das Kind in seiner unmittelbaren Umwelt spezifisch aktiv ist. Es soll sich sinnvoll betätigen – so, wie es für das Kind selber sinnvoll und wichtig ist. Wie läuft die Ergotherapie bei Kindern ab? Da gibt es verschiedene Ansätze. Motorische Entwicklungsstörungen sind in der Schweiz eine häufige Diagnose. Bei den betroffenen Kindern arbeiten wir mit Betätigungen, die ihnen wichtig sind, zum Beispiel Fussball spielen. Da werden einzelne motorische Abläufe Schritt für Schritt geübt, bis das Kind die ganze Aktivität beherrscht und dadurch einfacher im Turnunterricht mitmachen kann. Bei einer Cerebralparese lernt das Kind, den betroffenen Körperteil einzusetzen. Allenfalls geht es auch darum, Ausfälle mit Hilfsmitteln zu kompensieren, etwa mit einem angepassten Reissverschluss. Oder das Kind lernt, die Schuhe mit einer Hand zu binden. Bei sehr kleinen Kindern beraten und instruieren wir die Eltern. Die Eltern werden möglichst einbezogen? Ja. Darum sprechen wir von familienzentrierter Ergothera-

pie. Wir gehen heute mehr und mehr von einer Zusammenarbeit zwischen Ergotherapeuten und Eltern aus. Anstatt dass die Expertin das Kind isoliert vom Umfeld therapiert und dann in dieses zurückschickt, wird gemeinsam festgelegt, wo das Problem liegt und wo das Ziel. Die Eltern sind die Experten bei ihrem Kind. Sie kennen seine Bedürfnisse, seine Werte, sie sind die zentralen Bezugspersonen. Nimmt die Ergotherapie sie als Ressource mit, lässt sich ein sehr nachhaltiger Erfolg erzielen. Wie häufig sind Hausbesuche in der Ergotherapie? Im Moment sind sie noch die Ausnahme. Nach dem Grundgedanken der Ergotherapie soll das Kind in seinem Umfeld handlungsfähig sein. Da ist es doch völlig sinnvoll, sich ins Umfeld des Kindes zu begeben und das Problem dort anzuschauen. Im Therapiezimmer liegen andere Bedingungen vor. Was dort geübt wird, muss dann noch in den Alltag zuhause übertragen werden. Ich hoffe, dass es in der Ergotherapie vermehrt zu Hausbehandlungen kommt. Und dass diese von den Kostenträgern gutgesprochen werden. Ganz konkret: Wie kann Ergotherapie die Familie unterstützen? Indem sie die Familie im Alltag stützt und dadurch ein Stück Belastung von ihr nimmt. Lebt in einer Familie ein Kind mit einer Behinderung oder Einschränkung, entsteht in bestimmten Situationen oft ein Leidensdruck. Die Ergotherapeutin, der Ergotherapeut erkennt gemeinsam mit der Familie, wo genau dieser Leidensdruck liegt und wie er mithilfe der Ergotherapie gelöst werden könnte. Wird durch Ergotherapie die Alltagskompetenz des Kindes erhöht, braucht es weniger Hilfestellungen. Alltägliche Vorgänge können routinierter und schneller oder mit weniger Auseinandersetzungen ablaufen. // *Z ur Person: Anika Stoffel hat den europäischen Master of Science in Ergotherapie abgeschlossen. Seit 2019 ist sie Leiterin Weiterbildung und Dozentin am Institut für Ergotherapie der ZHAW. Davor arbeitete sie über zehn Jahre in einer Ergotherapiepraxis mit Kindern.

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DA S FA M I L I E N SY ST E M I N B A L A N C E H A LT E N Wenn jemand erkrankt, sind Angehörige und enge Vertraute mitbetroffen. Der Ansatz der familienzentrierten Pflege und Beratung trägt dem Rechnung. «Ziel ist es, dass Familien an ihren gelingenden Strategien anknüpfen», sagt Barbara Preusse-Bleuler vom Institut für Pflege. «Ihre Expertise und die fachliche Unterstützung sollen sich optimal ergänzen.» VON EVELINE RUTZ

Die Tochter ist wegen ihres Unfalls genervt, die Mutter angespannt, und die Pflegefachfrau ist mittendrin: Teilnehmerinnen der Weiterbildung «Familienzentrierte Pflege und Beratung» üben in Rollenspielen den Umgang mit konfliktreichen Situationen im Familiensystem.

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andra ist genervt. Beim Snowboardfahren hat sich die 14-Jährige schwer verletzt. Sie hat eine Hirnerschütterung und einen komplizierten Unterschenkelbruch erlitten. Da auch das Schambein und das Steissbein gebrochen sind, kann sie kaum aufstehen. Nach mehreren Wochen im Spital darf sie endlich nach Hause. Im Gespräch mit einer Spitex-Mitarbeiterin soll geklärt werden, wie sie dort unterstützt werden kann. «Ich möchte lieber meine Freundin treffen», sagt Sandra. Sie habe kaum noch Kontakt zu ihr. Die Pflegefachfrau zeigt Verständnis und sagt, dass für das Gespräch nicht mehr als 30 Minuten eingeplant seien. Sandras Mutter ist ebenfalls angespannt. Sie ärgert sich darüber, dass es unter der Obhut ihres Ex-Mannes zum Unfall gekommen ist. «Er hätte besser aufpassen müssen», schimpft sie. Die Spitex-Mitarbeiterin

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nimmt den Ärger wahr und steuert das Gespräch zur Frage, wie der Teenager zu Hause versorgt werden soll. Sandra findet, dass sie die Wundverbände selbst erneuern könne. Sie habe ja unzählige Male gesehen, wie dies gemacht werde. Sie will zudem üben, mit Krücken zu gehen. Die schlechte Stimmung hat sich verflüchtigt. Die drei Frauen gehen schliesslich mit konkreten Plänen auseinander. D I E N OT D E R A N G E H Ö R I G E N E R N S T N E H M E N

«Das ist eine konfliktreiche Situation», stellt Barbara Preusse-Bleuler fest. Die Dozentin hat beobachtet, wie die Teilnehmerinnen des Weiterbildungsmoduls «Familienzentrierte Pflege und Beratung» ihre Rollen dargestellt und das Übungsgespräch gemeistert haben. Mutter und Tochter liessen sich


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nur beruhigen, indem man ihre Not ernst nehme und anerkenne. Dabei den roten Faden zu behalten, sei eine Herausforderung. «Häufig kommt ein Strauss an zusätzlichen Themen auf», sagt sie zu den Teilnehmerinnen. «Sie sollten diese würdigen, gleichzeitig aber Ihre Fragen weiterverfolgen.» P F L E G E N D E KÖ N N E N A U S B R E N N E N

Der familienzentrierte Ansatz berücksichtigt, dass Angehörige und enge Vertraute mitbetroffen sind, wenn jemand schwer erkrankt. Sie engagieren sich stark. Laut Schätzungen werden in der Schweiz rund 592 000 Menschen zu Hause betreut und gepflegt. Familienmitglieder, die diese unbezahlte Arbeit leisten, können an ihre Grenzen gelangen. Wie

Studien zeigen, leiden sie vermehrt unter Erschöpfung, hoher Belastung und Depressionen (siehe Zweittext). «Die erkrankte Person und die Angehörigen beeinflussen sich gegenseitig», sagt Barbara Preusse-Bleuler. «Positiv wie auch negativ.» Sie versteht Familie als System, das sich – wie ein Mobile – wieder ausbalancieren muss, wenn gesundheitliche Probleme für Unruhe sorgen. «Familien verfügen über gelingende Strategien, mit denen sie Herausforderungen meistern können. Daran müssen wir anknüpfen.» Seit mehr als 20 Jahren setzt die Pflegeexpertin auf das Calgary Familienassessment- und Interventionsmodell, das von den Kanadierinnen Lorraine Wright und Maureen Leahey entwickelt wurde. Es beschreibt Familien nach ihrer Zusammensetzung, Entwicklungsphase und Lebensgestaltung.

«ANGEHÖRIGE SIND HÄUFIG MEHR PATIENT ALS DER PATIENT SELBER» Was betreuende Angehörige beschäftigt und welche Unterstützung sie benötigen, wird zunehmend erforscht. Am ZHAWInstitut für Pflege laufen zu dem Thema mehrere Forschungsprojekte. Angehörige kümmern sich. Sie kochen, waschen und kaufen für kranke Familienmitglieder ein. Sie organisieren Arzttermine, erinnern an Medikamente, helfen beim Duschen und wechseln Verbände. Viele engagieren sich Tag und Nacht. «Sie sind häufig mehr Patient als der Patient selbst», sagt André Fringer, Professor für familienzentrierte Pflege an der ZHAW. Natürlich leide die erkrankte Person. Der gebrechliche Grossvater zum Beispiel, der kaum noch aufstehen könne. Er werde aber medizinisch versorgt und emotional unterstützt, während seine Frau, die einen grossen Teil der Pflege leiste, tendenziell vergessen gehe. «Man sollte Gesundheit und Krankheit nicht individuell betrachten, sondern systemisch», stellt Fringer klar. Das System Familie sei in allen Phasen einer Erkrankung präsent. Es nehme als erste Symptome wahr, reagiere darauf und begleite schon vor dem ersten Arztbesuch die Krankheitsentwicklung ganz bewusst mit. «Die Familie ist mitbetroffen und muss entsprechend einbezogen werden.» Das Institut für Pflege macht dies mit zahlreichen Forschungsarbeiten. Ein Team um André Fringer hat im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG) gerade nationale und internationale Selbstcheckinstrumente evaluiert. «Viele betreuende Angehörige rutschen in die Betreuungssituation hinein», sagt der Pflegewissenschaftler. «Sie merken gar nicht, wie sie über die Jahre immer eingespannter sind und selbst zerbrechlich werden.» Die Studie, die Teil des Förderprogramms «Entlastungsangebote für betreuende Angehö-

rige 2017–2020» ist, zeigt auf, wie die bestehenden, teils webbasierten Instrumente eingesetzt werden können. Sie regt zudem dazu an, neue Instrumente zu entwickeln, um Angehörige für die Betreuungstätigkeit zu sensibilisieren. Sie sollen sich ihrer Rolle frühzeitig bewusst werden und Entlastungsangebote in Anspruch nehmen. Was Familienmitglieder von pflegebedürftigen Menschen beschäftigt, haben Pflegeforschende im früheren Teilprojekt «Unterstützung für betreuende Angehörige in Einstiegs-, Krisen- und Notsituationen» erhoben. Sie haben dafür schweizweit Betroffene und Leistungsanbietende be­ fragt. Entstanden ist eine Bestandesaufnahme, die spezifische Herausforderungen benennt. Aktuell befassen sie sich Mitarbeitende des Instituts für Pflege zudem mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die Kinderkrebs überlebt haben. Sie untersuchen Spätfolgen für die Betroffenen und ihr Familiensystem, wobei der Übergang ins Erwachsenenalter eine besondere Herausforderung sein kann. Beim Projekt «Challenges for families of longterm survivors of childhood cancer during transition from adolescence to young adulthood » geht es ebenfalls darum, herauszufinden, welche Bedürfnisse pflegende Angehörige haben und wie sie optimal unterstützt werden können. Auf diesen Grundlagen soll dereinst ein Schulungsprogramm entwickelt werden. Für Angehörige von Patienten mit einem pathologischen Gewichtsverlust, der etwa bei Krebs im Endstadium auftritt, gibt es bereits ein solches. Mit dem von der ZHAW mitentwickelten Edukationskonzept sollen sie gezielt und standardisiert in den Therapieprozess einbezogen werden. Ihre Lebensqualität soll sich dadurch verbessern. «Es ist schwierig, pflegende Angehörige zu erreichen», sagt André Fringer. Diesbezüglich brauche es unbedingt noch mehr Forschung. Gefragt seien neue, niederschwellige Ansätze. «Arbeitgeber oder Quartiervereine könnten eine erste Anlaufstelle sein.» //

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Es hält einen Leitfaden bereit, mit dem Fachpersonen erheben können, wie sich eine Familie selbst wahrnimmt. Im Dialog lassen sich daraus gezielte Interventionen ableiten, die den kognitiven, den affektiven und den verhaltensbezogenen Bereich betreffen. FA M I L I E N SY S T E M W I R D G R A F I S C H DA R G E S T E L LT

Barbara Preusse-Bleuler war eine der Ersten, die zusammen mit Pflegeteams auslotete, wie das Calgary-Modell in die hiesige Praxis integriert werden kann. Sie sammelte auf der Onkologie-Abteilung am Lindenhofspital in Bern erste Erfahrungen damit. Daraufhin begleitete sie zahlreiche weitere Projekte; seit 15 Jahren berät sie beispielsweise das Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen, das den Ansatz klinikweit umsetzt. «Er ist sehr praxisorientiert und funktioniert in jeder Kultur, in Japan genauso wie in Brasilien.» In einem familienzentrierten Assessmentgespräch erheben Pflegefachleute ein so genanntes Geno-Ökogramm. Sie zeichnen für die Angehörigen, aber auch für enge Freunde eines Patienten Kreise und Vierecke auf ein Blatt. Mit unterschiedlichen Linien machen sie sichtbar, in welcher Beziehung die einzelnen Personen zueinanderstehen. «Wir erfassen, wie sich eine Familie selbst sieht und nicht wie wir sie interpretieren», betont die ZHAW-Lehrbeauftragte. Es gehe nicht darum, die eigene Neugier zu stillen oder einfach Daten abzufragen. Um eine Wirkung zu erzielen, müsse das GenoÖkogramm narrativ in das Assessmentgespräch eingebettet werden. Barbara Preusse-Bleuler hat für die Gesprächstechnik einen eigenen Leitfaden geschaffen. Dessen Name, «BAIA», steht für die vier Phasen «Beziehungsaufbau», «Assessment», «Intervention» und «Abschluss». In der italienischen Sprache bedeutet das Wort «Bucht». In stürmischen Zeiten sollen Betroffene in solchen Gesprächen einen Moment Ruhe finde, um professionell begleitet über das weitere Vorgehen nachzudenken.

Teilnehmerin des Weiterbildungsmoduls. Dennoch kommt die Gesprächstechnik gut an. «Es lohnt sich, eine Familie dort abzuholen, wo sie ist», sagt eine andere Pflegefachfrau. Das Personal stehe zwar permanent unter Zeitdruck. Dennoch sei es wichtig, sich für Patienten und Angehörige Zeit zu nehmen. «Sie müssen für eine Intervention bereit sein. Sonst nehmen sie entsprechende Informationen gar nicht auf.» Man müsse Familien Raum geben, sagt auch Barbara Preusse-Bleuler. «Wir müssen genau hinhören, wo unsere fachliche Unterstützung benötigt wird.» Ein Erstgespräch dürfe durchaus zehn Minuten länger dauern. Es zahle sich aus, eine Familie als Ganzes besser kennen zu lernen. Die Zeit, die man dafür zusätzlich aufwende, hole man später wieder ein, indem man die geeigneten Massnahmen verfolge. «Familien in Krisen brauchen Mut», sagt die Expertin weiter. Sie sollen dafür echte Wertschätzung erfahren und ermutigt werden, auf ihren Stärken aufzubauen. Am ZHAW-Departement Gesundheit lernen Pflegestudierende im Bachelorlehrgang die Grundlagen der familienzentrierten Pflege und Beratung kennen. Im Masterstudium vertiefen sie ihre kommunikativen Fähigkeiten und erfahren, wie sie mit herausfordernden Situationen umgehen und in ihrem Betrieb eine Vorbildfunktion einnehmen können. Externe Pflegefachpersonen haben die Möglichkeit, an der ZHAW eine Weiterbildung zu dem Thema zu machen und ein bis drei Module zu besuchen (siehe Kasten). «Die Pflegeprozesse sind heute stark fragmentiert», kritisiert Barbara Preusse-Bleuler. Interprofessionelle Fallbesprechungen, wie sie das CalgaryModell vorsieht, wirken dem entgegen. Sie führen zu wirksameren Therapien und effizienteren Abläufen.

«Familien in Krisen brauchen Mut.»

BETROFFENE DORT ABHOLEN, WO SIE SIND

Gleichzeitig ein Gespräch zu leiten, aktiv zuzuhören und ein Geno-Ökogramm anzufertigen, ist anspruchsvoll. «Ich finde es schwierig, nicht den Überblick zu verlieren», sagt eine

WEITERBILDUNG Das Institut für Pflege bietet mehrere Weiterbildungen an, die «Familienzentrierte Pflege und Beratung» beinhalten. Die Module I, II und III können im CAS Beratung in Gerontologischer Pflege, in Onkologischer Pflege, in Pädiatrischer Pflege sowie im CAS Beratungskompetenzen gewählt werden. Dozentin Barbara Preusse-Bleuler spricht von einem «Querschnitt-Thema». Die lösungsorientierte Gesprächsmethode nach dem Calgary-Modell kann in vielen Settings und bei verschiedenen Patientengruppen eingesetzt werden. Ein interprofes­ sioneller CAS zum Thema ist in Entwicklung. 30

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NEUE UNIT VERBINDET PRAXIS, LEHRE UND FORSCHUNG

Im Haus Adeline Favre, dem Neubau des Departements Gesundheit, soll künftig vermehrt fachübergreifend kooperiert werden. Pflegefachleute, Hebammen, Physio- und Ergotherapeutinnen sowie Gesundheitswissenschaftler sollen in den Schulungen stärker zusammenwirken. Mit der «Family Systems Care Unit» (FSCU), die zurzeit aufgegleist wird, sollen zudem Praxis, Lehre und Forschung miteinander verknüpft werden. Dozierende und Studierende sollen dereinst Familien beraten, die durch eine Krankheit herausgefordert werden. Die Gespräche sollen zu Unterrichts- und Forschungszwecken ausgewertet werden und die praktische Arbeit voranbringen. «Wir möchten mit Spitälern, Hausärzten und Spitex-Organisationen zusammenarbeiten», sagt Preusse-Bleuler. Die FSCU werde niemandem Patienten wegnehmen. Sie werde keine klassischen Sprechstunden anbieten, sondern gezielt einzelne Betroffene beraten. Die Initianten sind zurzeit daran, Abläufe zu klären und Prozesse festzulegen. Im Studienjahr 2021 sollen dann erstmals Masterstudierende zum Einsatz kommen. Barbara Preusse-Bleuler bewertet familienzentrierte Gespräche dann als gelungen, wenn sich fachliche Hilfe und die Expertise einer Familie optimal ergänzen. «Wir müssen uns Antennen wachsen lassen. Nicht nur für die Probleme, sondern auch für die gelingenden Strategien von Familien.» //


Die erweiterte Familie: Tanten und Onkel, Omas und Opas, Cousinen und Cousins – zur Familie im weiteren Sinn zählen die meisten die Blutsverwandtschaft. Doch zu einem Familiensystem können noch andere Personen gehören, beispielsweise enge Freunde. Im Gesundheitswesen ist deshalb mit Familie teilweise auch das Netzwerk aus An- und Zugehörigen gemeint.


FORSCHUNG

BEWEGUNG IM BÜRO ZAHLT SICH AUS An die wöchentliche Teamsitzung im Büro eine halbe Stunde Krafttraining anhängen? Oder nach der Kaffeepause Rückenübungen machen? Fördern Unternehmen die Be­ wegung ihrer Mitarbeitenden, profitieren beide Seiten davon. Wie sich Bewegungsförderung im Arbeitsumfeld umsetzen lässt, hat das Institut für Gesundheitswissenschaften im Auftrag des Bundes untersucht. VON URSINA HULMANN

Ü

ber 1800 Stunden pro Jahr verbringen Schweizer Arbeitnehmende bei einem Pensum von 100 Prozent und einer 42-Stunden-Woche am Arbeitsplatz. Ob und zu welchem Nutzen ein Teil dieser vielen Stunden im Büro, in der Fabrik oder auf der Baustelle für die Bewegungsförderung eingesetzt werden kann, hat das In­ stitut für Gesundheitswissenschaften im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit

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(BAG) untersucht. «Bewegung hat einen positiven Effekt auf nicht übertragbare Krankheiten, wie zum Beispiel Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber auch auf muskuloskelettale Beschwerden wie etwa Rückenschmerzen. Viele Absenzen von Arbeitnehmenden sind auf solche Beschwerden zurückzuführen», sagt Bettina Sommer, die am Forschungsprojekt «Auswirkungen von Sport und Bewegung während der Arbeitszeit auf die Gesund-

heit und die Produktivität am Arbeitsplatz» mitgearbeitet hat. Regelmässiges Training, so die Bewegungswissenschaftlerin, führe nachweislich dazu, «dass Mitarbeitende während der Arbeitszeit weniger krank sind». Für Arbeitgebende könne es deshalb interessant sein, Bewegung in der Firma gezielt zu fördern, so Sommer. Der positive Einfluss auf die Produktivität sei dabei am höchsten, wenn direkt am Arbeitsplatz


FORSCHUNG

Kurzes Workout im Grossraumbüro? Bewegung während der Arbeitszeit baut Stress ab, erhöht die Arbeitszufriedenheit und fördert das soziale Klima im Team.

und während der Arbeitszeit trainiert werden könne. «Die Zeit, die Mitarbeitende für das Training aufwenden, holen sie durch produktiveres Arbeiten und weniger Krankheitstage wieder auf.» Wie die Forschenden mit einer internationalen Literaturrecherche sowie der Befragung von Schweizer Unternehmen zeigen konnten, kann Bewegung während der Arbeitszeit helfen, Stress abzubauen, die Arbeitszufriedenheit zu erhöhen und das soziale Klima im Team zu fördern. «Ob im Gesundheitswesen, im Büro oder auf der Baustelle, Bewegungsförderung ist in allen Branchen wichtig», sagt Sommer. Fitnesstraining im Pflichtenheft Die Studie zeigte auch, dass es international unterschiedliche gesetzliche Rahmenbedingungen und – oft durch diese bedingt – verschiedene Ansätze zur Bewegungs­ förderung am Arbeitsplatz gibt. So werden in Schweden Unternehmen für Massnahmen, mit denen sie die Bewegung respek­ tive die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden fördern, steuerlich entlastet. Diese gesetzliche Rahmenbedingung macht es für Firmen attraktiv, in diesem Bereich Initiative zu zeigen. Bei einem der Best-PracticeBeispiele der Studie, dem schwedischen Unternehmen Kalmar Vatten AB, gehört Fitnesstraining zweimal pro Woche zum Pflichtenheft aller Mitarbeitenden. Mit dieser obligatorischen Bewegungsförderung konnten die krankheitsbedingten Absenzen seit 2002 um rund 30 Prozent reduziert werden. Einen anderen Ansatz wählte der deutsche Autobauer Daimler, um etwas gegen die vielen Absenzen aufgrund von Rückenbeschwerden zu unternehmen. Der Konzern investierte in ein mobiles Fitnessstudio, das in den Produk­ tionshallen zirkuliert und mit dem die Angestellten direkt an ihrem Arbeitsplatz Übungen zur Stärkung der Rumpfmuskulatur absolvieren können. In dieser Zeit werden sie am Fliessband von Arbeitskollegen vertreten. Das Resultat dieser niederschwelligen Massnahme: eine Reduktion der rückenbezogenen Krankheitstage um 35 Prozent.

In den USA, so ergab die Recherche der Forschenden, steht im Rahmen eines staatlichen Programms bei vielen Firmen die Ausbildung von Mitarbeitenden im Fokus: An externen Schulungen werden Mitarbeitende verschiedener Firmen zu den Möglichkeiten für mehr Bewegung am Arbeitsplatz geschult. Nach der Schulung bauen diese Mitarbeitenden dann ein Bewegungsangebot in ihren Firmen auf. «Es gibt noch viel Luft nach oben» Neben dem Blick ins Ausland untersuchte das Projektteam auch die Situation in der Schweiz. Dazu wurden verschiedene Firmen sowie grosse Unfall- und Krankentaggeldversicherungen befragt, ob und wie sie die Bewegung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fördern. «In der Schweiz gibt es einige Firmen, die in Bewegungsangebote von ihren Mitarbeitenden investieren. Es gibt aber noch viel Luft nach oben», fasst Bettina Sommer die Erhebung zusammen, die nicht repräsentativ ist, aber dennoch einen guten Eindruck der Bewegungsförderung am Arbeitsplatz in der Schweiz gibt. Die wichtigsten Ergebnisse der Studie hat das Forschungsteam in einem BAGFaktenblatt zusammengefasst. Dieses soll Firmen über den Nutzen der Bewegungsförderung aufklären. «Informationen über die positiven Effekte allein reichen jedoch nicht aus», sagt Bettina Sommer. Wolle man Bewegungsangebote in den Unternehmen gezielt fördern, brauche es entsprechende Rahmenbedingungen und Strukturen, beispielsweise in Form finanzieller Anreize. Vielen kleinen und mittelgrossen Unternehmen in der Schweiz fehle es an den Ressourcen, um ein firmeneigenes Angebot zur Bewegungs­ förderung aufzubauen. Solchen Firmen empfiehlt die Bewegungswissenschaftlerin, sich für konkrete Massnahmen mit anderen Unternehmen zusammenzuschliessen oder ihren Mitarbeitenden externe Angebote wie Fitness-Abos oder die Mitgliedschaft in einem Sportverein zu vergüten. «Diesen Ansatz wählten auch viele Unternehmen, die für die Studie befragt wurden», so Sommer.

«Bewegungs­ förderung sollte in der Firmen­ kultur verankert sein.»

Bewegung als Teil der Firmenkultur Wie die Studie des Instituts für Ge­ sundheitswissenschaften ebenfalls zeigt, braucht es neben zeitlichen und finanziellen Ressourcen sowie Know-how eine entsprechende Unternehmenskultur, um die Bewegung der Mitarbeitenden zu fördern. «Diese sollte wie die Kaffeepause oder die Teamsitzung fest in der Kultur einer Firma verankert sein – dann sind die Erfolgschancen grösser», sagt Bettina Sommer. Und sie weist auf die wichtige Vorbildfunktion der Vorgesetzten hin: «Wenn diese wegen hoher Arbeitsbelastung das Training weglassen, wird es für die Mitarbeitenden schwierig, konsequent zu trainieren.» Wichtig sei zudem, die Mitarbeitenden in die Planung der Bewegungsförderung miteinzubeziehen. «Dann kommt sie bei diesen auch gut an.» //

Auswirkungen von Sport und Bewegung während der Arbeitszeit auf die Gesundheit und die Produktivität am Arbeitsplatz Projektleiterin: Irene Etzer-Hofer Projektteam: Prof. Dr. Julia Dratva, Sonja Feer, Bettina Sommer Drittmittelgeber: Bundesamt für Gesundheit (BAG)

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STUDIUM

DEN MASTERABSCHLUSS IN DER HEBAMMEN-TASCHE Diesen Sommer haben die ersten Hebammen an der ZHAW ihren Masterstudiengang abgeschlossen. Sie haben gelernt, tradiertes Wissen einer kritischen Auseinander­setzung mit evidenzbasierten Er­kenntnissen zu unterziehen. Drei Absolventinnen erzählen, wie ihre neuen Kompetenzen in den Arbeitsalltag einfliessen. VON ANDREA SÖLDI

«Ich habe mir angewöhnt, genau hinzuschauen, wenn Neuerungen eingef ührt werden.» ANDREA BRAZEROL

Andrea Brazerol hat bereits ihr Bachelorstudium an der ZHAW absolviert. Nach drei Jahren beruflicher Erfahrung entschied sie sich, auch noch den konsekutiven Master zu erwerben, und war 2017 unter den ersten Hebammen, die diesen neuen Studiengang belegten. «Ich wollte meinen Horizont erweitern und mit Ärzten evidenzbasiert auf Augenhöhe diskutieren können», sagt die 30-Jährige. Die intensive Beschäftigung mit fachspezifischer Forschung fand sie äusserst spannend. Zudem 34

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profitierte Brazerol vom Austausch mit anderen erfahrenen Hebammen sowie mit Pflegefachpersonen, mit denen sie diverse Module gemeinsam besuchte. Die Hebamme hatte im See-Spital Horgen bereits als Berufsbildnerin gearbeitet und sich zur Erwachsenenbildnerin weitergebildet. «Die Arbeit mit Studentinnen hat mir gefallen. Ich konnte mir gut vorstellen, später auch zu unterrichten.» Dieser Wunsch wurde dann früher als erwartet Realität: Als das ZHAW-Institut für Hebammen 2018 eine wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin suchte, bewarb sich Brazerol – und erhielt zu ihrer eigenen Überraschung tatsächlich die 50-Prozent-Stelle. Während des Studiums musste sie dafür aber ihre Arbeit im Gebärsaal aufgeben. Seit Abschluss der Masterarbeit übernimmt sie wieder etwa vier Dienste pro Monat. «Ich habe die Arbeit mit den Frauen vermisst. Zudem ist es fürs Unterrichten ein Vorteil, wenn man mit der Praxis verbunden bleibt.» Obwohl sie am See-Spital Horgen nur ein Teilpensum innehat, bringt sie ihre Fachkenntnisse regelmässig ein. Zum Beispiel, indem sie die Teamleiterin auf neue Richtlinien aufmerksam macht. Im Masterstudiengang hat sie gelernt, die Evidenzen für eine Massnahme stets zu überprüfen. Nachdem zum Beispiel der sogenannte Wehencocktail – ein Hausmittel, das die Geburt einleiten soll – abgeschafft wurde, habe sie anhand von wissenschaftlichen Studien untersucht, ob der Entscheid gerechtfertigt war, erzählt Brazerol. «Ich habe mir angewöhnt, genau hinzuschauen, wenn Neuerungen eingeführt werden, sowie tradiertes Wissen zu hinterfragen.»

«Es ist mir wichtig , am Handwerk des Berufs dran­z ubleiben.» VALENTINE GSCHWEND

Frauen von der Schwangerschaft über die Geburt bis zum Wochenbett betreuen – das macht Valentine Gschwend mit Herzblut. «Die kontinuierliche Begleitung schafft gegenseitiges Vertrauen», ist die Hebamme überzeugt. Deshalb hat sie bereits nach den geforderten zwei Jahren in der klinischen Geburtshilfe angefangen, freiberuflich zu arbeiten. Sie baute dieses Modell zeitlich immer mehr aus, während sie die Anstellung im Spital in Münsterlingen reduzierte, um schliesslich als Beleghebamme ganz den Sprung in die Selbstständigkeit zu wagen. Nun konnte die 32-Jährige sogar wissenschaftlich belegen, was sie immer geahnt hatte: In ihrer Masterarbeit hat sie eine quantitative Untersuchung durchgeführt, in der sie Frauen zu ihren Geburtserfahrungen mit und ohne Beleghebamme befragte. Es zeigte sich, dass Erstere tatsächlich zufriedener sind. «Das hat mich in meiner Arbeitspraxis bestätigt und mir einen neuen Motivationsschub verliehen.»


STUDIUM

Ihr Bachelorstudium hat die Hebamme 2012 an der ZHAW abgeschlossen. Später verspürte sie Lust, ihr Wissen zu vertiefen, und überlegte sich, im Ausland ein Masterstudium zu machen, weil es ein solches in der Schweiz noch nicht gab. Doch als sie vernahm, dass auch hierzulande ein An­ gebot entstehen soll, wartete sie ab und schrieb sich schliesslich 2017 an der ZHAW ein. «In unserem Beruf ist vieles Erfahrungswissen. Es wurde einfach immer so gemacht», erklärt Gschwend. Doch es sei wichtig, fundiert zu argumentieren und Handlungsweisen begründen zu können – einerseits für die Qualität der täglichen Arbeit und anderseits aus berufspolitischer Sicht. Noch während des Studiums tat sich ihr vor zwei Jahren eine neue Chance auf: Sie erhielt eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der ZHAW. Weil sie unterdessen selbst eine Familie gegründet hat, begleitet sie nun weniger Frauen von der Schwangerschaft bis zum Wochenbett. Ganz aufgeben will sie die Aufgabe aber nicht: «Es ist mir wichtig, am zentralen Handwerk des Hebammenberufs dranzubleiben.»

«Den Austausch mit Kolleginnen empfand ich als sehr bereichernd.» HANNAH KOCH

Um sich viele berufliche Optionen zu öffnen, hat Hannah Koch direkt nach ihrem

Bachelorabschluss an der ZHAW 2017 den Masterstudiengang angehängt. Sehr bereichernd empfand sie dabei den Austausch mit ihren Kolleginnen, die eine grosse Bandbreite an Berufserfahrungen in unterschiedlichen Arbeitsbereichen mitbrachten. Das stetige Reflektieren von System- und Strukturfragen sowie Arbeitsbedingungen seien zentrale Aspekte im Studium, erklärt die 28-Jährige. Während des ganzen Studiums arbeitete sie mit einem 80-Prozent-Pensum in einem Zürcher Spital. Da die Akademisierung im Berufsfeld der Hebammen noch sehr jung sei, könne sie das im Masterstudium erworbene Wissen in der direkten Betreuung von Schwangeren, Gebärenden und Wöchnerinnen noch nicht vollständig anwenden, sagt Koch. «Es wäre wichtig, mehr Stellen für Hebammen-Expertinnen zu schaffen, die das Althergebrachte überprüfen und den Dialog mit den Ärzten pflegen.» In den Spitälern seien die meisten Richtlinien, auch in der Geburtshilfe, stark ärztegeleitet, erzählt die Hebamme. Ein Konsens zwischen Hebammen und Ärzteschaft wäre für eine optimale und evidenzbasierte Betreuung der Frauen während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett jedoch zwingend notwendig, ist sie überzeugt. Viel profitiert hat Hannah Koch von ihrer Masterarbeit, die sie dem Thema Gewalt in der Geburtshilfe aus Hebammensicht widmete. Der in den Spitälern vorherrschende Zeitdruck, die Organisationsstrukturen und die daraus resultierende fehlende Zeit für die Betreuung wurde von den für die Arbeit befragten Hebammen als Gewalt empfunden. «Selbst der Akt des Gebärens oder des Geborenwerdens ist gewaltig», findet Hannah Koch. Die Auseinandersetzung mit dieser heiklen Thematik habe sie in ihrer Arbeit sensibilisiert. «Es wurde mir noch bewusster, dass alle Handlungen und Massnahmen ausnahmslos erklärt werden müssen.» Zudem erkannte sie, dass die Psychohygiene, etwa durch den Austausch mit engen Berufskolleginnen, in diesem herausfordernden Beruf sehr wichtig ist. «Fachgespräche im Betreuungsteam sind eine von möglichen guten Copingstrategien», erklärt Koch. Im Umgang mit den täglichen Herausforderungen seien sie eine wichtige Voraussetzung, um als Hebamme in der Praxis bestehen und schwierige Situationen meistern zu können. //

HEBAMMEN-MASTER GEHT IN DIE VIERTE RUNDE Der Studiengang MSc Hebamme wird seit 2017 jedes Jahr angeboten. «Die Nach­ frage steigt von Jahr zu Jahr», sagt Studien­ gangleiterin Astrid Krahl. Zu Beginn führte ihn die ZHAW in Zusammenarbeit mit der Berner Fachhochschule mit einer Kohorte von insgesamt zwölf Hebammen durch. Mittler­ weile gibt es das Angebot separat an beiden Fachhochschulen. Der Masterabschluss soll Hebammen auf die Rollen von Advanced Practice Midwifes (APM), Fachexpertinnen, Forscherinnen und Dozentinnen vorbereiten. Weil er international anerkannt ist, kann er zudem den Weg zu einem Doktorat zu ebnen. Ein Schwerpunkt liegt deshalb auf der Forschung. Hebammen lernen, klinisch relevante Fragen wissen­ schaftlich zu bearbeiten und die Verände­ rungsprozesse im Gesundheitswesen aktiv mitzugestalten. Diese Module finden ge­meinsam mit Masterstudierenden aus den Bereichen Pflege und Physiotherapie statt. In den professionsspezifischen Modulen setzen sich Hebammen mit ihrer eigenen Berufspraxis auseinander. Für den Studien­ jahrgang, der diesen Herbst begonnen hat, ist hier zum Beispiel das Modul «Hebammen­geleitete Geburtshilfe» neu dazugekom­ men. Die Ausgangslage dafür war, dass die Anzahl Kaiserschnitte immer noch steigt, erklärt Astrid Krahl. «Hebammen sollen die physiologischen Grundlagen einer Geburt noch besser verstehen. So können sie dazu beitragen, dass mehr Frauen auf natürliche Art gebären.» Mehr Informationen zum MSc Hebamme zhaw.ch/gesundheit/master/hebamme

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WEITERBILDUNG

«SCHMERZ HAT VIELE GESICHTER» In der Arbeit von Gesundheitsfachpersonen spielen Schmerzen eine zentrale Rolle. Doch wo liegen ihre Ursachen? Und wie lassen sich verschiedene Schmerztypen am besten behandeln? Im interprofessionellen CAS «Schmerz Basic» lernen Teilnehmende die Komplexität des Themas kennen – und erwerben die Kompetenzen, um Schmerzen richtig einzuordnen und zu behandeln sowie anspruchsvolle Fälle berufsübergreifend zu koordinieren. VON TOBIAS HÄNNI

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attebäuschchen kom­ men zum Einsatz. Aber auch Hämmer, Zahnstocher, Stimm­ gabeln und Metallstifte. Mit den Gegen­ ständen klopfen, streichen und piksen die rund 30 Frauen und Männer an diesem spätsommerlichen Freitagnachmittag in einem Unterrichtsraum des Departe­ ments Gesundheit einander auf und über verschiedene Körper­ stellen. Spürt das Gegen­ über die sanfte Be­ rührung des Wattebau­ sches oder das leichte Piksen des Zahnstochers auf dem Handrücken? Nimmt es die Kälte des Metallstifts auf dem Un­ terarm wahr? Schlägt der Unterschenkel aus, wenn der Reflexhammer den richti­ gen Nerv am Knie trifft? «Die Teilneh­ menden üben verschiedene Tests, mit de­ nen bei Patientinnen und Patienten eine Überempfindlichkeit, aber auch eine Re­ duktion der Reizempfindung abgeklärt werden kann», sagt Physiotherapeutin und Dozentin Irene Wicki, die den zwei­ tägigen Kurs «Current Clinical Topic Schmerz: Link zwischen Neurowissen­ schaften und klinischer Präsentation» leitet. Eine – teils schmerzhafte – Über­ empfindlichkeit des Gewebes auf mecha­ nische oder thermische Reize, in der Fach­

sprache Gain of Function genannt, kann laut Wicki in einer frühen Phase der Wundheilung etwa nach operativen Ein­ griffen oder Sportverletzungen auftreten. Ein sogenannter Loss of Function, also eine reduzierte Empfindung von schmerz­ haften Reizen, kann seine Ursache dage­ gen in einer Verletzung der Nerven haben, deren Regeneration normalerweise länger dauert als die von Gewebe, Bändern oder Knochen. Die Tests, wel­ che die Kursteilnehmen­ den aneinander durch­ führen, zeigen demnach nicht nur das Ausmass eines Miss- respektive S ch m e r z­e m p f i n d e n s auf, sondern lassen auch Rückschlüsse auf deren Ursachen zu – was wiederum zentral für die richtige Behandlung ist. «Ich vermittle den Teilnehmenden die Prozesse und möglichen Ursachen, die sich hinter verschiedenen Symptomen wie beispielsweise brennendem Schmerz, ein­ schiessendem stromartigem Schmerz oder einer extremen Berührungsempfind­ lichkeit befinden», erklärt Wicki die Lern­ ziele des Kurses. In diesem wird neben der peripheren Sensibilisierung – der Reiz­ empfindlichkeit von Gewebe oder Nerven etwa in den Gliedmassen – auch die Sensi­ bilisierung des zentralen Nervensystems thematisiert. Die Prozesse, die in Rücken­

«Der richtige Umgang kann eine Chronifizierung verhindern.»

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mark und Gehirn ablaufen, können unter anderem dazu führen, dass bei einer Chronifizierung die Patienten «Schmer­ zen verspüren, obwohl die Verletzung im Gewebe schon lange ausgeheilt ist», führt Irene Wicki aus. Auch erfahren die Teil­ nehmenden mehr über die neurophysiolo­ gischen Mechanismen, wie psychosoziale Faktoren – etwa negative Gefühle oder fa­ miliäre Probleme – zu einer Chronifizie­ rung des Schmerzes beitragen können. Hochkomplexe Angelegenheit Der von Wicki geleitete Kurs ist Teil des Certificate of Advanced Practice (CAS) «Schmerz Basic», einer interprofessionel­ len Weiterbildung am Departement Ge­ sundheit. «Schmerz spielt in sämtlichen Gesundheitsberufen eine wichtige Rolle», sagt Ursina Schmid, Verantwortliche für das CAS. «Ob in der Sporttherapie oder in der Geriatrie, im akuten Bereich oder in der Arbeit mit chronisch kranken Men­ schen: Früher oder später kommen alle Health Professionals mit dem Thema in Kontakt.» Ein Schmerzbild frühzeitig rich­ tig einzustufen und adäquat zu behandeln, sei dabei eine ganz wichtige Aufgabe. Denn, so Schmid: «Der richtige Umgang mit Schmerz kann dessen Chronifizierung verhindern.» Das sei nicht nur aus Sicht des Patienten hochrelevant, sondern senke auch die Gesundheitskosten massgeblich. Bloss: Schmerz ist eine sehr komplexe Angelegenheit. Ihn immer gleich und ein­ fach da behandeln, wo er auftritt, ist nicht möglich. «Es wäre wunderbar, wenn es so einfach wäre. Doch Schmerz hat viele Ge­ sichter», sagt Schmid. Er entstehe ganz unterschiedlich, werde durch zahlreiche Faktoren beeinflusst und äussere sich von Fall zu Fall sehr individuell. Auch bei einer genau gleichen Verletzung könne sich das Schmerzbild von Fall zu Fall gänzlich un­ terschiedlich entwickeln. «Und sogar kul­ turelle Faktoren spielen hinein», sagt Ursi­ na Schmid. So habe Schmerz je nach Kultur einen anderen Stellenwert und die Men­ schen gingen unterschiedlich mit ihm um. Es braucht die interprofessionelle Sicht Dieser Komplexität kann in den Grund­ ausbildungen der Gesundheitsberufe kaum Rechnung getragen werden. «Es wird zwar das Wichtigste über Schmerz für die ei­gene Profession vermittelt», so Ursina Schmid. «Es fehlt jedoch der interpro­ fessionelle Ansatz, der insbesondere bei hochkomplexen Beschwerdebildern und Verläufen zentral ist.» So sei es für eine op­


WEITERBILDUNG

DAS CAS «SCHMERZ BASIC» Die Weiterbildung ist interprofessionell aufgebaut und richtet sich an Ärztinnen und Ärzte, Ergo- und Physio­therapeutinnen und -therapeuten (HF/FH), Pflegefachpersonen (HF/FH) sowie Psycho­loginnen und Psychologen. Sie umfasst drei Module im Umfang von jeweils fünf ECTS-Punkten und insgesamt 19 Präsenztagen am ZHAWDepartement Gesundheit. Die Weiter­ bildung kann unter anderem an den MAS Interprofes­sionelles Schmerzmanagement (als erstes CAS) sowie an den MAS Ergotherapie angerechnet werden. Weitere Infos zhaw.ch/gesundheit/weiterbildung

Spürt die Patientin die Spitze des Zahnstochers? Teilnehmende des CAS «Schmerz Basic» lernen verschiedene Tests, um die Reizempfindung abzuklären.

timale Behandlung wichtig, dass die ver­ schiedenen an einem Fall beteiligten Be­ rufe ein gemeinsames Verständnis von Schmerz hätten und sich auf die gleiche Sprache sowie die gleichen Messverfahren und Interventionen einigen könnten. Die berufsübergreifende Herange­ hensweise an den Schmerz ist in alle Unterrichtseinheiten des CAS integriert. Denn mit dem Abschluss sollen die Absol­ vierenden komplexe Fälle im interprofes­ sionellen Setting koordinieren können. Darüber hinaus sollen sie in ihrem Ar­ beitsbereich mit dem zusätzlichen Wissen die Rolle der Ansprechperson für Fragen rund um das Thema Schmerz und Schmerz­ management einnehmen. Und nicht zu­ letzt befähigt sie das CAS, Betroffene und Angehörige gezielt über das Thema Schmerz aufzuklären und sie im Selbstma­ nagement zu unterstützen. «Das erworbe­ ne Wissen kann in jedem Bereich des Ge­ sundheitswesens angewendet werden», sagt Ursina Schmid. So habe ein Physio­ therapeut mit dem im CAS vermittelten

Explain-Pain-Ansatz ein Instrument, um seine Patientinnen gezielt aufzuklären und sie zu ermutigen, trotz Schmerzen ak­ tiv zu bleiben. «Eine auf der Intensiv­sta­tion tätige Pflegefachperson wiederum kann das Wissen einsetzen, um bei Schmerzen früh genug die Medikation richtig einzustellen.» Und ein Ergothera­ peut erlange mit dem CAS die Expertise, Patientinnen ressourcenorientiert zu mehr Selbstständigkeit zu begleiten. Mit Betroffenen die Ziele klären Damit die Absolventinnen und Absolven­ ten ihre Expertise in unterschiedlichsten Bereichen und für verschiedenste Aufga­ ben einsetzen können, deckt das CAS in drei Modulen ein breites Spektrum an As­ pekten des Themas Schmerz ab. Im ersten Modul, «Schmerz multidimensional», ler­ nen die Teilnehmenden «möglichst viele Facetten des Schmerzes kennen und ver­ stehen», sagt CAS-Verantwortliche Ursina Schmid. Das zweite Modul vermittelt un­ ter dem Titel «Patient Education and

Empowerment» unter anderem, wie Ge­ sundheitsfachpersonen und Patienten auf Augenhöhe kommunizieren und vonein­ ander lernen können. «Die Patienten sind die Fachpersonen für ihren Schmerz – ihre Expertise sollte deshalb genutzt werden.» Zudem gelte es, mit dem Patienten die Er­ wartungen und Ziele zu klären. «Das er­ fordert viel Empathie und gute kommuni­ kative Fähigkeiten, die in diesem Modul ebenfalls vermittelt werden», sagt Schmid. Das dritte Modul vermittelt verschiedene professionsspezifische und -übergreifen­ de Ansätze zur Beurteilung sowie zur Be­ handlung von Schmerzen. «Und selbst­ verständlich lernen die Teilnehmenden, die Wirksamkeit mittels evidenzbasierter Messungen zu überprüfen.» Im Unterrichtsraum am Departement Gesundheit haben die Teilnehmenden die Tests mit den Wattebäuschchen, Häm­ mern und Nadeln abgeschlossen und ma­ chen Pause. Es ist der erste Tag des CAS. Ergotherapeutin Zoe Laura Widmer er­ wartet von der Weiterbildung, mehr über die Mechanismen des Phänomens Schmerz zu verstehen. «Das Thema ist vielschichtig und komplex», sagt die junge Frau, die am Kantonsspital St. Gallen in der Handtherapie tätig ist. «Gerade Pa­ tienten mit chronischen Schmerzen sind schwierig zu behandeln – für diese heraus­ fordernde Aufgabe erhoffe ich mir neues Wissen und nützliche Inputs.» // blog.zhaw.ch/vitamin-g

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Gewusst wie !

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STURZFREI DURCH DIE WINTERZEIT

Sie bei der Sache und lassen er Winter naht und Stürze sind die häufigste Unfallursache in der Sie sich nicht ablenken. mit ihm kommen Schweiz. Jedes Jahr verunfallen rund tiefe Temperatu  Stühle sind keine Lei200 000 Menschen während der Arbeit oder ren, schlechte Sicht, tern. Haben Sie eine kleine in der Freizeit auf diese Art. Wie Sie das Risiko Schnee und Eis. Alles FaktoLeiter oder einen stabilen Tritt ren, welche die Sturzgefahr ereines Sturzes mit ein paar einfachen in Griffnähe. So geraten Sie höhen. Sie denken, das Thema nicht in Versuchung, den wackVerhaltensweisen verringern können, weiss betrifft mich nicht, weil Sie ligen Schreibtischstuhl als AufErgotherapeutin Dietlinde Arbenz*. noch jung und fit sind? Da täustiegshilfe zu benutzen. schen Sie sich: In der Schweiz   Denken Sie im Büro an stürzen oder stolpern jedes Jahr rund Arbeitsplatz findet sich sicher ein Ort, an Ihre Arbeitskolleginnen und -kollegen 64 000 Menschen bei der Arbeit, in der dem Sie im Winter die leichten und schiund lassen Sie keine Gegenstände am BoFreizeit sind es sogar fast 130 000 Perso- cken Schuhe fürs Büro lagern können. den liegen oder Schubladen offen stehen. nen, die auf diese Art verunfallen. Stürze   Treppengeländer sind zum Festhal- Halten Sie auch Zuhause Ordnung und sind damit hierzulande die häufigste Unten da! Nutzen Sie diese und denken Sie versorgen Sie beispielsweise herumliegenfallursache. Dabei gibt es ein paar einfache, daran, Handschuhe einzupacken, damit de Kabel. aber sehr effektive Massnahmen, um das Sie keine kalten Finger bekommen. Risiko eines Sturzes zu reduzieren. Um Stürze draussen wie drinnen zu ver  Achten Sie auch als Fussgängerin Augen auf beim Treppenlauf meiden, gilt generell: Wer sich um seine oder als Velofahrer auf die Wetter- In den Wintermonaten passieren zwar Fitness kümmert, trägt schon viel zur Prävorhersage. Glatteisgefahr gilt nicht nur mehr Unfälle als im Sommer. Doch die vention bei. Nehmen Sie lieber die Treppe für Autofahrerinnen! An manchen Tagen Sturzgefahr lauert auch drinnen: anstelle des Lifts oder parkieren Sie ihr ist es vielleicht besser, das Velo zuhause zu Auto auch mal etwas weiter weg. Und hal  Ein Viertel aller Stürze passiert auf ten Sie sich an das italienische Sprichwort: lassen. Denn im Winter ereignet sich rund jeder vierte Velounfall auf verschneiten einer Treppe. Die verunfallten Personen «Chi va piano, va sano e va lon­tano» – Wer sind in den meisten Fällen zu schnell un- alles im Leben locker und gelassen angeht, oder vereisten Flächen. terwegs oder unaufmerksam. Und wer lebt gesünder und länger. //   Planen Sie mehr Zeit für den Weg kennt das nicht: Mit dem vollen Wäscheein, damit Sie nicht auf den Bus, das Tram korb noch schnell in den Keller eilen und oder den Zug rennen müssen. Gibt es viel*Dietlinde Arbenz, MSc Neuro­ schon rutscht man auf einem Spielzeug­ leicht sogar einen anderen Weg, der zwar rehabilitation, ist selbstständige auto aus und stürzt. Oder auf dem Weg aus etwas länger ist, aber in den dunklen MorErgotherapeutin und Dozentin am dem Büro noch rasch die Nachrichten der gen- und Abendstunden beleuchtet und Departement Gesundheit. Familie checken und einen Tritt verpasgeräumt ist? sen. Deshalb: Nehmen Sie sich Zeit und   Tragen Sie Schuhe mit gutem Pro- kontrollieren Sie insbesondere auf Trepblog.zhaw.ch/vitamin-g fil oder verwenden Sie Spikes. An Ihrem pen, ob Gegenstände im Weg liegen. Seien 38

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AGENDA

Jeweils donnerstags ab 17.30 Uhr 19. Nov./26. Nov. 2020, online

«Fokus Gesundheit»

Mit der öffentlichen Vortragsreihe lädt das Departement Gesundheit herzlich dazu ein, Praxis und Forschung der Gesundheitsberufe kennenzulernen. Die beiden letzten Referate in der Reihe finden online statt und behandeln die Themen «Schönes neues Sterben – Heraus­forderungen am Lebensende aus Sicht der Pflegewissenschaft» (19.11.) und «Geburtshilfe einst und heute – wie Adeline Favre nach Winterthur kam» (26.11.). Zu den Online-Referaten können Sie sich über unsere Homepage anmelden.

Fr, 18. Dez. 2020 // 13.00 – 16.30 Uhr, online

Abschlusspräsentationen der Projektwerkstatt 2020

Im Modul «Projektwerkstatt: Betätigung ermöglichen» setzen Ergotherapiestudierende im dritten Semester Projekte mit Klientinnen und Klienten um. Oft handelt es sich dabei um Menschen, die sonst selten im Mittelpunkt stehen – etwa Asylsuchende oder Bewohnerinnen und Bewohner von Alters- und Pflegeheimen. Zum Abschluss des Moduls präsentieren die Studierenden ihre Projekte in Online-Referaten. Mehr Infos dazu finden Sie auf unserer Homepage.

Sa, 23. Jan. 2021 // 9.00 –16.45 Uhr

6. Winterthurer Hebammen­s ymposium

«Frauenbedürfnis – Hebammen­ potenzial» ist der Titel des Hebammensymposiums 2021. Es bietet Hebammen und weiteren Interessierten aus Praxis, Lehre und Forschung alle zwei Jahre eine Plattform für Begegnung und Austausch sowie für den Diskurs innerhalb des Berufs­ standes.

Veranstaltungsort: ZHAW-Departement Gesundheit, Katharina-Sulzer-Platz 9, 8400 Winterthur (wenn nicht anders vermerkt)

Di, 9. Feb. 2021 // 9.00 – 17.00 Uhr

Physiotherapie-Symposium «Management of Back Pain»

An dem Physiotherapie-Symposium geben nationale und internationale Expertinnen und Experten einen Überblick über das Management von Rückenschmerzen sowie über den aktuellen Stand der Best Practice. Dabei legen sie den Fokus auf das Programm GLA:D Schweiz Rücken.

Sa, 6. März 2021 // 9.00 – 16.30 Uhr

5. Winterthurer Ergo-Gipfel

Mit dem Thema «Frech entscheiden, mutig handeln» stehen Menschen im Mittelpunkt, die etwas gewagt haben und teils auf unkonventionellen Wegen Projekte vorantreiben. Sie erzählen, was sie anspornt, welche Konsequenzen mutige Entscheidungen haben können und was sich in der Ergotherapie noch bewegen liesse.

Sa, 27. März 2021 // 9.45 – 16.30 Uhr

Interprofessionelles Symposium zu Advanced Practice

Unter dem Titel «Die Gesundheits­ versorgung der Zukunft gestalten» veranstaltet das Departement Gesundheit 2021 erstmals ein interprofessionelles Symposium zu Advanced Practice. An diesem sind die Berufe Ergo- und Physiotherapie, Hebammen, Pflege und Ernährungsberatung beteiligt. Der Anlass greift die gesundheitspolitische Strategie des Bundesrats 2020 –2030 auf und beleuchtet, wie Health Professionals in Advanced Practice Rollen zu einer besseren Versorgung in interprofessionellen Settings beitragen. Bitte beachten Sie: Die Präsenzveranstaltungen finden vorbehältlich der weiteren Entwicklung im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie statt. Auf unserer Website finden Sie laufend aktualisierte Informationen zu den Ver­ anstaltungen.

IMPRESSUM VITA MIN G Für Health Professionals mit Weitblick Nr. 9/ November 2020 Herausgeber ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften Departement Gesundheit Kommunikation Katharina-Sulzer-Platz 9 CH-8400 Winterthur kommunikation.gesundheit@zhaw.ch zhaw.ch/gesundheit Redaktion Tobias Hänni (Leitung), Inge Corti, Annina Dinkel, Nicole Räber, Carol Flückiger, Ursina Hulmann, José Santos, Cordula Stegen Redaktionelle Mitarbeit Marion Loher, Eveline Rutz, Andrea Söldi, Susanne Wenger Art Direction und Layout Partner & Partner, Winterthur Druck ZT Medien AG, Zofingen Korrektorat Ingrid Essig, Winterthur Fotos und Illustrationen Fabian Stamm (Dossierbilder: S. 1, 10, 17, 24, 31 / S. 2, 18 – 19, 21, 28), Chavela Zink (S. 6 – 7, 25 – 26), Das Bild (S. 8–9), Tobias Hänni (S. 2, 37, 40), Georg Thieme Verlag KG (S. 4), iStockphoto.com/kzenon (S. 4), iStockphoto.com/Thitaree Sarmkasat (S. 14), iStockphoto.com/ andresrimages (S. 32), iStockphoto.com/ Astrid860 (S. 40), von den Abgebildeten zur Ver­fügung gestellt / Bildarchiv Departement Gesundheit (übrige). Die Dossierbilder auf den Seiten 10 und 24 sind mit freundlicher Unterstützung des Technorama (S. 10) und des Skills Park (S. 24) entstanden. Auflage 6000 Erscheinungsweise 2-mal jährlich Das Magazin kann kostenlos abonniert werden: zhaw.ch/gesundheit/vitamin-g ISSN 2504-1835 © Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck von Artikeln mit Genehmigung der ­Redaktion.

Nähere Informationen: zhaw.ch/ gesundheit/veranstaltungen

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CAMPUS

Weitere Impressionen: instagram.com/ zhawgesundheit

MITTENDRIN Bachelorstudierende der Ergotherapie besuchen in der Virtual Reality die Wohnung einer Klientin. Im 360-Grad-Video tauchen sie in den ergotherapeutischen Alltag ein und erleben die Berufspraxis hautnah.


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