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Rudolf Steiner - Die Seelenwelt, Berlin, 10.11.1904

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RUDOLF STEINER

DIE SEELENWELT

Berlin, 10. November 1904

Wiederholt habe ich in diesen Vorträgen Veranlassung genommen, darauf hinzuweisen, dass die theosophische Weltanschauung nicht etwa von dem Wirken auf dem sinnlichen, dem unmittelbaren Gebiete, das den Menschen angewiesen ist, abführt, dass sie in phantastische, illusionäre Gebiete hinaufführt, wie es so häufig von den Gegnern dieser Weltanschauung behauptet wird. Das habe ich wiederholt zurückgewiesen. Es muss insbesondere aber heute, wo wir diejenige Welt in der Betrachtung der theosophischen Grundbegriffe betreten wollen, welche das Menschenwesen zu durchwandeln hat zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, dies noch einmal ganz besonders betont werden; denn die Gegner der theosophischen Weltanschauung werden ja nur zu leicht geneigt sein, alles dasjenige, was ich auf diesem Gebiete schildere, als etwas Imaginäres, als etwas ganz und gar Phantastisches zu erklären. Und dennoch, gerade in diesen Welten, die über der sinnlichen Welt liegen, in diesen übersinnlichen Gebieten erkennt derjenige, der einen tieferen Blick in die Natur der Dinge zu tun in der Lage ist, das eigentliche Wesen, den eigentlichen Grund aller Wesen. So wie niemand in der Lage ist, eine Dampfmaschine zu konstruieren, wenn er das Wesen des Dampfes nicht kennt, so ist niemand in der Lage, dasjenige zu verstehen und zu erklären, was rings vor unseren sinnlichen Organen sich abspielt, wenn er das Wesen des Seelischen und Geistigen nicht kennt. Die Ursachen zu dem Physischen liegen im Übersinnlichen, im Überphysischen. So wahr es ist, dass wir hinaufsteigen zu den höheren Gebieten, so wahr ist es, dass wir dieses übersinnliche Wesen nur deshalb zu erfassen suchen, um hier in dieser Welt tätig sein zu können. Das Wesen des Übersinnlichen müssen wir kennen, um es in die Welt unseres Sinnlichen hineinzutragen. Ich sage, insbesondere deshalb

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muss das betont werden, weil wir Gebiete betreten, die dem sinnlichen Auge völlig entzogen sind. Für die sinnliche Beobachtung ist das Menschenwesen tot in dem Augenblicke, wo das Seelisch-Geistige sich getrennt hat von dem Physischen. Kein Auge und kein Ohr kann Aufschluss darüber geben, welches das Schicksal des Menschen ist in derjenigen Zeit, in welcher er nach dem Tode einer neuen Verkörperung entgegengeht.

Dieses Schicksal zwischen Tod und Wiedergeburt wollen wir betrachten. Zu diesem Zwecke wollen wir uns vertiefen in die zwei Gebiete unseres Daseins, welche zu unserem Leben gehören, die ebenso zu unserem Leben gehören wie die Sonne und der Mond und wie alle Dinge, die auf unserer Erde sind. Nur weiß der bloß mit den physischen Sinnen ausgerüstete Mensch nichts von diesen höheren Welten. Er lebt darin; aber leben in einer Welt und wissen davon sind zwei völlig voneinander verschiedene Sachen. Sehr schön hat der deutsche Philosoph Lotze und auch der Dichter-Philosoph Hamerling immer und immer wieder ausgesprochen, dass, wenn der Mensch ohne Augen und Ohren wäre, die ganze um uns befindliche, in Tönen und Farben erscheinende Welt finster und stumm wäre. Nur dadurch, dass wir diese sinnlichen Organe haben, erglänzt die Welt in Farben und erklingt in Tönen. Wir müssen von dieser Welt sagen, dass wir nur soviel von ihr kennen, als uns durch unsere sinnlichen Organe zugänglich ist.

Eben ist ein interessantes Buch erschienen, das uns erzählt von dem Seelenleben einer Dame - Helen Keller -, welche mit anderthalb Jahren taubstumm und blind wurde und es dennoch zu einem weitausblickenden, geradezu genial zu nennenden Seelenleben gebracht hat. Stellen wir uns einmal klar vor, wie die Welt, die anderen Menschen in Farben erglänzt und in Tönen erschallt, einem solchen Menschen erscheinen muss, und stellen wir uns vor, wie einem Blindgeborenen und dann an den Augen Operierten die Welt, die vorher färb- und lichtlos war, aufglänzt und bereichert wird mit neuen Eigenschaften; dann ha-

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ben wir ein Bild von dem Menschen, der von der sinnlichen Anschauung zu der geistigen Anschauung erwacht, der herausoperiert wird von der Dunkelheit zur Helle. Über der gewöhnlichen Welt liegt eine seelische Welt, die für denjenigen, dessen geistiges Auge erschlossen ist, eine Wirklichkeit bedeutet. Diese seelische Welt wird in der theosophischen Literatur auch die astrale Welt genannt. Man hat viel eingewendet gegen den Ausdruck astrale Welt, weil man glaubte, ein mittelalterliches Vorurteil anzutreffen. Aber nicht umsonst ist diese Welt astral genannt worden von denjenigen, welche ein Sehvermögen im Seelischen haben. Denn genau ebenso wie Farben und Töne den physischen Sinnen erscheinen, so erscheinen zunächst in dieser astralen Welt als wahre Wirklichkeiten alle diejenigen Tatsachen, die wir zusammenfassen mit den Ausdrücken: Begierden, Instinkte, Leidenschaften, Triebe, Wünsche und Gefühle. Genau ebenso wie der Mensch verdaut, wie er sieht und hört, so wünscht er, so hat er Leidenschaften, so hat er Gefühle. Er lebt in der Welt der Leidenschaften, der Triebe und Begierden, der Gefühle und Wünsche, so wie er in der physischen Welt lebt. Und wie das physische Auge, wenn es einem anderen Menschen gegenübertritt, seine physischen Eigenschaften sieht, so sieht das erschlossene geistige Auge das, was wir als seelische Eigenschaften zusammenfassen. Genau ebenso wie die physischen Sinne die Elektrizität unterscheiden können von dem Licht oder das Licht von der Wärme, so kann das seelisch geöffnete Auge unterscheiden zwischen einem Trieb, einer Begierde, die in der Seele des anderen vorhanden sind, und dem Gefühl der Liebe, der Hingabe, dem Gefühle des religiösen Frommseins. Wie Wärme und Licht verschieden sind, so sind Liebe und religiöses Frommsein in der Welt des Seelischen verschieden. Und weil für das seelisch geöffnete Auge diese Eigenschaften aufglänzen wie Farbenerscheinungen, die durchtönt sind wie das Astrale, deshalb sind sie astral genannt worden.

Hier muss ich einiges von okkulten Vorstellungen einschalten. Unter ihnen verstehen wir diejenigen Vorstellungen, welche sich auf das Übersinnliche beziehen, die nur gewonnen werden

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können von solchen, deren geistige und seelische Sinnesorgane aufgeschlossen sind. Nichts ist absolut verborgen. Wünsche, Begierden und Leidenschaft sind nur für denjenigen verborgen, dessen seelische Organe nicht geöffnet sind. Wir können mit unseren seelischen Organen dasjenige erkennen, was der Mensch von den Eigenschaften der Seelenwelt an sich hat. Wie er uns mit einer bestimmten Physiognomie entgegentritt, so tritt uns auch jeder Mensch mit einer bestimmten seelischen Physiognomie entgegen. Und wie er einen physischen Körper hat, so hat er auch einen im seelischen Licht erstrahlenden Körper, der größer ist als sein physischer Körper, in den er eingehüllt ist wie in eine Lichtwolke, die in den verschiedensten Farben erglänzt und erglimmt. Ich erwähne absichtlich beides, denn beides ist vorhanden. Von den Eigenschaften, die sich auf Gedanken und Ideen beziehen, sieht man einige erglänzen, andere nur erglimmen. Man nennt diese Lichtwolke, die für das gewöhnliche Auge unsichtbar ist, für den Seher aber sichtbar, die menschliche Aura. Sie enthält alles dasjenige, was ich als seelische Qualitäten bezeichnet habe. Wir können genau unterscheiden zwischen denjenigen Eigenschaften, welche die Seele dadurch hat, dass sie nach dem Sinnlichen hinneigt, dass sie an das Sinnliche sich anklammert, den Begierden, die daher kommen, dass der Mensch das Sinnliche begehrt, und demjenigen, was sich bezieht auf selbstlose Hingabe, auf Gefühle der Liebe oder religiöses Frommsein. Wenn die Aura durchstrahlt wird mit Gefühlen, die aus den unteren Instinkten kommen, die mit dem materiellen Leben zusammenhängen, so durchströmt das in verschiedenen Gestalten, in blitzförmigen oder anderen Figuren die Seele in blutroten oder rötlich-orangen oder rötlich-gelben Farben, während alles, was mit edleren Gefühlen, mit edleren Leidenschaften zusammenhängt, wie mit Enthusiasmus, mit Frommsein, mit Liebe, in der Aura des Menschen erscheint in wunderschönen grünlichen, grünlich-blauen, blau-violetten und violett-rötlichen Farben.

So hat der Mensch sein Seelisches auf der einen Seite hindeutend nach dem Materiellen, begehrend das Materielle, sich an-

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klammernd daran, und auf der anderen Seite ist dieses Seelische mit dem entgegengesetzten Pole ausgerüstet, durch den es sich erhebt zu dem Edlen und immer wieder durchglüht und durchströmt wird von dem Edlen. Zwischen diesen beiden Eigenschaften ist das Leben der Seele geteilt. Diejenigen, welche in den grünen, blauen, violetten Farben hinleben, gehen durch viele Wiederverkörperungen hindurch, um sich diese edleren Eigenschaften zu erwerben. Zunächst ist die Seele ja ausgerüstet mit den niederen Eigenschaften, mit Trieben, Begierden, Leidenschaften, Instinkten. Sie muss diese haben, denn würde die Seele nicht dasjenige haben, was wir in der okkulten Philosophie das Verlangen nach dem Sinnlichen nennen, so würde die Seele in der Sinnenwelt nicht zum Handeln kommen. Dass der Mensch tätig ist in der Sinnenwelt, dass er sich Besitztümer verschafft, sich mit den Materialien der Sinnenwelt Werkzeuge für sein Leben formt, das entspringt daher, dass der Mensch Begierden hat nach dem sinnlichen Leben. Dieses Verlangen ist zunächst für die noch unentwickelte Seele, in den Zeiten, in denen sie ihre ersten Wiederverkörperungen durchmacht, eigentlich das allein treibende Prinzip. Nur dadurch wird die jugendliche Seele in Tätigkeit versetzt. Wenn die Seele dann durch die Wiedergeburten schreitet, schwingt sie sich immer mehr und mehr dazu auf, nicht nur aus den Begierden heraus zu wirken, sondern aus Erkenntnis, aus Hingabe, aus Liebe. So schreitet die Seele fort auf ihrer Pilgerschaft durch die Welt vom Verlangen zur Liebe. Das ist der Weg, den die Seele nimmt: vom Verlangen zur Liebe. Die Seele, welche verlangt, haftet am KörperlichSinnlichen. Diejenige aber, welche liebt, lässt sich vom Geiste durchdringen, gehorcht dem Geiste, erfüllt das Gebot des Geistes. Das ist der Unterschied im Alter der Seelen. Die jungen Seelen sind die begehrenden, die reifen Seelen sind diejenigen, welche lieben, das heißt, den Geist in sich wirken lassen. In der Seelenwelt oder in der astralen Welt sehen wir diesen Seelenkörper des Menschen erglänzen in seinen verschiedenen Eigenschaften, und wir können dadurch unterscheiden den Grad der Reife, den eine menschliche Seele hat. Alle die Eigenschaften,

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die wir an diesem Seelenkörper beobachten können, rühren her aus der Hingebung zum Sinnlichen oder aus der Hingebung zum Geistigen.

Nun werden wir auch verstehen, was eigentlich «sterben» heißt. Den Begriff, die Vorstellung des Sterbens wollen wir einmal mit diesem eben gewonnenen Begriff zu verstehen suchen. Was geschieht zunächst, wenn der Mensch stirbt? Dasjenige, was bisher in seinem physischen Leibe nicht allein physischen Gesetzen gefolgt ist, sondern was auch gehorcht hat den seelischen Gesetzen - die Hand, die sich bewegt hat nach Maßgabe der Gefühle, die die Seele durchwogt haben, der Blick, der hinausgesehen hat in die Welt, weil er getragen worden ist von den geistigen Eigenschaften in der Seele, die Physiognomie, welche gespielt hat, je nachdem die Seele ihr die Form gab -, alles das, was im Leben so der Seele gehorcht hat, geht nach dem Sterben des Leibes seine eigenen Wege. Der Leib des Menschen, insofern er ein Zusammenhang ist von physischen und chemischen Kräften, folgt nicht mehr den seelischen Impulsen, sondern den physikalischen Kräften der Welt, die ihn nunmehr völlig in Anspruch genommen hat. Er gehört fortan der äußeren physischen Welt an, und niemand, der sich nur beschäftigt hat mit denjenigen, welche das übersehen haben, kann entscheiden darüber, dass das Seelisch-Geistige, das früher den Leib beherrscht hat, entschwunden ist, denn jetzt ist das Seelisch-Geistige lediglich zugänglich dem geöffneten Auge des hellsehenden Menschen. Wir werden in den letzten Stunden, die sich mit den theosophischen Grundbegriffen beschäftigen, davon hören, wie der Mensch schon in diesem Leben das Auge geöffnet erhält für das höhere Leben und ihm daher bewusst werden kann, was ich erzählt habe. Aber Sie sehen von vornherein, dass das Schicksal des Geistes nach dem Tode nur verstanden werden kann vom Gesichtspunkte des Übersinnlichen aus. Jemand, der sich nur mit der Naturwissenschaft beschäftigt, ist nicht berufen, etwas über das Geistige auszumachen. Der Mensch war ausgerüstet mit physiologisch-chemischen Kräften. Die hat er nicht mehr zu beherrschen nach dem Tode; sein «Körper» ist dann nur noch ein seeli-

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scher Leib. Das, was in ihm gelebt hat an Wünschen, Begierden, Leidenschaften, an Liebe, Enthusiasmus und Frommsein, das war ja nicht gebunden an die physisch-chemischen Gesetze, das hat diese vielmehr in seinen Bannkreis gezogen. Das Seelische ist nach dem Tode da, wie es vorher da war, nur unvermischt mit dem leiblichen Körper. Wenn der Mensch während des physischen Lebens, wie wir gesehen haben, aus Geist, Seele und Leib besteht, so besteht er nach dem Tode aus Geist und Seele. Und wie der Mensch sein Leben abspielt in der physischen Welt, so spielt er auch nachher, in der höheren Welt, in der seelischen oder geistigen Welt sein Dasein ab. Das sind die Aufenthaltsorte, welche der Mensch durchzumachen hat, das Seelenland und das Geisterland.

Diese beiden lassen Sie uns des näheren betrachten. Man kann sie ebenso betrachten, diese astrale Welt oder diese mentale Welt, wie unsere physische Welt. Wie es in unserer physischen Welt die mannigfaltigsten Naturkräfte gibt, wie Wärme, Elektrizität, Magnetismus, so gibt es auch da die mannigfaltigsten Kräfte. Diese lassen sich in ganz bestimmte Gruppen bringen, die wir eben einmal kennenlernen müssen, weil wir nur dadurch einen Einblick gewinnen können in die Schicksale der Seele nach dem Tode. Da haben wir die niederste Gruppe von seelischen Eigenschaften, die eigentliche Begierdenwelt, die sich für den Okkultisten die Welt der sogenannten Begierdenglut benennt. Es ist diejenige Welt, welche in unserer Seele selbst erzeugt wird durch die niedersten Hinneigungen der Seele zum physischen Leibe. Alle diejenigen Gefühle unserer Seele drücken sich in der Begierdenwelt aus, die von dem Begehren der Seele nach dem Physischen kommen. Das ist die niederste Form des seelischen Lebens, die Glut der Begierden, die man daher auch in der Mystik genannt hat das brennende Feuer der Begierden. Lassen Sie uns jetzt auf die Natur der Betrachtung eine Vorschau werfen; das wird Ihnen erklären, wie der Unterschied ist zwischen dem Leben im Leibe und dem Leben ohne den Leib, wenn Sie diese Eigenschaft der Seele, die mit der Begierdenglut zusammenhängt, betrachten. Was ist die Begierde

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für die im Leibe lebende Seele? Sie ist ein Hinabstreben des seelischen Verlangens nach einem physischen Gegenstande, nach physischer Befriedigung. Nur dann verändert sich die Farbe der Begierdenglut der Seele, die aus der Seele herausströmt wie der elektrische Strom herausströmt aus einer Spitze, die elektrisch geladen ist, wenn die Begierde befriedigt wird. Der Strom ändert sich sofort, wenn die Begierde befriedigt wird. Dann hört das Begierdenfeuer auf zu brennen. Das ist ein wichtiger, für den Seelenforscher maßgebender Moment, wenn eine Begierde ihre Befriedigung findet. Es nimmt sich für den Seelenbeobachter aus, wie wenn ein Feuer gelöscht wird mit Wasser. Dass diese Begierdenglut gelöscht werden kann mit dem Befriedigen, das rührt daher, weil der Mensch einen Leib hat. Die sinnliche Begierde kann nur sinnlich befriedigt werden. Da ist der Gaumen, der Wohlschmeckendes begehrt. In dem Augenblicke aber, wo kein Gaumen mehr da ist, ist es unmöglich, die Begierde zu befriedigen. Die Seele hängt am Gefühle, an der sinnlichen Welt. Befriedigt kann die Begierde nur so lange werden, als die Seele mit dem Leib verbunden ist. In dem Augenblicke, wo sie nicht mehr mit dem Leibe verbunden ist, ist es unmöglich, die Begierde zu befriedigen, und sie leidet unsäglich an der Unmöglichkeit, nicht mehr befriedigt werden zu können. Das ist einer der Zustände, die die Seele durchzumachen hat im Kamaloka. Um sich zu befreien, muss sie jenen Zustand kennenlernen, welcher zwar die Begierde vorhanden sein lässt, aber die Unmöglichkeit der Befriedigung der Seele vor Augen führt. Dann lernt die Seele die Begierde allmählich abstreifen. Das ist eine Vorstellung, die gewonnen werden muss, wenn der Mensch sich einen Begriff machen will von dem, was geschieht zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Die weiteren Vorgänge müssen wir aber erst kennenlernen, wenn wir einen genauen Blick getan haben in das, was wir Seelenwelt und Geisterland nennen.

Bevor ich die Schicksale zwischen dem Tode und einer weiteren Geburt schildere, werde ich genau diese Gruppe von seelischen Qualitäten und seelischen Vorgängen schildern, die wir finden

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in der übersinnlichen Welt. Die Begierde war das erste. Das zweite ist der seelische Reiz, dasjenige, was nicht unmittelbar Begierde ist. Es ist aber zusammenhängend mit dem Sinnlichen, was uns umgibt, wenn wir von der menschlichen Sinnlichkeit sprechen. Es ist der Reiz, der sich in edleren Farben zum Ausdruck bringt, der die Freude der Hingabe an die unmittelbare Sinnlichkeit bedeutet; der das Gefühl sich erheben lässt, gehoben sein lässt an der Farbe, die uns umgibt, an der Form, die wir erleben, an dem Geruch, den wir an uns herankommen spüren. Diese Hingabe an das Sinnliche, dieses Weben und Leben durch die sinnlichen Organe in der Umwelt, das bezeichnen wir als die Kraft des seelischen Reizes. - Ein weiteres Gebiet des seelischen Lebens ist das Gebiet der Wünsche. Die Wünsche beziehen sich darauf, dass die Seele Sympathie empfindet für dasjenige, was in ihrer Umwelt lebt, und daher ihre Gefühle eben in der Form des Wunsches auf diesen Gegenstand der Umwelt lenkt. Sie lebt nicht mehr bloß durch die Sinne in der sinnlichen Umwelt, sondern sie erfüllt sich für diese Umwelt mit dem Gefühl der Liebe. Diese ist aber noch ganz erfüllt von Selbstsucht, von Egoismus. Seelenliebe, die noch erfüllt ist von Egoismus, nennen wir in der theosophischen Sprache die eigentliche Qualität der seelischen Wünsche, der Wunscheswelt. Damit haben wir die dritte Gruppe des seelischen Erlebens kennengelernt, die Welt der Wünsche. Die vierte Gruppe ist diejenige, wo die Seele nicht mehr auf etwas in der Umgebung gerichtet ist, sondern wo diese Seele gerichtet ist auf dasjenige, was in dem eigenen Körper lebt; wo das Gefühl sich richtet auf dasjenige, was in dem eigenen Körper als Wohlsein, als Wehesein, als Lust- und Unlustgefühle sich abspielt. Dieses innere Wogen der Gefühle im eigenen Dasein, diese Selbstlust, diese Daseinslust bezeichnen wir bei jedem Wesen als die vierte Gruppe der seelischen Kräfte. Und eine fünfte Gruppe der seelischen Kräfte führt uns herüber aus der Welt des Verlangens in die Welt der sich durch Sympathie ausgießenden Seele. Alles was wir bisher kennengelernt haben, war mit Verlangen verknüpft, war damit verknüpft, dass die Seele die Dinge auf sich selbst bezogen hat.

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Jetzt lernen wir die Dinge kennen, wo die Seele ausstrahlt ihre Wesenheit, wo sie sympathisiert mit anderen Wesen ihrer Umgebung. Es gibt davon zwei Arten. Zuerst haben wir es zu tun mit der Liebe zu der Natur und dann mit der Liebe zu unseren Mitmenschen. Diese seelischen Kräfte bezeichnen wir als die fünfte Gruppe seelischer Tatsachen mit dem Namen des Seelenlichtes. Ebenso wie die Sonne ihr physisches Licht ausstrahlt, so strahlt die Seele hinaus ihr Licht, wenn sie sympathisiert mit der Welt, wenn sie sie einhüllt, beleuchtet mit dem Licht ihrer Liebe. Das erscheint für denjenigen Menschen, der nur Organe hat für das Physische, als etwas Illusionäres. Es ist aber viel wirklicher für denjenigen, der Geistesaugen und Geistesohren hat, als der Tisch und die Wände, die uns umgeben, viel wirklicher als das Licht der physischen Flamme. Die sechste Gruppe der seelischen Tatsachen ist dasjenige, was der Okkultist die eigentliche Seelenkraft nennt, dasjenige, was die Seele mit Enthusiasmus erfüllt für ihre Aufgabe in der Welt, die liebevolle Hingabe an die Pflicht, die in wunderschönen violetten und blau-violetten Farben erstrahlt. Dieses bildet das Geisteslicht, welches aus der Seele heraus die Antriebe und Impulse für die menschliche Tätigkeit holt. Insbesondere entwickelt ist dies bei philanthropischen Menschen. Diese Gefühle begleiten die großen hingebungsvollen Taten der menschlichen Seele in dieser physischen Welt. Das sind die Erlebnisse der sechsten Gruppe. Und die Erlebnisse der siebenten, der höchsten Gruppe, das sind die Kräfte des eigentlichsten seelischen Geisteslebens. Es ist da, wo die Seele nicht mehr mit ihrem Gefühle auf das bloß Sinnliche sich bezieht, sondern wo sie das Licht des Geistes in sich einstrahlen lässt, wo die Seele sich höhere Aufgaben stellt, als sie in der bloßen Sinnenwelt bekommen kann, wo ihre Liebe hinausgeht zu jener geistigen Liebe, die Spinoza schildert am Ende seiner berühmten «Ethik», wo er davon spricht, dass das Höchste sich eingießt in die Seele und dass es wieder als Gottesstrahl herausstrahlt.

Wir haben das Seelische in der Menschenseele beobachtet und verfolgt von der egoistischen Begierde bis zur geistigen All-

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Liebe. Diese sieben Stufen der geistigen Tatsachen treten demjenigen, dessen Auge geöffnet ist, überall in der Welt entgegen. Die Welt erstrahlt nicht nur in Farben und ertönt nicht nur in Schallerscheinungen, sondern erstrahlt auch in der Welt der Wünsche, Begierden und Leidenschaften, erstrahlt auch in der Welt der Liebewirkungen. Das alles sind Wirklichkeiten. Und wenn die Seele diesem Schauplatz entzogen ist, dann ist sie auf einem anderen Schauplatz, welcher sich insofern von dem äußeren Sinnenschauplatz unterscheidet, als dieser äußere sinnliche Schauplatz nur dasjenige bietet, was Augen und Ohren und die anderen Sinne zunächst wahrnehmen können. Für das Organ verhüllt das Sinnliche gerade das Seelische, weil sich das Seelische zum Ausdruck bringt durch das Sinnliche. So erscheint das Seelische nur durch das Sinnliche. Die Seele hört durch die Töne der Sprache, fühlt durch das Tasten und so weiter.

Das geistige Auge sieht darüber hinaus, sieht die seelischen Tatsachen in ihrer Bloßheit, in ihrer Nacktheit. Wenn die Seele dem Schauplatz der Sinne entrückt ist, dann lebt sie in der Seelenwelt. Das sind die Erlebnisse der Seele in der Seelenwelt, die sie unmittelbar nach dem Tode durchmacht. Da lebt sie in einer von allen physischen und chemischen Kräften freien Welt, in einer Welt von Leiden, Begierden und Trieben. Sie hat zunächst alles dasjenige auszubilden, was da ausgebildet werden kann. Hüllenlos, das heißt ohne physische Hülle, ist sie hingegeben dem, was an sie heranflutet und sie selbst durchströmt. Sie läutert sich allmählich durch diese sie durchströmenden Eigenschaften, indem sie kennenlernt die Begierden, ohne die Möglichkeit zu haben, sie zu befriedigen. Da lernt die Seele leben ohne den physischen Leib. Da lernt sie ein Selbst zu sein, ohne die physische Lust und ohne den physischen Schmerz, ohne das physische Wohlbehagen und ohne das physische Missbehagen. Und da fühlt sie sich zunächst nicht mehr als ein Selbst. Die leibverkörperte Seele fühlt sich als Selbst, weil sie im Leibe sich befindet. Die Seele im Leibe sagt zu ihrem Leibe «ich». Will sie aber nach dem Tod «ich» sagen, so lernt sie das Gefühl des Lei-

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bes kennen, ohne die Möglichkeit, es zu leben. Gewöhnt sie sich das ab, so lernt sie sich als Seele empfinden. Sich als Seele empfinden lernt der Mensch in der vierten Region, und je öfter der Mensch hindurchgegangen ist durch diese Region, je länger seine Seelenpilgerschaft gedauert hat, desto kräftiger ist ausgebildet sein Seelenselbstgefühl, desto mehr weiß er dann auch, wenn er wiederverkörpert wird, nicht nur zu seinem Leibe, sondern auch zu seiner Seele «ich» zu sagen, desto mehr fühlt er sich als seelisches Wesen. Das ist der Unterschied zwischen einem Menschen, der viele, und einem Menschen, der wenige Verkörperungen durchgemacht hat. Der Hochentwickelte fühlt sich als Seelenwesen. - Dann lernt der Mensch auch diese höhere Region kennen, die wir bezeichnet haben als das Seelenlicht, als die Seelenkraft und als die Geistseele. Da lebt und webt sich der Mensch hinein. Man ist gewohnt, diese höchsten Partien des astralischen Gebietes in der theosophischen Literatur als das Sommerland zu bezeichnen. Das ist dasjenige Gebiet, in dem die Seele allmählich übergeht in die Sympathiesphären, in die Sphären, wo sie in lauter Liebe zur Umwelt und in lauter Liebe zu den Farben leben lernt. Erst dann, wenn des Menschen Seele nach dem Tode hindurchgegangen ist durch diese verschiedenen Regionen, dann ist sein Geist, der dritte, der höchste Teil des Menschen, befähigt, alles Astralische, alles Seelische, was von Wünschen, Begierden und Leidenschaften erfüllt ist und das sich noch an das Sinnliche klammert, hinter sich zu lassen. Und nur dasjenige, was von der Seele dem Geiste gehört, was Geist entwickelt hat in dem Seelischen, das lebt weiter, nachdem der Mensch die Hinneigung, das Verlangen nach dem Sinnlichen abgestreift hat.

Jetzt tritt die Seele in diejenige Region ein, wo sie nichts mehr zu tun hat mit den Kräften, die nach unten gehen. Weil der Geist sie ganz durchdringt, tritt sie jetzt ein in das Gebiet des Devachan, in das eigentliche Geisterland. Das Geisterland, das die Seele durchlebt, beansprucht weitaus die längste Zeit des Lebens nach dem Tode. Die Zeit der Läuterung im Kamaloka ist verhältnismäßig kurz. Nachher, im Devachan, kommt alles zum

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freien, ungehinderten Ausleben, was sie an Erfahrungen in der irdischen, physischen Welt gewonnen hat, damit sie in Liebe wirken kann in dieser physischen Sinnenwelt. Nicht in der physisch-sinnlichen Welt selbst kann der Geist zum völligen Ausdruck kommen. Wir erwerben zwischen der Geburt und dem Tode fortwährend Erfahrungen. Aber diese sind eingeklemmt, wie eine Pflanze eingeklemmt ist in einen Felsspalt. Im Geisterlande stärkt und kräftigt sich die Seele. Von diesem Aufenthalt der Seele im Geisterlande wird der nächste Vortrag handeln. Er wird zeigen, welches das Schicksal der Seele ist in der weitaus längsten Zeit, die sie durchzumachen hat zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Die astrale Welt erscheint noch als etwas Niederdrückendes, dazu bestimmt, vieles abzustreifen. Das Geisterland ist ein solches, vor dem keine Furcht bestehen kann. Nichts verbindet den Geist, der eine Seele durchströmt, mit dem, was nach dem bloß Sinnlich-Materiellen hinzieht. Das Schicksal, das er da durchlebt und das uns das wahre Wesen des Menschen eröffnen soll, werden wir aus den Erfahrungen im Devachan zu zeichnen haben. Lassen Sie mich nur noch das eine erwähnen. Es könnte leicht scheinen, dass die einzelnen Gebiete der astralen Welt wie einzelne Schichten oder Lagen übereinander liegen. Das ist nicht der Fall. Sie sind mehr aufzufassen wie verschiedene Zustände des Bewusstseins. Nicht der Ort ändert sich, in dem der Mensch sich befindet, sondern der Zustand des Bewusstseins ändert sich. Das Seelenland, das Geisterland ist überall um uns. Überall ist eine Welt des Seelischen und Geistigen um uns, die wie Farbe und Licht aufglänzt, wenn die Seele fähig wird, die geistigen Augen, die geistigen Ohren zu gebrauchen. Das ist es, was für die Seele die ganze physische Welt versinken lässt. Ebenso wie Sie etwa einen Schleier sehen konnten und dann, wenn der Schleier versinkt, hinter den Schleier sehen, ebenso wird für die Seele zum Erlebnis, was in der Wunsch- und Begierdenwelt vorgeht, wenn sie den Schleier des sinnlichen Tastens, Sehens, Hörens abstreift. Eine andere Welt breitet sich dann um sie aus, eine Welt, die sonst auch um sie da war, aber nicht erlebt worden ist, die jetzt aber erlebt wird. Ein

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anderer Zustand des Erlebens ist es, in den die Seele eintritt. Nicht verschiedene Orte, nicht verschiedene Gebiete sind es, es ist eine Metamorphose des menschlichen Lebens. Von Stufe zu Stufe schreitet der Mensch auf seiner Lebenspilgerschaft. Das lehrt uns, dass wir im Übersinnlichen die Gründe für das Sinnliche zu suchen haben. Wir wollen diesen Ausblick in das Übersinnliche deshalb tun, um so gestärkt wieder in die wirkliche Welt hineinzugehen, mit dem vollen Bewusstsein, dass wir nicht nur sinnliche Wesen sind, sondern dass wir seelische und geistige Wesen sind. Mit diesem vollen Bewusstsein arbeiten wir in der Welt kräftig, mutvoll und sicherer, als wenn wir bloß glaubten, dass wir nur sinnliche Wesen seien. Das ist es, was die theosophische Weltanschauung unmittelbar bringt. Nicht untüchtiger, sondern tüchtiger, mutiger, kräftiger, kühner soll sie den Menschen machen. Das ist nicht die richtige Theosophie, welche den Menschen vom Leben abzieht. Die Kenntnis des Übersinnlichen wollen wir deshalb vermitteln, weil im Übersinnlichen der Ursprung und die Wesenheit des Sinnlichen zu suchen ist. Das haben alle wahren Erkenner und echten Okkultisten jederzeit gesagt, und das ist auch in allen inspirierten Schriften der Völker aller Zeiten zu finden. Und so richtig tönt es uns herüber wie bei unseren eigenen Mystikern aus dem wunderbaren, künstlerisch vollendeten Schriftwesen des Ostens. Wir finden da eine Stelle in den Upanishaden, mit der ich diese Betrachtung heute schließen möchte, die uns so recht sagt, wie sich das Sinnlich-Endliche zu dem Übersinnlichen, EwigDauernden verhält. Sie zeigt, wie das Sinnlich-Endliche hervorgeht aus dem Ewig-Dauernden, wie der einzelne Funke aus der Flamme hervorgeht. Die Flamme, sie bleibt ein Ganzes, sie bleibt ein Dauerndes, wenn auch der sinnliche Funke abstirbt. Die einzelne sinnliche Erscheinung springt ab von dem Ewigen und kehrt wieder zu dem Ewigen zurück. So sagen die Upanishaden: «So wie aus dem wohlentflammten Feuer die Funken, ihm gleichen Wesens, tausendfach entspringen, so gehn aus dem Unvergänglichen die mannigfachen Wesen hervor und wieder in dasselbe ein.»

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DIE SEELENWELT Berlin, 10. November 1904 15 RUDOLF STEINER ONLINE ARCHIV http://anthroposophie.byu.edu 4. Auflage 2010
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