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Rudolf Steiner - Das Böse im Lichte der Erkenntnis vom Geiste, Berlin, 15.01.1914

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RUDOLF STEINER

DAS BÖSE IM LICHTE DER ERKENNTNIS VOM GEISTE

Berlin, 15. Januar 1914

Was uns heute hier beschäftigen soll, ist im Grunde genommen eine uralte Frage der Menschheit: die Frage nach dem Ursprünge des Übels und des Bösen in der Welt. Und obwohl in unserer Gegenwart zahlreiche Menschen der Ansicht sein werden, dass diese Frage im Grunde genommen gar keine solche mehr darstellen kann, so wird doch die menschliche Seele immer wieder und wieder sich gedrängt fühlen sie aufzuwerfen. Denn es ist ja diese Frage keine solche, die nur von theoretischwissenschaftlichen Gesichtspunkten aus an unsere Seele herantritt; es ist vielmehr eine Frage, welcher die Menschenseele auf Schritt und Tritt im Leben begegnet, weil ihr Leben ebenso wie in das Gute, in das Wohltätige, so auch in das Übel und in das Böse hineingestellt ist. Man kann auf der einen Seite, man möchte sagen, die ganze Geschichte des menschlichen Denkens und Sinnens aufrollen, um sich davon völlig zu überzeugen, dass unsere Frage immer eine Frage der tieferen Geister der menschlichen Entwickelung war, und man kann auf der anderen Seite noch bedeutende, hervorragende Denker des neunzehnten Jahrhunderts und unserer Zeit studieren, und man wird finden, dass selbst bei diesen hervorragendsten Denkern Halt gemacht wird mit aller Philosophie, mit allem Erkenntnisstreben gerade vor dieser Frage. So wollen wir denn heute das, was sich in dem Vortrags-Zyklus dieses Winters aus der Geisteswissenschaft heraus ergeben hat, als eine Grundlage zu betrachten versuchen, von der ausgehend man sich vielleicht einer Antwort auf das Rätsel des Übels und des Bösen nähern kann. Ich sage ausdrücklich «sich nähern kann»; denn was ich oftmals betonte - dieser bedeutungsvollen Frage gegenüber muss es ganz besonders gelten: Geisteswissenschaft eröffnet nicht nur die Blicke in Gebiete des Daseins, welche der äußeren Wissenschaft nicht erreichbar

sind, sondern sie macht in einer gewissen Weise auch bescheiden. Und gerade an einer solchen Frage werden wir vielleicht erfühlen können, dass es ein Leichtes ist, die höchsten Fragen aufzuwerfen, wie sie ja gewöhnlich aufgeworfen werden, wenn man gewissermaßen am Beginne des Erkenntnisstrebens ist, dass aber wirkliches Erkenntnisstreben dazu führt, vielfach nur die ersten Schritte zu zeigen zu den Wegen, auf denen man sich der Lösung der großen Lebensrätsel allmählich nähern kann. Zuerst gestatten Sie mir, dass ich einiges vorausschicke, was klar machen soll, wie tief einschneidend diese Frage die Herzen und Seelen bedeutender Denker durch lange Zeiten hindurch beschäftigt hat. Wir könnten weit zurückgehen in der Menschheitsentwickelung; wir wollen aber zunächst nur hinweisen auf Denker in den letzten Jahrhunderten vor der Begründung des Christentums in Griechenland: auf die Stoiker, jene merkwürdige Denkergruppe, welche, auf den Anschauungen des Sokrates und des Plato fußend, die Frage zu beantworten versuchte: Wie muss sich der Mensch verhalten, der sich so in das Leben hineinstellen will, dass dies dem Innersten seines Wesens entspricht, gewissermaßen seiner ihm vorgezeichneten und für ihn erkennbaren Bestimmung? Dies können wir als die Grundfrage der Stoiker bezeichnen. Und als ein Ideal für den Menschen, der sich seiner Bestimmung gemäß in das Weltenall hineinzustellen bestrebt war, tauchte vor den Seelenaugen der Stoiker das Ideal des Weisen auf. - Es würde zu weit führen, wenn man in ausführlicher Art das Ideal des stoischen Weisen schildern wollte, und wie es zusammenhängt mit der ganzen stoischen Weltanschauung. Aber das eine sei wenigstens hervorgehoben, dass im Stoizismus uns ein Bewusstsein davon entgegentritt, dass die menschliche Entwickelung dahin gehe, immer klarer und klarer des Menschen selbstbewusstes Wesen, des Menschen IchBewusstsein herauszuarbeiten. Es sagte sich der stoische Weise: Dieses Ich, durch welches der Mensch in völliger Klarheit sich in die Welt hineinzustellen vermag, dieses Ich kann getrübt werden, kann gleichsam sich selber betäuben; und es betäubt sich, wenn der Mensch in das Wellen- und Wogenspiel seines

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Vorstellens und Empfindens sein Affektleben zu stark hereinkommen lässt. Wie eine Art geistiger Ohnmacht erschien es dem Stoiker, wenn der Mensch die Klarheit seines Ich überfluten lässt, benebeln lässt von seinem Leidenschafts- und Affektwesen. Daher: niederhalten in der menschlichen Seele Leidenschafts- und Affektwesen, Erstreben der Ruhe und des Gleichmaßes, das führt im Sinne der Stoiker zur Befreiung von den geistigen Ohnmächten der Seele.

Man sieht: was hier öfter hervorgehoben werden musste als die ersten Schritte auf dem Wege zu einer Erkenntnis der geistigen Welt, die ja auch darin bestehen, dass das wilde Gewoge des Affekt- und Leidenschaftswesens, das gleichsam eine geistige Ohnmacht erzeugt, niedergehalten wird und die Klarheit des seelischen Schauens herausgezogen wird aus dem ganzen seelischen Erleben -, was so dargestellt wurde als die ersten Schritte auf dem Wege, der dann in das geistige Schauen hineinführt, das schwebte den Stoikern vor. Gerade diese Seite des stoischen Wesens, das in der Geschichte der Philosophie noch wenig herausgearbeitet worden ist, versuchte ich in der Neuauflage meiner «Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert» mit Bezug auf den Stoizismus herauszuarbeiten. So schwebt in der charakterisierten Art der Leidenschaftsbezwinger, der Affektbezwinger als der Weise wie ein Ideal dem Stoizismus vor. Und derjenige, der so als Weiser sich in die Weltenentwickelung hineinstellt, erkennt im Sinne des Stoizismus, dass diese Weltenentwickelung fähig ist, ihn aufzunehmen, dass diese Weltenentwickelung wirklich auch von Weisheit durchdrungen ist, so dass er seine Weisheit gleichsam in die Fluten der Weltenweisheit untertauchen muss.

Immer, wenn also die Frage auftaucht: Wie stellt sich das menschliche Selbst in das ganze Gefüge der Weltordnung hinein? - entsteht daher die andere Frage: Wie lässt sich mit der Weisheit der Weltenordnung, die der Mensch voraussetzen muss, wenn er sich in sie hineinstellen will, dasjenige vereinigen, was als Übel in der Breite der Weltenerfahrung herrscht,

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und was als Böses sich dem Weisheitsstreben des Menschen entgegenstellen kann?

Nun stand vor dem Seelenauge der Stoiker das, was man später genannt hat die göttliche Vorsehung. Wie findet sich nun der Stoiker mit dem Übel und dem Bösen gegenüber diesen seinen Voraussetzungen ab?

Da taucht bei dem Stoiker schon etwas auf, was man auch heute noch, wenn man nicht in die Geisteswissenschaft selber eindringen will, sondern gleichsam nur bis zu den Pforten derselben geht, wie eine Art Rechtfertigung des Übels und des Bösen vorbringen kann; es tauchte vor dem Stoiker auf die Notwendigkeit der menschlichen Freiheit. Und nun sagte er sich: Wenn der Mensch das Ideal des Weisen aus seiner Freiheit heraus erstreben soll, muss ihm die Möglichkeit geboten sein, es auch nicht zu erstreben. Freiheit muss liegen in seinem Streben nach dem Ideal des Weisen. Damit aber muss gegeben sein, dass er auch bleiben könne bei demjenigen, aus dem er herausstreben soll; damit muss gegeben sein, dass er gleichsam untertauchen könne in das Affekt- und Leidenschaftswesen. Dann taucht er eben unter, meinte der Stoiker, in ein Reich, das zunächst nicht sein Reich ist, das eigentlich ein Reich unter seinem Wesen ist. Und der weisen Weltenordnung vorwerfen zu wollen, dass der Mensch so untertauchen könne in ein Reich, das unter ihm ist, das wäre ebenso gescheit, als wenn man der weisen Weltenordnung vorwerfen wollte, dass es unter dem Menschen ein Reich der Tiere, Pflanzen und Mineralien gibt. Dass es ein Reich gibt, in das der Mensch untertauchen kann, das seiner Weisheit entrückt ist, wussten die Stoiker; dass er selber aber aus ihm empor tauchen kann, muss seine eigene freie Wahl, seine Weisheit sein.

Man sieht: der Begriff vieler vor dem Tore der Geisteswissenschaft gelegenen Antworten nach der Bedeutung des Bösen liegt schon in der alten stoischen Weisheit; und man kann nicht sagen, dass in Bezug auf die Erfassung des Bösen als solchem die späteren Jahrhunderte einen wirklichen Fortschritt zeigen. Das

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kann sich uns gleich herausstellen, wenn wir zu einem Geist gehen, der sonst ein außerordentlich bedeutender Geist ist, der in der Zeit nach der Begründung des Christentumes lebte und auf die Gestaltung des abendländischen Christentums einen großen Einfluss genommen hat: zu Augustinus. Auch Augustinus muss über die Bedeutung des Bösen in der Welt nachdenken, forschen; und er kommt zu einem eigentümlichen Ausdruck: dass das Übel ebenso wie das eigentliche Böse gar nicht eigentlich da seien, sondern dass sie etwas bloß Negatives seien, dass sie die Negation des Guten seien. Es sagte sich also Augustinus: Das Gute ist etwas Positives; aber da ein endliches Wesen in seiner Schwachheit das Gute nicht immer ausführen könne, so begrenze sich das Gute; und dieses begrenzte Gute brauche man ebenso wenig als etwas Positives erklären, wie man den Schatten, der durch das Licht hervor gerufen würde, als etwas Positives erklären würde. Wenn man den Kirchenvater Augustinus also über das Böse reden hört, so wird man eine solche Antwort gegenüber dem, was man heute bei einem schon durch einige Jahrhunderte vorgeschrittenem Denken sich vorstellen könnte, vielleicht naiv finden. Aber wie es eigentlich mit der Frage nach der Bedeutung des Bösen steht, kann uns daraus hervorgehen, dass noch in unseren Tagen ein Gelehrter genau dieselbe Antwort gegeben hat: Campbell, der die sogenannte «Neue Theologie» geschrieben hat, und dessen Werke in gewissen Kreisen großes Aufsehen gemacht haben. Auch er glaubt, dass man nach dem Übel und dem Bösen nicht fragen könne, weil sie nichts Positives darstellten, sondern etwas bloß Negatives seien. Auf haarspalterische, philosophische Deduktionen zur Widerlegung der Augustinisch-Campbellschen Anschauung wollen wir uns nicht einlassen. Denn für jeden, der unbefangen und vorurteilslos denken kann, steht ja diese Antwort von der bloßen Negativität des Übels auf demselben Boden, wie die Antwort, die jemand geben würde, der da sagte: Was ist denn die Kälte? Kälte ist nur etwas Negatives, nämlich die Abwesenheit der Wärme. Deshalb kann man von ihr nicht als von etwas Positivem sprechen. Zieht man sich aber, wenn es kalt ist, kei-

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nen Pelz oder Winterrock an, so wird man dann schon dieses Negative als etwas sehr Positives verspüren! Durch dieses Bild mag völlig klar werden, wie wenig man mit der wahrhaftig nicht tiefgehenden Antwort zurecht kommt, die ja auch große Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts gegeben haben: dass man es gegenüber dem Übel und dem Bösen mit nichts Positivem zu tun habe. Mag sein, dass man es dabei mit nichts Positivem zu tun hat; aber dieses «Nicht-Positive» ist gerade ebenso negativ, wie etwa die Kalte gegenüber der Wärme.

Nun könnte man auch eine ganze Gruppe anderer Denker anführen, die durch die Vorbereitungen ihres Seelenlebens schon, man möchte sagen, demjenigen nahekommen, was nun die Geisteswissenschaft zu sagen hat. Man könnte unter diesen zum Beispiel Plotin anführen, den Neuplatoniker, der in der nachchristlichen Zeit lebte und noch auf den Prinzipien des Plato fußte; und mit ihm führt man zugleich eine große Zahl anderer Denker an, die über das Böse und das Übel in der Welt nachgedacht haben. Sie versuchten sich klar zu machen: Der Mensch sei zusammengefügt aus einem Geistigen und einem MateriellLeiblichen. Durch das Untertauchen in das Leibliche nehme der Mensch teil an den Eigenschaften der Materie, die von vornherein Hindernisse und Hemmnisse der Betätigung des Geistes entgegenstellt. In diesem Untertauchen des Geistes in die Materie liegt eben der Ursprung des Bösen im menschlichen Leben; aber es liegt darin auch der Ursprung des Übels in der äußeren Welt.

Dass eine solche Anschauung nicht etwa bloß in einzelnen

Denkerköpfen wie etwas Befriedigendes auf die große Frage nach der Bedeutung des Übels und des Bösen in der Welt gefühlt wurde, sondern weit verbreitet ist, das mag eine Bemerkung erläutern, die ich nicht unterdrücken will, weil sie vielleicht gerade unsere Situation klar legt. Ich will auf einen Denker aus einer ganz anderen Region verweisen: auf den bedeutenden japanischen Denker, den Schüler des chinesischen Denkers Wang-Yang-Ming, Nakae Toju. Für ihn besteht alles, was

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sich uns an Welterfahrungen darbietet, aus zwei Dingen, aus zwei, man möchte sagen, Wesenheiten. Die eine Wesenheit ist für ihn so, dass er zu ihr aufschaut wie zu dem Geistigen, und er lässt die menschliche Seele an dem Geistigen teilnehmen; diese Wesenheiten nennt er Ri. Dann sieht er hin zu dem, was sich am Menschen leiblich darstellt, und lässt die Leiblichkeit an allem teilnehmen, woraus sie auf erbaut ist aus der Materie heraus; diese Wesenheit nennt er KL Und aus der besonderen Zusammensetzung von Ri und Ki entstehen ihm alle Wesen. Die Menschheit ist für diesen Denker des Ostens, der in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts gelebt hat, teilhaftig sowohl an dem Ri als an dem Ki. Dadurch aber, dass die Menschenseele in ihrem Erleben mit ihrem Ri untertauchen muss in das Ki, strömt ihr aus dem Ki das Wollen entgegen - und mit dem Wollen das Begehren. Damit ist die Menschenseele in ihrem Leben verstrickt im Wollen und Begehren, und damit steht sie vor der Möglichkeit des Bösen. - Nicht weit ist dieser Denker des Ostens, der erst verhältnismäßig kurze Zeit vor uns, wie gesagt, in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts gelebt hat, nicht weit ist er von dem entfernt, was man im Abendlande, in den Zeiten des Neuplatonismus, des Plotin zum Beispiel, als den Ursprung des Bösen darzustellen versucht hat: die Verstrickung des Menschen in die Materie. Wir werden nachher sehen, dass es wichtig ist, einmal auf diese Art hinzuweisen, sich die Frage nach dem Ursprung des Bösen zu beantworten mit der Verstrickung des Menschen in die Materie. In den weitesten Kreisen des menschlichen Denkens tritt uns gerade dieses entgegen.

Ein Denker des neunzehnten Jahrhunderts, der wahrhaftig zu den bedeutendsten gehört, versuchte sich mit dem Übel und dem Bösen auseinanderzusetzen, und die Hauptgedanken seines Denkens möchte ich kurz darstellen. Er sah in der Welt um sich herum Teile des Übels, Teile des menschlichen Bösen, und er stand als ein Philosoph, bei dem insbesondere die Gemütseigenschaften tief ausgebildet waren, vor dem Übel und dem Bösen: Hermann Lotze, einer der bedeutendsten Denker des neunzehn-

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ten Jahrhunderts, der den sehr bedeutenden «Mikrokosmos» zum Beispiel und andere für das neunzehnte Jahrhundert bedeutsame philosophische Werke geschrieben hat. Versuchen wir uns vor die Seele zu rufen, wie Hermann Lotze, also einer unserer bedeutendsten Zeitgenossen, vor dem Problem des Bösen steht. Er sagt sich: Wegleugnen lässt sich das Böse nicht. Wie hat man sich die Frage nach dem Bösen zu beantworten versucht? Man hat zum Beispiel gesagt, dass das Übel und das Böse im Leben da sein müsse; denn nur dadurch, dass sich die Menschenseele aus dem Bösen herausarbeite, könne man sie erziehen. Da nun Lotze nicht zu den Atheisten gehört, sondern einen die Welt durchlebenden und durchwebenden Gott annimmt, so sagt er: Wie muss man sich also im Sinne der Erziehungsidee zu dem Bösen und dem Übel stellen? Man müsse annehmen, dass Gott das Böse und das Übel gebraucht hätte, um die Menschen herauszuarbeiten und zum freien Gebrauch ihrer Seele zu erheben. Das konnte nur geschehen, indem sie selbst diese innere Arbeit verrichteten, indem sie selbst diesen inneren Zustand erlebten, der in dem Herausarbeiten aus dem Bösen besteht, und dadurch erst, selbstbewusst ihr wahres Wesen und ihren wahren Wert erkennen lernten. - Lotze wendet zugleich dagegen ein: Wer eine solche Antwort gibt, berücksichtige vor allem nicht die Tierwelt, in welcher uns wahrhaftig nicht nur das Übel, sondern auch das Böse im umfassenden Sinne entgegentreten. Wie tritt uns in der Tierwelt Grausamkeit, wie tritt uns alles, was, in das Menschenleben herauf genommen, zu den furchtbarsten Lastern werden kann, überall in der Tierwelt entgegen! Wer aber vermöchte der Tierwelt gegenüber die Erziehung ins Feld zu führen, die ja bei der Tierwelt nicht angeführt werden kann? So weist Lotze die Idee der Erziehung ab. Insbesondere macht er darauf aufmerksam, dass der Allmacht seines Gottes diese Erziehungsidee widersprechen würde; denn nur dann habe man nötig, meint Lotze, das Bessere in einem Wesen aus dem Schlechten herauszuarbeiten, wenn man erst das Schlechte gegeben hat. Aber das würde der Allmacht des Gottes widersprechen: erst das Schlechte herausarbeiten zu müssen,

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gleichsam zur Vorbereitung, um dann das Gute darauf auferbauen zu können. So wendet sich denn Lotze dahin zu sagen: Vielleicht müsse man diejenigen mehr berücksichtigen, welche da sagen: Dasjenige, was böse, was schlecht ist, was ein Übel ist, das ist dies nicht durch die Allmacht Gottes, nicht durch den Willen irgend eines bewussten Wesens; sondern es ist mit dem, was in der Welt existiert, das Übel so verbunden, wie zum Beispiel die Tatsache, dass die drei Winkel eines Dreieckes zusammen 180° betragen, mit einem Dreieck verbunden ist. Wenn Gott also überhaupt eine Welt scharfen wollte, musste er sich richten nach dem, was ohne ihn wahr ist, dass mit irgendeiner Welt, die er schaffen wollte, das Böse und das Übel verbunden ist. Er musste also, wenn er überhaupt eine Welt scharfen wollte, das Böse und das Übel mitschaffen. - Dagegen wendet Lotze ein: Dann aber beschränken wir erst recht das, was man als das Wirken und Weben eines göttlichen Wesens durch die Welt annehmen könne. Denn wenn man die Welt betrachtet, dann muss man sagen: Nach den allgemeinsten Gesetzen, nach dem, wie man sich die Welterscheinungen durchdenken kann, wäre sehr wohl eine Welt denkbar ohne das Übel und das Böse. Wenn man die Welt betrachte, müsse man gerade sagen, gegen eine eigentliche Freiheit verstoße das Böse; es müsse also gerade durch die Willkür, durch die Freiheit des göttlichen Wesens hervorgerufen werden.

Wir könnten noch anderes anführen, was Lotze und andere Denker - Lotze ist hier nur als Typus angeführt -gegenüber dem Problem und dem Rätsel des Bösen gesagt haben. Ich will nur auf das aufmerksam machen, wohin Lotze zuletzt kommt, weil das nachher für uns wichtig sein wird. So wendet sich Lotze gegen den deutschen Philosophen Leibniz, der ja eine «Theodizee», das heißt die Rechtfertigung Gottes gegenüber dem Übel, geschrieben hat und die Anschauung vertreten hat, dass diese Welt, wenn sie auch viel Übel enthalte, doch die bestmöglichste der Welten sei. Denn wäre sie nicht die bestmöglichste, meint Leibniz, so müsse entweder Gott die bestmöglichste Welt nicht gekannt haben - das verstößt gegen seine Allwissenheit; oder

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aber er müsste sie nicht haben schaffen wollen, das verstößt gegen seine Allgüte; oder er müsste sie nicht haben schaffen können - das verstößt gegen seine Allmacht. Nun sagt Leibniz, da man im Denken gegen diese drei Prinzipien Gottes nicht verstoßen könne, so müsse man annehmen, dass die Welt die bestmöglichste sei. - Dagegen wendet nun Lotze ein: jedenfalls könne man nicht von einer Allmacht Gottes sprechen, wenn man in der Welt, wo doch Übel sind und Böses waltet, diese für einen Ausfluss Gottes halte. Daher müsse man sagen, so meint Lotze, Leibniz habe die Allmacht Gottes beschränkt und dadurch sich die Lehre von der bestmöglichsten der Welten erkauft.

Nun meint Lotze, gebe es noch einen Ausweg. Man müsse sagen: Im großen ganzen zeige sich überall, wenn man den Kosmos betrachtet, Ordnung und Harmonie; nur im einzelnen sehe man Übel und Böses. Da sagt Lotze: Was aber kann man auf eine Anschauung geben, die eigentlich bloß von der Anschauung der Menschen abhängt? Denn von einer Welt, wo im großen und ganzen Ordnung und Harmonie herrschen, die man bewundern könne, und wo im einzelnen Übel und Böses wie schwarze Flecken sich zeigen, könne man den Ausdruck gebrauchen: Was sagt es, wenn im großen und ganzen Ordnung und Harmonie in einer Welt herrschen, und im einzelnen überall Übel und Böses zu finden ist? Da meint dann Lotze - und das ist die Spitze seiner Ausführungen, zu der wir hintendieren wollen-, man sollte sich doch lieber das eine sagen: Das Übel und das Böse sind doch in der Welt; es muss weise sein, dass das Übel wie das Vortreffliche, das Böse wie das Gute da seien; wir können nur diese Weisheit nicht einsehen. Also sind wir gezwungen, dem Übel und dem Bösen gegenüber eine Grenze unseres Erkennens anzunehmen. Es müsse doch Weisheit geben, welche nicht die menschliche Weisheit ist, meint Lotze, Weisheit, zu der wir nur nicht kommen können, und die die Übel rechtfertigt. Also in eine unbekannte Welt der Weisheit versetzt Lotze das weisheitsvolle Begreifen des Übels und des Bösen.

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Ich habe ausdrücklich wenigstens diese, für viele mehr oder weniger pedantischen Auseinandersetzungen gemacht, weil sie uns zeigen, mit welchen Waffen man sich dem Begreifen des Übels und des Bösen im philosophischen Denken der Menschheit zu nähern versucht hat, und wie man dort immer wieder und wieder zu dem Geständnis gekommen ist: diese Waffen erweisen sich gegenüber einem Rätsel, das uns auf Schritt und Tritt im Leben begegnet, doch recht stumpf, ja, wie Lotze sagt, als völlig ungeeignet.

Nun gibt es ja auch andere Denker, die noch weiter als etwa Plotin hineinzuschürfen versuchten in das, was schon Untergründe des Daseins sind, die nur zu erreichen sind durch eine gewisse Entwickelung der Seele zu höherem Erkenntnisvermögen hinauf. Ein solcher Denker ist Jakob Böhme. Und nähert man sich Jakob Böhme, so nähert man sich allerdings einem Geiste des sechzehnten, siebzehnten Jahrhunderts, in den nicht viele mehr in unserer Zeit eindringen wollen, obwohl man ihn heute wieder als eine Art Kuriosität betrachtet. Jakob Böhme versuchte einzudringen in die Tiefen der Welt und ihre Erscheinungen bis dahin, wo er in sich selber etwas aufgehend fühlte wie eine Art Theosophie, von einer Art Gottesanschauung im eigenen Innern; und nun versuchte er sich klar zu machen, wie das Böse und das Übel hinein zu verfolgen sind bis in die tiefsten Untergründe der Welt, wie Übel und Böses nicht bloß etwas Negatives sind, sondern gewissermaßen in den Untergründen des Welt- und Menschendaseins wurzeln. Das göttliche Wesen sieht Jakob Böhme so an, dass in ihm, wie er sagt - man muss sich an seine Ausdrucksweise erst gewöhneneine «Schiedlichkeit» auftreten muss. Ein Wesen, welches gleichsam seine Tätigkeit nur hinausfluten lässt in die Welt, konnte nie zum Erfassen seiner selbst kommen. Es musste sich diese Tätigkeit an irgend etwas, man möchte sagen, stoßen. Im kleinen nehmen wir im Grunde genommen jeden Morgen beim Aufwachen das wahr, was Jakob Böhme in diese seine Vorstellung einbezieht. Wenn wir aufwachen, sind wir gewissermaßen in der Lage, aus unserm Geistig-Seelischen in unbegrenzte Wei-

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ten hinaus unsere geistig-seelische Tätigkeit zu entfalten. Da stoßen wir mit unserer geistig-seelischen Tätigkeit an unsere Umgebung. Dadurch, dass wir an unsere Umgebung stoßen, werden wir unser selbst gewahr. Der Mensch wird überhaupt nur in der physischen Welt seiner selbst gewahr, indem er sich sozusagen an den Dingen stößt. Das göttliche Wesen kann kein solches sein, das sich an anderen stößt. Es muss seinen Widerpart, oder wie Jakob Böhme in vielen Wendungen sich ausdrückt, sein «Nein» seinem «Ja» gegenüber sich selbst setzen. Es muss seine ins Unendliche hinausflutende Tätigkeit in sich begrenzen. Es muss in sich «schiedlich», das heißt unterschieden werden, muss sich gleichsam an einem bestimmten Punkte des Umkreises seiner Tätigkeit den eigenen Gegensatz erschaffen; so dass sich für Jakob Böhme notwendig das göttliche Wesen, damit es seiner selbst gewahr werden kann, selbst seinen Widerpart erschafft. Durch die Teilnahme nun eines kreatürlichen Wesens, meint Jakob Böhme, nicht nur an dem, was von dem göttlichen Wesen herausströmt, sondern was sich das göttliche Wesen notwendigerweise als seinen Widerpart schaffen muss, entsteht das Böse, entstehen überhaupt alle Übel in der Welt. Das göttliche Wesen setzt sich seinen Widerpart, um seiner selbst gewahr zu werden. Da kann noch nicht vom Übel und vom Bösen gesprochen werden, sondern nur von den notwendigen Bedingungen des Gewahrwerdens des Göttlichen seiner selbst. Aber indem Kreatürliches entsteht, und indem dieses Kreatürliche sich nicht bloß hineinbettet in das hin-ausflutende Leben, sondern teilnimmt am Widerpart, entsteht das Böse und das Übel.

Befriedigend wird gewiss für den, der geisteswissenschaftlich versucht in die Geheimnisse des Daseins einzudringen, eine solche Antwort nicht sein. Sie ist auch hier nur angeführt, um zu zeigen, bis zu welchen Tiefen ein sinniger Denker geht, wenn er nach dem Ursprünge des Bösen in der Welt forscht. Und so konnte ich vieles anführen, das uns mehr zeigen könnte, wie man sich den Rätseln, die im Übel und Bösen liegen, zu nähern

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versucht, als dass man etwa aus der Welt sich Antwort entgegenleuchten gefunden hätte.

Wenn wir nun an das anknüpfen, was uns gleichsam wie ein Bekenntnis eines hervorragenden Denkers des neunzehnten Jahrhunderts entgegengetreten ist, das Bekenntnis Lotzes, so können wir etwa das Folgende sagen. Lotze ist der Ansicht, es muss irgendwo eine Weisheit geben, welche das Übel und das Böse rechtfertigt. Aber der Mensch ist in seinem Erkenntnisvermögen beschränkt; er kann nicht in diese Weisheit eindringen. - Stehen wir da nicht vor dem, was wir oft erwähnen mussten: dass es sozusagen ein beliebtes Vorurteil in unserer Zeit ist, das menschliche Erkenntnisvermögen so hinzunehmen, wie es einmal ist, und gar nicht darauf zu reflektieren, dass es etwa aus dem Zustande, in welchem es in der Alltäglichkeit ist, herauskommen könne, sich über sich selbst erheben könne, dass es sich entwickeln könne, um in andere Welten hinein zu schauen, als in die Welt des bloß Sinnlichen und des an die Sinne geknüpften Verstandes? Vielleicht stellt sich uns gerade heraus, dass so bedeutsame Fragen wie die nach dem Ursprünge des Bösen ihre Antworten deshalb nicht finden konnten, weil man gegenüber der Erkenntnis, die sich an die Sinne wendet und an den Verstand, der an die Sinneswelt gebunden ist, sich sträubte, über diese Erkenntnis hinauszuschreiten zu einer anderen Erkenntnis, die auf den Wegen gefunden werden muss, von denen hier jetzt öfter gesprochen worden ist, auf den Wegen, durch welche die Menschenseele hinübergelangt über das, was sozusagen ihre alltägliche und gewöhnliche wissenschaftliche Anschauung ist. Wir haben oft von der Möglichkeit gesprochen, dass die Menschenseele sich losringt von ihrer Leiblichkeit, dass sie wirklich jene geistige Chemie vollziehen könne, die eben das Geistig-Seelische im Menschen loslöst von dem Leiblichen, wie die äußere Chemie den Wasserstoff aus dem Wasser. Wir haben davon gesprochen: Wenn der Mensch so sein Geistig-Seelisches loslöst von dem Körperlich-Leiblichen, so dass er sich erhebt im Geistigen und seiner Leiblichkeit mit seinem Geistig-Seelischen gegenübersteht, wenn er also mit dem Seelisch-Geistigen au-

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ßerhalb des Leibes ist und in einer geistigen Welt wahrzunehmen vermag, dann allerdings kann er durch die unmittelbare Erfahrung, nicht inner-, sondern außerhalb seines Leibes, in die Tiefen der Welt hineinschauen, soweit sie ihm gegenüber dieser Erkenntnis zugänglich sind. Da dürfen wir uns vielleicht fragen: Was tritt uns denn entgegen, wenn wir diesen Weg der Geistesforschung wirklich zu gehen versuchen, den Weg, der öfter hier geschildert worden ist, und den Sie ausführlich in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» dargestellt finden? Zu welchen Erfahrungen gelangt man, wenn man diesen Weg wirklich geht, um außersinnlicher Welten teilhaftig zu werden? Nun wird uns insbesondere interessieren, wie sich zu diesem Wege dasjenige stellt, was man im gewöhnlichen Leben das Böse nennt. Wir brauchen ja nur auf das gewöhnliche Böse, was man im Alltage das Böse nennt, etwas hinzuschauen. Da stellt sich heraus, wenn der Geistesforscher sich auf seinen Weg begibt, um in höhere Welten hinaufzusteigen, um wirklich mit seinem Geistig-Seelischen herauszukommen aus dem Leiblichen und leibfrei wahrzunehmen, dass dann alles dasjenige, auf was er zurückblicken muss als auf ein Böses, ja, nur auf ein Unvollkommenes im Leben, ihm die schwersten Hindernisse auf seinen Weg gibt. Die schwersten Hemmnisse kommen von dem, worauf man zurückblicken muss als auf etwas Unvollkommenes. Damit will ich nicht sagen, dass etwa die hochmütige Lehre daraus folgte, dass jeder, der dazu gelangt, als Geistesforscher in die geistige Welt hineinzuschauen, sich einen vollkommenen Menschen nennen dürfe. Das soll damit nicht gesagt sein. Aber es soll wiederholt sein, was schon einmal sehr eindringlich hervorgehoben worden ist: dass der Weg zur Geistesforschung in gewissem Sinne ein Martyrium ist, und dies auch gerade aus dem Grunde, weil man in dem Augenblick, in dem man mit dem Geistig-Seelischen aus dem Leiblichen herauskommt und der geistigen Welt teilhaftig wird, zurückblickt auf sein Leben mit seinen Unvollkommenheiten und nun weiß: Diese Unvollkommenheiten trägst du mit dir wie der Komet seinen Kometenschweif; die trägst du in dir mit hinüber in an-

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dere Leben und musst sie auszugleichen suchen in späteren Leben. Das, worüber du bis jetzt geschritten bist, ohne ein Bewusstsein davon zu haben, das schaust du jetzt. Du weißt, was dir bevorsteht. - Dieses tragische Hinschauen auf das, was man im gewöhnlichen Leben ist, hängt einem an, wenn man den Weg in die geistige Welt hinauf sucht. Hängt es einem nicht an, so ist es nicht der wahre Weg in die geistige Welt. In der Tat muss man sagen: ein gewisser Ernst des Lebens beginnt, wenn man in die geistige Welt hineinsteigt. Und wenn man auch nichts anderes gewinnt, das eine gewinnt man: dass man das eigene Böse und die eigenen Unvollkommenheiten mit einer unendlichen Klarheit erblickt. So möchte man sagen: man gewinnt eine Erfahrungserkenntnis von Unvollkommenheit und Bösem schon bei den allerersten Schritten, die man in die geistige Welt hinauf macht.

Woher kommt das? Wenn man näher zusieht, woher dies kommt, so findet man dabei den Grundzug sozusagen alles menschlichen Bösen. In meiner letzten Schrift «Die Schwelle der geistigen Welt» versuchte ich gerade auf diesen Grundzug des Bösen hinzudeuten, insofern es aus dem Menschen hervorgeht. Der gemeinsame Grundzug alles Bösen ist doch nichts anderes als Egoismus. - Wenn ich dieses im einzelnen nachweisen wollte, was ich jetzt ausführen will, so müsste ich allerdings viele Stunden sprechen; aber ich will es nur hinstellen, und jeder mag die angeschlagenen Gedankengänge selbst weiterverfolgen. Sie werden ja auch weiter verfolgt werden im nächsten Vortrage, wo über die «Sittliche Grundlage des Menschenlebens» gesprochen werden soll. Im Grunde genommen geht alles menschliche Böse aus dem hervor, was wir den Egoismus nennen. Wir mögen von den geringsten Kleinigkeiten, die wir als menschliche Versehen ansehen, bis zu den stärksten Verbrechen hin alles verfolgen, was menschliche Unvollkommenheiten und menschliches Böses sind, ob es sich uns darstellt scheinbar mehr von der Seele herkommend oder scheinbar mehr von der Leiblichkeit kommend, der gemeinsame Grundzug, von dem Egoismus herrührend, ist überall da. Wir finden die eigentliche Be-

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deutung des Bösen, wenn wir es verknüpft denken mit dem menschlichen Egoismus; und wir finden alles Hinausstreben über Unvollkommenheiten und Böses, wenn wir dieses Hinausstreben in der Bekämpfung dessen sehen, was wir den Egoismus nennen. Viel ist nachgedacht worden über diese oder jene ethischen Prinzipien, über diese oder jene Moralgrundlagen; gerade das zeigt sich aber, je tiefer man in ethische Prinzipien und in Moralgrundlagen untertaucht, dass der Egoismus die gemeinsame Grundlage alles menschlichen Bösen ist. Und so darf man sagen: der Mensch arbeitet sich aus dem Bösen hier in der physischen Welt um so mehr heraus, je mehr er den Egoismus überwindet.

Dieses Resultat stellt sich nun neben ein anderes hin; und es stellt sich, man möchte sagen, in der Geistesforschung wie bedrückend hin, wirklich wie bedrückend. Was muss man denn ausbilden, wenn man den Weg in die geistigen Welten hinauf finden will, in jene Welten, die man anschauen muss mit dem Geistig-Seelischen außer dem Leibe?

Wenn Sie alles zusammennehmen, was ich im Laufe dieser Vorträge angeführt habe als seelische Übungen, die angewendet werden müssen, um in die geistige Welt hineinzukommen, so werden Sie finden, dass sie darauf hinauslaufen, gewisse Seeleneigenschaften zu erstarken, welche die Seele in der Sinneswelt hat, die Seele stärker und kräftiger zu machen, sie immer mehr und mehr auf sich selbst zu stellen. Was nun in der physischsinnlichen Welt als Egoismus hervortritt, das muss erkraftet werden, muss intensiver gemacht werden, wenn der Mensch in die geistige Welt hinaufsteigt. Denn nur die in sich erstarkte Seele, welche die Kräfte in sich erstarkt, die die ihrigen sind, die in ihrem Ego, in ihrem Ich wurzeln, nur diese Seele kommt in die geistigen Welten hinauf. Gerade das muss auf dem Wege in die geistigen Welten hinauf verstärkt werden, was der Mensch ablegen muss, der sich moralische Prinzipien für die physische Welt aneignen will. Ein bedeutender Mystiker hat den Ausspruch getan:

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Wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten.

Es ist dies gewiss innerhalb gewisser Grenzen richtig. Aber im Menschenleben würde dennoch der Egoismus auch hervortreten, wenn die Menschenseele sich nur als «Rose» betrachtete, die selbst sich schmückt. Für die geistige Welt aber gilt das vollkommen. In der geistigen Welt ist in einem höheren Maße das vorhanden, was in dem Ausspruche liegt: «Wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten». Wenn die Seele in die geistige Welt hinaufkommt, ist sie dort ein dienendes Glied um so mehr, je mehr sie in sich erstarkt ist und das herausgearbeitet hat, was in ihrer inneren Fülle liegt. Wie man ein Instrument nicht gebrauchen kann, das nicht vollkommen ist, so kann sich die Seele selbst nicht brauchen, die nicht alles aus ihrem Ich, aus ihrem Ego herausgetrieben hat, was in ihr liegt. Aus dieser Gegenüberstellung, die uns von aller Phrase hinwegführt und hineinführt in den Tatsachenbestand, der nicht verhehlt werden soll, sehen wir zunächst, dass diese Welt des Geistigen der Welt des Physisch-Sinnlichen so gegenübersteht, dass die letztere gegenüber der ersteren ihre volle Aufgabe haben muss. Könnte der Mensch nur in der geistigen Welt leben, so würde er, weil das Gesetz gelten muss: «Wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten», nur die inneren Fähigkeiten entwickeln können; er könnte nicht jene Fähigkeiten entwickeln, die ihn als Altruisten mit den Menschen, mit der weiten Welt zusammenbringen. Die Stätte müssen wir gerade in der physischen Welt finden, die uns den Egoismus überwinden lässt. Wir sind nicht umsonst in der Welt zum Altruismus verpflichtet, sondern deshalb, dass wir uns den Egoismus gründlich aberziehen, wenn ich dieses triviale Wort gebrauchen darf.

Dasselbe nun, was der Geistesforscher als das Maßgebende findet, nämlich die Erstarkung seiner Seele zum Hinaufgehen in die geistige Welt, das ist auch das Maßgebende, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes auf naturgemäße Weise in

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diejenige Welt eintritt, welche zwischen dem Tode und einer neuen Geburt liegt. Da versetzen wir uns in jene Welt, die eben der Geistesforscher durch seine Seelenentwickelung erreicht. Da hinein müssen wir daher diejenigen Eigenschaften bringen, welche die Seele innerlich stark erscheinen lassen, welche innerhalb der Seele den Satz bewahrheiten: «Wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten». In dem Augenblick, wo wir durch die Pforte des Todes gehen, treten wir in eine Welt ein, in welcher es auf höchste Erhöhung und Erkraftung unseres Ich ankommt. Was wir in dieser Welt zu tun haben, werden wir in dem Vortrage «Zwischen Tod und Wiedergeburt des Menschen» hören. Jetzt soll nur darauf hingedeutet werden, dass es in dieser geistigen Welt im wesentlichen darauf ankommt, dass sich die Seele dazu anschickt, um nach Maßgabe dessen, was sie in früheren Erdenleben erlebt hat, sich die folgenden zu zimmern. Sie muss, wie es ihrem Schicksale entspricht, vorzugsweise zwischen dem Tode und der neuen Geburt in der geistigen Welt mit sich selbst beschäftigt sein.

Wenn wir so die menschliche Seele betrachten, dann erscheint sie uns von diesen zwei Gesichtspunkten aus folgendermaßen. Sie erscheint uns in ihrer Bedeutung für die physisch-sinnliche Welt so, dass diese für sie die große Lehrstätte ist, wo sie aus sich herausgehen muss, wo Egoismus sich in Altruismus verwandeln kann, so dass sie etwas wird für den weiten Umkreis des Daseins. Und die Welt zwischen dem Tode und der nächsten Geburt erscheint uns als diejenige, in welcher die Seele in sich erkraftet leben muss, und für welche die Seele gerade wertlos sein würde, wenn sie in diese Welt schwach und nicht erkraftet eintreten würde.

Was folgt daraus, dass die Seele diese zwei Wesenszüge hat?

Es folgt daraus, dass sich der Mensch in der Tat wohl hüten muss, dasjenige, was auf dem einen Felde, in der einen Welt ein Vorzügliches ist, nämlich die Erhöhung des Seeleninnern, in der anderen Welt zu etwas anderem anzuwenden als höchstens auch zur Erreichung der geistigen Welt; dass es aber vom Übel

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sein muss und in das Schlimmere umschlägt, wenn der Mensch das, was hier in der physisch-sinnlichen Welt sich als sein Wesen ausleben muss, von dem durchdringen lässt, was ihm gerade im Reich des Geistes zur würdigen Bereitung dient. Gerade deshalb müssen wir stark sein im Geistigen zwischen Tod und neuer Geburt, in der Erstarkung und Erkraftung unseres Ich, dass wir uns ein solches physisch-sinnliches Dasein vorbereiten, das im äußeren Dasein, in den Taten und Gedanken der physischen Welt möglichst unegoistisch ist. Wir müssen unseren Egoismus vor unserer Geburt in der geistigen Welt dazu verwenden, um uns so selbst zu bearbeiten, müssen so auf uns selbst hinschauen, dass wir in der physischen Welt selbstlos, das heißt moralisch werden.

Hier an diesem Punkte liegt alles, was man nennen kann das Wertvollste für den, der in die geistige Welt vordringen will. In der Tat muss man sich klar sein, dass man sein Böses und Unvollkommenes nicht umsonst wie sein Schattenbild sieht, wenn man in der geistigen Welt ist. Das ist es, was uns zeigt, wie wir mit der Sinneswelt verbunden bleiben müssen, wie unser Karma, unser Schicksal uns an die Sinneswelt binden muss, bis wir es in der geistigen Welt so weit gebracht haben, dass wir nicht nur mit uns allein, sondern mit der ganzen Welt leben können. Es zeigt sich, wie es vom Übel ist, dasjenige, was im geistigen Fortschritt das Wesentliche ist, nämlich Selbstvervollkommnung, unmittelbar auf die Dinge des äußeren Lebens anzuwenden. Geistigen Fortschritt zu suchen ist nicht etwas, wovon wir uns abhalten lassen können. Das ist vielmehr unsere Pflicht. Und Pflicht ist für den Menschen die Entwickelung, die für alle übrigen Lebewesen Gesetz ist. Aber vom Übel ist es, das, was für die geistige Entwickelung ziemt, unmittelbar auf das äußere Leben anzuwenden. Diese beiden, äußeres physisches Leben mit seiner Moralität, müssen sich notwendigerweise wie eine zweite Welt hinstellen neben das, was die Seele innerlich anstrebt, wenn sie sich der geistigen Welt nähern will.

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Nun liegt aber etwas vor, was wiederum wie ein Widerspruch erscheinen könnte. Aber man möchte sagen: von solchen lebendigen Widersprüchen lebt die Welt. Es musste betont werden: man muss sich in der Seele erkraften; gerade das Ego, das Ich müsse stärker werden, um in die geistige Welt einzudringen. Aber wenn man nun bei seinem geistigen Aufstieg nur den Egoismus entwickeln wollte, so würde man nicht weit kommen. Was heißt das aber? Es heißt: man muss schon ohne den Egoismus in die geistige Welt eintreten; respektive man kann nicht ohne den Egoismus eintreten - was wehmütig jeder bekennen muss, der in die geistige Welt hineinkommt -, so muss man alles Egoistische so objektiv vor sich haben, dass man es als sein Egoistisches, mit dem man verbunden ist in der äußeren Welt, schaut. Man muss also ein unegoistischer Mensch zu werden trachten mit den Mitteln des physischen Lebens, weil man in der geistigen Welt nicht mehr Gelegenheit hat, unegoistisch zu werden, weil es dort auf die Erkraftung des seelischen Lebens ankommt. Das ist der nur scheinbare Widerspruch. Wir müssen in der geistigen Welt, auch wenn wir durch die Pforte des Todes in die geistige Welt schreiten, dort mit dem leben, was in unserem Inneren an Stärke vorhanden ist. Aber wir können diese nicht erlangen, wenn wir sie nicht erlangen durch das altruistische Leben in der physischen Welt. Altruismus in der physischen Welt spiegelt sich als der richtige, den Wert erhöhende Egoismus der geistigen Welt.

Wir sehen, wie schwierig die Begriffe werden, wenn man sich der geistigen Welt nähert. Aber jetzt sieht man zugleich, um was es sich im menschlichen Leben handeln kann. Denn nehmen wir nun an, der Mensch trete durch die Geburt ins physische Dasein. In diesem Falle, das heißt, wenn er das Wesen, das er in der geistigen Welt vor der Geburt oder der Empfängnis, zwischen dem letzten Tode und der jetzigen Geburt, war, umkleidet mit dem physischen Leib, so ist die Möglichkeit vorhanden, dass er mit dem, was gleichsam Lebenskraft der geistigen Welt sein muss, ungerechtfertigterweise sein PhysischLeibliches durchzieht; dass sich der Geist verirrt im Leiblichen,

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indem er das, was gut ist in der geistigen Welt, herunterträgt in die physische Welt. Dann wird, was gut ist in der geistigen Welt, zum Übel, zum Bösen in der physischen Welt! Das ist ein bedeutsames Geheimnis des Daseins, dass der Mensch das, was er notwendig braucht, um ein geistiges Wesen zu sein, was gewissermaßen sein Höchstes darstellt für sein geistiges Wesen, heruntertragen kann in die physische Welt, und dass sein höchstes, sein bestes Geistiges sogar die tiefste Verirrung werden kann im Physisch-Sinnlichen.

Wodurch tritt das Böse im Leben ein? Wodurch ist das sogenannte Verbrechen in der Welt?

Das ist dadurch vorhanden, dass der Mensch seine bessere Natur, nicht die schlechtere, untertauchen lässt im PhysischLeiblichen, das als solches nicht böse sein kann, und dort diejenigen Eigenschaften entwickelt, die nicht in das PhysischLeibliche hineingehören, sondern die gerade in das Geistige gehören. Warum können wir Menschen böse sein? Weil wir geistige Wesen sein dürfen! Weil wir in die Lage kommen müssen, sobald wir uns in die geistige Welt hineinleben, diejenigen Eigenschaften zu entwickeln, die zum Schlechten werden, wenn wir sie im physisch-sinnlichen Leben anwenden. Lassen Sie diejenigen Eigenschaften, die sich in Grausamkeit, meinetwillen in Heimtücke und in anderem in der physischen Welt ausleben, herausgenommen sein aus der physisch-sinnlichen Welt, lassen Sie die Seele sich von ihnen durchdringen und sie ausleben statt in der physisch-sinnlichen Welt in der geistigen Welt, dann sind sie dort die uns weiterbringenden, die uns vervollkommnenden Eigenschaften. Dass der Mensch das Geistige verkehrt im Sinnlichen anwendet, das führt zu seinem Bösen. Und könnte er nicht böse werden, so könnte er ein geistiges Wesen nicht sein. Denn die Eigenschaften, die ihn böse machen können, er muss sie haben; sonst könnte er nie in die geistige Welt hinaufkommen.

Die Vollkommenheit besteht darin, dass der Mensch lernt, sich innerlich mit der Einsicht zu durchdringen: Du darfst die Eigen-

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schaften, die dich im physischen Leben zum bösen Menschen machen, nicht in diesem physischen Leben anwenden; denn so viel du von ihnen dort anwendest, so viel entziehst du dir von den erkraftenden Eigenschaften der Seele für das Geistige, so viel schwächst du dich für die geistige Welt. Dort sind diese Eigenschaften am rechten Platze. So sehen wir, wie die Geisteswissenschaft zeigt, dass das Übel und das Böse durch ihre eigene Natur darauf hinweisen, dass wir neben der physischen Welt eine geistig-seelische Welt annehmen müssen. Denn warum bleibt denn das menschliche Erkenntnisvermögen etwa eines Lotze oder anderer Denker stehen, wenn sie die sinnliche Welt betrachten und sagen: man dringe nicht hinein in den Ursprung des Übels und des Bösen? Weil da das vorliegt - da das Erkenntnisvermögen nicht vordringen will zur geistigen Welt, dass es das Böse nicht aufklären kann aus der physischen Welt heraus, weil es Missbrauch ist von Kräften, die in die geistige Welt hineingehören! Was Wunder also, dass kein Philosoph, der von der geistigen Welt absieht, in der physisch-sinnlichen Welt jemals das Wesen des Bösen finden kann! Und wenn man von vornherein abgeneigt ist zu einer weiteren Welt vorzudringen, um in ihr den Ursprung des Bösen zu finden, dann kommt man auch nicht zu einer Erkenntnis des äußeren Übels, desjenigen, was uns als das Schlechte und Unvollkommene in der äußeren Welt, zum Beispiel in der tierischen Welt, begegnet. Wir müssen uns eben klar sein, dass das Übel im menschlichen Handeln dadurch entsteht, dass der Mensch das, was für eine andere Welt ein Großes, ein Vollkommenes ist, gleichsam in eine andere Welt versetzt, wo es in sein Gegenteil verkehrt wird. Wenn man aber das von den Menschen unabhängige Übel in der Welt betrachtet, das Übel, das etwa durch die Tierwelt flutet, dann muss man sagen: Ja, dann müssen wir uns eben darüber klar sein, dass nicht nur Wesen da sind wie die Menschen, welche durch ihr Leben das, was in die geistige Welt hineingehört und dort groß ist, in eine andere Welt hineintragen, wo es deplaciert ist; sondern es muss auch andere Wesen geben - und der Blick auf die Tierwelt zeigt uns eben, dass es außer den Menschen

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geistige Wesen geben muss, welche auf das Gebiet, wo der Mensch sein Böses nicht hineintragen kann, nun ihr Böses hintragen und so dort das Übel erzeugen. Das heißt, wir werden mit der Erkenntnis, wo der Ursprung des Bösen sitzt, zugleich dazu geführt anzuerkennen, dass nicht nur der Mensch ein Unvollkommenes in die Welt hineinstellen kann, sondern dass auch andere Wesen da sind, welche Unvollkommenheiten in die Welt hineinbringen können. Und so sagen wir uns, dass es nicht mehr unverständlich ist, wenn der Geistesforscher sagt: Die Tierwelt ist im Grunde genommen eine Ausgestaltung einer unsichtbaren Geisteswelt; aber in dieser Geisteswelt waren Wesen da, welche vor dem Menschen dasselbe gemacht haben, was der Mensch jetzt macht, indem er das Geistige unberechtigterweise in die physische Welt hineingezogen hat. Dadurch ist alles Übel in der Tierwelt entstanden.

Das sollte heute ausgeführt werden, dass diejenigen Unrecht haben, welche glauben, aus dem materiellen Dasein heraus, weil die Seele in ein materielles Dasein verstrickt ist, könne man durch dieses Verstricktsein gleichsam der Materie den Impuls des Bösen zuschreiben. Nein, das Böse entsteht gerade durch die geistigen Eigenschaften und durch die geistigen Betätigungsmöglichkeiten des Menschen. Und wir mussten uns sagen: Wo bliebe die Weisheit in der Weltenordnung, die den Menschen darauf beschränken wollte, bloß in der Sinneswelt das Gute zu entfalten - und nicht das Böse, wenn sie ihm dadurch, wie wir gesehen haben, notwendigerweise die Kraft nehmen müsste, um in der geistigen Welt vorwärts zu kommen? Dadurch dass wir ein Wesen sind, das der physischen Welt und der geistigen Welt zugleich angehört, und dass in uns nicht die Unvollkommenheit, sondern die Vollkommenheit das geistige Gesetz ist, sind wir in die Lage versetzt, wie ein Pendel, das nach der einen Seite ausschlagen kann; und wir sind in die Lage versetzt nach der anderen Seite ausschlagen zu können, weil wir Geistwesen sind, welche Geistiges in die physische Welt hereintragen können, um es dort als Böses zu verwirklichen, wie andere, vielleicht gegenüber dem Menschen höher stehende Wesen das Böse da-

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durch verwirklichen konnten, dass sie in die Sinneswelt hereingetragen haben, was nur der Geisteswelt angehören soll.

Ich weiß sehr wohl, dass mit einer solchen Darstellung des Ursprungs des Bösen und des Übels heute etwas gesagt wird, was vielleicht nur einer geringen Anzahl von Menschen einleuchtend sein kann, was sich aber immer mehr und mehr in das menschliche Seelenleben einleben wird. Denn man wird finden, dass das Fertigwerden mit den Problemen der Welt überhaupt nur möglich ist, wenn man dieser unserer Welt eine geistige zugrundeliegend denkt. Mit den Vollkommenheiten der sinnlichen Welt mag der Mensch - er gibt sich dabei allerdings auch einer Illusion hin - noch fertig werden; mit den Unvollkommenheiten aber, mit dem Bösen und dem Übel, wird er nicht fertig werden, wenn er nicht aufzusuchen vermag, inwiefern dieses Böse und das Übel in der Welt sein müssen. Und er sieht ein, dass sie in der Welt sein müssen, wenn er sich sagt: es ist das Böse in der physischen Welt nur deplaciert. Würden die Eigenschaften, die der Mensch ungerechtfertigt in der physischen Welt verwendet, und die dort Böses stiften, in der geistigen Welt angewendet werden, so würde er dort vorwärts schreiten.

Ich brauche wohl nicht zu sagen, dass es völliger Unsinn wäre, wenn jemand aus dem eben Gesagten den Schluss ziehen wollte: also stellst du dar, dass nur der Bösewicht in der geistigen Welt vorwärts kommt. Das wäre eine vollständige Verkennung des Gesagten. Denn nur dadurch sind die Eigenschaften böse, dass sie in der Sinneswelt angewendet werden, während sie sofort eine Metamorphose durchmachen, wenn sie in der geistigen Welt angewendet werden. Wer solchen Einwand machen wollte, der gliche dem, der da sagte: du behauptest also, es ist ganz gut, wenn der Mensch die Kraft hat, eine Uhr zu zerschlagen?

Gewiss ist es gut, wenn er diese Kraft hat; er braucht aber die Kraft nicht anwenden, um die Uhr zu zerschlagen. Wenn er sie zum Heile der Menschheit anwendet, dann ist sie eine gute Kraft. Und in diesem Sinne muss man sagen: Die Kräfte, welche der Mensch ins Böse hineinfließen lässt, sind nur an diesem Or-

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te böse; am richtigen Orte richtig angewendet, sind es gute Kräfte.

Es muss tief hineinführen in die Geheimnisse des Menschendaseins, wenn man sich sagen kann: Wodurch wird der Mensch böse? Dadurch, dass er die Kräfte, die ihm zu seiner Vollkommenheit verliehen sind, am unrechten Orte anwendet! Wodurch ist das Böse, ist das Übel in der Welt? Dadurch, dass der Mensch die Kräfte, die ihm verliehen sind, nicht in einer für diese Kräfte geeigneten Welt anwendet.

In unserer Gegenwart könnte man geradezu sagen: Es ist für die Seelenuntergründe schon handgreiflich die Tendenz, die Hinneigung zu den geistigen Welten vorhanden. Das könnte einem ein genauerer intimerer Blick auf das neunzehnte Jahrhundert lehren, auf die Zeit bis in unsere Gegenwart herein. Da treten einem im neunzehnten Jahrhundert unter den Philosophen auch Vertreter dessen entgegen, was man den Pessimismus genannt hat, jene Weltanschauung, die geradezu hinblickt auf die in der Welt vorhandenen Übel und auf das Böse, und die daraus den Schluss zieht-einzelne haben ihn ja gezogen-, dass diese Welt überhaupt nicht als eine solche angesehen werden kann, die etwas anderes von dem Menschen will, als eben dem Ende zugeführt zu werden. Ich will nur auf Schopenhauer oder auf Eduard von Hartmann hinweisen, welche gleichsam die Erlösung für den Menschen darin gesehen haben, dass sie sagten: nur in dem Aufgehen im Weltprozesse kann der einzelne sein Heil finden, nicht aber in einem, persönliche Befriedigung gewährenden Ziel. Aber ich mochte auf etwas anderes hinweisen: dass die Seele im Zeitalter der Materie von dem Materialismus gefangen ist, und dass in diesem Zeitalter die stärkste Trostlosigkeit eintreten muss gegenüber den Übeln der Welt, gegenüber dem Bösen; denn der Materialismus lehnt eine geistige Welt ab, aus der uns erst das Licht heraus leuchtet, was dem Übel und dem Bösen seine Bedeutung gibt. Wird diese Welt abgelehnt, so ist es ganz notwendig, dass uns diese Welt der Übel und des Bösen in ihrer Zwecklosigkeit trostlos entgegenstarrt. -

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Ich will heute nicht auf Nietzsche hinweisen, sondern auf einen anderen Geist des neunzehnten Jahrhunderts. Von einem gewissen Gesichtspunkte aus möchte ich auf einen tragischen Denker des neunzehnten Jahrhunderts hinweisen: von dem Gesichtspunkte aus, dass der Mensch, indem er in seine Zeit hineingestellt ist, notwendigerweise mit seiner Zeit leben muss. Das ist das Eigentümliche unseres Wesens, dass sich unser Wesen zusammenfindet mit dem Wesen der Zeit. So war es nur natürlich in der letzten Zeit, dass tief veranlagte Geister, ja, gerade die, welche ein offenes Herz hatten für das, was sich in ihrer Umgebung abspielte, tief ergriffen wurden von jener Welterklärung, die nur in den äußeren Erscheinungen das Um und Auf des Weltendaseins sehen will. Aber solche Geister konnten sich oft nicht der Illusion hingeben, dass man dann ungetröstet durch die Welt gehen kann, wenn man hinschauen muss auf dieses Weltendasein, die Übel betrachten muss - und nicht aufblicken kann zu einer geistigen Welt, in welcher sich die Übel rechtfertigen, wie wir gesehen haben.

Ein Geist, der ganz, ich möchte sagen, die Tragik des Materialismus durchmachte, trotzdem er nicht selber Materialist geworden ist, war Philipp Mainländers der 1841 geboren ist. Man kann ihn, wenn man die Dinge äußerlich betrachtet, einen Nachfolger Schopenhauers nennen. Zu einer eigenartigen Weltanschauung kam Mainländer. Er war im gewissen Sinne ein tiefer Geist, aber ein Kind seiner Zeit, das also nur hinschauen konnte auf das, was die Welt materiell darbietet. Nun wirkte ja, darüber soll man sich nicht täuschen, dieser Materialismus gerade auf die besten Seelen ungeheuer gefangennehmend. Ja, die Menschen, die sich nicht um das kümmern, was die Zeit und ihr Geist bieten, die egoistisch dahinleben in einem religiösen Bekenntnis, das ihnen einmal lieb geworden ist, die «religiösesten»

Leute sind manchmal in diesem Punkte die alleregoistischsten; jedes Hinausgehen über die Dinge, in die sie sich eingelebt haben, lehnen sie ab, kümmern sich nicht um anderes, als ihnen bekannt ist. Man kann immer wieder, wenn man auf die Tragik unzähliger Menschen hinweist, die Antwort bekommen: Ja,

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kann denn nicht das alte Christentum die Seelen viel besser befriedigen als eure Geisteswissenschaft? Solche Fragen stellen Geister, die nicht mitgehen mit der Zeit und sich intolerant auflehnen gegen alles, was zum Heil der Menschheit in die Kulturentwickelung eindringen soll.

Philipp Mainländer schaute hin auf das, was ihm die äußere Wissenschaft, was ihm unsere Zeit von ihrem materialistischen Gesichtspunkte aus zu sagen wusste, und da konnte er eben nur finden die übelvolle Welt und den Menschen, mit dem Bösen veranlagt. Er konnte es nicht ableugnen, dass der Druck dieser neueren Weltanschauung so stark ist, dass er die Seele verhindert, zu einer geistigen Welt hinaufzuschauen. Denn wollen wir es uns hier nur nicht verhehlen: warum kommen denn heute so wenig Menschen zur Geisteswissenschaft? Das ist deshalb, weil der Druck der Vorurteile des Materialismus oder, wie man es heute nobler nennt, des Monismus so stark ist, dass er die Seelen verfinstert, um in die geistigen Welten einzudringen. Wenn man die Seelen unabhängig sich selber überließe und nicht durch die materialistischen Vorurteile betäubte, so würden sie sicher zur Geisteswissenschaft kommen. Aber der Druck ist groß, und erst von unserer Zeit an kann man sagen: Es ist die Epoche herangerückt, in welcher man mit einiger Aussicht Geisteswissenschaft vor den Menschen vertreten kann, weil die Sehnsucht der Seelen so stark geworden ist, dass die Geisteswissenschaft ein Echo in den Seelen finden muss. In dem zweiten und dritten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts konnte dieses Echo nicht vorhanden sein. Da war der Druck des Materialismus so stark, dass selbst eine so sehr zum Geiste hinstrebende Seele wie diejenige Philipp Mainländers niedergehalten wurde. Und da kam er denn zu einer eigenartigen Anschauung, zu der Anschauung: in der gegenwärtigen Welt finde man allerdings kein Geistiges. Wir haben in Mainländer im neunzehnten Jahrhundert einen Geist vor uns, der nur deshalb keinen großen Eindruck auf die Zeitgenossen gemacht hat, weil der Geist des neunzehnten Jahrhunderts, trotz der großen Fortschritte auf materiellem Gebiete, ein oberflächlicher Geist war. Aber was

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die Seele im neunzehnten Jahrhundert fühlen musste, das hat Mainländer, selbst wenn er allein stand, gefühlt, weil er gewissermaßen der Weise war gegenüber denjenigen, die sich wie in einer geistigen Ohnmacht über das hinwegsetzten, was die Seelen in einer materialistischen oder monistischen Weltanschauung unbefriedigt lassen muss. Man braucht nicht die etwas dicken Bände der «Philosophie der Erlösung» Mamländers sich vorzunehmen, sondern nur das verhältnismäßig recht gute Büchlein von Max Seiling, um sich von dem zu unterrichten, was ich jetzt sage.

Philipp Mainländer sah also in die Welt hinaus, und er konnte sie unter dem Druck des Materialismus nur so sehen, wie sie sich den Sinnen und dem Verstande darstellt. Aber er musste eine geistige Welt voraussetzen. Sie ist aber nicht da, sagte er sich; die Sinneswelt muss aus sich selbst erklärt werden. Und nun kommt er zu der Anschauung, dass die geistige Welt der unsrigen vorangegangen ist, dass es einst ein geistig-göttliches Dasein gegeben hat, dass unsere Seele in einem geistiggöttlichen Dasein drinnen war, dass das göttliche Dasein aus einem früheren Sein in uns übergegangen ist, und dass unsere Welt nur da sein kann, weil Gott gestorben ist, bevor diese geistige Welt vor uns hingestorben ist. So sieht Mainländer eine geistige Welt, aber nicht in unserer Welt; sondern in unserer Welt sieht er nur den mit dem Übel und dem Bösen beladenen Leichnam, der nur da sein kann, damit er seiner Vernichtung übergeben wird, damit das, was dazu geführt hat, Gott und seine Geisteswelt zum Absterben zu bringen, zuletzt auch noch im Zugrundegehen des Leichnams in das Nichtsein treten könne.Mögen Monisten oder andere Denker darüber mehr oder weniger lächeln; wer sich aber auf die menschliche Seele besser versteht und weiß, wie Weltanschauung inneres Schicksal der Seele werden kann, wie die ganze Seele die Nuance der Weltanschauung annehmen kann, der weiß, was ein Mensch erleben musste, der, wie Mainländer, die geistige Welt in eine Vorzeit versetzen musste und in der gegenwärtigen Welt nur den materiell zurückgebliebenen Leichnam derselben sehen konnte. Um

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mit den Übeln dieser Welt fertig zu werden, hat Mainländer zu einer solchen Weltanschauung gegriffen. Dass er mehr drinnen war in dieser seiner Weltanschauung als Schopenhauer oder Nietzsche, als Bahnsen oder Eduard von Hartmann, das sehen wir daran, dass ihm in dem Augenblicke seines fünfunddreißigsten Jahres, als er seine «Philosophie der Erlösung» beendet hatte, der Gedanke kam: Deine Kraft wird jetzt leiblos gebraucht, damit du das, was dir zur Erlösung der Menschheit erscheint, schneller förderst, als wenn du nach der Mitte des Lebens den Leib noch benutzest. Dass Mainländer es mit seiner Weltanschauung im tiefsten Ernste meinte, zeigt sich daraus, dass er, als er zu diesem Gedanken kam: Du nutzest jetzt mehr, wenn du deine Kraft ausgießest in die Welt und nicht auf deinen Leib konzentrierst, wirklich die Konsequenz gezogen hat, die Schopenhauer und die anderen nicht gezogen haben, und durch Selbstmord, und zwar Selbstmord aus Überzeugung, starb.

Mögen Philosophen und andere über ein solches Menschenschicksal hinwegschauen: für unsere Zeit ist ein solches Menschenschicksal doch unendlich bedeutsam, weil es uns zeigt, wie die Seele leben muss, die wirklich zu ihren Tiefen vordringen kann, zu dem, was als die Sehnsucht in unserer Zeit wieder erstehen kann - wie die Seele leben kann, die dem Problem des Bösen und des Übels in der Welt gegenübersteht, und keinen Ausblick hat in die Welt, wo sich geistiges Licht ausbreitet und den Sinn des Bösen und des Übels erleuchtet. Es war notwendig, dass die menschliche Seele eine Zeitlang die materialistischen Fähigkeiten entwickelte. Man wird in einer gewissen Zukunft das geistige Leben auch, ich möchte sagen, unter «psychobiologische Gesichtspunkte» stellen, Gesichtspunkte des Seelenlebens, und sich klar werden, dass, nur ins Geistige heraufgehoben, für das Menschenwesen das gilt, was wie in einem physischen Abbilde unten, bei tierischen Wesen zum Beispiel, erscheint. Gewisse tierische Wesen können lange hungern und hungern auch lange. Kaulquappen zum Beispiel kann man durch längeres Hungern dazu bringen, dass sie schnell die Gestalt in Frösche umwandeln. Ähnliche Verhältnisse zeigen sich

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bei gewissen Fischen bei längerem Hungern, weil dann Rückbildungsprozesse eintreten, die sie fähig machen, das auszuführen, was sie auszuführen haben; sie hungern, weil sie die Kräfte, welche sie sonst in die Nahrungsaufnahme hineinnehmen, zurücknehmen, um eben andere Formen auszubilden. Das ist ein Bild, das sich auf die Menschenseele anwenden lässt: Durch Jahrhunderte hat sie eine Zeit durchlebt, wo man immer von den «Grenzen menschlicher Erkenntnis» gesprochen hat; und selbst viele, die heute glauben spirituell zu denken, sind noch ganz den materialistischen Vorstellungen hingegeben - die man nur, weil man sich ihrer schämt, heute gern monistisch nennt, und selbst Philosophen sind hingegeben dem Grundsatz: Es kann die menschliche Erkenntnis nicht anders als Halt machen, wo sie gerade vor den größten Rätseln steht. Die Fähigkeiten, die zu dem allen führten, mussten eine Zeitlang ausgebildet werden; das heißt die Menschheit musste eine Zeit geistiger Aushungerung durchmachen. Dies war die Zeit des Heraufkommens des Materialismus. Die Kräfte aber, die dadurch in den Seelen zurückgehalten wurden, sie werden nun nach einem psycho-biologischen Gesetz die Menschenseele dazu führen, den Weg m die geistigen Welten hinein zu suchen. Ja, finden wird man, dass das menschliche Grübeln die Form annehmen musste, wie sie uns bei Mainländer entgegentritt, der nicht mehr die geistige Welt in der physischen Welt finden konnte, weil sie ihm der Materialismus genommen hatte, und der daher vor der physischen Welt stehen bleiben musste, dabei nur den Fehler machte zu übersehen, dass das, was unserer Welt vorliegt, uns doch die Möglichkeit gibt, in unserer Seele etwas aufzufinden, was ebenso in die Zukunft verweist wie die äußere Welt in die Vergangenheit weist. Denn nicht zu leugnen ist es, dass Mainländer in einem gewissen Sinne recht hatte: dass das, was unsere Welt ringsherum darbietet, die Reste einer ursprünglichen Entwickelung sind. Selbst die gegenwärtigen Geologen müssen heute schon zugeben, dass wir, indem wir über die Erde wandeln, über einen Leichnam hinwegschreiten. Aber was Mainländer noch nicht zeigen konnte, das ist, dass wir, in-

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dem wir über einen Leichnam schreiten, zugleich in unserem Innern etwas entwickeln, was geradeso Keim ist für die Zukunft, wie das, was um uns herum ist, Hinterlassenschaft der Vergangenheit ist. Und indem wir auf das blicken, was die Geisteswissenschaft der einzelnen Seele ist, kann in uns Wiederaufleben, worauf Mainländer noch nicht schauen konnte, und daher verzweifeln musste

So stehen wir an der Grenzscheide zweier Zeitalter: des Zeitalters des Materialismus und desjenigen der Geisteswissenschaft. Und vielleicht kann uns nichts so sehr in populärer Form beweisen, wie wir, wenn wir unsere Seele recht verstehen, dem spirituellen Zeitalter der Zukunft entgegenleben müssen, als die Betrachtung des Übels und des Bösen, wenn wir den Blick in die lichten Höhen der Geisteswelt hinaufwenden können. Oft habe ich gesagt, dass man sich mit solchen Betrachtungen im Einklange fühlt mit den besten Geistern aller Zeiten, die ersehnt haben, wie in immer klarerer Weise die Menschheit gegen die Zukunft hin leben müsse. Wenn nun ein solcher Geist, mit dem man sich in vollem Einklange fühlt, gegenüber der äußeren Sinneswelt einen Ausspruch getan hat, der wie ein Appell an eine geistige Erkenntnis ist, so dürfen wir auch damit zusammenfassen, was heute an unsere Seele hat herantreten können, und dieses als eine Art Umwandlung eines solchen Ausspruches anführen.

Goethe hat in seinem «Faust» etwas sagen lassen, was zeigt, wie der Mensch von dem Geiste abkommen kann. Paradigmatisch zusammengefasst in einen schönen Spruch ist das Fernstehen des Menschen gegenüber der geistigen Welt in den Worten:

Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben, Sucht erst den Geist herauszutreiben, Dann hat er die Teile in seiner Hand, Fehlt, leider! nur das geistige Band.

So ist es gewissermaßen gegenüber aller Erkenntnis der Welt. Das Schicksal der Menschheit war es, durch einige Jahrhunderte

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hindurch sich den Teilen zu widmen. Immer mehr und mehr wird man es aber nicht bloß als einen theoretischen Mangel, sondern als eine Tragik der Seele empfinden, dass das geistige Band fehlt. Deshalb muss der Geistesforscher in den Seelen heute überall erblicken, was die meisten Seelen noch nicht selber wissen: die Sehnsucht nach der geistigen Welt. Und wenn man so etwas ins Auge fasst, wie es die Beleuchtung der Natur des Übels und des Bösen ist, so kann man vielleicht den Goetheschen Ausspruch erweitern, indem man wie eine Zusammenfassung des Gesagten das Folgende nimmt.

Goethe meinte, wer nach einer Weltanschauung streben will, der darf sich nicht nur an die Teile halten, sondern muss vor allem auf das geistige Band sehen. Derjenige aber, der sich so bedeutsamen Lebensfragen nähert, wie es die Rätsel des Übels und des Bösen sind, der darf aus geisteswissenschaftlichen Untergründen heraus sagen, seine Überzeugung empfindungsgemäß zusammenfassend:

Der löst der Seele Rätsel nicht, Der verweilt im bloßen Sinneslicht; Wer das Leben will verstehen, Muß nach Geisteshöhen streben!

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RUDOLF STEINER ONLINE ARCHIV http://anthroposophie.byu.edu 4. Auflage 2010
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