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Vitamin G Nr. 7/2019: Dossierthema «Kommunikation im Gesundheitswesen»

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Für Health Professionals mit Weitblick

KOMMU­NI­­K A­TION IM GESUNDHEITSWESEN

Dem Potenzial von Robotern auf der Spur

Als Verkehrsbetrieb bei der Gesundheit auf Kurs bleiben

NR.7 NOVEMBER 2019

G


I N H A LT

DOSSIER:

KOMMUNIKATION IM GESUNDHEITSWESEN

IST 10 «KOMMUNIKATION WICHTIGER DENN JE»

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Health Professionals sind bei ihrer Arbeit im ständigen Austausch: mit Patienten, Angehörigen, anderen Gesundheitsfachpersonen. Dabei den richtigen Ton zu finden und kommunikative Stolpersteine zu vermeiden, ist eine anspruchsvolle Aufgabe.

Sara Rubinelli, Professorin für Gesundheits­kom­ munikation, erklärt im Interview, weshalb kommu­ nikative Fähigkeiten im Gesundheitswesen künftig noch mehr an Bedeutung gewinnen werden.

MAN BOTSCHAFTEN UNTERS 17 WIE VOLK BRINGT

Studierende des Bachelors Gesundheitsförderung und Prävention lernen, was eine erfolgreiche Gesundheitskampagne ausmacht.

STILLES STUDIUM 26 Laura Setz ist gehörlos. Das hält sie jedoch nicht

davon ab, Physiotherapie zu studieren.

WENN WORTE FEHLEN, 29 KÖNNEN TIERE HELFEN

Tiere beeinflussen die Rehabilitation bei einer Hirnverletzung positiv, sogar bei Menschen im Wachkoma, wie ein Forschungsprojekt an der REHAB Basel zeigt.

SPEKTRUM

FORSCHUNG

4 News aus dem Departement

32 Die Erhöhung des Renten­

MEINUNG

Die Forschungsstelle Gesund­ heitswissenschaften untersucht, welche Auswirkungen eine Ver­ längerung des Arbeitslebens auf die Gesundheit hat.

Gesundheit

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Kinder konsequent vor dem Rauchen schützen

Für Julia Dratva sind die jüngst von der Politik beschlossenen Massnahmen zum Schutz vor Tabakkonsum ein richtiger Schritt. Es braucht aber noch weitere Bemühungen.

I M P O R T R ÄT

6 Eine Ärztin, die auf Roboter setzt

Verena Klamroth-Marganska erforscht das Potenzial intelli­ genter Maschinen für das Gesundheitswesen.

TITELSEITE:

Ob bei der Diagnosestellung, während der Behandlung oder in der Nachkontrolle: Der Austausch mit dem Patienten oder der Klientin ist fundamentaler Bestandteil der Arbeit von Health Professionals. Die Beziehungsgestaltung im All­gemeinen und die Kommunikation im Speziellen ist ange­sichts der Dig­italisierung und soziodemografischer Entwick­lun­gen eine Herausforderung. Wie diese erfolgreich ge­meistert werden kann, erklärt Sara Rubinelli, Professorin für Gesundheits­kommunikation, ab Seite 10.

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DIENSTLEISTUNG

alters unter der Lupe

36 Gesundheitlich auf Kurs bleiben Die ZHAW-Fachstelle Betriebli­ ches Gesundheitsmanagement unterstützt die Verkehrsbetriebe Zürich dabei, die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden zu fördern.

STUDIUM

34 «Die Arbeit wird Gesund­

38 Ein Gläschen Schuldgefühle

heitsförderern nicht aus­ gehen» Der erste Jahrgang des Stu­­dien­gangs Gesundheitsförde­ rung und Prävention hat diesen Sommer die Ausbildung abge­schlossen. Auf dem Arbeits­ markt haben die Absolvierenden gute Aussichten.

G E W U S S T W I E!

Einen «sicheren Alkoholkon­ sum» während der Schwanger­ schaft gibt es nicht. Frauen sollten deshalb konsequent darauf verzichten.

39 A G E N DA CAMPUS 40


EDITORIAL

ALLES ZWISCHENMENSCHLICHE IST KOMMUNIK ATION tausch zwischen Patientinnen und Health Professionals, aber auch zwischen den Ge­ sundheitsfachpersonen selbst ist deshalb immens wichtig für eine erfolgreiche Dia­ gnosestellung und Behandlung. Diesen Austausch so zu gestalten, dass er nicht zu Konflikten, Missverständnis­ sen oder Unverständnis führt, ist nicht einfach. Sprachbarrieren, kulturelle Unter­ schiede oder Zeitdruck machen Kommu­ nikation im Gesundheitswesen zu einer herausfordernden Aufgabe, die von Ge­ sundheitsfachpersonen ein hohes Mass an sozialen und kommunikativen Kompetenzen verlangt. Wie Health Professionals in ihrer täglichen Arbeit den Heraus­ forderungen der zwischenmensch­ lichen  Kommunikation be­gegnen und welchen Beitrag das Departe­ ment Gesundheit mit Forschung, Lehre und Weiterbildung für eine bessere Verständigung im Gesundheitswesen leis­ tet, zeigen wir Ihnen im Schwerpunkt die­ ses Hefts. Übrigens war der Zahnarztbesuch doch noch erfolgreich, trotz meinem Unvermö­ gen, den Schmerz in passende Worte zu fassen. Dafür sprach einer meiner Backen­ zähne eine deutliche Sprache: Meine Cou­ sine diagnostizierte eine Wurzelentzün­ dung.

«Health Professionals brauchen hohe soziale und kommu­ni­kative Kompetenzen.»

E

ines Tages sass ich bei meiner Cousine auf dem Zahnarztstuhl. Sie fragte: «Sind die Schmerzen eher drückend, beissend, bren­ nend oder stechend?» Schwierig zu sagen, dachte ich. Denn keine der Beschreibun­ gen passte zu dem unangenehmen Gefühl in meinem Mund. Obwohl ich selbst Arzt bin, hatte ich als Patient ein Kommunika­ tionsproblem mit einer Ärztin: Wie be­ schreibe ich meine Symptome so, dass am Ende die richtige Diagnose herauskommt? Alles Zwischenmenschliche ist Kom­ Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre. mu­ nikation und damit so gut wie jede Tätigkeit im Gesundheitswesen. Der Aus­ Sie haben die Möglichkeit, ausgewählte Beiträge online zu lesen und zu diskutieren: blog.zhaw.ch/vitamin-g

Andreas Gerber-Grote

Direktor Departement Gesundheit

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SPEKTRUM

DOKTORATSPROGRAMM

VOLKSLEIDEN

DAS SPIELEN ERFORSCHEN

NACKENSCHMERZEN AM ARBEITSPLATZ VERHINDERN

Die Forschung ist sich einig: Spielen gehört zu den wichtigsten Tätigkeiten in der Kindheit und trägt wesentlich zur Entwicklung von Kindern und ihrer ge­ sellschaftlichen Integration bei. Insbe­ sondere für das Spielen im Freien fehlt es in vielen europäischen Ländern aller­ dings an geeigneten Plätzen. Andernorts bleibt Kindern der Zugang zum Spielen

aufgrund von Armut, Beeinträchtigun­ gen oder anderen Faktoren verwehrt. Nun widmet sich ein Joint Doctoral Pro­ gramme, an dem auch das ZHAWIns­titut für Ergotherapie beteiligt ist, vertieft dem Thema: «P4Play» (People, Place, Policy and Practice for Play) ist eine Partnerschaft von Universitäten und Hochschulen aus Irland, Schweden, Schottland und der Schweiz und das erste transeuropäische Doktoratspro­ gramm in der Ergotherapie, das sich mit dem Spielen befasst. Ziel ist, innovative und unternehmerische Spiellösungen zu entwickeln. Dafür werden acht Doktorie­ rende ausgebildet, davon einer am De­ partement Gesundheit. Das Projekt wird mit rund 2,3 Millionen Franken aus dem Fördertopf des europäischen Forschungs­ rahmenprogramms Horizon 2020 finanziert.

DIGITAL HEALTH LAB DAY

DAS POTENZIAL DER DIGITALISIERUNG Über 160 Teilnehmerinnen und Teilneh­ mer loteten am 1. Digital Health Lab Day der ZHAW Anfang Oktober das Potenzial der Digitalisierung für die Gesundheits­ versorgung aus. In Referaten und Work­ shops diskutierten sie die neuesten Trends und Lösungsansätze im Bereich Digital Health: vom maschinellen Lernen in der Diagnose über robotikgestützte Therapien bis hin zur Nutzung von Ge­ sundheitsapps in der klinischen For­

schung. Thematisiert wurden auch die Herausforderungen, die auf dem Weg zu einem digitalisierten Gesundheitswesen gemeistert werden müssen, etwa die Hürden, welche die digitale Transforma­ tion in einem Spital erschweren können. Nach der erfolgreichen ersten Durch­ führung des vom Departement Gesund­ heit mitorganisierten Anlasses findet der Digital Health Lab Day auch nächstes Jahr wieder statt.

AUSGEZEICHNETE BACHELORARBEIT

FERSENLAUFEN BELASTET DIE KNIE Laufen gehört weltweit zu den beliebtes­ ten Sportarten, führt aber auch oft zu Verletzungen. Am häufigsten sind Läufer vom sogenannten Patellofemoralen Schmerzsyndrom (PFSS) betroffen. Da­ bei handelt es sich um Schmerzen unter der Kniescheibe oder um diese herum. Doch welcher Laufstil begünstigt das PFSS – das Vorfusslaufen, bei dem der Fuss zuerst mit dem Ballen aufsetzt, oder das Rückfusslaufen, bei dem das Aufset­ zen mit der Ferse beginnt? Dieser Frage 4

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sind die beiden Physiotherapeu­tinnen Michaela Hagen und Marion Tsolekas in ihrer Bachelorarbeit nachgegangen. Das Ergebnis: Das weit verbreitete Rückfuss­ laufen belastet das Knie­gelenk stärker und scheint das PFSS eher zu verursa­ chen. Für eine klare Empfehlung brauche es aber weitere Studien, so die Autorin­ nen. Ihre Arbeit wurde vom Berufsver­ band physioswiss als beste Abschlussar­ beit 2019 des Studiengangs Physiothera­ pie ausgezeichnet.

Nackenschmerzen sind weit verbreitet, vor allem Büroan­ gestellte leiden oft darunter. Mit der vom SNF finanzier­ ten Studie «NEXpro» untersuchen Fors­ hende des Departements Gesundheit, wie Nackenleiden vorgebeugt oder redu­ ziert und die Produktivität der Betrof­ fenen erhöht werden kann. Dafür wird ab Januar 2020 eine mehrteilige Inter­ vention direkt am Arbeitsplatz von Büro­ angestellten der ZHAW-Departemente School of Management and Law und Angewandte Linguistik sowie des Depar­ tements Bau, Verkehr und Umwelt des Kantons Aargau durchgeführt. Dazu gehören die Analyse und Anpassung des Arbeitsplatzes nach ergonomischen Richtlinien, spezifisches Krafttraining für den Nacken und die Schultern, Gesundheitsinputs sowie eine App für Feedback und Unterstützung. zhaw.ch/gesundheit/nexpro

DIGITAL HEALTH

VERSORGUNGS­HÜRDEN ABBAUEN Für Menschen mit Migrationshinter­ grund ist der Zugang zum Gesundheits­ wesen aufgrund sprachlicher und kul­ tureller Barrieren oft erschwert. Ein gemeinsames Projekt aller fünf Institute am Departement Gesundheit soll hier Abhilfe schaffen: «Digital Health für Eltern mit Migrationserfahrung» will der Bevölkerungsgruppe mit digital gestütz­ ten Angeboten den Zugang zu Geburts­ hilfe, Pflege, Ergotherapie, Physiothera­ pie und Pädiatrie erleichtern. Im Fokus stehen werdende Eltern und Eltern mit Kindern bis vier Jahre, deren Gesund­ heitskompetenz so erhöht werden soll. Das Projekt wird von Jessica Pehlke von der Forschungsstelle Hebammenwissen­ schaft geleitet und von Forschenden der ZHAW-Departemente Angewandte Linguistik, Soziale Arbeit sowie Ange­ wandte Psychologie unterstützt.


MEINUNG

JUNGE ERWACHSENE

ZWISCHEN INSTABI­LITÄT UND MAXIMALER FREIHEIT Es gibt aus wissenschaftlicher Sicht zahlreiche Indizien dafür, dass junge Erwachsene heutzutage vor ganz neuen und besonders herausfordernden Ent­ wicklungsaufgaben stehen. Birgit Ulrika Keller, Dozentin im Bachelorstudien­ gang Gesundheitsförderung und Prä­ vention, befasst sich in «Emerging Adulthood – Zwischen Instabilität und maximaler Freiheit» mit dieser Lebens­ phase. Sie stellt den Forschungsstand sowie traditionelle und postmoderne Theorien zum jungen Erwachsenenalter dar und zeigt auf, wie Individualisie­ rungstrends und die Aufweichung sozia­ ler Werte zu einer chronischen Stressbe­ lastung führen können. Die Autorin identifiziert potenziell stressreiche Le­ benslagen, in denen die psychosoziale Gesundheit junger Erwachsener beson­ ders vulne­rabel ist, und gibt Handlungs­ empfehlungen für die Gesundheits­ förderung in Lehre und Praxis. «Emerging Adult­h ood» – Eine Lebensphase zwischen Insta­b ilität und maximaler Freiheit Birgit Ulrika Keller BELTZ Juventa

INTERPROFESSIONELLE AUSBILDUNG

ZIPAS NIMMT REGULÄREN BETRIEB AUF

Die schweizweit einzigartige interpro­ fessionelle Ausbildungsstation ZIPAS am Universitätsspital Zürich ist diesen Herbst offiziell gestartet. Seit Anfang Oktober absolvieren rund 16 Studierende in der Klinik für Traumatologie und der Klinik für innere Medizin die Ausbildungs­ sequenz, darunter auch Pflegefachper­ sonen, Ergo- und Physiotherapeuten der ZHAW. Die Studierenden unterschied­ licher Gesundheitsberufe betreuen unter Supervision gemeinsam Patienten und lernen dabei, wie die Versorgung durch interprofessionelle Zusammen­ arbeit verbessert werden kann. An der Entwicklung von ZIPAS war auch das Departement Gesundheit beteiligt. zipas.ch

PROF. DR. JULIA DRATVA Leiterin der Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften

KINDER KONSEQUENT VOR DEM R AUCHEN SCHÜTZEN

«R

auchen ist ungesund» – diese Aussage erschrickt heutzutage niemanden mehr. Vielleicht tun es die Fakten: Jährlich sterben in der Schweiz etwa 9500 Menschen an den Folgen des Tabakkonsums – das sind rund 14 Prozent aller Todesfälle. Trotz­ dem ist die Schweiz das einzige europäi­ sche Land, das die internationale TabakRahmenkonvention von 2003 noch nicht ratifiziert hat. Das ist umso unverständlicher, weil seit 2017 eine Strategie zu nichtüber­­tragbaren Erkrankungen (NCD) exis­ tiert. Ein Grossteil der NCD, zum Bei­ spiel    Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs, stehen in direktem Zusam­ menhang mit Tabakkonsum. Ihre Be­ handlung verschlingt jedes Jahr 1,7 Mil­ liarden Franken; ganz zu schweigen von den volkswirtschaftlichen Kosten und der Belastung der Angehörigen. Es wäre deshalb im gesellschaftlichen Interesse, Kinder und Jugendliche vom Rauchen abzuhalten – zumal 57 Prozent der Rau­ chenden als Minderjährige damit ange­ fangen haben. Als besonders wirksame Massnah­ men empfiehlt die Wissenschaft Preis­ erhöhungen, Verkaufs- und Werbever­ bote sowie Aufklärung. Diese Massnah­ men gilt es gesetzlich so konsequent wie möglich zu verankern. Denn bei

halbherziger Umsetzung wird die Ta­ baklobby immer Schlupflöcher finden. E-Zigaretten sind ein gutes Beispiel da­ für. Sie haben ein Suchtpotenzial wie Zigaretten und enthalten Chemikalien, über deren gesundheitliche Wirkung noch zu wenig bekannt ist. Trotzdem wird die E-Zigarette als gesündere Vari­ ante und Ausstiegsmittel angepriesen. Doch sie ist genau das Gegenteil: ein Einstiegsmittel. So setzt die Tabaklobby alles daran, um das Interesse von jun­ gen Nichtrauchern zu wecken. Schon 2015 hat der Bundesrat dem Parlament ein Tabakproduktegesetz mit Massnahmen zu Kinder- und Jugend­ schutz vorgelegt. Drei Jahre Verwässe­ rungstaktik und Lobbyismus für die Ta­ bakindustrie machten das Gesetz im­ mer zahnloser. Immerhin: Seit diesem Herbst gibt es einen Hoffnungsschim­ mer. Der Ständerat hat Werbeeinschrän­ kungen und einem nationalen Verkaufs­ verbot für unter 18-Jährige zugestimmt und entschieden, E-Zigaretten wie normale Zigaretten zu behandeln. Ein wich­ tiger Schritt. Ein um­fassender Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Ta­ bakkonsum ist damit aber noch nicht erreicht. // blog.zhaw.ch/vitamin-g

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I M P O RT R ÄT

EINE ÄRZTIN, DIE AUF ROBOTER SETZT Vom Spital ins Forschungslabor: Verena Klamroth-Marganska erforscht, wie sich intelligente Maschinen im Gesundheitswesen einsetzen lassen. Sie seien zusätzliche Hilfsmittel, um die Lebensqualität der Patienten zu ver­ bessern, sagt die stellvertretende Leiterin der Forschungsstelle Ergotherapie.

Seit mehr als zehn Jahren erforscht die 48-Jährige, wie Robotik zum Wohl von Patienten eingesetzt werden kann. Sie beschäftigt sich insbesondere mit den Möglichkeiten der Neurorehabilitation. Seit Sommer 2018 ist sie am Institut für Ergotherapie tätig. Davor leitete sie als Senior Researcher den Standort Balgrist des ETH-Labors für Sensomotorische Systeme.

VON EVELINE RUTZ

Knappes Zeitfenster optimal nutzen «Ein Trainingsroboter ermöglicht unzählige Wiederholungen», sagt Verena Klamroth-Marganska, die mehrere Projekte mit dem Trainingsroboter ARMin durchgeführt hat. Er leite unentwegt zu präzisen Bewegungen an und ermüde dabei – im Gegensatz zu einem Therapeuten – nicht. Sie startet am Computer ein Video über ARMin. Darin ist zu sehen, wie ein Patient einen Arm zur Seite, in die Höhe und dann zur Körpermitte zurückführt. Konzentriert zeichnet er so einen Kreis in die Luft. Der Armroboter hilft ihm dabei. Er gibt die Übung vor, stützt Ober- und Unterarm, registriert Fortschritte und passt sich die-

W

ie sich Menschen mit einem Handicap miteinander messen. Wie sie dank der Hilfe von Prothesen, Rollstühlen und Exoskeletten Rennen absolvieren, Hindernisse überwinden und dabei vom Publikum lautstark angefeuert werden. Daran erinnert sich Verena Klamroth-Marganska begeistert. «Das war ein besonderer Tag in meinem Leben», sagt die Ärztin, die stellvertretende Leiterin der Forschungsstelle Ergotherapie ist und

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im Organisationskomitee des Cybathlons mitwirkt. 2016 fand der «Wettkampf der technischen Hilfsmittel» erstmals statt. Entwickler, Forschende und Menschen mit einer Beeinträchtigung loteten in der Swiss Arena Kloten aus, was die neusten robotischen Unterstützungsgeräte taugten. «Alle fieberten mit», erzählt Verena Klamroth-Marganska, die beim Cybathlon den Bereich Medical Affairs leitet. «Die Piloten haben viel Wertschätzung erfahren. Mitleid hatte keinen Platz.»


I M P O RT R ÄT

Faszinierende Maschine: Verena KlamrothMarganska mit Pepper im Casino Theater Winterthur. Der humanoide Roboter stand dort im Stück «Robocare» auf der Bühne.

sen dank intelligenter Regelungstechnik laufend an. «Bis man eine Bewegung beherrscht, muss man sie rund 10 000 Mal üben», sagt Verena Klamroth-Marganska. In einer klassischen Physio- oder ErgotherapieSitzung sind bis zu 30 Wiederholungen normal, in einer roboterassistierten Therapie ist ein Vielfaches davon möglich. Es lassen sich entsprechend grössere Effekte erzielen. Davon profitieren insbesondere Patienten mit Hirnschädigungen. «Der Zeitraum, in dem sich das Gehirn rege­ neriert, ist beschränkt», gibt die Wissenschaftlerin zu bedenken. Die neuronalen Strukturen liessen sich in den ersten drei Monaten nach einem Schlaganfall am stärksten beeinflussen. Diese Phase gelte es intensiv zu nutzen. Wer mit Freude übt, profitiert mehr Maschinen wie ARMin spornen zum Trainieren an, indem sie den Nutzer in eine virtuelle Welt eintauchen lassen. Wer die oberen Extremitäten trainiert, kann virtuell ein Glas Wasser einschenken, Münzen verschieben oder Bälle werfen. Einige Computerspiele sind dafür konzipiert, dass mehrere Patienten gegeneinander antreten können. Davon lassen sich nicht nur Kinder begeistern. «Ist jemand motiviert, schüttet sein Gehirn mehr Dopamin aus», erklärt Verena KlamrothMarganska. Das Hor­mon sorge nicht nur für ein momentanes Glücksgefühl, sondern er­höhe darüber hinaus die Plastizität des Gehirns. «Für die Rehabilitation ist es darum entscheidend, ob jemand gelangweilt oder mit Freude trainiert.»

erste Ansprechperson bleiben.» Der technologische Fortschritt verändere aber das Berufsbild der Physio- und Ergotherapeuten. Sie müssten die neuen Entwicklungen verstehen, bedienen sowie einsetzen können. «Es ist Aufgabe der Lehre, diese Qualifikationen zu vermitteln», so KlamrothMarganska. Die zweifache Mutter gibt ihre Faszination für die Interaktion von Mensch und Maschine nicht nur Studierenden weiter. Sie hat auch schon vor den Klassen ihrer beiden Töchter referiert und stiess dabei auf reges Interesse. Einige Kinder haben darauf den Cybathlon besucht. «Da haben sie gesehen, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung im Leben stehen wie alle anderen auch.» Mit dem Rollstuhl Treppen steigen Der Anlass trage dazu bei, dass vermehrt alltagstaugliche Geräte entwickelt würden, fährt Verena Klamroth-Marganska fort. So etwa Rollstühle, die Treppen steigen könnten. Früher seien in erster Linie Sportgeräte vorangetrieben worden, die nur beschränkt einsetzbar seien. «Mit einer Hightechprothese kann man extrem weit springen. Man hat dann aber Mühe, den Weg aus dem Sta­dion zu bewältigen.» Die Nutzerfreundlichkeit müsse ebenfalls ver­bessert werden, so die Forscherin. Um zu befriedigenden Lösungen zu gelangen, müssten Entwicklungsteams interdisziplinär zusammengesetzt sein. Techniker, Anwender und Nutzer müssten sich austauschen.

VERENA KL AMROTHMARGANSK A ist stellvertretende Leiterin der Forschungs­ stelle Ergotherapie. Sie hat in Berlin Humanmedizin studiert. Als Ärztin war sie unter anderem in der Humangenetik und der Neuro­logie tätig. 2008 wechselte sie an die ETH Zürich, wo sie zehn Jahre lang am Labor für Senso­ motorische Systeme arbeitete und sich vor allem mit der roboterbasierten Neurorehabilitation nach Schlaganfällen beschäftigte. Im Juni 2018 trat sie ihre jetzige Stelle an der ZHAW an. Sie ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt in Thalwil.

«Ein Trainings­ roboter ermöglicht unzählige Wieder­ holungen.»

Therapeuten werden nicht überflüssig Der menschliche Kontakt lasse sich durch die Geräte nicht ersetzen, betont die ZHAW-Dozentin. Die therapeutische Fachperson werde weiter eine zentrale Rolle spielen. Sie beurteile jeden Fall individuell, plane die Behandlung und setze die Hilfsmittel ein. Sie überwache den Gesundheitszustand ihrer Klienten und sorge dafür, dass diese das virtuell Erlernte im Alltag umsetzen könnten. «Sie wird die

Neue Technologien als Ergänzung Verena Klamroth-Marganska versteht Robotik als zusätzliches Mittel, um die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten zu verbessern. Intelligente Maschinen könnten monotone oder körperlich strenge Arbeiten übernehmen, sagt sie. So etwa in der Logistik oder im Hausdienst von Spitälern und Heimen. Dem Personal bleibe dadurch mehr Zeit für die Betreuung. In der Psychotherapie böten sich ebenso Möglichkeiten. Klamroth-Marganska erzählt von Soldaten, die wegen einer post-

traumatischen Belastungsstörung in Behandlung waren. Einige, die sich davor niemandem anvertrauten, schilderten ihre Kriegserlebnisse künstlichen Therapeuten, so genannten Avataren. Mit einem humanoiden Roboter hatte Verena Klamroth-Marganska kürzlich in ihrer Freizeit zu tun. Sie schaute sich im Casinotheater Winterthur das Stück «Robocare» an, in dem «Pepper» als Alten­ pfleger eingesetzt wird. «Es thematisiert auf amüsante Art unsere Ideen, aber auch unsere Ängste bezüglich bevorstehender Entwicklungen», sagt sie. Es gebe zurecht strenge ethische und rechtliche Vorgaben. Übermässige Skepsis sei jedoch nicht angezeigt. «Wir haben es in der Hand, wie wir die intelligenten Maschinen nutzen.» //

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Die interprofessionelle Zusammenarbeit gewinnt im Gesundheitswesen immer mehr an Bedeutung. Insbesondere bei komplexen chronischen Krankheiten, die auf dem Vormarsch sind, soll sie die Ver­ sorgung verbessern, Doppelspurigkeiten vermeiden und Kosten senken. Für eine funktionierende Ko­ operation über Berufsgrenzen hinweg ist die Kommunikation zentral. Am Departement Gesundheit lernen die Studierenden deshalb schon früh in ihrer Ausbildung, sich mit anderen Berufsgruppen auf Augenhöhe auszutauschen, wie der Artikel ab Seite 13 zeigt.


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K O M M U N I K AT I O N IM GESUNDHEITS­ WESEN Den richtigen Ton treffen, nicht ins Fach­chinesisch verfallen, sachlich bleiben: Wohl jede Gesundheits­ fachperson kennt die Herausforderungen der zwischen­menschlichen Kommunikation. Doch so an­spruchsvoll der Dialog mit Patienten, Angehörigen und Arbeitskolleginnen ist, so zentral ist er in der täglichen Arbeit. Wie sich die Kommunikation gestalten lässt, um Missverständnisse oder Konflikte zu vermeiden, und wie sie mit Menschen funktioniert, deren kommunikative Fähigkeiten eingeschränkt sind, zeigen die folgenden Seiten.

Die Illustrationen zum Dossierthema zeigen verschiedene Ebenen und Kanäle der Kommuni­ kation im Gesundheitswesen.

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« KO M M U N I KAT I O N I ST W I C H T I G E R D E N N J E » Der Austausch zwischen Gesundheitsfachpersonen und Patienten ist ein zentraler Teil der Behandlung, sagt Sara Rubinelli, Professorin für Gesundheitskommunikation an der Universität Luzern. Ein Gespräch über aktives Zuhören, gemeinsame Entscheidungsfindung und darüber, wie Health Professionals den Einfluss von Dr. Google in Schach halten können. VON TOBIAS HÄNNI

Mit der Zunahme chronischer Krankheiten gewinne die Kommunikation im Gesundheitswesen noch mehr an Bedeutung, sagt Sara Rubinelli, Professorin für Gesundheitskommunikation an der Universität Luzern.

S ara Rubinelli, Sie sind Präsidentin des Internationalen Verbands für Kommunikation im Gesundheitswesen EACH. Weshalb braucht es diese Organisation? Wir versuchen, die Kommunikation im Gesundheitswesen zu verbessern. Da gibt es noch viel Potenzial. Über lange Zeit fand das Thema keine Beachtung. Es hiess dann: Wir sind in der Gesundheitsversorgung tätig, nicht in der Kommunika­ tion. Diese lief nebenbei ab, ohne dass sich jemand gross Ge­ danken darüber machte. Oft hing die Qualität der Kommuni­ kation von den Fähigkeiten der einzelnen Fachperson ab. Und heute? Inzwischen ist durch den noch jungen Wissenschaftszweig Gesundheitskommunikation belegt: Der Austausch zwischen 10

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Gesundheitsfachpersonen und Patienten ist ein wichtiger Teil der Behandlung. Wenn die Fachpersonen nicht richtig kommunizieren, kann sich das negativ auf die Patientin oder den Patienten auswirken. Diese Erkenntnis hat sich in den letzten Jahren auch in der Praxis durchgesetzt. Wird dem Thema heutzutage also genügend Aufmerksamkeit geschenkt? In der Schweiz würde ich sagen: ja. Hier setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass gute Gesundheitsfachleute auch gut kommunizieren können müssen. Und die Tatsache, dass es hier Professuren für Gesundheitskommunikation gibt, zeigt, dass auch Ressourcen zur Verfügung gestellt wer­ den, um das Thema besser zu erforschen. In Italien, meinem


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Heimatland, sieht das ganz anders aus: Da gibt es keine ein­ zige Professur in diesem Bereich.

nungen des Gesprächspartners zu akzeptieren und ernst zu nehmen.

Und wie sieht es in der Ausbildung von Gesundheitsfachpersonen in der Schweiz aus, erhält da die Kommunikation genug Gewicht? Insbesondere in Pflege und Medizin wird der Kommunika­ tion in der Ausbildung und im Studium inzwischen viel Be­ achtung geschenkt. Oftmals wird das Thema jedoch punktu­ ell und nicht systematisch unterrichtet – da gibt es Raum für Verbesserungen. Kommunikationsskills sollten während des gesamten Studiums vermittelt und gestärkt werden. Es wer­ den auch zahlreiche Weiterbildungen in diesem Bereich an­ geboten. Bloss: In einem ein- oder zwei­ wöchigen Kurs lernt man nicht, wie man kommuniziert. Das gilt besonders für die Kommunikation mit Patienten.

Und was sollte verhindert werden? Kommunikation von oben herab. Dazu gehört auch die fal­ sche Annahme, dass die menschliche Gesundheit ein Feld ist, bei dem einzig die Experten wissen, was richtig ist. Klar, sie haben das Fachwissen. Aber die Betroffenen haben die Krankheit, sie wissen also oft sehr genau, was es heisst, mit dieser zu leben. Die Erfahrungswelten von Gesundheitsfach­ person und Patient müssen deshalb zusammengeführt wer­ den, damit eine Lösung gefunden werden kann, die für beide stimmt.

«Die Kommunikation aller Beteiligten muss konsistent sein. Es darf keine Wider­ sprüche geben.»

Weshalb? Nehmen wir das Beispiel Palliative Care – ein sehr spezielles und heikles Setting. Patienten sind mit dem unumkehrbaren Zerfall ihrer Gesundheit konfrontiert. Die Kommunikation ist für die Unterstützung der Patienten und ihrer Angehörigen zentral, vor allem auch, damit diese ihre Bedürfnisse in dieser wichtigen Phase ihres Lebens ausdrü­ cken können. Das braucht viel Empathie und gute kommuni­ kative Fähigkeiten. Vielen Gesundheitsfachpersonen fällt dies schwer.

Wie hat sich die Kommunikation im Gesundheitswesen in den letzten Jahren verändert? Wie erwähnt, hat ihr Stellenwert in den vergangenen Jahren zugenommen. Mit gutem Grund, denn die heutigen Heraus­ forderungen im Gesundheitswesen sind mehr als noch frü­ her auch kommunikative Herausforderungen. Das liegt un­ ter anderem an der Zunahme chronischer Erkrankungen. Betroffene müssen diese zeitlebens managen – die Bezie­ hung zur Ärztin, zum Pfleger oder zur Therapeutin wird da­ mit viel wichtiger als bei akuten Erkrankungen. Um eine sol­ che Beziehung aufzubauen, braucht es jedoch Vertrauen – was wiederum eine funktionierende Kommunika­tion vor­aussetzt. Ausserdem wird mehr und mehr auf die gemeinsa­ me Entscheidungsfindung gesetzt; das ist heutzutage der Goldstandard: Health Professionals entscheiden nicht mehr im Alleingang, was die richtige Behandlung oder Therapie ist. Stattdessen tauschen sie sich mit dem Patienten über die bestehenden Optionen aus. Der Patient wird dann darin un­ terstützt, die Möglichkeiten gegeneinander abzuwägen und sich für eine zu entscheiden. Dies bedingt, dass er über ge­ nügend Wissen verfügt – die Fachperson muss ihm die ver­ schiedenen Optionen richtig vermitteln. Was sind die wichtigsten Kriterien, damit eine solche gemeinsame Entscheidungsfindung gelingt? Im Zentrum sollte das aktive Zuhören stehen. Das ist essen­ ziell, aber auch schwierig umzusetzen im hektischen Alltag, in dem es oft an Zeit mangelt. Dann braucht es eine klare und einfache Sprache und die Bereitschaft, abweichende Mei­

Im Austausch mit dem Patienten verändert sich also auch die Rolle der Gesundheitsfachpersonen? Weniger die Rolle selbst als deren Wahr­ nehmung. Health Professionals sind nach wie vor die Experten – sie verfügen über das Wissen und den Erfahrungsschatz auf ihrem Gebiet. Sie müssen allerdings damit rechnen, dass ihre Expertise hin­ terfragt wird. Vor 40 Jahren wäre dies noch keinem Patienten in den Sinn gekommen, heute ist das der Normalfall. Die Pa­ tienten sind besser informiert, viele wollen über die Diagnose und die Behandlungsoptionen diskutieren. Das liegt in erster Linie an der Fülle an Informationen, die im Internet zur Ver­ fügung steht. Häufig ist das Erste, was die Leute bei irgend­ welchen Symptomen tun: Google konsultieren. Das ist eine der grössten Herausforderungen und ein weiterer Grund, weshalb kommunikative Fähigkeiten in der Arbeit von Ge­ sundheitsfachpersonen heute wichtiger sind denn je. //

VERNETZEN, FORSCHEN, AUSBILDEN Die International Association for Communication in Healthcare (EACH) war zu Beginn eine rein europäische Organisation – worauf das «E» in ihrem Akronym hin­ weist. Der Verband hielt am eingängigen Brand fest, inzwischen hat er jedoch rund 600 Mitglieder weltweit. EACH engagiert sich in drei Bereichen für die Förderung und Verbesserung der Kommunikation im Gesundheits­ wesen, für die jeweils ein Komitee verantwortlich ist: die Vermittlung kommunikativer Kompetenzen in Kursen und Veranstaltungen (Komitee tEACH), die Förderung und Vernetzung von Forschenden in der Gesundheitskommu­ nikation (rEACH) sowie die Umsetzung wissenschaft­ licher Erkenntnisse in der Praxis und der Sensibilisierung von Öffentlichkeit, Politik und Ausbildungsstätten für die Thematik (pEACH). each.eu

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Weshalb? Wenn die Fachperson im Gespräch das Vorwissen, die Be­ fürchtungen und Erwartungen des Gegenübers ignoriert, kann das problematisch sein. Die verschwinden ja nicht ein­ fach aus dem Kopf des Patienten. Und wenn dieser dann nicht von wissenschaftlich fundierten Behandlungen über­ zeugt werden kann und im Internet nach fragwürdigen Alter­ nativen sucht, kann es gefährlich werden. Dr. Google unterminiert also das Vertrauen in Gesundheitsfachpersonen? Ja, wobei es auch hier wieder Unterschiede zwischen den Län­ dern gibt. In der Schweiz wird die Expertise von Fachperso­ nen noch geschätzt. In anderen Ländern haben Expertinnen und Wissenschaftler derzeit jedoch ganz allgemein einen schweren Stand. Das liegt auch daran, dass sie in der Öffentlichkeit zu wenig präsent sind, insbesondere in den sozialen Medien. Sie überlassen das Feld damit Quellen, hinter denen kom­ merzielle oder ideologische Interessen stecken. Beispielsweise Elterngruppen, die das Impfen verteufeln. Institutionen wie die World Health Organisation müssten deshalb mittels Kampagnen viel stärker mit der Bevölkerung kommunizieren, um evidenzbasiertes Wissen zu vermitteln und die Gesund­ heitskompetenzen der Menschen zu verbessern.

weise in Form eines Beratungsdienstes im Spital. Was zuneh­ mend ebenfalls gemacht wird, um insbesondere die Ärzte­ schaft zu entlasten: Die Pflege übernimmt den Grossteil der Kommunikation. Diese Form der Zusammenarbeit muss aber strukturiert sein. Dann ist die interprofessionelle Zusammenarbeit eine Möglichkeit, um der Kommunikation mit Patientinnen und Patienten mehr Raum zu geben und sie zu verbessern? Durchaus. Aber nur, wenn es in geordneten Bahnen verläuft. Die Kommunikation aller Beteiligten muss konsistent sein. Es darf keine Widersprüche geben zwischen dem, was eine Thera­peutin dem Patienten kommuniziert, und jenem, was ein Pfleger sagt.

«Es braucht zusätz­ liche Gefässe, die Beratung ohne Zeitdruck anbieten.»

Was sind die Kriterien, damit solche Gesundheitskampagnen in der Bevölkerung eine Wirkung erzielen? Auch hier gilt es wieder, nicht von oben herab zu kommuni­ zieren. Leider verfolgen viele Public-Health-Kampagnen ei­ nen Top-Down-Ansatz – das funktioniert nicht. Ebenso we­ nig wie die Abschreckung, beispielsweise mit Gruselbildern auf den Zigarettenpackungen. Der Effekt davon geht gegen null. Jeder weiss, dass Rauchen schädlich ist. Doch die Leute haben einen Grund, weshalb sie zur Zigarette greifen: Sie sind gestresst, tun es aus Gewohnheit. Hier muss man anset­ zen. Besonders vielversprechend sind Interventionen in klei­ nen Gruppen, in denen sich die Betroffenen gegenseitig un­ terstützen, ihr Verhalten zu ändern. Sie haben vorhin den Zeitdruck im Gesundheitswesen erwähnt. Wie können sich Gesundheitsfachpersonen trotzdem Zeit für einen ausreichenden Austausch mit ihren Patientinnen und Klienten nehmen? Die zeitliche Beschränkung einer Konsultation ist tatsächlich eine Hürde. Bei einer Grippe reichen 15 Minuten zwar aus, bei einer chronischen Krankheit wie Diabetes ist eine Beratung insbesondere am Anfang viel zeitintensiver. Das Problem ist strukturell bedingt – das Gesundheitswesen ist nach wie vor zu stark auf akute Gesundheitsprobleme ausgerichtet. Das passt nicht mit chronischen Erkrankungen zusammen. Und wie liesse sich dieses strukturelle Problem lösen? Dass sich eine Gesundheitsfachperson für jeden Patienten zwei Stunden Zeit nehmen kann, lässt sich nicht umsetzen. Es braucht deshalb zusätzliche Gefässe, die genau das anbie­ ten: Beratung und Unterstützung ohne Zeitdruck. Beispiels­ 12

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Die Zusammenarbeit zwischen Berufsgruppen birgt angesichts der Hier­archien und der verschiedenen Fachsprachen wohl das Risiko von Missverständnissen und Konflikten. Das ist menschlich und gibt es auch in­ nerhalb der Berufsgruppen. Auch meine Kollegen und ich geraten uns gelegentlich in die Haare – da­ bei wüssten wir es ja eigentlich besser. In der interprofessio­ nellen Zusammenarbeit ist es die Aufgabe des Manage­ ments, Konflikten vorzubeugen. Dazu braucht es Prozesse und Gefässe, in denen die Zusammenarbeit ermöglicht und strukturiert wird. Das Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil, wo ich als Forscherin tätig bin, ist ein gutes Beispiel für den interprofessionellen Austausch: Ärztinnen, Physiound Ergotherapeuten, Neurologinnen, Pflegefachpersonen und Psychologen arbeiten gemeinsam an einem Fall und tau­ schen sich dafür in regelmässigen gemeinsamen Meetings aus. Das Zentrum stellt den interprofessionellen Teams für den Austausch genügend Zeit zur Verfügung. // blog.zhaw.ch/vitamin-g

Sara Rubinelli studierte Klassik und Philosophie an der katholischen Universität in Mailand und hat einen Dok­ tortitel der Universität Leeds in den Bereichen Argu­menta­ tions­­theorie, Überzeugung und Rhetorik. Am Departement Gesundheits­wissen­schaften und Medizin der Universität Luzern ist sie Profes­sorin für Gesundheits­kommu­ni­ka­tion. Als Scientific Coordinator leitet sie am Schweizer Paraple­giker-Zentrum in Nottwil die Forschungsgruppe Personenzentrierte Gesundheits­ versorgung. Sara Rubinelli ist seit 2018 ausserdem Präsi­ dentin der International Association for Communication in Health­care (EACH).


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EINE GEMEINSAME S P R AC H E F I N D E N Konflikte mit Angehörigen, aggressive Klienten, Missverständnisse zwischen den Berufs­­gruppen: Kommunikative Herausforderungen lauern im Alltag von Health Professionals überall. Das A und O der Kommunikation wird in den Studiengängen am Departement Gesundheit deshalb schon ab dem ersten Semester unterrichtet. VON TOBIAS HÄNNI

«K

annst du mir beim Transfer des Patienten helfen?» – «Nein, ich muss jetzt Medikamente verteilen. Organisiere dich das nächste Mal besser.» – «Ja gut, dann mache ich’s halt alleine. Aber wenn etwas passiert, bist du schuld!» Ein Dialog, wie er in einem Spital oder einer Rehaklinik stattfinden könnte. Hier wird er allerdings in einem Unterrichtsraum am Departement Gesundheit geführt. Ein Rollenspiel, das zwei Studentinnen ihren Kommilitonen vorführen, als Beispiel einer missglückten interprofessionellen Kommunikation zwischen einer Pflegefachfrau und einer Physiotherapeutin. «Wir wollen, dass die Studierenden ihre Kommunikation reflektieren und analysieren lernen. Beispielsweise in dem sie ein Bewusstsein dafür entwickeln, aus welchen Ich-Zuständen sie kommunizieren», erklärt Dozentin Stephanie Rösner, die eines der Vertiefungsseminare zum interprofessionellen Modul «Grundlagen der Kommuni­ kation» leitet. In diesem eignen sich Studierende der Studiengänge Hebamme, Physio- und Ergotherapie sowie Pflege im ersten und zweiten Semester gemeinsam das kommunikative Rüstzeug für die Berufspraxis an. An diesem Nachmittag befassen sie sich in Gruppen mit der Transaktionsanalyse. Diese besagt im Kern, dass Menschen aus unterschiedlichen Ich-Zuständen kommunizieren: Beispielsweise aus dem trotzigen Kind-Ich, dem kritischen Eltern-Ich oder dem respektvollen Erwachsenen-Ich. Im erwähnten Rollenspiel kommuniziert die Pflegefachfrau auf der Ebene des trotzigen Kindes, die Physiotherapeutin im Stil kritischer Eltern. Die Gesprächspartner verharren in ihren Positionen, was in der Regel destruktiv und wenig zielführend wirkt. «Die Haltung in einer Kommunikation sollte zugewandt sein, damit sie auf Augenhöhe stattfinden kann», erklärt Stephanie Rösner den Studierenden. Das gelte für den inter- und intraprofessionellen Austausch genauso wie für das Gespräch mit Patienten, Klienten und Angehörigen. ZENTRAL BEI JEDER HANDLUNG

Damit dieser Austausch insbesondere auch mit den Patienten und Klienten nicht von oben herab stattfindet, wird den künftigen Gesundheitsfachpersonen eine klientenzentrierte Grundhaltung vermittelt. «Eine solche Haltung ist elemen-

tar, damit dem Klienten oder Patienten auf Augenhöhe begegnet und ihm eine Expertise zugestanden wird», sagt Brigitta Spiegel-Steinmann. Was wiederum die Basis ist für eine gemeinsame Entscheidungsfindung, die in der Ausbildung von Health Professionals seit einigen Jahren als Best Practice gilt: «Weg vom patriarchalen, hierarchischen System hin zur Aufklärung und Partizipation des Patienten, der die Lösung kennt und sie mitträgt», so Spiegel-Steinmann. Für die Fachverantwortliche des Themenstrangs «Kommunikation und interprofessionelle Zusammenarbeit» in den Bachelorstudiengängen ist klar: Kommunikation ist zentraler Bestandteil jeder professionellen Handlung im Gesundheitswesen. «Oder um es mit Watzlawick zu sagen: Man kann nicht nicht kommunizieren.» Carl Rogers, Paul Watzlawick, Schultz von Thun oder Eric Berne, der Begründer der Transaktionsanalyse, liefern mit ihren etablierten Kommunikationsmodellen und sozialpsychologischen Konzepten das theoretische Fundament des Moduls. Dazu kommen weitere Theorien, etwa zu Konfliktlösung, Kooperation, Gruppendynamik oder nonverbaler Kommunikation. «Wichtig ist, dass die Theo­rien wissenschaftlich fundiert und für alle Berufsgruppen kompatibel sind», so Brigitta Spiegel-Steinmann. E M PAT H I E , O F F E N H E I T, R E S P E K T

Die theoretischen Grundlagen des Moduls verinnerlichen die Studierenden in praxisorientierten Vertiefungsseminaren. Mit Hilfe von Fallbeispielen, Rollenspielen und Video-Analysen üben sie, zielführend zu kommunizieren. Ein zentrales Element der Übungen ist dabei laut Spiegel-Steinmann immer auch die kritische Reflexions­fähigkeit. Die angehenden Health Professionals sollen lernen, ihr Kommunika­ tionsverhalten theoriegeleitet zu reflektieren, Fehler zu erkennen und Verbesserungsmöglichkeiten abzuleiten. «Eine angemessene Kommunikation erfordert immer auch Reflexions- und Analyse­ fähigkeiten.» Zentral seien ausserdem Empathie und die Fähigkeit, andere Perspektiven einzunehmen. Das gilt nicht nur für die Kommunikation mit Patienten und Klienten, sondern auch für den Austausch mit anderen Berufsgruppen. «Offenheit und Respekt für andere Berufskulturen, Einfühlungsvermögen und Perspek­tivenübernahme sind wichtige Voraus­ setzungen, damit die interprofessionelle Kommunika­tion ge-

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Angeregte Diskussion im Vertiefungsseminar zum interprofessionellen Modul «Grundlagen der Kommunika­ tion»: Bachelorstudierende lernen schon früh in ihrer Ausbildung, über Berufs­ grenzen hinweg zu kommu­ nizieren.

lingt», sagt Spiegel-Steinmann. Im Modul «Grundlagen der Kommunikation» befassen sich die Studierenden zunächst mit alltäglichen, weniger komplexen Gesprächssituationen, die nahe an ihrem Ausbildungsstand und ihrer Lebenswelt sind. «Das kann ein Erstgespräch mit einem Patienten oder ein Feedbackgespräch mit der Praxisanleiterin sein», nennt Spiegel-Steinmann Beispiele. Später im Studium werden die Studierenden mit schwierigeren respektive komplexeren Situationen konfrontiert, wie in den Themenwochen «Beratung» oder «Krisen-Coping» des interprofessionellen Moduls «Her­ausfordernde Berufspraxis und Kooperation» im fünften Semester. «Mit Schauspielern wird dann etwa der Umgang mit Klienten geübt, die sehr belastet sind und daher entsprechend stark emotional reagieren. Oder die Gesprächsgestaltung bei Konflikten im Team.» Auch wenn sich die Studentinnen und Studenten mit praktischen Beispielen auf den Arbeitsalltag vorbereiten, «werden ihnen die kommunikativen Herausforderungen ihres Berufs erst mit zunehmendem Praxiskontakt bewusst», sagt Spiegel-Steinmann. Konflikte mit Angehörigen, die Ten­ denz, den Patienten mit Fachbegriffen und Ratschlägen zu bombardieren, starre Hierarchien, die einen interprofessionellen Austausch auf Augenhöhe verunmöglichen: «Kommunikative Stolpersteine lauern im Alltag überall.» I N T E R P R O F E S S I O N A L I TÄT I N S Z E N T R U M R Ü C K E N

Eine Revision der Curricula rückt die interprofessionelle Zusammenarbeit in den Bachelorstudiengängen ab nächstem Herbst noch stärker ins Zentrum. Im Themenstrang «Kommunikation und interprofessionelle Zusammenarbeit» werden entsprechende Themen ab dann in drei Modulen im zweiten, fünften und sechsten Semester aufgegriffen. Ausgebildet werden dabei diejenigen Kompetenzen, die für eine gelingende klientenzentrierte und interprofessionelle Kommunikation und Zusammenarbeit in der Praxis von Bedeutung sind. «Statt in Vorlesungen werden theoretische Inhalte 14

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neu ausschliesslich über E-Learning-Angebote vermittelt», erläutert Brigitta Spiegel-Steinmann. So könne im Unterricht mit Hilfe von Deeper-Learning-Methoden noch verstärkter mit-, von- und übereinander gelernt werden. Dabei sollen die Studierenden beispielsweise voneinander erfahren, wie in den jeweiligen Berufen Erstgespräche geführt werden, Gemeinsamkeiten und Unterschiede diskutieren und Schlussfolgerungen für die interprofessionelle Zusammenarbeit ziehen. «Ein Thema könnte etwa sein, wie verhindert werden kann, dass der Patient von mehreren Gesundheitsfachpersonen genau das Gleiche gefragt wird.» Des Weiteren werden die Studierenden laut Spiegel-Steinmann noch intensiver Fallbeispiele interprofessionell bearbeiten, dabei Empfehlungen gemeinsam ausarbeiten und diese dann der Patientin oder dem Klienten vermitteln. Entwickelt wurden und werden die Module unter Einbezug sämtlicher Bachelorstudiengänge. «Die Zusammenarbeit aller Professionen bei der Modulentwicklung ermöglicht es, interprofessionelle Zusammenarbeit unter den Lehrpersonen selber zu erfahren. Also genau das, was wir den Studierenden vermitteln wollen», sagt Brigitta Spiegel-Steinmann. Das Finden einer gemeinsamen Sprache habe sich auch hier – wie in der Praxis – als Herausforderung erwiesen. Als Folge wurde ein Leitfaden zur einheitlichen Verwendung der wichtigsten Begriffe erstellt. I N V E R S C H I E D E N E N R O L L E N KO M M U N I Z I E R E N

Zusätzlich zu den interprofessionellen Modulen werden in den meisten Studiengängen zusätzliche, berufsspezifische Kommunikationsskills vermittelt. So entwickeln Pflegestudierende die erworbenen Kommunikationskompetenzen bezogen auf pflegerelevante Situationen weiter, wie Sara Häusermann, Leiterin Entwicklung und Pädagogik des Bachelors Pflege, sagt. Dies geschieht im Verlauf des Studiums in unterschiedlichen Modulen. Im Modul «Psychia­trie» lernen die Studierenden beispielsweise, in schwierigen Situa­


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tionen in der Arbeit mit psychisch kranken Menschen zu kommunizieren: etwa bei Depressionen, Suizidalität oder verbaler Aggression. Im Modul «Pflegemanagement» werden unter anderem Peer-Feedback, Verhandlungstechniken und Gespräche über Fehler thematisiert. In Modulen wie «Kind, Jugendliche, Frau, Familie» oder «Pflege des alten Menschen» wiederum lernen die Studierenden die kommunikativen Herausforderungen im Umgang mit spezifischen Zielgruppen kennen. «Neben theoretischen Inputs im Plenum und Besprechungen in Kleingruppen kommen dabei praktische Übungssequenzen zum Einsatz», sagt Sara Häusermann. Im Bachelor Ergotherapie erweitern die Studierenden ihre Kommunikationsfähigkeiten im Hinblick auf verschiedene Settings in der Berufspraxis. «Je nach Setting nehmen Ergotherapeutinnen eine bestimmte Rolle ein – wobei sie auch unterschiedlich kommunizieren müssen», sagt Josef Adam, Mitglied des Leitungsteams. Dies könne etwa die Rolle einer Coachin, einer Koordinatorin oder einer Beraterin sein. Die Rollen werden in verschiedenen, praxisnahen Gefässen geübt. Dazu gehört das Skills-Labor mit Schauspielerinnen, echten Klienten und Rollenspielen. Aber auch Gruppensettings, in denen die Studierenden selbstständig ein Problem lösen müssen, kommen zum Einsatz. «In diesen Settings lernen die Studierenden zum Beispiel, ihre Meinung zu vertreten oder eine konstruktive Rückmeldung zu geben», erläutert Adam. Des Weiteren lernen die angehenden Ergotherapeutinnen und -therapeuten im Rahmen einer Projektarbeit, ergo­therapeutische Angebote bei Organisationen oder Unternehmen bekannter zu machen. «Dies erfordert eine adressatengerechte Kommunikation, damit die Botschaften

bei verschiedenen Zielgruppen wie Entscheidungsträgern, Sponsoren oder Klienten ankommen», sagt Adam. U M G A N G M I T K U LT U R E L L E N B E S O N D E R H E I T E N

Im Bachelor Hebamme ist Kommunikation in jedem Modul ein zentrales Element, wie Katrin Oberndörfer sagt. Besonderes Gewicht in der Ausbildung habe das Beratungsgespräch, so die Verantwortliche für das Modul «Ethik und Beratung». In diesem verinnerlichen und üben die angehenden Hebammen im dritten Semester die klientenzentrierte und lösungsorientierte Beratung. «Die Studentinnen sollen ihre Klientinnen zu einer partizipativen Entscheidungsfindung be­ fä­higen respektive für eine Verhaltensänderung motivieren», so Oberndörfer. Zu den Kompetenzen, die sie dafür erwerben, gehören unter anderem die Fähigkeit zum Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung, eine situativ angemessene und verständliche Sprache sowie methodisch-didaktische Hilfsmittel zur Vermittlung von Informationen. «Wichtig ist auch die transkulturelle Kompetenz. Die Studentinnen lernen, mit sprachlichen Barrieren und kulturellen Besonderheiten umzugehen.» Im sechsten Semester wenden die angehenden Hebammen die Theorie dann auf komplexe Situationen an. In Kleingruppen werden Beratungssitua­tionen geübt – beispielsweise in Rollenspielen oder mit Simulationsklientinnen. «Die Studentinnen werden mit herausfordernden Fällen konfrontiert», sagt Oberndörfer. Dies könne etwa der Fall einer Frau sein, die sehr gerne im Geburtshaus gebären möchte, bei der aber diverse Risiken bestehen, die das in Frage stellen. «Solche Situationen bergen Konfliktpotenzial und erfordern deshalb gute kommunika­tive Fähigkeiten.» // ­

«Ein zentrales Element ist immer auch die kritische Reflexionsfähigkeit.»

DEN BERUF IN DER ÖFFENTLICHKEIT VERTRETEN Auch in den Masterstudiengängen am Departement Gesundheit ist die Kommuni­ kation fester Bestandteil der Ausbildung. So belegen beispielsweise Masterstudie­ rende der Studiengänge Hebamme, Physiotherapie und Pflege gemeinsam das Modul «Kommunikation und Koordination», in dem sie sich die Kompetenzen für eine erweiterte Berufs­rolle (Advanced Practice) aneignen. Dabei lernen sie, sowohl intern als auch gegen aussen angemessen zu kommunizieren. Für die externe Kom­ munikation werden ihnen unter anderem Kompetenzen in der Medienarbeit, in Rhetorik und für öffentliche Auftritte vermit­ telt. «Die Studierenden lernen, so zu kom­ munizieren, dass sie in der Öffentlichkeit Gehör finden», sagt André Fringer, CoLeiter des MSc Pflege und Verantwortlicher

für den interprofessio­nellen Unterricht auf Masterstufe. Auch die Kommunikation mit der Öffentlichkeit bei Krisen und Konflikten werde thema­tisiert. Für die interne Kommu­ nikation lernen die Studierenden laut Fringer beispielsweise, wie mit kommuni­ kativen Mitteln ein Kulturwandel innerhalb einer Organisation unterstützt werden kann. Weitere Themen sind die Teamfüh­ rung und entsprechende Instrumente wie Coaching, Mentoring oder Supervision sowie der Umgang mit Macht und Gewalt und deren Niederschlag in der Sprache. Für Health Professionals, die ihre Kom­mu­nikationskompetenzen gezielt erweitern und vertiefen wollen, bietet das Departe­ ment Gesundheit ausserdem verschiedene Weiterbildungen an. So gibt es beispiels­

weise den Kurs «Coaching», in dem die Teilnehmenden lernen, ein strukturiertes Coaching-Gespräch zu führen, zu über­ prüfen und zu evaluieren. Der Kurs «Erfolg­ reich kommunizieren als Health Profes­ sionals» richtet sich an Ergo- und Physio­ therapeuten sowie Pflegefachpersonen, die wirkungsvoll und glaubwürdig auftre­ ten, ihre Sichtweisen adressatengerecht kommunizieren und überzeugend argumen­ tieren wollen. Für Hebammen gibt es unter anderen das Current Clinical Topic «Gesprächsführung in schwierigen Situa­ tionen». Für solche Situationen werden entsprechende Gesprächsstrategien auf­ gezeigt. Zudem reflektieren Teilnehmerin­ nen ihr kommunikatives Verhalten und lernen, Konflikte zu benennen und diese lösungsorientiert anzugehen.

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Wie können Kampagnen dazu beitragen, dass Herr und Frau Schweizer gesünder leben? Im Bachelor Gesundheitsförderung und Prävention am Departement Gesundheit lernen die Studentinnen und Studenten, Botschaften so zu vermitteln, dass diese bei der Zielgruppe ankommen, und was es darüber hinaus braucht, um Verhaltensänderungen zu bewirken. Was eine erfolgreiche Gesundheitskampagne ausmacht und welches kommunikative Rüstzeug den angehenden Gesundheitsförderinnen und -förderern dafür vermittelt wird, lesen Sie auf den folgenden Seiten.


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WIE M AN BOTSCHAFTEN UNTERS VOLK BRINGT Soll eine Gesundheitskampagne bei den Menschen ankommen, gelte es, komplexe Themen auf einfache Tipps herunterzubrechen, sagt Kerstin Jüngling, Dozentin im Studiengang Gesundheitsförderung und Prävention. Doch für eine erfolgreiche Kampagne braucht es noch diverse andere Massnahmen. VON ANDREA SÖLDI

E

s ist das Sinnbild für Entspannung schlechthin: eine Hängematte im Grünen. Die Sonne scheint und zwei Frauen sitzen sich sichtlich vertraut gegenüber. «Wir reden über alles. Auch über psychische Gesundheit und Krankheiten», so der Slogan auf dem Plakat. Die Kampagne «Wie geht’s dir?» wurde 2014 von mehreren Kantonen und Organisationen gemeinsam lanciert und läuft immer noch. «Mit der Kampagne wollen wir die gesamte Bevölkerung erreichen», sagt Norina Schwendener, Kommunikationsfachfrau bei der Stiftung Pro Mente Sana und Kampagnenleiterin. «Denn das Thema geht alle etwas an.» Gemäss einer breit angelegten Umfrage vom letzten Jahr hat jede zweite Person bereits eigene Erfahrungen mit psychischen Problemen gemacht; die meisten anderen Menschen kennen

Betroffene im näheren Umfeld. Arbeitsausfälle wegen Depressionen, Burnout-Zuständen, Angststörungen und anderen psychischen Erkrankungen nehmen dramatisch zu. Prävention sei deshalb dringend nötig, sagt Norina Schwendener. «Die Psyche kann man pflegen. Sich jemandem anzu­vertrauen, ist oft der erste Schritt zur Besserung oder um gar nicht erst krank zu werden.» Obwohl seelische Erkrankungen viel Leid und hohe Kosten verursachen, seien sie immer noch stark stigmatisiert, stellt Schwendener fest. «Es ist ziemlich normal geworden, über Themen wie körperliche Beschwerden oder Sexualität zu sprechen. Aber nicht darüber, wie wir uns fühlen. Nur über unseren Lohn sprechen wir noch weniger.» Auf der Kampagnen-Website erhalten Ratsuchende einfache Hilfestellungen. Sie erfahren zum Beispiel, wie man am besten

Rede über alles.

Auch über Einsamkeit, Verlust und Angst.

Gesprächstipps:

wie-gehts-dir.ch im Auftrag von:

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Knackiger Claim in Alltagssprache: Die Kampagne «Wie geht’s dir?» wird als gelungenes Beispiel im Unterricht des Studiengangs Gesundheitsförderung und Prävention herangezogen.

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mit einem Freund ein Gespräch über Belastungen beginnt oder eine Arbeitskollegin auf Burnout-Symptome anspricht. T I P P S I M S T I L VO N B AC K R E Z E P T E N

Kerstin Jüngling, Dozentin und Fachbereichsleiterin für Kommunikation und Transformation im Studiengang Gesundheitsförderung und Prävention, findet «Wie geht’s dir?» hervorragend gemacht. Ihr gefallen vor allem der kurze, knackige Claim, der in Alltagssprache daherkommt, sowie die Bilder, die zum Dialog einladen. Sehr gelungen findet sie zudem, wie eine komplexe Thematik auf gut verdauliche Häppchen heruntergebrochen wurde. «Die Tipps auf der Website sind im Stil von Backrezepten gehalten. Dies impliziert, dass es sich um etwas ganz Normales und Alltägliches handelt.» Die Kampagne wird im Studiengang Gesundheitsförderung und Prävention als Anschauungsbeispiel herangezogen. Als Kommunikationskanäle für «Wie geht’s dir?» dienen grossformatige Plakate, die an Bahnhöfen und anderen öffentlichen Orten zum Austausch motivieren. Neben den Frauen in der Hängematte gab es 2017 auch Bilder aus dem Arbeitsumfeld, von Vater und Sohn oder älteren Männern unter Obstbäumen. Die aktuellen Plakate stellen die Frage

«Wie geht’s dir?» gross in die wichtigsten Räume: Schule, Arbeitsplatz und Wohnzimmer. Beratungsstellen, Arztpraxen oder Firmen können nun auch Kleinplakate und Broschüren bestellen und zur ländlichen Bevölkerung gelangt die Botschaft über die Bildschirme in den Postautos. Um die Jugend besser zu erreichen, wollen die Verantwortlichen in einer nächsten Phase auch auf den sozialen Medien aktiv werden. Aber auch in den Bereichen Alter und Arbeitswelt sind weitere Anstrengungen vorgesehen. Für die gesamte Deutschschweiz steht dieses Jahr ein Budget von 1,25 Millionen Franken zur Verfügung. AKTIONEN MÜSSEN DIE BOTSCHAFTEN BEGLEITEN

Viele Gemeinden und Organisationen planen ergänzende Aktionen zur Förderung der psychischen Gesundheit. Die Verwaltung des Kantons Uri zum Beispiel stellt für ihre Angestellten ein Glücksrad auf, das nach dem Drehen zu ganz einfachen Aktionen auffordert: sich drei Dinge überlegen, für die man dankbar ist, ein Stück Schokolade geniessen oder die nächsten fünf Menschen, die einem begegnen, anlächeln. An Messen und Veranstaltungen werden entsprechende Tipps in Form eines Parcours vermittelt.

PRÄVENTION MIT EINEM AUGENZWINKERN Im Studiengang Gesundheitsförderung und Prävention ist Kommunikation in allen Formen das A und O. Wie erreicht man Männer, die ge­ fährdet sind, eine Glücksspielsucht zu entwickeln? Zum Beispiel mit Aufklebern über dem Pissoir, die auf eine entsprechende App hinweisen. Diese Idee präsentierten Studierende des Bachelorstudiengangs Gesundheits­ förderung und Prävention letztes Jahr der Zürcher Stiftung Radix. Im vierten Semester beschäftigen sie sich jeweils anhand von realen Projekten mit Kommunikationsmanagement und verfassen ein ganzheitliches Konzept für eine Kampagne.

gruppen Gesundheits­botschaften attraktiv und gut verständlich vermitteln können. Ein weiterer Ansatz ist, Lebensbedingungen zu schaffen, die gesunden Verhaltensweisen förderlich sind. So lernen die Studierenden im Modul öffentliche Kommunikation bereits zu Beginn die wichtigsten Kommunikations­ modelle und theoretischen Hintergründe kennen. Weiter üben sie in Schreibwerkstätten, unter Anleitung von Journalisten, Medienmitteilungen zu verfassen oder Faltbroschüren zu gestalten.

Sicher auftreten und sensibel auf Menschen zugehen Neben dem schriftlichen Bereich spielt auch die mündliche Kommunikation eine wichtige Rolle. Die angehenden Gesundheitsförderinnen und -fördeDas Thema Kommunikation mit all seinen Facetten zieht sich wie ein roter rer müssen ihre Ideen gegenüber Medienschaffenden, Behörden, Stiftungen Faden durch das ganze Studium hindurch. Denn für angehende Präventions- und anderen potenziellen Geldgebern erklären und diese überzeugen können. fachleute sind ausgezeichnete kommuAn der ZHAW üben sie dies im Rahnikative Fähig­keiten auf allen Ebenen men von Auftritts­trainings, bei denen fundamental. Sie müssen ihren Ziel­ 18

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Schauspielerinnen und Schauspieler als Sparringpartner im Einsatz sind. Zur Gesundheitsförderung gehören aber nicht nur grosse mediale Kampagnen für die breite Bevölkerung, sondern auch Botschaften, die auf eine eng definierte Zielgruppe zugeschnitten sind und hauptsächlich von Angesicht zu Angesicht übermittelt werden. Im Modul interperso­nale Kommunikation geht es deshalb auch um den Umgang mit Widerständen und Konflikten sowie um die Begegnung mit Menschen aus anderen Kulturen. Die Stu­dierenden eignen sich Techniken anhand von Rollenspielen und unter Einsatz von Filmkameras an. «Sie lernen, ihre Botschaften auf klare, aber sensible Art herüberzubringen», erklärt Kerstin Jüngling, Fach­bereichsleiterin für Kommunikation und Transformation des Studiengangs. Nicht zielführend sei dagegen ein bevormundendes oder predigendes Auftreten. Die Pissoir-Aufkleber zur Glücksspiel-App seien ein gelungenes Beispiel: «Hilfreich sind Kreativität und ein Schuss Humor.»


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Die breite Vernetzung mit diversen Trägerschaften ermögliche eine Tiefenwirkung, sagt Kerstin Jüngling. Denn neben den verbalen Botschaften brauche es stets auch begleitende Aktionen. «Es gilt, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen zu verbessern, besonders für benachteiligte Bevölkerungsgruppen.» Die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz unterstützt begleitende Projekte zur Resilienzförderung finanziell. Dazu gehören zum Beispiel Netz­werke für Nachbarschaftshilfe oder Besuchsdienste in Spitälern und Altersinstitutionen. «Von solchen Ansätzen pro­fi­ tieren beide Seiten», erklärt Jüngling. Die Hilfeempfänger erhalten Zuwendung und die Helfenden erfahren sich selber als wirksam. Aktiv und eingebunden sein senke das Risiko für Einsamkeits- und Entwertungsgefühle. « O H N E D I N G S K E I N B U M S » WA R U M S T R I T T E N – U N D P R ÄG T E S I C H E I N

Ein Paradebeispiel für erfolgreiche Präventionsarbeit ist auch die Stop-Aids-Kampagne des Bundes. Als Mitte der 1980er-­ Jahre das Schreckgespenst Aids umging, galt es schnell zu handeln und klar zu kommunizieren. Obwohl Sexualität, Homosexualität und Drogenmissbrauch damals noch Tabuthemen waren, kam die Schweizer Kampagne in einem direkten und frechen Stil daher: Das Bild von Tagesschau-Sprecher Charles Clerc, der ein Kondom über eine Banane stülpt, der griffige Slogan «Ohne Dings kein Bums» oder der PoloHofer-Ohrwurm «Bim Sitesprung im Minimum en Gummi drum» prägten sich ein. Die Neuansteckungen mit dem HI-Virus gingen in der Schweiz darauf über Jahre zurück. Die Kampagne stiess auch international auf grosse Beachtung – in konservativen Kreisen aber auch auf Empörung und Kritik. Seit der Lancierung im Jahr 1987 wurde das Public-Health-Programm stetig den gesellschaftlichen und medizinischen Entwicklungen angepasst. Seit 2005 läuft es unter dem Namen LOVE LIFE und thematisiert neben HIV auch andere Geschlechtskrankheiten. Ganz andere Kommunikationstechniken und -kanäle kommen zum Zug, wenn man eine stark eingegrenzte Zielgruppe ansprechen will. Ein Beispiel dafür ist die Sensibilisierung von rauchenden Eltern im Umgang mit Kindern. «Bereits kleine Nikotinresten können für Babys gefährlich sein», erklärt Kerstin Jüngling. Deshalb müsse man die Eltern darüber informieren, dass sie sich vor dem Kontakt mit ihrem Kind unbedingt die Hände waschen. Bei diesem Thema zählen die Fachleute vor allem auf die Mütter- und Väterberatungen, um gezielt betroffene Eltern anzusprechen.

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Paradebeispiel erfolgreicher Präventionsarbeit: Die «Stop Aids»-Kampagne, die der Bund 1987 lancierte.

nau zu messen. Dies gilt noch mehr für Kampagnen mit wenig konkreten Handlungsanweisungen. Während für die Aids-Prävention die Verwendung von Kondomen ausschlaggebend ist, spielen bei der psychischen Gesundheit zahlreiche Faktoren eine Rolle. Um Hinweise auf den Bekanntheitsgrad und die Beachtung zu erhalten, haben die Verantwortlichen von «Wie geht’s dir?» dieses Jahr rund 1000 Personen befragt. Etwa jede fünfte davon gab an, die Plakate gesehen zu haben. 80 Prozent sagten, die Kampagne rege zum Nachdenken über psychische Probleme an. Mit jährlich weit über 200 000 Klicks auf die Website seien die Erwartungen zudem übertroffen worden, so Kampagnenleiterin Norina Schwendener. Kerstin Jüngling findet die Frage nach der Wirkung von Prävention etwas müssig. Die Dozentin unterrichtet seit 2018 an der ZHAW und hat zuvor viele Jahre Erfahrung in der Präventionsarbeit gesammelt; unter anderem hat sie eine Suchtpräventionsstelle in Berlin aufgebaut. Niemand stelle den Nutzen des Zähneputzens infrage, obwohl es kaum wissenschaftliche Studien dazu gebe, zieht Jüngling einen Vergleich. Trotzdem werde die Mundhygiene weiterhin überall empfohlen. Information über gesunde Ernährung und Vermeiden von Risiken sei vor allem für benachteiligte und wenig gebildete Bevölkerungsgruppen nötig, betont sie. «Es geht um Chancengleichheit.» Und auch wenn man den Effekt nicht genau messen könne, koste Prävention nachweislich weniger als die Behandlung der Krankheiten, die sie verhindert. //

«Die breite Vernetzung mit diversen Träger­ schaften ermöglicht eine Tiefenwirkung.»

C H A N C E N F Ü R B E N AC H T E I L I G T E MENSCHEN VERBESSERN

Doch können solche Informationskampagnen das Verhalten der Menschen überhaupt beeinflussen? Freiheitlich denkende Politiker zweifeln dies häufig an. Sie nehmen die Bemühungen als Bevormundung wahr und halten die Kosten für zu hoch. Tatsächlich ist es meist unmöglich, die Wirkung ge-

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I N   K L E I N ST E N  SCHRITTEN ZUR INTERAKTION Einen Kaffee bestellen, ein Treffen vereinbaren oder jemanden bitten, zur Seite zu gehen: Sich verbal und nonverbal auszutauschen, löst bei Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung Unsicherheit aus. Ergotherapie unterstützt sie dabei, solch alltägliche Situationen zu meistern. VON EVELINE RUTZ

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bei der Nahrungsaufnahme weniwanzig Minuten, bevor der Unterricht beginnt, steht Feger an. Sie zeigen auf den Ruf ihres Namens lange keine Reaktion und lix jeweils vor dem Schulzimschaffen es mit neun Monaten mer. Jeden Morgen. Doch er nicht, ihre Bedürfnisse nonverbal schafft es nicht, pünktlich hineinzugemitzuteilen. «Sie sind vorwiegend hen und sich an seinen Platz zu setzen. mit sich selbst beschäftigt», sagt Anderes interessiert ihn mehr. Auch in Beate Krieger, die am Departeden Schulstunden hat der Neunjährige ment Gesundheit im BachelorstuSchwierigkeiten. Fordert ihn die Lehrdiengang Ergotherapie unterrichperson auf, eine Aufgabe zu lösen, dautet. Selbstgenügsame Kinder verert es eine halbe Stunde, bis er damit halten sich ent­ sprechend still, beginnt. Kündigt die Klingel später die andere weinen viel. Pause an, arbeitet er unbeirrt weiter. Menschen mit einer Autis«Es fällt ihm schwer, sich schnell auf mus-Spektrum-Störung sind in ihneue Situationen einzustellen und seirer Sprachentwicklung beeinträchne Handlungen vorrausschauend zu tigt, was sich variantenreich zeigt. planen», sagt seine Ergotherapeutin So kann es sein, dass sie über keine Beate Krieger. In einer Gruppe etwas expressive Sprache verfügen, nur zu erarbeiten, überfordere ihn. Lautäusserungen von sich geben Menschen wie Felix, die eine Autisoder keine Fragen stellen können. mus-Spektrum-Störung (ASS) haben, Ihr Sprachverständnis kann ebengeben ihrem Umfeld oft Rätsel auf. Sie scheinen nicht wahrzunehmen, was um Ergotheraputin Beate Krieger bringt ihre jungen falls betroffen sein. Manche Kinder verstehen den Unterschied zwisie herum sozial geschieht. Ihre GeKlienten spielerisch dazu, zu kommunizieren. schen «ich» und «du» nicht, könsichtszüge sind maskenhaft, sie reagienen einer Sprachmelodie nichts entnehmen oder haben eine ren wenig auf Kontaktsignale und wirken isoliert. «Die soziakurze auditive Aufmerksamkeitspanne. le Kommunikationsstörung ist eines der Hauptsymptome eiAngehörige leiden darunter, dass ihre Kommunikatiner ASS», sagt Krieger, die sich auf die Entwicklungsstörung onsbemühungen nicht erwidert werden. «Viele Eltern glauspezialisiert hat. Häufig verstünden Betroffene nicht, wie ein ben, etwas falsch zu machen, und haben ein schlechtes Dialog ablaufe. Sie hätten neurophysiologisch bedingt Mühe, die Mimik und Gestik anderer zu deuten sowie deren Emo­ Gewissen», sagt die Autismus-Expertin. Die Diagnostik bei Kindern unter zwei Jahren sei leider noch mangelhaft. tionen wahrzunehmen. «Sie schauen anderen nicht direkt in Häufig würden besorgte Bezugspersonen dazu angehalten, die Augen, weil es ihnen keine Informa­tionen vermittelt.» die weitere Entwicklung abzuwarten. Dadurch verstreiche wertvolle Zeit. «Wenn Menschen mit ASS allein gelassen B A BYS R E AG I E R E N N I C H T AU F I H R E N N A M E N werden, ziehen sie sich noch stärker in für sie sichere BeSolche Auffälligkeiten lassen sich bereits im Säuglingsalter reiche zurück. Sie verhalten sich repetitiv und lernen nichts beobachten. Kinder mit Autismus blicken ihre Eltern etwa Neues dazu.»

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«Es ist faszinierend, zu erleben, wie sich ein Mensch öffnet, der so stark in sich gekehrt ist.»

«ES IST WIE EIN SONNENSCHEIN»

Beate Krieger ist sich gewohnt, dass sie in der Therapie von ihren Schützlingen erst einmal ignoriert wird. Sie versucht, diese über ihre Spezialinteressen anzusprechen, oder sie bringt sie in ihrer Praxis in Stäfa in eine Situation, in der sie nicht darum herumkommen, zu kommunizieren. Dies tut sie spielerisch. So etwa bei Samuel, der kürzlich mit blauen Magneten eine Reihe legte. Als sie das Gleiche tat, reagierte er nicht. Auch mit einer Linie und einem Dreieck bewirkte sie keine Reaktion. Erst als sie begann, die Magnete wegzuräumen, protestierte der Fünfjährige. «In diesem Moment war er quasi von mir abhängig», erzählt die Therapeutin, «da hat er mich wahrgenommen». Es entstand ein gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus. Danach spielten die beiden Federball. Beate Krieger schlug allerdings nur auf, wenn ihr der Junge ein Zeichen gab. Langsam entwickelte sich eine Interaktion. Solch kleine Fortschritte bejubelt die Ergotherapeutin lautstark. Nur so kommt das Lob an. Die seltenen Momente der Begegnung haben für sie eine besondere Qualität. «Es ist faszinierend, zu erleben, wie sich ein Mensch öffnet, der so stark in sich gekehrt ist. Dieses Strahlen – es ist wie ein Sonnenschein.» So lange es dauert, bis ein Austausch zustande kommt, so rasch kann er wieder abbrechen. Etwas Unvorhergesehenes, zu viel Druck – und ein Kind mit Autismus zieht sich wieder zurück. Es zeigt stereotype Bewegungen oder sucht Ruhe, indem es auf etwas regelmässig Strukturiertes schaut. Samuel hält sich jeweils einen blauen Ballon vors Gesicht. AU F D E N A L LTAG F O K U S S I E R T

Beate Krieger versteht sich als Teil des sozialen Umfeldes ihrer Klienten. Sie tauscht sich regelmässig mit Eltern, Lehrpersonen, Heilpädagogen, Lehrmeistern sowie Arbeitgebern aus. «Welche Disziplin was macht, ist nicht klar abgegrenzt», sagt sie. Alle therapeutischen Massnahmen zielten darauf ab, dass das Gelernte in andere Lebensbereiche und auf an-

In der Therapie schafft Beate Krieger Situationen, in denen Kinder und Jugendliche mit einer Autismus-Spektrum-Störung nicht darum herumkommen, mit ihr zu interagieren.

dere Menschen übertragen werden könne. Die Ergotherapeutin fokussiert auf Alltagshandlungen. Sie arbeitet daher nicht ausschliesslich in den Praxisräumen in Stäfa. Sie besucht ihre Schützlinge zu Hause oder ist mit ihnen im öffentlichen Raum unterwegs. Mit einem Jugendlichen übt sie gerade, via Sprachnachrichten etwas abzumachen. «Er schreibt kein Wort zu viel», erzählt sie. Fragt sie nach einem möglichen Treffpunkt, sendet er einen Link. Stellt sie ihm zwei Fragen, antwortet er nur auf die erste. Mit dem 18-Jährigen trifft sie sich in wechselnden Cafés. Er soll lernen, sich an einem neuen Ort zurechtzufinden. «Der öffentliche Raum birgt viel Unerwartetes und Unstrukturiertes», sagt die ZHAW-Dozentin. Menschen mit ASS werden mit sozialen Erwartungen konfrontiert, die sie nicht verstehen. Hinzu kommen sensorische Eindrücke und ein Zeitdruck, der für sie belastend ist. Entsprechend selten bewegen sie sich ausserhalb der Schule und der Familie, was

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ihre soziale und berufliche Entwicklung massiv beeinträchtigt. «Wenn schon der Arbeitsweg so belastend ist, dass er kaum bewerkstelligt werden kann, wie kann sich dann ein Mensch noch auf neue Situationen am Arbeitsplatz einlassen?», fragt Krieger, die im Rahmen ihrer Doktorarbeit untersucht, wie Partizipationserfahrungen von Jugend­ lichen mit ASS im öffentlichen Raum gelingen. In einer ersten Phase geht es darum, die Umwelt so zu gestalten, dass sich die Betroffenen trauen, an Aktivitäten teilzuhaben. In einer zweiten sollen sie durch die soziale Umwelt so eingebunden werden, dass sie mit ihr interagieren können.

nächsten etwa, braucht es ihrer Ansicht nach Kontinuität. «Dann können sich mit unzähligen kleinen Schritten Lernerfolge einstellen.» Als Co-Leiterin einer Studie für das Bundes­amt für Sozialversicherung hat sie nachgewiesen, dass es sich lohnt, frühkindlichen Autismus möglichst früh und intensiv zu behandeln. Mit 25 Stunden pro Woche über zwei Jahre lassen sich massive Verbesserungen erzielen. Der spätere pädagogische Aufwand und die volkswirtschaftlichen Folgekosten reduzieren sich. «Leider fehlt es in der Schweiz noch an genügend adäquaten Angeboten», stellt Krieger fest. Wie entscheidend kommunikative Fähigkeiten sind, sieht die Ergotherapeutin in ihrem Praxisalltag. Lernt ein Kind mit einer Autismus-SpektrumStörung, sich verbal und nonverbal besser auszudrücken, wird es von seinem Umfeld anders wahrgenommen. «Seine Stärken werden eher gesehen.» //

«Kann sich ein Kind mit einer ASS besser ausdrücken, werden seine Stärken eher gesehen.»

V E R B E S S E R U N G E N B R AU C H E N Z E I T

Beate Krieger betreut ihre Klienten meist über Jahre. Gerade bei Übergängen, beim Wechsel von einer Schulstufe zur

ROBOTER KÖNNEN DIE KLASSISCHE THERAPIE ERGÄNZEN

Roboter reagieren vorhersehbarer als Menschen – was Menschen mit Autismus entgegenkommt.

E rmöglichen Roboter neue Zugänge zu Kindern, die eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) haben? Gelingt es interaktiven Maschinen, ihnen Gesten zu vermitteln, die im sozialen Austausch wichtig sind? Diese Fragen haben Jan Albisser und Julia Kolb in ihrer Bachelor­arbeit untersucht. S tudien aus dem asiatischen Raum dokumentieren, dass in einer robotergeführten Therapie signifikante Fortschritte erzielt werden können. ASS-Betroffene lernen Gesten besser zu erkennen, zu imitieren und selbst zu produzieren. «Robo22

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ter haben grosses Potenzial. Sie ermöglichen einen neuen Kommunikationskanal», sagen Jan Albisser und Julia Korb, die im Sommer ihr Ergothrapie-Studium am Departement Gesundheit abgeschlossen haben. Ob intelligente Maschinen mehr bewirken können als menschliche Therapeuten, ist allerdings fraglich. Das einzige Forschungsprojekt, das beide Arten von Vermittlern einbezog, stellte jedenfalls keine signifikanten Unterschiede fest. «Es scheint, dass eine klare Struktur der Therapie grundlegend ist und diese durch die Programmierfunktion bei Robotern besser gegeben ist», so die Autoren. Ein künstlicher Therapeut reagiere zudem vorhersehbarer als ein Mensch, was Kindern mit ASS entgegenkomme. Sie suchten zu ihm eher Augenkontakt. Es brauche dazu aber weitere Studien, sagen Jan Albisser und Julia Kolb. «Zusätzliche Direktvergleiche könnten Klarheit schaffen.» Kaum erforscht sei auch, ob das Gelernte im Alltag umgesetzt werden könne. Einsatz neuer Technologien muss gut überwacht werden Die Verfasser weisen auf die Gefahr hin, dass Kinder zu Robotern starke psychologische und emotionale Bindungen entwickeln können. ASS-Betroffene seinen dafür besonders anfällig, da sie dazu neigten, exzessive Beziehungen zu Objekten zu bilden. Der Einsatz neuer Technologien müsse deshalb gut überwacht werden, folgern sie. «Der Roboter ist ein Mittel, das die Therapie unterstützen kann. Er ersetzt aber auf keinen Fall einen Therapeuten oder eine Therapeutin.»


Der technologische Fortschritt verändert die Art und Weise, wie und über welche Kanäle wir kommuni­ zieren – auch im Gesundheitswesen. Robotik, künstliche Intelligenz und Digitalisierung haben ein grosses Potenzial, die Kommunikation zu vereinfachen und zu verbessern, stellen Gesundheitsfach­ personen aber auch vor ganz neue Heraus­forderungen. Wie beispielsweise Roboter in der Therapie von Kindern mit einer Autismus-Spektrum-Störung eingesetzt werden können und welche Risiken damit einhergehen, zeigt der Artikel auf der gegenüberliegenden Seite.


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FÜR EINE BESSERE VERSTÄNDIGUNG MIT ASYL­S UCHENDEN FR AUEN Die beiden Hebamme-Studentinnen Patricia Frei und Lynn Huber haben in ihrer Bachelorarbeit das «Midwife Refugee Kit» entwickelt: Ein E-Learning-Konzept zur Weiter­ bildung von Hebammen mit dem Ziel, die Betreuung von asylsuchenden Frauen zu erleichtern und zu verbessern. Transkulturelle Kompetenz, Sprache und Verständigung sind dabei zentrale Themen. VON MARION LOHER

Lynn Huber (links) und Patricia Frei geben mit dem «Midwife Refugee Kit» Hebammen praktische Tipps für die Arbeit mit asylsuchenden Frauen an die Hand.

F

ür Patricia Frei und Lynn Huber ist ihre Bachelorarbeit mehr als nur der obligate Abschluss des theoretischen Studiums: Sie ist eine Herzensangelegenheit. Die Leidenschaft ist spürbar, wenn die beiden angehenden Hebammen über ihre Arbeit sprechen. Dabei geht es um die Situation und die gesundheitliche Versorgung von asylsuchenden Frauen, die schwanger sind oder eben erst geboren haben. Oft sind sie von fehlenden Rückzugsmöglichkeiten, von Diskriminierung, einer ungewissen Zukunft oder sogar Übergriffen betroffen. Mögliche Gewalterfahrun-

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gen auf der Flucht oder im Heimatland machen diese Frauen zu einer besonders verletzlichen Bevölkerungsgruppe. «Ihre Gesundheitsdaten sind deutlich schlechter als die der einheimischen weiblichen Bevölkerung», sagt die 32-jährige Patricia Frei. «Das heisst, sie und ihre Babys haben mehr Probleme bei der Geburt und im Wochenbett», fügt die 28-jährige Lynn Huber an. Gründe hierfür fanden die beiden in früheren Studien; konkrete Verbesserungsvorschläge insbesondere für das Gesundheitspersonal wurden bislang aber nur wenig ausformuliert. Das wollten sie ändern und fokussierten


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dabei auf ihre Berufsgruppe. «Wir sehen es als Chance für die Hebamme, sich für asylsuchende Frauen einzusetzen und ihnen Zugang zu einer guten Versorgung zu ermöglichen, damit ein besserer Verlauf der Schwangerschaft, Geburt und Wochenbettzeit erzielt werden kann.» Eine zen­trale Rolle spielt der holistische Ansatz, der die gesundheitlichen, kulturellen und sozialen Bedürfnisse der Frau berücksichtigt. Hier setzten die jungen Frauen an. Sie entwickelten ein E-Learning-Konzept zur Weiterbildung von Hebammen mit dem Ziel, deren Arbeitsweise und Kompetenzen in der Betreuung von asylsuchenden Frauen positiv zu beeinflussen, um langfristig deren reproduktive Gesundheit und die ihrer Familien zu verbessern. Für ihre Bachelorarbeit «Midwife Refugee Kit» bekamen Patricia Frei und Lynn Huber die Bestnote. Zudem erreichten sie den zweiten Platz der ZHAW-Start-up-Challenge und durften ihr Projekt am «Prix de Jeune Entrepreneur» in der französischen Botschaft in Bern präsentieren.

ermittelt und in eine globale sowie in eine Mikro- und Ma­ kroebene eingeordnet. «In der Hebammenbetreuung gilt es zwar weitgehend als zentral, die Frau als Individuum ins Zentrum zu stellen», sagt Lynn Huber. «Trotzdem zeigen sich in der Umsetzung Schwierigkeiten.» Dies habe zur Folge, dass in der Betreuung von asylsuchenden Frauen vor allem auf die medizinischen Bedürfnisse eingegangen und den individuellen, kulturellen oder sozialen Aspekten zu wenig Gewicht gegeben werde. Wichtig sei hier die transkulturelle Kompetenz, die ein zentraler Aspekt des E-Learning-Konzepts sei. «Eine gute Beziehung ist wichtig, um individuelle Erfahrungen nachvollziehen zu können», so Patricia Frei. Hebammen müssen für die dynamische Kultur des Gegenübers offen sein. Dabei reiche es aber nicht, Kulturen als einzelne Einheiten mit klaren Verhaltensregeln und Moralvorstellungen zu verstehen, sagt Lynn Huber. «Unterschiede und Gemeinsamkeiten sollten immer in einem komplexen und individuellen Zusammenhang angeschaut werden.» In ihrer Arbeit haben die Studentinnen nebst verschiedenen Tools auch praktische Tipps aufgelistet, wie die transkulturelle Kompetenz auf allen drei Ebenen erweitert und ein besseres Verständnis für das Gegenüber geschaffen werden kann. So heisst es beispielsweise ganz konkret, die Hebamme solle Hochdeutsch sprechen, Fragen stellen und sich nicht vor dem Fremden fürchten. Weiter empfehlen sie, das Wissen der Dolmetschenden über soziokulturelle und mi­ grationsspezifische Kontextfaktoren zu nutzen, das Vorgehen der Geburt mit der Asylsuchenden zu besprechen und sie mitbestimmen zu lassen sowie den Partner und die Familie schon früh mit in die Gespräche einzubeziehen.

«Ihre Gesundheits­ daten sind deutlich schlechter als die der einheimischen weib­ lichen Bevölkerung.»

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Den Input zu ihrer Arbeit haben sie durch ihre ehrenamtlichen Besuche in einem Asylzentrum bekommen. «Während des Studiums haben wir zusammen mit Hebammen, Gynäkologinnen und Studierenden eine Gruppe aufgebaut, die regelmässig Kurse zu Geburt, Schwangerschaft und Frauengesundheit in Asylzentren gibt», erzählt Patricia Frei. «Dabei erhielten wir einen vertieften Einblick in die problematische Situation der schwangeren asylsuchenden Frauen in der Schweiz.» Diese Problematik liess die beiden nicht mehr los. Sie arbeiteten sich durch die Literatur der gesundheitlichen Ergebnisse in der sogenannten peripartalen Zeit von asylsuchenden Frauen, also in der Zeit rund um Schwangerschaft und Geburt. Sie betrachteten das Gesundheitssystem, nahmen die Asylverfahren der Schweiz unter die Lupe und untersuchten die Bedürfnisse asylsuchender Frauen sowie die Situation der Hebammen. «Die Ursache für die schlechteren Gesundheitsdaten wird in den Studien einer Unterversorgung zugeschrieben», sagt die studierte Ethnologin Lynn Huber. Diese komme aber nicht nur durch den schlechteren Zugang zur Gesundheitsversorgung zustande. Es spielten auch sprachliche und bürokratische Hürden, Rassismus sowie mangelndes kulturspezifisches Wissen auf Seiten der Asylsuchenden und des Gesundheitspersonals eine wichtige Rolle sowie zu wenig Sensibilisierung für Frauen mit Gewalt- und traumatischen Erlebnissen. «Hebammen sind an der Versorgung der gesamten peripartalen Phase von asylsuchenden Frauen bisher nur marginal beteiligt», sagt Patricia Frei, die vor dem Hebammen-Studium einen Bachelor in Filmregie an der Zürcher Hochschule der Künste gemacht hat. T R A N S K U LT U R E L L E KO M P E T E N Z E R W E I T E R N

Diese Bestandsaufnahme bildete die Ausgangslage für das E-Learning-Konzept. Aus den Defiziten wurden Bedürfnisse

A R B E I T S O L L K E I N PA P I E RT I G E R W E R D E N

Mit der Bachelorarbeit ist das Thema für Patricia Frei und Lynn Huber nicht erledigt. Im Gegenteil. Das E-LearningKonzept soll kein Papiertiger werden. «Wir wollen als Erstes einen Prototyp zum Testlauf entwickeln. Dafür haben wir einen Verein gegründet. Nun erstellen wir eine Homepage und erarbeiten einen Businessplan. Nach der Evaluation soll das eigentliche E-Learning konzipiert, realisiert und vermarktet werden.» Unterstützt werden sie von der ZHAWStart-up-Förderung, die ihnen einen Coach zur Seite stellt. Es gibt viel zu tun, auch weil die beiden soeben ihr letztes Praktikumsjahr begonnen haben. Trotzdem: Ihr Herzensprojekt werden sie weiter vorantreiben. «Die Arbeit hat uns gezeigt, dass Hebammen durch die transkulturelle Sensibilisierung einen wichtigen Anstoss geben können, um nicht zuletzt auch Veränderungen in Politik und Gesundheitswesen voranzustossen.» //

Weitere Infos unter onedu.org

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ST I L L E S ST U D I U M Laura Setz ist gehörlos. Dies hält die 27-Jährige allerdings nicht davon ab, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Sie studiert im dritten Semester Physiotherapie. «Es ist für mich und für die Hochschule eine grosse Herausforderung», sagt sie. VON MARION LOHER

Der Praxisunterricht erfordert von Laura Setz vollste Konzentration. Reicht das Lippenlesen nicht aus, übersetzt ein Gebärdensprachdolmetscher, was Dozierende oder Mitstudierende sagen.

D

er Praxisunterricht der Physiotherapiestudierenden im dritten Semester ist in vollem Gange. Auf dem Stundenplan steht die urogenitale Inkontinenz, das heisst der unwillkürliche Verlust von Harn oder Stuhl. Die Studierenden wissen: Mit gezieltem Beckenbodentraining kann oftmals eine Besserung oder Heilung erreicht werden. Entsprechende praktische Übungen werden an diesem Morgen gelernt. Es ist warm im Unterrichtsraum und laut. Die jungen Frauen und Männer haben sich in Gruppen um die Therapieliegen verteilt. Es werden Übungen zur Stärkung der Beckenbodenmuskulatur ausprobiert, Notizen gemacht und Fragen beantwortet. Mittendrin ist Laura Setz. Von den Diskussionen um sie herum bekommt die 27-Jährige nichts mit. Sie ist gehörlos, liest hauptsächlich von den Lippen ab. Ihre beiden Gruppen­

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gspänli wissen das. Sie schauen ihr direkt ins Gesicht, wenn sie mit ihr reden. Sie sprechen langsam und deutlich. Laura Setz nickt oft, doch manchmal ist sie ratlos, legt ihre Stirn in Falten. Dann springt der Gebärdensprachdolmetscher, der immer im Blickfeld der jungen Frau steht, ein. Obwohl sie nichts hört, spricht sie, auch als Übung für den Patientenkontakt im Berufsleben. Ihre Lautsprache ist durch jahrelanges Training sehr gut verständlich. So braucht sie niemanden, der das, was sie sagen will, übersetzt. « I C H B I N G U T I N T E G R I E R T»

Laura Setz ist die erste gehörlose Physiotherapiestudentin am Departement Gesundheit. «Sowohl für mich als auch für die ZHAW ist es eine grosse Herausforderung», sagt sie.


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«Von allen wird viel Flexibilität verlangt.» Das erste Jahr hat sie auf zwei Jahre aufgeteilt. Das zweite versucht sie nun in einem Jahr zu schaffen – so wie ihre hörenden Kommilitonen. «Ich fühle mich sehr wohl in der Klasse und bin gut integriert. Alle wissen von meiner Beeinträchtigung. Ich möchte gerne in dieser Klasse bleiben.» Einfach werde es aber bestimmt nicht, fügt sie hinzu. Die grösste Schwierigkeit beim Vollzeitstudium sei das tägliche Präsentsein, das eine hohe Konzentration und viel Aufnahmefähigkeit erfordere. «Es ist sehr anstrengend. Beim Praxisunterricht beispielsweise muss ich mich nicht nur auf die Dozierenden und die Patienten konzentrieren, sondern auch immer noch auf den Dolmetscher.» So kann sie sich während des Unterrichts auch keine Notizen machen, da sie die Dozierenden oder den Dolmetscher nie aus den Augen lassen darf. Diesbezüglich hat sie aber eine gute Lösung gefunden. «Eine studentische Hilfskraft schickt mir ihre Notizen.» Auch die Vorlesungen sind für Laura Setz mit viel Aufwand und grosser Anstrengung verbunden. Meistens sitzt sie in der vordersten Reihe, die Dolmetscher direkt neben den Dozierenden, so dass sie sie gut sehen kann. Bei Lehrveranstaltungen, die länger als zwei Stunden dauern, kommen die Übersetzer zu zweit und wechseln sich regelmässig ab. Für die gehörlose junge Frau ist es jedoch praktisch unmöglich, gleichzeitig den Gebärden der Dolmetscher zu folgen, die Folien an der Wand zu lesen und sich Notizen zu machen. Sie braucht ihre Augen fürs Lesen und visuelle Zuhören. Deshalb nutzt sie für Vorlesungen zusätzlich den Dienst von Swisstxt, bei dem eine Schriftdolmetscherin über ein Mikrofon mithört und alles Gesprochene niederschreibt, das dann auf einer Onlineplattform aufgeschaltet wird. «Leider fehlt mir nach dem Unterricht oft die Energie für soziale Kontakte mit Kommilitonen», sagt Laura Setz. Meistens hat sie aber auch gar keine Zeit dafür. Während ihre Mitstudierenden nach Hause gehen oder dem Studentenleben ausserhalb der Hochschule frönen, steht bei ihr der Kompensationsunterricht an. Dort bekommt sie in den verschiedensten Fächern Unterstützung. Eine Physiotherapeutin erklärt ihr beispielsweise das, was sie im Praxisunterricht nicht verstanden hat. «Das ist natürlich super, aber es erfordert auch nach einem langen Studientag nochmals meine vollste Konzentration.»

«In der Physiotherapie kann ich mich auf eine Person konzen­t rieren.»

VO L L GA S AU F U N D N E B E N D E R P I S T E

Laura Setz ist seit ihrer Geburt gehörlos. Allerdings wurde die Beeinträchtigung erst entdeckt, als sie bereits zweieinhalb Jahre alt war. «Bis dahin dachten alle, ich sei ein Lausmädchen, das nicht hören will», sagt sie und schmunzelt. Die aufgeweckte Frau mit den blonden Haaren und dem fröhlichen Lachen ist im aargauischen Dintikon aufgewachsen, ihre Schwester und ihre Eltern sind hörend. Sie hingegen bekam auf beiden Seiten Hörgeräte. Die halfen ihr aber nur bedingt. «Ich konnte zwar Geräusche wahrnehmen, aber nicht verstehen, wenn jemand mit mir sprach.» So fing sie an, Lippen zu lesen, von einer Gebärdensprache wusste sie damals nichts. «Mit etwa 14 Jahren bin ich das erste Mal in Kontakt gekommen mit dieser Sprache, richtig gelernt habe ich sie dann nach dem Abitur.» Den Kindergarten und die ersten beiden Primarschuljahre besuchte Laura Setz in der Regelschule im Dorf, wo sie aufwuchs. «Da der Unterricht eher auf das Spielerische ausgerichtet war, ging es noch recht gut», sagt sie. «Ich hatte eine sehr engagierte Lehrerin und bekam Nachhilfe und Einzelunterricht.» In der dritten Klasse wurde es dann aber schwie-

DEN NACHTEIL AUSGLEICHEN 2004 trat in der Schweiz das Behin­ dertengleichstellungsgesetz in Kraft. Darin ist festgehalten, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung, die sich aus- und wei­terbilden lassen wollen, nicht benach­­teiligt werden dürfen. Kann eine Studentin oder ein Student durch ein ärztliches Zeugnis, ein fachpsychologisches Gutachten oder den Nachweis eines Gesundheits­

schadens im Sinne der Invalidenver­ sicherung glaubhaft machen, dass wegen einer Beeinträchtigung Studien­ leistungen oder Prüfungen ganz oder teilweise nicht wie üblich abgelegt werden können, dürfen gleichwertige Studien- oder Prüfungsleistungen in einer modifizierten Form erbracht werden. Man spricht dann von einem Nachteils­ ausgleich. Damit sollen gleichwertige

Ausgangsbedingungen sowie Chancen­ gleichheit hergestellt werden. Mögliche Formen eines Nachteilsausgleichs können beispielsweise sein: mehr Zeit, um eine Prüfung ab­zulegen oder um eine Haus-, Bachelor- oder Masterarbeit zu schreiben, das zur Verfügungstellen von technischen Hilfsmitteln oder die Möglichkeit, an­stelle eines Referats eine Hausarbeit zu schreiben.

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riger. «Wir waren 35 Kinder in einer Klasse und der Unterrichtsstoff wurde anspruchsvoller.» So wechselte sie an eine Schule für Schwerhörige und zog nach der obligatorischen Schulzeit nach Deutschland, wo sie an einem Gymnasium für Schwerhörige das Abitur machte. Ihr Ziel war es, Sport zu studieren und danach als Sportlehrerin zu arbeiten – und das kam nicht von ungefähr. Bis zu ihrem 16. Lebensjahr war die Powerfrau eine erfolgreiche Leichtathletin und gewann mehrere Medaillen bei den Hörenden. Auch im Boardercross, wo sie danach während acht Jahren mitfuhr, konnte sie einige Erfolge feiern. Unter anderem durfte sie regelmässig an den FIS-Rennen der Hörenden teilnehmen. Heute ist sie auf der Piste nur noch hobbymässig unterwegs. U N T E R S T Ü T Z U N G D U R C H D I E Z H AW

Das Sportstudium an der Universität Basel brach sie nach dem ersten Jahr ab. «Die Herausforderungen wurden zu gross», sagt sie. «Die Beteiligten waren zu wenig sensibilisiert und ich wusste nicht richtig, wo ich mir Unterstützung holen konnte.» Sie habe schon «etwas mit Sport» studieren wollen, aber nicht in einem Bereich, wo sie mit vielen Men-

schen in einer Gruppe kommunizieren müsse. Nach einem Vorpraktikum im Paraplegiker-Zentrum in Nottwil entschied sie sich für Physiotherapie. «Das passt besser zu mir mit meiner Hörbehinderung. Es geht um Bewegung und soziale Kontakte und – das Wichtigste – ich kann mich auf eine Person konzentrieren.» Später möchte sie unter anderem auch hörgeschädigte und gehörlose Menschen physiotherapeutisch behandeln. Zunächst aber fokussiert Laura Setz auf ihr zweites Studienjahr. «Die ZHAW unterstützt mich in allen Bereichen sehr.» So bekommt sie als Nachteilsausgleich beispielsweise mehr Zeit bei schriftlichen Prüfungen oder eine studen­ tische Hilfskraft. Sie weiss aus eigener Erfahrung, dass das nicht selbstverständlich ist. «Leider ist für Gehörlose der Zugang zum Studium immer noch sehr schwierig.» Das soll sich ändern, dafür will sie sich einsetzen. Sie möchte jungen Gehörlosen und Hörgeschädigten Mut machen, etwas zu wagen, auch wenn es auf den ersten Blick nicht einfach erscheint – und dafür ist sie das beste Beispiel. // blog.zhaw.ch/vitamin-g

DAMIT HÖRGESCHÄDIGTE MENSCHEN BARRIEREFREI KOMMUNIZIEREN KÖNNEN Ein Forschungsprojekt der ZHAW untersucht die Kom­ munikation zwischen älteren Menschen mit einer Hörbehinderung und Gesundheitsfachper­sonen. Lan­ ciert wurde es vom Departement Linguistik in Zusam­ menarbeit mit dem Institut für Pflege am Departement Gesundheit. E s gibt immer mehr ältere Menschen, die von einer Hörbehinderung betroffen sind. Häufig empfinden sie ihre Beeinträchtigung als grosse Einschränkung, regelmässig treffen sie im Alltag auf Kommunikationsbarrieren. Eine davon ist die Interaktion mit Fachpersonen aus dem Gesundheitswesen. Bislang wurde über die Kommunikation zwischen hörbehinderten Menschen im Alter und Gesundheitsfachpersonen wenig geforscht. Das soll sich nun ändern. Vieles äussert sich über die Körpersprache Das Departement Angewandte Linguistik hat zusammen mit dem Institut für Pflege am Departement Gesundheit ein entsprechendes Forschungsprojekt unter der Leitung von Professorin Susanne Jekat lanciert. Damit soll gemäss Daniela Händler-Schuster, Professorin am Institut für Pflege und Mitglied des Projektteams, die Forschungslücke geschlossen werden. Ziel des interdisziplinären Projektes ist ein Konzept für eine verbesserte Kommunikation zwischen Menschen mit Hörbehinderung und Fachpersonen aus dem Gesundheitswesen. «Die Barrieren in der Verständigung sollen ab28

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gebaut werden», sagt Daniela Händler-Schuster. Doch bevor das Konzept erarbeitet werden kann, müssen Daten zum Kommunikationsverhalten von älteren Menschen mit einer Hörbehinderung gesammelt werden. «Die Erhebung wird möglichst auch über Videoaufnahmen erfolgen, da sich im Gespräch zwischen älteren Personen mit Hörbehinderung und dem medizinischen Personal viele Facetten des Kommunikationsverhaltens auch durch die Körpersprache zeigen», sagt Susanne Jekat. Im Anschluss finden Gespräche mit Fachpersonen aus dem Gesundheitswesen wie Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegepersonal statt. Danach werden die Leitfadeninterviews und die Ergebnisse aus den Fokusgruppengesprächen zur «Isolierung von Kommunikationsmustern und -barrieren analysiert». So sollen erste Erkenntnisse zur Kommunikation zwischen älteren Menschen mit einer Hörbehinderung und Gesundheitsfachleuten gewonnen werden, die dann die Basis für das umfassende Projekt des Departements Angewandte Linguistik und des Departements Gesundheit bilden. Noch steht das Projekt «Barrierefreie Kommunikation zwischen Menschen mit Hörbehinderung und Gesundheitsfachpersonen» am Anfang. Derzeit wird der Forschungsstand dokumentiert und die Leitfadeninterviews werden vorbereitet. In den nächsten Monaten soll dann der Antrag für das grosse Folgeprojekt im Rahmen einer gleichberechtigten Projektleitung durch die beiden Departemente erstellt werden.


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WENN WORTE FEHLEN, KÖNNEN TIERE HELFEN Tiere beeinflussen die Rehabilitation nach einem Schlaganfall oder einem Unfall mit Kopfverletzungen positiv, sogar bei Menschen im Wachkoma. Das belegt ein Forschungs­projekt in einer Basler Reha-Klinik, an dem auch das Departement Gesundheit beteiligt war. VON SUSANNE WENGER

In der Klinik REHAB Basel kommen Therapietiere bei Patienten mit einer erworbenen Hirnschädigung zum Einsatz.

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chnuppernd nähert sich das Meerschweinchen der Hand des Patienten, der ihm ein Stück Gurke entgegenhält. Das Tier beginnt das Grünzeug zu mümmeln. Zum Dessert offeriert ihm der von der Therapeutin gestützte Patient einen Knabberstängel. Auch dieser kommt bei dem kleinen Nager gut an. Was er im Gehege alles sehe, fragt die Therapeutin nun den Mann. «Nüsse», antwortet dieser, den Blick konzentriert auf die Tiere gerichtet. «Heu.» Und

nach einer Pause: «Rüebli.» Banale Szenen? Nicht in der Klinik REHAB Basel. Dort können solche Begegnungen mit Tieren die Welt von hirnverletzten Menschen verändern. Der Patient mit dem Meerschweinchen erlitt eine Hirnblutung, gravierende Einschränkungen blieben zurück. Zu Beginn der Rehabilitation zeigte er kaum Reaktionen und konnte nicht mehr sprechen. Klassische Therapiemassnahmen stiessen an eine Grenze. Als Tiere in die Therapie einbe-

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zogen wurden, machte der Patient prompt Fortschritte. Domestizierte Tiere gehören seit 2013 zum Konzept der auf Neurorehabilitation spezialisierten Klinik. Im grossen Therapietiergarten auf dem Areal leben neben Meerschweinchen Kaninchen, Pferde, Schafe, Ziegen, Minipigs, Hunde, Katzen und Hühner. Eine schweizweit einzigartige Ansammlung von Therapietieren, durch Spenden ermöglicht. «DEUTLICHE EFFEK TE»

Die gefiederten oder pelzigen Freunde kommen bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung zum Einsatz, etwa nach einem Schlaganfall, einem schweren Unfall mit Kopfverletzungen, einer Hirnentzündung oder bei einem Tumor. Die Tiere sind nicht einfach nur nebenher präsent, sondern werden gezielt in die Physiotherapie, Ergotherapie oder Logopädie integriert. Dass sie den Leuten gut tun, ist aus der Praxis bekannt. Nun ist es auch wissenschaftlich belegt. «Die positiven Effekte sind deutlich», sagt die Psychologin Karin Hediger von der Universität Basel. Die Wissenschaftlerin erforscht die tiergestützte Therapie in der Basler Reha-Klinik derzeit in mehreren Studien. Sie fand schon heraus: Die Patienten sind mit den Tieren stärker zur Therapie motiviert als ohne. Das fällt ins Gewicht, weil die Behandlung meist langwierig ist. Die Patienten zeigen zudem mehr Sozialkontakte und doppelt so viele positive Gefühle. Auch sind sie aktiver und kommunikativer. Letzteres ist ein wichtiger Punkt. Denn an Sprachvermögen einzubüssen oder die Sprache ganz zu verlieren, stellt eine häufige Folge neurologischer Erkrankungen dar. Rund 16 000 Menschen erleben in der Schweiz pro Jahr einen Hirnschlag. In vier von zehn Fällen ist die Sprachfähigkeit danach beeinträchtigt. Auch bei einem Schädel-Hirn-Trauma nach einem Unfall müssen Betroffene oft wieder lernen, sich zu artikulieren. NONVERBAL, WIE HUHN UND SCHAF

Sind Tiere dabei, kommunizieren die Patienten häufiger und mehr von sich aus, wie Hediger beobachtet hat: «Sie antworten nicht nur auf Fragen des Therapeuten, sondern ergreifen selber die Initiative, indem sie mit dem Tier sprechen oder via Tier eine Frage stellen.» Auch die nonverbale Kommunikation nimmt zu: über Mimik, sich zuwenden, nicken. «Tiere sind kommunikationsfördernd», bilanziert Hediger, «und sie ermöglichen hirnverletzten Menschen einen anderen Zugang zu Kommunikation.» Weil Huhn, Schaf und Co. sich ohne Worte ausdrücken, nehme dies Patienten mit Sprachproblemen den Druck, etwas sagen zu müssen: «Auch sie können dann anders interagieren als über die Sprache.» Nonverbale Kommunikation spielt besonders bei Menschen eine Rolle, deren Zustand landläufig als Wachkoma bekannt ist. Die schwerst hirnverletzten Patientinnen und Patienten sind zwar «da». Sie haben einen Schlaf-Wach-Rhythmus und die Augen geöffnet. Doch wie viel sie wirklich wahrnehmen und verstehen von dem, was um sie herum geschieht, ist unklar. Die neurologische Forschung steht da erst am Anfang. Karin Hediger untersuchte, wie tiergestützte Therapie auf Wachkoma-Patienten wirkte, die in ihrer Entwicklung schon ein wenig vorangekommen waren. Die Medi30

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zin spricht dann von einem «minimalen Bewusstseinszustand». Die Betroffenen reagieren auf äussere Reize, können einfache Aufforderungen befolgen, manchmal etwas sagen. M E H R R E A K T I O N E N , M E H R V E R H A LT E N

An dieser Forschungsarbeit waren Studierende des ZHAWDepartements Gesundheit beteiligt. Sie führten für ihre Bachelor-Abschlussarbeiten Fallstudien durch und werteten Videoaufnahmen der Therapie aus. Die gemeinsam erhobenen Daten ergaben unter anderem, dass die Patienten mehr Reaktionen und Verhalten zeigten. «Das Tier kann Wachheit und Bewusstsein fördern», konstatiert Hediger. Es sei ein «emotionaler Stimulus». Doch wie kommt die Wirkung von Tieren auf hirnverletzte Menschen zustande? Zum einen physiologisch, erklärt Hediger. Wer ein entspanntes Tier streichelt, bei dem wird nachweislich das Wohlfühl-Hormon Oxytocin ausgeschüttet, werden Stresshormone abgebaut, wird das Immunsystem gestärkt. Zum anderen erfülle der Kontakt mit Tieren das tiefe menschliche Grundbedürfnis, Beziehungen zu anderen Lebewesen aufzubauen. In der Reha-Situation sei das eher schwierig. Da «erleichtern Tiere es gewissen Patienten, eine Verbindung einzugehen.» Ein Tier zu füttern und zu hegen, kehre überdies die Rollen um. Auf Pflege und Therapie angewiesene Patienten könnten selber Fürsorge ausleben: «Das ist befriedigend und baut auf.» KEIN ALLHEILMITTEL

Nicht zuletzt begegnet ein Tier Menschen mit Einschränkungen vorurteilsfrei und wertet nicht. Nur eines zählt: wie die Patientin, der Patient mit dem Tier umgeht. Doch bei allen Erfolgen ist es für viele Hirnverletzte noch ein weiter Weg, bis sie im besten Fall wieder einen selbständigen Alltag führen können. «Ein Allheilmittel ist die tiergestützte Therapie nicht», betont Hediger. Manche Menschen sprächen besser darauf an als andere. Auch für Patienten mit Allergien oder Angst vor Tieren sei es nicht der richtige Ansatz. Trotzdem hält die Wissenschaftlerin die Forschungsresultate für vielsprechend, auch aus gesundheitsökonomischer Sicht. Kann Tiertherapie dazu beitragen, stationäre Aufenthalte zu verkürzen und dass weniger Medikamente abgegeben werden müssten? Hinweise darauf fänden sich in ausländischen Studien, sagt Hediger: «Noch fehlen aber Langzeitstudien.» Gut für den Menschen also, und womöglich gut fürs System. Doch wie geht es den Tieren dabei? In Basel werden sie artgerecht gehalten, von einem Tierpflegeteam betreut und auf ihre Aufgabe vorbereitet. Sie lernen, sich an Rollstühle und andere Hilfsmittel der Patienten zu gewöhnen. Gibt ein Tier während der kurzen Therapiesequenzen zu verstehen, dass es nicht mehr mag – flattern, picken, weglaufen, abwenden, zur Türe blicken –, wird es in Ruhe gelassen. «Die Tiere sollen sich in freier Interaktion mit den Patienten bewegen», sagt Hediger. Das Training scheint ihnen zu behagen. Die Hühner haben gelernt, Farben zu erkennen. Die Schafe können mit einem Stoffwürfel würfeln. Die Schweinchen apportieren Gegenstände. «Das lockert die Therapie auf», weiss die Psychologin, «für Mensch und Tier.» //


Ob Eltern, Geschwister, Kinder, Partner oder enge Freunde: Die meisten Patienten und Klienten haben ein soziales Netz. In vielen Fällen, etwa bei schweren und chronischen Erkrankungen, sind die Angehörigen stark in die Betreuung, Pflege und Unterstützung eingebunden. Entsprechend wichtig ist es deshalb, dass sich Health Professionals mit ihnen austauschen. Das gilt insbesondere bei Patientengruppen, deren eigene Kommunikationsfähigkeiten eingeschränkt sind, wie zum Beispiel Kinder und Jugendliche mit einer Autismus-Spektrum-Störung (siehe Seiten 20 – 22).


FORSCHUNG

DIE ERHÖHUNG DES RENTENALTERS UNTER DER LUPE Die Altersvorsorge steht vor grossen finanziellen Herausforderungen. Eine Möglichkeit, sie langfristig zu sichern, wäre die Erhöhung des Renten­alters. Doch welche Auswirkungen hat ein längeres Arbeitsleben auf die Gesundheit? Das Institut für Gesundheitswissenschaften geht dieser Frage in einem Forschungsprojekt nach – unter anderem mit einem Vergleich der Schweiz mit Schweden und den USA, beides Staaten mit einem flexiblen Rentenalter. VON URSINA HULMANN

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ie Altersvorsorge in der Schweiz gerät finanziell zunehmend unter Druck: Die Menschen werden älter, die Zeitspanne der Pension wird länger. Gleichzeitig kommen auf jeden Rentner und jede Rentnerin immer weniger Erwerbstätige. Verschärfend kommen derzeit die tiefen Zinsen auf die Vorsorgeguthaben hinzu. Bei der Einführung der AHV 1948 hatten 65-Jährige eine durch­ schnittliche zusätzliche Lebenserwartung von 12 bis 13 Jahren. Heute sind es etwa 21 Jahre, Tendenz steigend. Mitte des letzten

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Jahrhunderts gab es über sechs Erwerbstätige pro Rentner, heute sind es noch gut drei. Und in dreissig Jahren werden es laut Prognose des Bundes noch rund zwei sein. Es gibt verschiedene Ansätze, wie die Finanzierung der AHV trotz dieser Entwicklungen auch künftig sichergestellt werden kann. Einer ist die Erhöhung des Rentenalters. Viele Länder haben das bereits umgesetzt, zum Beispiel Italien, die Niederlande, Norwegen und die USA. Auch in der Schweiz arbeiten bereits etwa 25 Prozent der 65- bis 69-Jährigen weiter,

teilweise aus finanziellen Gründen. Die arbeitsrechtlichen Bedingungen dazu sind aber unzureichend geregelt. In der Politik wird viel über die Finanzierung der Altersvorsorge diskutiert. Im August hat der Bundesrat eine AHV-Reform (AHV21) verabschiedet und an das Parlament überwiesen. Der Gesetzesentwurf möchte das Rentenalter zwischen 62 und 70 Jahren flexibilisieren und das Pensionsalter der Frauen um ein Jahr erhöhen. Ob die Reform durchkommt, ist fraglich: Eine ähnliche Vorlage wurde 2017 verwor-


FORSCHUNG

Wie wirkt sich ein längeres Arbeitsleben auf die Gesundheit aus? Ein Projekt der Forschungsstelle Gesundheits­ wissenschaften geht der Frage nach.

fen. In den politischen Debatten stehen meist finanzielle Fragen im Vordergrund, gesundheitliche Aspekte hingegen finden kaum Beachtung. Senioren fühlen sich nicht willkommen Die Gesundheit mehr ins Zentrum der öffentlichen Diskussion über die Altersvorsorge rücken möchten Isabel Baumann und Sonja Feer von der Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften. In dem vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Projekt «Gesundheitliche Ungleichheit im Kontext einer Verlängerung des Arbeitslebens» untersuchen sie, wie sich die Erhöhung des Rentenalters auf die Gesundheit von verschiedenen Berufsgruppen auswirkt. Sind die Folgen eher negativ, da viele Menschen mit zunehmendem Alter mehr Erholung benötigen? Oder sind sie mehrheitlich positiv, da Senioren von den sozialen Kontakten, der Tagesstruktur, dem Gefühl, gebraucht zu werden, und der kognitiven Stimulation pro­ fitieren? «Wir interessieren uns dabei besonders für die Frage, ob eine Verlänge­rung des Arbeitslebens gesundheitliche und wirtschaftliche Ungleichheiten verschärft», sagt Projektleiterin Isabel Baumann. Das Projekt solle auch aufzeigen, wie ältere Menschen, die im Arbeitsmarkt verbleiben wollen, dabei unterstützt und vor gesundheitlichen Risiken geschützt werden können. Um im Verlauf des vierjährigen Projekts Antworten auf die Forschungsfragen zu erhalten, verschaffen sich die Forscherinnen zunächst einen Überblick über die Thematik. Dazu werten sie in Zusammenarbeit mit Partnerhochschulen im In- und Ausland Datensätze zur Arbeitsmarktintegration und Gesundheit von älteren Menschen aus oder führen Interviews mit Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Senioren. Sonja Feer über die ersten Erkenntnisse aus den Gesprächen: «Viele Senioren würden gerne weiterarbeiten, aber ihre Möglichkeiten sind eingeschränkt.» Oft fühlten sie sich nicht mehr willkommen in der Arbeitswelt. Denn die Wahrnehmung der älteren Generation in der Gesellschaft sei negativ, obwohl viele Rentner fit sind und aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. «Auch wenn es Unterschiede zwischen den Branchen

gibt, haben ältere Arbeitslose oft Schwierigkeiten, in den Arbeitsmarkt zurückzukehren», fügt sie an. Isabel Baumann ergänzt: «Grundsätzlich hat es in der Schweiz im Moment genügend freie Stellen und zu wenig gut ausgebildete Fachkräfte.» Für die Arbeitgeber könnte es deshalb interessant sein, ältere Spezialisten zu beschäftigen. Dass ältere Arbeitnehmer jungen Menschen den Arbeitsplatz wegnehmen, stimme nicht, so Isabel Baumann. Sie verweist auf Studien, die zeigen: «Je mehr Menschen arbeiten, desto mehr Arbeitsplätze gibt es. Denn Menschen, die arbeiten und mit ihrem Lohn Dienstleistungen und Güter konsumieren, kurbeln die Wirtschaft an.» Ländervergleich zeigt Überraschendes Ein Blick über die Grenze hilft den Forscherinnen, mögliche Auswirkungen einer Verlängerung des Arbeitslebens in der Schweiz besser zu verstehen. In Schweden und in den USA ist das Rentenalter flexibel, die Ausprägung des Sozialstaates sind aber unterschiedlich. Im liberalen System der USA hängt die Rente davon ab, wie viel der Arbeitnehmer selber in eine private Altersvorsorge einbezahlt hat. Das heisst: Das Anrecht auf eine Rente hängt stark von der Arbeitsmarktbeteiligung und dem Lohn ab. Viele ältere Menschen sind darum aus finanziellen Gründen gezwungen, weiterzuarbeiten. In Schwedens stark ausgebautem Sozialstaat dagegen hängt die Rente weniger von der Arbeitsmarktbeteiligung ab und das System ermöglicht Senioren, schrittweise in die Pension zu gehen. Isabel Baumann und Sonja Feer möchten von diesen gegensätzlichen Systemen lernen. «Wir können die Resultate nicht direkt auf die Schweiz übertragen, aber sie geben uns Anhaltspunkte, was Anpassungen bei der AHV für ältere Arbeitnehmende bedeuten können», so Sonja Feer. Erste ländervergleichende Resultate zeigen Überraschendes: Trotz verhältnismässig guter finanzieller Absicherung arbeiten in sozialdemokratischen Ländern viele chronisch kranke Menschen weiter. Staatliche Wiedereingliederungsprogramme unterstützen sie dabei. In liberalen Systemen ist es für kranke Menschen schwieriger, zu arbeiten, der Staat unterstützt sie

Gesundheitliche Ungleichheit im Kontext einer Verlängerung des Arbeitslebens Leitung (Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften) Dr. Isabel Baumann Team (Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften) Prof. Dr. Julia Dratva (stellvertretende Projektleiterin), Sonja Feer Partner Université de Genève, University of Stockholm, University of Gothenburg, Haute école de travail social Fribourg, Pontificia Universidad Católica de Chile, University of Texas at Arlington, Stanford University, University of Washington in Seattle, Innovage Finanzierung SNF-Förderprogramm «Ambizione» (735 000 Franken) Projektdauer Januar 2019 bis Dezember 2022

kaum. Unklar ist, was mit den Menschen passiert, die wegen einer chronischen Krankheit aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Isabel Baumann vermutet, dass bei ihnen das Armutsrisiko besonders hoch ist. Informationen für Entscheidungsträger Die Bekämpfung der Altersarmut war einer der Hauptgründe für die Einführung der AHV 1948 in der Schweiz. In den letzten siebzig Jahren hat sich viel geändert: Viele Menschen sind mit 65 in einer besseren gesundheitlichen Verfassung und haben einen längeren Lebensabend vor sich. Die Altersvorsorge diesen Veränderungen anzupassen, ist eine grosse Herausforderung. Isabel Baumann und Sonja Feer möchten mit ihrem Projekt relevante Informationen für die Entscheidungsträger aufbereiten. Zudem möchten sie Lösungen erarbeiten, damit Arbeitsplätze an die Bedürfnisse und die gesundheitliche Verfassung von älteren Arbeitnehmenden angepasst werden. «Beispiele dafür wären, dass Senioren keine Nachtschichten übernehmen müssen oder mehr Teilzeit arbeiten können», so Isabel Baumann. //

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STUDIUM

J

ulie Page, rund 40 Gesundheitsförderinnen und -förderer sind im Sommer auf den Arbeitsmarkt gekommen. Hat das Schweizer Gesundheitswesen auf diese neue Berufsgruppe gewartet? Ja, die allermeisten Absolvierenden hatten schon kurz nach dem Abschluss eine An­ stellung. Überraschend war dabei, dass einige von ihnen direkt eine leitende Posi­ tion übernehmen konnten – etwa im Be­ reich betriebliches Gesundheits­ manage­ ment (BGM). Wir haben von Anfang an mit einer hohen Nachfrage nach Gesundheits­ förderinnen und -förderern gerechnet – das hat uns auch die Bedarfsanalyse gezeigt, als wir den Studiengang aufgebaut haben. Und die positiven Rückmeldungen von un­ seren Praxispartnern in den letzten Jahren haben uns darin bestärkt, auf dem richtigen Weg zu sein. Zu Beginn wussten wir aller­ dings nicht genau, in welchen Rollen die Studierenden einmal tätig sein werden. Was war der Grund für diese Unwägbarkeit? Die Berufsbezeichnung «Gesundheits­för­derin» gab es damals ja noch nicht. Und es wird auch noch eine Weile dauern, bis sie in der Praxis vollständig etabliert ist. Bis­ lang wird in Stelleninseraten meist nicht explizit nach einer Gesundheits­förderin, einem Gesundheitsförderer gesucht. Wir üben mit den Studierenden deshalb auch, 34

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«DIE ARBEIT WIRD GESUNDHEITSFÖRDERERN NICHT AUSGEHEN» 2016 startete am Departement Gesundheit der Bachelor in Gesundheitsförderung und Präven­tion. Diesen Sommer hat der erste Jahrgang das in der Schweiz einzigartige Studium abgeschlossen. Die Absolventinnen und Absolventen sind auf dem Arbeitsmarkt gefragt, sagt die Studiengangleiterin Julie Page. VON TOBIAS HÄNNI

wie sie sich auf andere Stellen bewerben – mit ihrem breiten Kompetenzprofil sind sie für viele Positionen und Funktionen in der Praxis qualifiziert.

Hinweis dafür, dass die Ausbildung den Anforderungen in der Praxis gerecht wird. Die Rückmeldungen, die wir von den Pra­ xispartnern erhalten haben, halfen uns aus­ serdem dabei, den neuen Studiengang Der Studiengang ist noch sehr jung. sukzessive an­zupassen und zu verbessern. Was waren die grössten Herausforderungen in den ersten Jahren? Die Zahl der Studierenden hat seit Eine Unsicherheit zu Beginn war, ob wir dem Start des Studiengangs stetig zufür die Studierenden genügend Prakti­ genommen, diesen Herbst haben rund kumsplätze finden würden. Die Sorge er­ 60 Frauen und Männer das Studium wies sich allerdings als unbegründet, ins­ begonnen. Wie erklären Sie sich das besondere weil unsere Dozierenden in der wachsende Interesse am Thema GePraxis bestens vernetzt sind. Ausserdem sundheitsförderung und Prävention? waren innovative Institutionen und Orga­ Die Gesundheit gehört zu den Meganisationen aus Überzeugung für die Sache trends der letzten Jahre. Gerade die jünge­ bereit, Praktikantinnen und Praktikanten ren Generationen gehen sehr bewusst mit bei sich aufzunehmen. Dass wir genügend ihrer Gesundheit um, treiben Sport, ach­ Plätze organisieren konnten, ist auch ein ten auf die Ernährung. Wir haben auch


STUDIUM

Jubel an der Diplom­f eier: Die ersten Absol­v ierenden des Studien­g angs Gesundheits­f örderung und Prävention.

viele Studierende, die aus der Pflege kom­ men. Sie möchten mit ihrer Arbeit früher ans­etzen – damit es gar nicht erst zu einer Erkrankung kommt. Nicht zuletzt macht auch der soziale Aspekt den Beruf attrak­ tiv: Der Kontakt und Austausch mit den Zielgruppen und Partnern ist ein zentraler Teil der Arbeit. Wie schätzen Sie die zukünftige Entwicklung der Gesundheitsförderung und der Prävention ein? Die Schweiz unterhält ein hervorragen­ des, aber auch teures Gesundheitswesen

und es gibt in beiden Bereichen noch viel Potenzial. Dazu tragen auch die Alterung der Bevölkerung sowie die Zunahme an chronischen Erkrankungen und psychi­ schen Belastungen bei. Diese Entwicklun­ gen machen es notwendig, das Gesund­ heitssystem stärker auf Prävention und Gesundheitsförderung auszurichten. Ins­ besondere der Bereich des betrieblichen Gesundheitsmanagements dürfte in den nächsten Jahren stark wachsen. Den Ge­ sundheitsförderinnen und -förderern wird die Arbeit deshalb so schnell nicht ausge­ hen.

Für die anderen Bachelorstudiengänge am Departement Gesundheit gibt es konsekutive Masterstu­dien­gän­ge. Bestehen Überlegungen, einen solchen auch für Gesundheitsförderinnen und -förderer anzubieten? Ideen dazu bestehen tatsächlich. Ich könn­ te mir einen breiter angelegten Studien­ gang vorstellen, der auch für andere Be­ rufsgruppen offensteht. Von den jetzigen Absolvierenden neh­men rund zehn Pro­ zent ein Masterstudium in Angriff, zum Beispiel im Bereich Gesundheitsmanage­ ment oder Health Sciences. //

WO GESUNDHEITSFÖRDERINNEN UND -FÖRDERER ARBEITEN

Monika Friedl

Fabrizio Rüegg

Petra Gartenmann

Leiterin Betriebliches Gesundheitsmanagement und Care Management, Camion Transport AG

Fachmitarbeiter Prävention, Suchtpräventionsstelle Zürcher Oberland

Projektmitarbeiterin, Fachstelle Am Steuer Nie

«Nach dem Praktikum bei der Camion Transport AG konnte ich dort die neu ge­ schaffene Stelle der Leiterin Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) und Care Management übernehmen. Im Care Management unterstütze ich einzelne Mit­arbeitende beispielsweise nach einem Unfall oder bei einer schweren Krankheit. Im BGM bin ich verantwortlich für Projekte, mit denen die Geschäftsleitung die Ge­ sundheit ganzer Berufsgruppen fördern will. Aktuell führen wir ein Projekt zur Gesund­ heitsförderung bei unseren Lastwagenfah­ rerinnen und -fahrern durch. Sie hantieren mit schweren Gütern und sind im Strassen­ verkehr zu­nehmend stressigen Situationen aus­gesetzt. Entsprechende Massnahmen sollen ihre Ressourcen nachhaltiger fördern und sie im Umgang mit den Belastungen unterstützen.»

«Die Suchtpräventionsstelle Zürcher Ober­ land engagiert sich in unterschiedlichsten Lebensbereichen und Lebensabschnitten: von der Beratung von Gemeinden in der Präventionsarbeit über Konsumkompetenzen an Schulen bis zur Suchtproblematik im Alter. Als Fachmitarbeiter Prävention habe ich verschiedene Aufgabenfelder. So coa­ che ich zum Beispiel Kindergartenlehrerinnen und -lehrer beim Projekt «Spielzeugfreier Kindergarten» oder bin Modulleiter für das Jugendprojekt LIFT, das junge Menschen mit erschwerter Ausgangslage beim Übergang in die Arbeitswelt frühzeitig unterstützt. Zudem bin ich Ansprechperson für sechs Gemeinden im Zürcher Oberland und für das Dossier Tabak zuständig – ich infor­miere mich über die neusten Entwicklungen in diesem Bereich und halte das Team auf dem Laufenden.»

«‹Am Steuer Nie› führt Workshops und Schu­lungen zur Unfallprävention im Stras­senverkehr durch. Im Fokus steht der Alkohol­konsum, doch auch andere Risiko­ faktoren werden thematisiert wie Medika­ mente, Ablen­kung oder Müdigkeit. Ober­ stufen- und Berufsschulen nehmen unsere Angebote in Anspruch, aber auch Betriebe und Vereine. Als Projektmitarbeiterin bin ich bei den Workshops dabei und entwickle selber neue Projekte. Aktuell baue ich einen Workshop zum Thema Müdigkeit im Strass­ en­verkehr auf. Über dieses Thema habe ich auch meine Bachelorarbeit verfasst, die nun als Grundlage für das Projekt dient. Ich empfinde meine Arbeit als sehr abwechs­ lungsreich und sinnstiftend: Ich leiste einen Beitrag an die Verkehrssicherheit und kann so potenzielle Unfälle mit Verletzten oder gar Toten verhindern.»

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DIENSTLEISTUNG

GESUNDHEITLICH AUF KURS BLEIBEN Tramfahrerinnen, Handwerker, Büroange­stellte: Rund 2500 Personen arbeiten bei den Verkehrs­be­ trieben Zürich. Sie sind dabei unterschied­lichen physischen und psychischen Belastungen aus­gesetzt. Um ihre Gesundheit zu fördern, hat das ÖV-Unter­ nehmen die Fachstelle Betriebliches Gesundheits­ management des Departements Gesundheit mit­drei Pilotprojekten beauftragt. VON TOBIAS HÄNNI

M

arcel Schwarz scheint er­ leichtert zu sein. «Mein Rücken ist in Ordnung», sagt der Betriebsausbil­ der, der bei den Verkehrsbetrieben Zürich (VBZ) Busfahrerinnen und -fahrer schult. Gerade hat eine Physiotherapeutin vom Departement Gesundheit die Stabilität seines unteren Rückens untersucht – an einem dafür etwas ungewöhnlichen Ort: der VBZ-Busgarage Hagenholz. Nun steht Schwarz in der Garage, hinter ihm die blau-weis­ sen Busse ordentlich par­ kiert, und sagt: «Ich habe keine Beschwerden. Aber ich wollte wissen, wie es um meinen Rücken steht.» Und er habe sich informieren wollen, wie er mit einfachen Übun­ gen die Rückenmuskeln stärken könne. «Die bilden sich ja zurück, wenn man sie vernachlässigt.» Fit bleiben, Belastungen verhindern, so arbeiten, dass der Körper keinen Scha­ den nimmt – VBZ-Mitarbeitenden werden dafür an diesem Tag im September in der Busgarage zahlreiche Empfehlungen und Informationen an die Hand gegeben. Es gibt einen Balance-Parcours, ein Referat zum Thema Fitness im Alltag, Tipps zum rückenschonenden Tragen von Lasten oder Sitzberatungen, bei denen Physio­ therapeutinnen der ZHAW und VBZ-Coa­

wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Fachstelle BGM. «Aus diesen Befragun­ gen konnten wir eruieren, welche Themen die jeweilige Berufsgruppe beschäftigt.» Dabei zeigte sich: Rücken- und Nackenbe­ schwerden sowie die Belastung durch Stress waren beim Büro- wie auch beim Fahrpersonal ziemlich stark ausgeprägt. Insbesondere die Trampiloten und Bus­ fahrerinnen hätten einen herausfordern­ den Berufsalltag, so Nicoletti. «Ihre Arbeit ist eng getaktet und durch die Hektik des städtischen Verkehrs geprägt.» Andere Verkehrsteilnehmer, Staus oder kritische Fahr­gäste erfordern eine dicke Haut und ches zeigen, wie der Fahrersitz oder der hohe Konzentration und können die Fah­ Bürostuhl korrekt eingestellt wird. rerinnen und Fahrer psychisch belasten. «Dazu kommt, dass sie oft sehr lange am Rückenbeschwerden und Stück sitzen.» hohes Stresslevel «Impulstag für Bewegung und Ergono­ Bequem ist nicht unbedingt gesund mie» heisst der Anlass in der Busgarage Auf Grundlage der Ergebnisse führten Hagenholz. Fünf solcher Tage mit Fokus Corinne Nicoletti und Irene Etzer-Hofer, auf die körperliche Gesundheit haben Leiterin der Fachstelle BGM, für die be­ die VBZ für ihre rund 2500 Angestellten fragten Mitarbeitenden Workshops zu an unterschiedlichen Be­ verschiedenen Handlungsfeldern durch. triebsstandorten im Sep­ In jenen zu «Nacken- und Rückenbe­ tember durchgeführt. Sie schwerden» wurde den Teilnehmenden sind das Resultat eines etwa vermittelt, was im Körper passiert, umfangreichen Projekts wenn man den ganzen Tag sitzt, und wie­ zur Gesundheitsförde­ so es gesund ist, sich hin und wieder zu rung der VBZ, für das bewegen. «Dazu haben wir ihnen Übun­ der Verkehrsbetrieb die gen gezeigt, die sich einfach in den Ar­ Fachstelle Betriebliches beitsalltag integrieren lassen», sagt Nico­ Gesundheitsmanage­ letti und nennt als Beispiel eine Dehn­ ment (BGM) des Depar­ übung für den Nacken, die Busfahrer an tements Gesundheit ins einer Endhaltestelle in 30 Sekunden Boot geholt hat. Kern dieser Zusammen­ durchführen kön­nen. Auch ein Igelball, arbeit sind Pilotprojekte für jede der drei der beim Arbeiten zwischen Stuhlleh­­ne Berufsgruppen bei den VBZ: Fahrpersonal, und Rücken geklemmt werden kann, um Büromitarbeitende und Handwerker. Die schmerzhafte Stellen zu massieren, wur­ Projekte für Fahrpersonal und Büromitar­ de den Teilnehmenden abgegeben. beitende wurden diesen Sommer abge­ «Nicht zuletzt haben wir ihnen gezeigt, schlossen, jenes für die Handwerkerinnen wie der Fahrersitz oder der Bürostuhl und Handwerker ist derzeit in Planung. richtig eingestellt wird», so Nicoletti. «In den Pilotprojekten wurden zu­ Denn die Befragung habe gezeigt, dass nächst pro Berufsgruppe zwischen 60 und vor allem beim Fahrpersonal viele darauf 70 Mitarbeitende zur Arbeitssituation, zu verzichteten, den Sitz im Bus oder Tram ihrer psychischen und physischen Ge­ bei Arbeitsbeginn ihrem Körper anzupas­ sundheit sowie zu ihrem Gesundheitsver­ sen. «Es hat sich herausgestellt, dass eini­ halten befragt», erklärt Corinne Nicoletti, ge den Sitz so einstellen, dass er einfach

«Wir haben Übungen gezeigt, die sich einfach in den Arbeits­ alltag inte­g rieren lassen.»

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DIENSTLEISTUNG

Gesundheitsförderung in der Busgarage: Carolin Heitz vom ZHAW-Institut für Physiotherapie gibt VBZ-Busfahrerin Manuela Benz Tipps für die korrekte Einstellung des Fahrersitzes.

bequem ist. In den Workshops wurden sie darauf sensibili­­siert, dass ein bequemer nicht unbedingt ein ergonomisch richtig eingestellter Sitz ist.» In den Workshops zu den Handlungs­ feldern «Umgang mit Stress» oder «Acht­ samkeit» lernten Fahrpersonal und Büro­ mitarbeitende, wie sie mit stressigen Situa­tionen im Arbeitsalltag besser umge­ hen können. «Dazu wurden beispielswei­ se Techniken aufgezeigt, die dabei helfen, sich in kurzer Zeit zu entspannen», sagt Nicoletti. Auch Empfehlungen für Hand­ lungen, die nach der Arbeit der Erholung dienen, erhielten die Teilnehmenden. «Ge­ sundheitsförderung betrifft ja nicht nur den Job.» Im Sinne von «Train the Trainer» wur­ den auch Sicherheitsbeauftragte und -ko­ ordinatoren der VBZ geschult, die unter anderem eng mit dem betrieblichen Ge­ sundheitsmanagement des Unternehmens und den Vorgesetzen in den verschiede­ nen Abteilungen zusammenarbeiten. «So erreichten die Workshop-Inhalte auch je­ ne Mitarbeitende, die nicht an den Pilot­ projekten teilgenommen haben», führt Nicoletti aus. Beschwerden gingen zurück Insgesamt führte die Fachstelle BGM rund 60 Workshops für die befragten Personen des Fahr- und Büropersonals durch – verteilt über einen Zeitraum von sieben Monaten. «Damit gesundheitsfördernde Massnahmen eine Wirkung erzielen, müs­ sen sie über eine längere Zeit durchge­ führt werden», sagt Corinne Nicoletti. Und die Wirkung blieb nicht aus, wie die abschliessende Befragung zeigte: So ging beim Fahrpersonal die Anzahl der Mit­ arbeitenden mit Rücken- oder Kreuz­ schmerzen um einen Viertel, die Anzahl derer mit Nacken- oder Schulterbeschwer­ den um rund zehn Prozent zurück. Die Fahrerinnen und Fahrer gaben zudem an, sich in Pausen mehr zu bewegen und auf eine korrekte Körper­ haltung zu achten. Das durchschnittliche Stress­ level hatte sich zwar nach den Workshops kaum ver­ ändert, allerdings gaben weniger Mitar­

beitende an, unter sehr hohem Stress zu stehen. Beim Büropersonal wiederum be­ wirkten die Workshops, dass die Mitarbei­ tenden ein tieferes Stresslevel hatten und besser Abschalten konnten. Bei fünf Pro­ zent gingen die Schlafstörungen zurück, bei elf Prozent Rücken- oder Kreuz­ schmerzen. «Das sind erfreuliche Resulta­ te», sagt Nicoletti. Weitere Massnahmen angedacht Die Zusammenarbeit zwischen der Fach­ stelle und dem Stadtzürcher ÖV-Betrieb läuft noch bis Anfang 2021 – bis dann ist auch das Pilotprojekt für die Handwerker abgeschlossen. «Das Know-how der Fach­ stelle, aber auch ihr Blick von aussen sind hilfreich, um weitere Handlungsfelder für die Gesundheitsförderung zu identifizie­ ren», sagt Hanna Schüler, Fachspezialis­­ tin Betriebliches Gesundheitsmanagement bei den VBZ. Die wissenschaftlich fun­ dierten Pilotprojekte lieferten handfeste Anhaltspunkte für weitere Massnahmen zur Gesundheitsförderung. Die Gesundheit der Belegschaft sei für die VBZ zentral, so Schüler. «Wir können unseren Mobilitätsauftrag nur erfüllen, wenn die Mitarbeitenden gesund und mo­ tiviert sind.» Die VBZ würden ihre Ange­ stellten dabei nach Kräften unterstützten: mit einem ganzheitlichen BGM, zu dem neben Massnahmen zur Gesundheitsför­ derung und zur Arbeits- und Betriebs­ sicherheit beispielsweise auch ein pro­

fessionelles Case Management gehöre. «Letztlich liegt die Verantwortung für die eigene Gesundheit aber bei jeder Mitar­ beiterin und jedem Mitarbeiter selbst.» Seit 2013 tragen die VBZ das Label «Friendly Work Space», die Gesundheit der Mitarbeitenden ist laut Schüler zudem als Ziel in der aktuellen Unternehmens­ strategie festgehalten «Es ist eine komple­ xe Aufgabe, da die Mitarbeitenden unter­ schiedlichste Tätigkeitsfelder und damit auch unterschiedliche Belastungen ha­ ben», sagt Schüler. Und es sei eine langfris­ tige Aufgabe, bei der gelte: «Steter Trop­ fen höhlt den Stein.» //

UNTERSTÜTZUNG BEI DER GESUNDHEITSFÖRDERUNG Die Fachstelle Betriebliches Gesundheitsmanagement des Departements Gesundheit bietet Unternehmen verschiedene Dienstleistungen im Bereich Gesundheitsförderung an. Sie entwickelt betriebsrelevante Konzepte und Programme zu Gesundheitsthemen, begleitet Firmen beim Aufbau eines betrieblichen Gesundheitsmanagements oder führt Workshops zur Förderung der Gesundheit durch. zhaw.ch/gesundheit/dienstleistung

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Gewusst wie !

EIN GLÄSCHEN SCHULDGEFÜHLE

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ie Informationen, die Weg» em­pfohlen. Schwange­ Etwas Wein zum guten Essen, anstossen Frauen in Broschüren, re Frauen sollten sich deshalb, an der Weihnachtsfeier? Während der Schwanauf Internetseiten und so die allgemeine Empfeh­ gerschaft sollten Frauen auch auf kleine in Beratungsgesprächen er­ lung, deutlich von dem in Mengen Alkohol ver­zichten. Die Wissenschaft halten, sind eindeutig: Der Al­ der Schweiz sozial anerkann­ koholkonsum sollte mit dem ten Genusstrinken ab­grenzen. konnte bislang zwar keine eindeutig negativen Feststellen der Schwanger­ Verstossen Frauen ge­gen die­ Auswirkungen eines geringen Konsums nachschaft eingestellt werden. Be­ se Empfehlung, geht dies häu­weisen. Genauso wenig kann sie aber eine ginnen sollte die Abstinenz mit fig mit Schuldge­ füh­ len und Ober­grenze für einen «sicheren Alkoholkonsum» dem Einnisten der befruchte­ widersprüchlichen Em­pfin­dun­­ liefern, weiss Jessica Pehlke*. ten Eizelle, da der Embryo ab gen einher, die selten mit Ge­ diesem Zeitpunkt über den sundheitsfachpersonen bespro­ Blutkreislauf der Mutter versorgt wird. des Rauschtrinkens ist bekannt und ein chen werden. Werden in der Schwangerschaft, zum Bei­ Grossteil der schwangeren und stillenden Letztlich sind schwangere Frauen ge­ spiel aufgrund einer Suchterkrankung, ho­ Frauen stellt den Alkoholkonsum in der fordert, eine Entscheidung auf Basis einer he Mengen an Alkohol getrunken, führt Schwangerschaft auch gänzlich ein. Ver­ unklaren Evidenzlage zu treffen – Gesund­ dies, je nach Reifegrad des Kindes, der Al­ schiedene Erhebungen in der Schweiz zei­ heitsfachpersonen können ihnen dabei kei­ koholmenge und individueller Disposition gen allerdings, dass ungefähr 20 Prozent ne Empfehlung für einen «sicheren Alko­ zu schweren körperlichen und kognitiven der Frauen während der Schwangerschaft holkonsum» geben, den Prozess der infor­ Entwicklungsstörungen. Diese werden un­ ab und zu kleinere Mengen an Alkohol zu mierten Entscheidung durch die Frau aber ter dem Begriff Fetal Alcohol Spectrum sich nehmen. Typische Situationen sind so gut wie möglich unterstützen. // Disorder (FASD) zusammengefasst. besondere Anlässe wie Betriebsfeiern Genauere Zahlen für die Schweiz feh­ oder das Glas Wein zu einem guten Essen. * Prof. Dr. Jessica Pehlke leitet len, aber laut dem Bundesamt für Gesund­ Bei diesem moderaten oder geringen die Forschungsstelle Hebammenwisheit werden schätzungsweise 20 von 1000 Alkoholkonsum ist die Evidenzlage we­ senschaft am Departement GesundKindern mit einer FASD geboren. Weiter niger klar. Aktuelle Übersichtsarbeiten heit. In einem ihrer Forschungsprogeht man davon aus, dass die Schweiz können keine eindeutig nachteilige Wir­ jekte befasste sie sich unter anderem weltweit zu den Ländern mit dem höchs­ kung eines leichten Alkoholkonsums in mit werdenden Eltern und ihrer ten Alkoholkonsum gehört und die Zahl der Schwangerschaft belegen. Genauso Wahrnehmung des Alkoholkonsums der betroffenen Kinder unterschätzt wird. wenig lässt sich jedoch anhand der Stu­ während Schwangerschaft und dienlage eine sichere Obergrenze festle­ Stillzeit. Ein Fünftel trinkt ab und zu gen. Vor diesem Hintergrund wird weiter­ Die Evidenzlage für die schädigende Wir­ hin der komplette Verzicht auf Alkohol in blog.zhaw.ch/vitamin-g kung hohen Alkoholkonsums respektive der Schwangerschaft «als einzig sicherer

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AGENDA

Do, 21. Nov. 2019 // 9.15–16.30 Uhr

Fr, 20. Dez. 2019 // 13.00–17.30 Uhr

Herbstmeeting Kompetenz­ netzwerk – Frühe Kindheit

Abschlusspräsentationen der Projektwerkstatt 2019

Positive Bedingungen für die frühkind­ liche Entwicklung spiegeln sich im späteren Leben wider, doch nicht alle Kinder kommen mit den gleichen Chancen auf die Welt. Doch wann müssen wir intervenieren? Das Kom­ petenznetzwerk geht dieser Frage in seinem Herbstmeeting «Too much, too soon – too late, too little – Wann greifen wir ein?» nach und thema­ tisiert das Spannungsfeld zwischen der zu frühen und zu häufigen sowie der zu späten oder zu seltenen Interven­ tion in der frühen Kindheit. Institut für Hebammen

Fr, 22. Nov. 2019 // 13.00–16.15 Uhr

MAS in Action!

Zum Abschluss des Master of Advan­ ced Studies in Gerontologischer Pfle­ ge, Onkologischer Pflege, Pädiatri­ scher Pflege sowie in Patienten- und Familien­edukation präsentieren Absol­ vierende ihre Masterarbeiten. Diese beziehen sich auf Projekte zur Weiter­ entwicklung der Pflege in der Praxis, die von den Absolvierenden konzi­ piert, geleitet und evaluiert wurden. Institut für Pflege

Tanzen, Velo fahren, kochen: In der Projektwerkstatt setzen Ergotherapie­ studierende Projekte mit Klientinnen und Klienten um. Oft handelt es sich dabei um Menschen, die sonst selten im Mittelpunkt stehen – etwa Asyl­ suchende oder Bewohner von Altersund Pflegeheimen. Zum Abschluss des Moduls präsentieren die Studie­ renden ihre Projekte. Institut für Ergotherapie

Fr, 17. Jan. 2020 // 14.00–17.00 Uhr

APN Symposium: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne – Nurse Practitioner in der Praxis

MAS Hebammenkompetenzen plus – Abschlusspräsentationen

Die Absolventinnen des MAS He­bam­ men­kompetenzen plus präsen­tieren zum Abschluss der Weiterbildung ihre Masterarbeiten. Dafür haben sie in den letzten Monaten Themen aus dem Praxisalltag evidenzbasiert bearbeitet. Institut für Hebammen

Nähere Informationen: zhaw.ch/ gesundheit/veranstaltungen

Herausgeber ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften Departement Gesundheit Kommunikation Technikumstrasse 71 8401 Winterthur kommunikation.gesundheit@zhaw.ch zhaw.ch/gesundheit Redaktion Tobias Hänni (Leitung), Inge Corti, Annina Dinkel, Bianca Flotiront, Carol Flückiger, Ursina Hulmann, José Santos, Cordula Stegen Redaktionelle Mitarbeit Marion Loher, Eveline Rutz, Andrea Söldi, Susanne Wenger

Institut für Pflege

Fotos Adobe Stock (S. 38), Beltz Verlagsgruppe (S. 4) Bundesamt für Gesundheit BAG (S. 19), Conradin Frei (S. 10, 12), istock­ photo (S. 22), Tobias Hänni (S. 2, 36), Gion Pfander (S. 24, 34), Pro Mente Sana (S. 17), REHAB Basel (S. 29), Fabian Stamm (S. 6 / 7 [mit freundlicher Geneh­ migung des Casino Theater Winterthur], 20, 21), Alexandra Tschamon (S. 40), Chavela Zink (S. 14, 26, 27), von den Ab­ gebildeten zur Verfügung gestellt (S. 35), Bildarchiv Departement Gesundheit (übrige)

Fr, 24. Jan. 2020 // 13.15.–18.15 Uhr Am zweiten Symposium zur Advanced Physiotherapy Practice (APP) wird die Definition der erweiterten Berufsrolle für die Schweiz präsentiert. Neben Bei­ spielen aus der Praxis werden dabei internationale Standards und interpro­ fessionelle Perspektiven aufgezeigt. Institut für Physiotherapie

Art Direction und Layout Partner & Partner, Winterthur Druck ZT Medien AG, Zofingen Korrektorat Ingrid Essig, Winterthur

Illustrationen Corina Vögele (S. 1, 2, 8, 16, 23, 31) Auflage 6000

Sa, 7. März 2020 // 9.00–16.30 Uhr

4. Winterthurer Ergo-Gipfel Veranstaltungsort: ZHAW Gesundheit, Technikumstrasse 71, Winterthur (wenn nicht anders vermerkt)

VITAMIN G Für Health Professionals mit Weitblick Nr. 7 / November 2019

Das Symposium thematisiert Fragen zu unterschiedlichen Profilen und Ein­ satzbereichen von Nurse Practitioners sowie deren Schnittstellen zum Ma­ nagement. Es richtet sich insbesondere an Entscheidungsträger, welche die neue Rollen implementieren, unter­ stützen, verstehen, finanzieren und in Gremien vertreten müssen.

2. SwissAPP Symposium D0, 12. Dez. 2019 // 15.00–17.00 Uhr

IMPRESSUM

«Frech entscheiden, mutig handeln»: Der Ergo-Gipfel stellt Menschen in den Mittelpunkt, die etwas gewagt ha­ ben, und zeigt auf, was sich in der Er­ go­therapie mit Mut und unkonven­­tio­nel­len Ideen noch bewegen liesse.

Erscheinungsweise 2-mal jährlich Das Magazin kann kostenlos abonniert werden: zhaw.ch/gesundheit/vitamin-g ISSN 2504-1835 © Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck von Artikeln mit Genehmigung der ­Redaktion.

Institut für Ergotherapie

V I TA M I N G N R. 7 N OVE M B ER 2019 39


CAMPUS

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DEN HORIZONT ERWEITERN. Wer am Departement Gesundheit studiert, sieht die Welt. Wie diese zwei Hebammenstudentinnen, die fĂźr ein Praktikum nach Ghana reisten. Und dort auch das Strandleben genossen.


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