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Rudolf Steiner - Alteuropäisches Hellsehen, Berlin, 01.05.1909

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ALTEUROPÄISCHES HELLSEHEN

Berlin, 1. Mai 1909

Im Laufe dieser Wintervorträge ist immer wieder davon die Rede gewesen, dass es Erkenntnisse übersinnlicher Welten gibt. Es ist davon die Rede gewesen, wie der Mensch zu solchen Erkenntnissen kommen kann, und von den Ergebnissen dieser Erkenntnisse übersinnlicher Welten haben wir so manches Mal gesprochen. Nunmehr soll in zwei Vorträgen etwas gegeben werden wie eine Illustration zu dem, was man Erkenntnisse höherer Welten nennt. Und an Beispielen soll gezeigt werden, wie sich auf einem gewissen Gebiete hellseherisches Erkennen entwickelt hat, jenes hellseherische Erkennen, welches von unserer heutigen Menschheit im Grunde überwunden ist oder überwunden sein sollte. Von einem gewissermaßen wie durch Naturkräfte, Naturfähigkeiten gegebenen hellseherischen Erkennen soll heute die Rede sein. Das nächste Mal soll davon gesprochen werden, wie durch strenge Schulung, durch ganz bestimmte Methoden hellseherisches Erkennen zu erlangen ist, und zwar wiederum an bestimmten Beispielen. Von jenem hellseherischen Erkennen, das sozusagen unsere Altvordern zu ihren heute überwundenen Anschauungen geführt hat, wollen wir heute sprechen; von jenem hellseherischen Erkenntnisvermögen, das in einer freien selbstbewussten Weise in die höheren Welten führt, soll das nächste Mal die Rede sein.

Es ist auch schon erwähnt worden, dass die Geisteswissenschaft zu sprechen hat von einer Entwickelung des menschlichen Bewusstseins. Das, was wir heute unser Bewusstsein nennen, wodurch wir uns in unserem Innern die äußere Welt in Gedanken, Vorstellungen und Ideen wieder erschaffen, ist nur eine Entwickelungsstufe. Ihm ging in der Entwickelung der Menschheit ein anderes Bewusstsein voraus und wird ein anderes folgen. Wenn heute von Entwickelung im gewöhnlichen Sinne gespro-

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chen wird, so meint man in der Regel eine Entwickelung der äußeren Formen, der materiellen Daseinsgestalten. Die Geisteswissenschaft spricht von einer Entwickelung der Seele und des Geistes, also auch von der Entwickelung des Bewusstseins. Wir können zurückblicken auf eine frühere Form des Bewusstseins, die durch unsere gegenwärtige Stufe der Entwickelung überwunden ist, und wir können hinblicken in die Perspektive eines Zukunftsbewusstseins, das erst allmählich sich auftun wird Wenn wir die heutige Bewusstseinsstufe «Bewusstsein» schlechthin nennen, so können wir das frühere Bewusstsein nennen ein Unterbewusstsein, und das, wozu sich das jetzige durch geisteswissenschaftliche Methoden hinauf entwickeln wird, ein Überbewusstsein. So unterscheiden wir drei aufeinanderfolgende Stufen: Unterbewusstsein, Bewusstsein und Oberbewusstsein.

In gewisser Beziehung ist alles heutige Bewusstsein eine Entwickelungsstufe des Bewusstseins überhaupt, wie die höheren Tierformen Entwickelungsformen sind der allgemeinen Tiergestalt. Das heutige Bewusstsein hat sich aus untergeordneten Bewusstseinsstufen herausentwickelt. Unser heutiges Bewusstsein, das wir auch Gegenstandsbewusstsein nennen können, können wir so charakterisieren, dass wir sagen: Es nimmt die äußeren Gegenstände wahr durch die Sinne wie Gehör, Gesicht, Tasten und so weiter. Es macht sich Begriffe, Vorstellungen und Ideen von dem, was erst Wahrnehmung war. So spiegelt sich in unserem Bewusstsein eine äußere Welt von auf unsere Sinne einwirkenden Gegenständen.

Das Unterbewusstsein war noch nicht so; es hatte eine viel unmittelbarere Natur, Wir dürfen es in gewissem Sinne nennen ein niederes Hellseherbewusstsein, weil das Wesen, dem dies Bewusstsein eigen war, nicht mit den Sinnesorganen an die Gegenstände heranging und sie gleichsam abfühlte, um sich einen Begriff davon zu machen, sondern die Begriffe waren unmittelbar da; es stiegen Bilder auf und ab. Nehmen wir an, das Bewusstsein tritt einem äußeren Gegenstande entgegen, der ihm

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gefährlich ist. Heute sehen wir den Gegenstand, und die durch das Gesicht hervorgerufene Vorstellung bewirkt, dass in uns das Bewusstsein der Gefahr auftritt. So war es nicht bei dem hellseherischen Bewusstsein früher. Der äußere Gegenstand wurde nicht in deutlichen Umrissen wahrgenommen, in den älteren Zeiten überhaupt nicht. Etwas wie ein Traumbild stieg auf und zeigte dem Wesen an, ob etwas Sympathisches oder Unsympathisches ihm entgegentrat. Das können wir uns veranschaulichen durch das heutige Träumen, die auf- und abwogenden Traumbilder. So wie das Träumen heute im normalen Zustande ist, so ist es zu charakterisieren als etwas, das keine wirkliche Beziehung hat zu der äußeren Welt. Dagegen wenn wir uns das Traumbewusstsein so vorstellen, dass einem jeden Bilde, das als Traumbild in uns aufsteigt, etwas ganz Bestimmtes entspricht und zugeordnet ist, so dass ein bestimmtes Bild bei einer Gefahr aufsteigt, ein anderes bei einem nützlichen Gegenstand - wenn also durch diese Bilder eine bestimmte Beziehung zu uns vorhanden wäre -, dann konnten wir sagen, es käme uns nicht darauf an, ob wir träumen oder wachen, dann könnten wir unser praktisches Leben auch nach diesen Traumbildern einrichten. Aus einem solchen realen Traumleben, das die innere Natur, die innere Seelenhaftigkeit der Dinge in Bildern aufsteigen ließ, aus einem solchen Bewusstsein ist das heutige Bewusstsein hervorgegangen. Und die mannigfaltigsten Gestalten hat es angenommen, bis es sich zu der heutigen Form entwickelt hat. Wenn wir zurückgehen in der Geschichte, wie sie die Geisteswissenschaft an die Hand gibt, würden wir bei alten Völkern zuletzt in ferner, ferner Vergangenheit einen Entwickelungszustand finden, in dem das Äußere nicht wahrgenommen wurde; aber von einem alten, hellseherischen Bewusstsein wurde die Umwelt in innerlicher Weise wahrgenommen. Aber dieses hellseherische Bewusstsein hatte eine Eigenschaft der Seele im Gefolge, welche gegenüber der jetzigen Grundeigenschaft unserer Seele als eine unvollkommene Stufe bezeichnet werden muss. Die Menschenseele war keine selbstbewusste Seele, sie konnte nicht zu sich «ich» sagen, sie konnte sich nicht von der Umwelt unterschei-

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den. Nur dadurch, dass die äußeren Gegenstände mit ihren festen Konturen der Seele entgegentraten, lernte die Seele, sich von ihnen zu unterscheiden. Es konnte sich dieses Bewusstsein nur dadurch bilden, dass das alte Bewusstsein dahinschwand, als das Tages- oder Gegenstandsbewusstsein eintrat. So hat der Mensch sein Selbstbewusstsein erkaufen müssen mit dem Aufgeben des alten, ursprünglich hellseherischen Zustandes. Jede Entwickelung ist zugleich eine Höherentwickelung, wenn auch gewisse Vorteile früherer Stufen dabei aufgegeben werden müssen. Nun bleibt sozusagen von jeder Stufe in spätere Zeiten hinein etwas zurück, und wir können in gewisser Beziehung solche Erbschaften früherer Zeiten noch in die gegenwärtige Zeit hineinragen sehen. Das ist etwas Abnormes heute. Es wurde schon darauf aufmerksam gemacht, dass wir ja auch in der äußeren Gestalt solche Atavismen haben, so zum Beispiel die Muskeln in der Nähe des Ohres, die früher das Ohr bewegt haben. Bei den Tieren haben sie ja zum Bewegen des Ohres noch einen Zweck. Beim Menschen haben sie keinen Zweck mehr, und nur wenige Menschen können ihre Ohren willkürlich bewegen. Was sind solche Muskeln? Sie sind Überbleibsel einer früheren Entwickelungsstufe. Der Mensch hat einmal eine solche Kopfform gehabt, dass die Ohren beweglich waren.

So wie solche Organformen in der Entwickelung übrig geblieben sind, so bleiben auch gewisse alte Zustände des Bewusstseins zurück. Deshalb sehen wir solche Überbleibsel, solche Erbstücke alten Hellsehens hineinragen bis in unser heutiges Bewusstsein; aber sie sind getrübt und verändert auf der heutigen Entwickelungsstufe und deshalb abnorm. Wenn wir hinweisen auf das, was zurückgeblieben ist vom Hellsehen, können wir leicht charakterisieren das alte europäische Hellsehen, das in der Entwickelung aller europäischen Völker zu finden ist und unterschieden werden kann von dem Hellsehen des Orients. Auf diese Unterschiede soll heute hingewiesen werden.

Welches sind die Erbschaften des alten hellseherischen Zustandes der Menschheit? Wir können da zwei Kategorien unter-

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scheiden. Die eine steht gewissermaßen ganz für sich und gehört zu den göttlichen Erbstücken. Das sind der Traum und die Traumerlebnisse. Die anderen Überbleibsel gehören zu einer ganz anderen Kategorie. Der Traum ist nicht durch die Menschen, sondern durch die fortgehende Entwickelung selbst verändert. Die anderen Erbstücke sind die Vision, die Ahnung, und die Deuteroskopie oder das «andere Gesicht».

Wir betrachten zunächst den Traum. Er ist zurückgeblieben von dem alten Bilderbewusstsein. Aber in jenem alten Bilderbewusstsein hing der Traum noch mit der Wirklichkeit zusammen. Wie ist der Traum heute? Er zeigt noch gewisse charakteristische Eigenschaften des alten Bilderbewusstseins, hat aber den realen Wert, den Wirklichkeitswert des alten Bilderbewusstseins verloren. Denken wir an ein Beispiel: Es träumt jemand, er sehe vor sich einen Laubfrosch, hasche nach ihm und ergreife ihn. Da wacht er auf und hat den Zipfel der Bettdecke in der Hand. Der Traum symbolisiert das äußere Ereignis. Würde der Mensch diesem Traum mit dem Gegenstandsbewusstsein gegenübergestanden haben, so würde er gesehen haben, dass er die Bettdecke in der Hand hielt. So aber symbolisiert der Traum. Er kann zu einem großen Dramatiker werden. Es träumt zum Beispiel einem Studenten, er würde beim Verlassen des Hörsaales von einem anderen angerempelt, ein Verbrechen, das nur durch ein Duell gesühnt werden kann. Er fordert nun den anderen auf Pistolen, die Sekundanten werden bestimmt, man findet sich an dem verabredeten Ort ein, die Distanz wird abgemessen, die Pistolen geladen, und der erste Schuss fällt. Im selben Augenblick aber wacht der Student auf und hat den Stuhl neben seinem Bett umgestoßen. Da haben wir wiederum dasselbe: der Traum verwandelt ein äußeres Vorkommnis in ein Bild. Wenn der Betreffende mit Gegenstandsbewusstsein das Geschehene angesehen hatte, wenn er wach gewesen wäre, so würde er gesehen haben, dass der Stuhl umgeworfen wurde.

Wir sehen bei diesen Träumen, dass es eine gewisse willkürliche Verbindung gibt zwischen dem, was der Träumende erlebt hat

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und dem, was äußerlich geschieht. Dass man es mit einem Bilde der äußeren Tatsachen zu tun hat, das hat sich der Traum bewahrt aus dem alten Bilderbewusstsein, aber nicht bewahrt hat er sich die unmittelbare Beziehung zu der äußeren Welt. Wenn er diese unmittelbare Beziehung noch hätte, dann würde der Mensch nicht nötig haben, das Salz mit der Zunge zu berühren, um es zu erkennen, sondern ein ganz bestimmtes Traumbild würde vor ihm aufsteigen, ein anderes bei Essig, Zucker, bei gefährlichen Wesen und so weiter. Jeder Wesensnatur entsprach ein ganz bestimmtes Bild.

Dieses Bewusstsein ist wie ein Rest zurückgeblieben, wie ein Erbstück im heutigen Traumbewusstsein. Weil der Mensch sozusagen mit seinem ganzen Wesen in seinem Selbstbewusstsein aufging, weil er sich losgerissen hatte von der Umgebung, haben beim heutigen Menschen die Traumbilder keinen Bezug mehr zur Außenwelt. Dadurch, dass der Mensch in ganz normaler Weise vom Traumbewusstsein zum Selbstbewusstsein aufstieg, ist die Beziehung des Traumes zur Außenwelt verlorengegangen.

Anders ist es bei den drei anderen Überresten: bei Vision, Ahnung und bei Deuteroskopie oder dem «anderen Gesicht». Wenn Sie sich erinnern an die ganze Entwickelung des Menschen, wie sie hier oft dargestellt worden ist, so stellt sie sich uns so dar: Der Mensch, wie er heute vor uns steht, besteht aus vier Gliedern: aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib, Ich. Das Ich ist das letzte Entwickelungsglied, und durch das Aufsteigen zum Ich ist der Mensch zu einem selbstbewussten Wesen geworden. Wann hatte nun der Mensch dieses Bilderbewusstsein? Er hatte es, als sein Ich noch schlummerte im astralischen Leibe, als der astralische Leib selbst der Träger des Bewusstseins war. Der astralische Leib war es, der diese Bilder aufund absteigen ließ. Es ist also gleichsam so, als wenn der Mensch aufgetaucht wäre aus dem astralischen Leibe und dadurch sein heutiges Gegenstandsbewusstsein errungen hat. Dadurch ist es auch erklärlich, dass der Mensch noch tiefer ver-

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bunden sein musste mit den anderen Gliedern seiner Natur. So wie er im astralischen Leibe untergetaucht war in früheren Zeiten, so war er untergetaucht im Ätherleibe und noch tiefer im physischen Leibe. Wir haben also drei Stufen des Unterbewusstseins unter dem heutigen Gegenstandsbewusstsein.

Denken Sie sich einmal einen Menschen schwimmend unter der Oberfläche des Meeres, im Meer drinnen. Die Möglichkeit sei ihm gegeben, das, was im Meer ist, zu sehen. Er sieht, was auf dem Grunde des Meeres vorgeht, was dort geschieht, was dort schwimmt, schwebt. Da hat er etwas anderes um sich, als wenn er auftaucht, hinaufschaut und den sternbedeckten Himmel über sich sieht. So können wir uns das Bewusstsein vorstellen, herausgehoben aus seinen Unterstufen, wo dem Menschen das bewusst war, was ihm astralischer, ätherischer und physischer Leib vermittelt haben, hinaufgestiegen zum heutigen Gegenstandsbewusstsein. Nun kann aber der Mensch in gewissen abnormen Fällen wiederum hinuntertauchen sozusagen in dieses Meer des Unterbewusstseins. Er kann sich so hineinbegeben, dass er das, was er schon erobert hatte, nachdem er herausgetaucht war aus dem Meer des Unterbewusstseins, jetzt wieder mit hinunternimmt.

Denken Sie sich einen Menschen, der oben alles gesehen hat, dann wieder hinuntertaucht und nun alles unten Wahrgenommene vergleichen kann mit dem, was er von oben kennt. So ist es mit dem heutigen Menschen: er nimmt dasjenige mit, was er sich oben erworben hat. Es ist nicht so, wie es beim Taucher ist, der alles nur in der Erinnerung mitnimmt und vergleichen kann. Wer da hinuntertaucht, nachdem er ein gegenwärtiger Mensch gewesen ist, dem färbt sich hier alles, was unten ist, mit den Erfahrungen von oben. Man bringt wie eine Hülle das oben Erlebte in dieses Unterbewusstsein hinein und bekommt dadurch keine reine Vorstellung, kein ungetrübtes Bild, sondern ein Bild, das durch die Erfahrungen des Gegenstandsbewusstseins getrübt ist.

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Wenn der Mensch da hinuntertaucht in seinen Astralleib, so versetzt er sich künstlich zurück in die Sphäre, die sein Bewusstsein einnahm, als er noch selber im astralischen Leibe lebte. Dadurch entsteht im gegenwärtigen Sinne die Vision. Würde der Mensch hinuntersteigen in das Bewusstsein des astralischen Leibes, ohne etwas von der heutigen Welt zu wissen, so würde er wirklich jene Bilder erleben, die das Innere der Gegenstände darstellen. Da er aber, wenn er hinuntersteigt, das mitnimmt, was er oben erfahren hat, erscheinen ihm alle Dinge, die ihm sonst in ihrer wahren Gestalt erscheinen würden, so, dass sie ihm vorgaukeln, vorspiegeln das, was man nur hier in der Welt des Gegenständlichen erleben kann. Das ist das Wahre und das Trügerische der Vision.

Wenn jemand hinuntersteigt in die Welt der Vision, so kann er immer sicher sein, dass da Gründe sind, die in der seelischen Umwelt liegen; aber es ist auch sicher, dass das, was ihm als Vision vor Augen tritt, Gaukelbilder sein werden, dass sich ihm die wahre Gestalt der Dinge nicht enthüllt, sondern Nachbilder dessen, was in der Oberwelt gesehen wird. Deshalb erscheinen die Visionen des Menschen zumeist so, dass sie das andeuten, was eben die Menschen in der Gegenwart erleben. Das kann man bis in die Einzelheiten prüfen, sogar von Jahrzehnt zu Jahrzehnt.

Denken Sie, ein Mensch tauchte in jene Welt unter in einer Zeit, in der es noch keinen Telegraphen und kein Telephon gab. Da hätte er auch in der Unterwelt keinen Telegraphen und kein Telephon gesehen. Dagegen wird in unserer Zeit das Sehen von Telegraphen und Telephonen in der Vision immer häufiger werden. Daher kommt es auch, dass ein frommer Katholik, der oft die Madonna gesehen hat in der Gestalt, wie sie dem Gegenstandsbewusstsein entgegentritt, wenn er hinuntersteigt, dieses Bild mitnimmt und ihm das in der Vision erscheint. In der Regel werden die, die nicht fromme Katholiken sind, auch in den Visionen nicht die Madonna erleben. Was in der Vision gesehen wird, das entspricht nicht der Realität; sondern das, was sich als

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Realität kleidet, hat der Mensch erst hinuntergebracht. Er trägt hinunter in diese Welt, was er hier erlebt hat. Wir sehen also, dass der Mensch in der Tat in der Vision in gewisser Weise dasjenige färbt, was er erlebt.

Taucht er zurück in den Ätherleib, so erlebt er das, was man mit Ahnung bezeichnet. Aber hier ist es noch gefährlicher, weil dieser Bewusstseinszustand noch weiter zurückliegend ist. Da ist der Mensch hineinverwoben in alle die verschlungenen Daseinsfäden, aus denen er aufgestiegen ist zu seinem IchBewusstsein, aber er kann die Fäden nicht in ihrer wahren Gestalt durchschauen. Bedenken Sie, wie wenig die Menschen die Zusammenhänge überblicken, die um sie herum sind. Über einen kleinen Ausschnitt der Welt machen sie sich Gedanken, über Ursache und Wirkung, aber sie vergessen, dass die ganze Welt mit ihrem Umkreise zusammenhängt wie in einem Netz, in dem Zusammenhänge sich hin- und herspinnen. Der Mensch ist heute herausgehoben aus alledem, er überblickt gewissermaßen eine Insel, aber diese Insel ist zusammenhängend mit dem ganzen Kosmos. Und in seinem Ätherleib hängt der Mensch innig zusammen mit dem Kosmos. Wenn er hinuntersteigen würde in seinen Ätherleib, ohne dass er etwas von dem hellen Tagesbewusstsein mitbrächte, dann würde er sehen, wie sich im Keime etwas anknüpft, was erst, sagen wir, in zehn Jahren sich ereignen wird. Nun können Sie sich denken, dass der Mensch seinen Intellekt mit herunterbringt. Er trägt seinen kleinen Intellekt, sein kleines Verstandesseeichen mit herunter. Dadurch wird das, was als Ahnung auftritt, schon verfälscht. Wenn die Ahnung auf natürlichem Wege auftaucht, hat sie meistens - wie auch die Vision - keinen großen objektiven Wert. Dann aber, wenn der Mensch untertaucht in die Tiefen des physischen Leibes, dann kann die Ahnung übergehen in das Durchdringen des Raumes. Während die Ahnung noch mit der Zeit zusammenhängt, kann in der Deuteroskopie, im «anderen Gesicht» das gesehen werden, was mit physischen Augen nicht wahrgenommen werden kann. Die Bilder stellen sich dem Men-

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schen dar wie eine Fata Morgana. Abnorme Erscheinungen, wie sie zum Beispiel von Swedenborg berichtet werden, gehören hierher. Dass auf seelischem Gebiet die Täuschungen noch größer sein müssen und nichts ungeprüft hingenommen werden darf, das können Sie aus dem Gesagten entnehmen. Was heute als krankhafte Zustände auftritt, ist das zurückgebliebene Erbstück alten Hellsehens und war in den alten Zeiten durchaus gesund, war etwas, durch das der Mensch in Wahrheit sich in ein Verhältnis zur Umwelt gesetzt hat. Wenn wir zurückblicken, namentlich in der Entwickelung der europäischen Völker, so finden wir überall mehr oder weniger das alte Bilderbewusstsein, das die Welt anschaut, wie sie innerlich ist, wie sie ihrer geistig-seelischen Wesenheit nach ist. Aber das IchBewusstsein ist noch ganz unentwickelt. Und was ist denn geblieben von dem, was die Alten gesehen und erzählt haben, die noch nicht das vollständige Ich-Bewusstsein hatten? Wir können sehen, dass ein Übergang vorhanden war vom alten Bilderbewusstsein zum Gegenstandsbewusstsein. Oh, es ist ein gutes, schönes Erbstück davon vorhanden: das sind die Mythen und Sagen, der gesamte Inhalt der Mythologien. Was die Mythologien enthalten, das wird heute vielfach als Volksdichtung hingestellt. Da werden Wolken als Schafherden angesehen, oder Blitz und Donner in irgendeiner Weise umgedeutet. Es gibt vielleicht keine willkürlichere «Dichtung», als dies«; Ausdeutung der alten Mythen und Sagen. Alles dasjenige, was heute geblieben ist in Mythen und Sagen, entstammt altem Hellsehen. Das, was erlebt wurde im Unterbewusstsein, das ist erzählt worden, und diese Erzählungen sind die Sagen und Mythen und auch die Märchen.

Alle Sagen und Mythen sind erlebt, nicht erdichtet, aber auch nicht im heutigen Gegenstandsbewusstsein erlebt, sondern im alten dämmerhaften Bewusstsein. Und wir können gleichsam tief hineinschauen in das Wirken dieses dämmerhaften Bewusstseins, wenn wir uns an etwas Großes in den religiösen Schriften erinnern. Erinnern Sie sich einmal an jene bedeutungsvolle Stelle im Alten Testament, wo es heißt: «Und Gott,

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der ewige Gott, blies dem Menschen den lebendigen Odem ein, und da ward der Mensch eine lebendige Seele.» Eine gewisse Gestaltung des Atmungsprozesses ist hier in Verbindung gebracht mit der Entwickelung des Menschen. Diese Stelle will uns zeigen, dass der Mensch sein heutiges Ich-Bewusstsein, diese besondere Art, in und mit seinem Blute zu leben, verdankt der besonderen Gestaltung des Atmungsprozesses, die er im Laufe der Zeiten erlangt hat, und die er noch heute hat. Nur dadurch, dass der Mensch als aufrechtgehendes Wesen atmen lernte, erhob er sich über das Bilderbewusstsein.

Die Tiere haben heute noch entweder direktes oder indirektes Bilderbewusstsein, weil sie keine aufrechtstehende Lunge haben. Man hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass der Hund viel intelligenter ist als der Papagei, und doch lernt nur der Papagei sprechen und der Hund nicht. Das hängt damit zusammen, dass der Papagei einen gewissermaßen aufrechtstehenden Kehlkopf hat. Damit, dass der Mensch eine besondere Konfiguration der Organe hat, hängt zusammen, dass der Mensch aufgestiegen ist zu seinem heutigen Gegenstandsbewusstsein.

Wenn wir das aufgeführte Bibelwort richtig verstehen wollen, müssen wir sagen: Durch die Weltengesetzlichkeit wurden die menschlichen Organe so geformt, dass der heutige Atmungsprozess sich ausbildete. Die, welche diesen Prozess geistig verstanden, welche wussten, dass in allem ein Geistiges lebt, die sagten sich: Es muss das Geistige der Luft in einer solchen Weise in uns hineindringen, dass sich entwickeln kann das freie IchBewusstsein. - Wenn dieser Prozess in unregelmäßiger Weise geschieht, wenn die Geister der Luft nicht den richtigen Weg finden, unser Blut in der richtigen Weise zu bearbeiten, wie es zu unserem heutigen Ich-Bewusstsein gehört, dann entsteht auch eine Unregelmäßigkeit unseres Bewusstseins: es wird zurückgeschraubt auf eine frühere Stufe. Deshalb empfand der alteuropäische Mensch in jeder Unregelmäßigkeit des Atmungs-

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prozesses nichts anderes als ein Zurückschrauben des Bewusstseins.

Welches ist der physische Ausdruck für unregelmäßiges Atmen? Es ist der Alpdruck. Das Wort kommt her von Alb, Alf oder Elb, Elf und hängt auch zusammen mit Orpheus. So sehen wir, dass wir in ihm nichts anderes haben als ein Geistiges, welches im Atmungsprozess so wirkt, dass das Ich nicht zur vollen Entfaltung kommen kann. Wenn der Atmungsprozess unregelmäßig ist, dann hat das Heer niederer Geister Zutritt zum Menschen. Und nun nennen Sie es krankhaft oder wie Sie wollen, darauf kommt es nicht an; es kommt darauf an, was sich dadurch im Menschen entwickelt. Von unserem heutigen Standpunkte aus muss dieser Zustand ja als krankhaft bezeichnet werden. Denn wenn es auch ein Zurückschrauben ist auf einen früheren Zustand, so ist doch dieser Zustand heute ein Übergang vom Normalen zum Abnormalen.

Unser heutiger Atmungsprozess ist entsprungen einem Prozess, der als Überbleibsel im Alpdruck vorhanden ist, in ihm sein letztes Erbstück hat, einem Prozess, wo der Mensch nicht so viel Sauerstoff brauchte. Als der Mensch noch dem Pflanzenzustande näher war, hatte er eine andere Bewusstseinsform, war untergetaucht in das alte dämmerhafte Bewusstsein. Dann tauchte er daraus auf, und beim Übergang, als der Mensch abwechselnd da und dort in seinem Bewusstsein war, erlebte der alteuropäische Mensch alles dasjenige, was in allem Alben- und Elfenwesen uns entgegentritt.

So blicken wir in einer natürlichen Weise zurück in uralte Zustände. Wir haben im Alpdrücken den heutigen äußeren Zustand von etwas, was geistig war, und was nichts anderes darstellt, als den Überrest des alten hellseherischen Bewusstseins, des Bilderbewusstseins, das Mythen und Sagen schafft.

Aber indem sich das Atmen umwandelte, hat sich ja auch manches andere umgewandelt. Es ist auch entstanden das äußere Sehen der Gegenstände. Das «Bildersehen» der Gegenstände war

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nicht verknüpft mit dem Sehen der äußeren Konturen, der Oberflächen der Gegenstände. Der Mensch sah nicht die Außenflächen der Gegenstände. Es gab auch einen Übergang, wo der Mensch erfahren hat, dass die alten Bilder versanken und aufstieg das Bild der äußeren Gegenstände. Und wiederum gab es einen Zwischenzustand, wo der Mensch schon zum Sehen entwickelt war, aber in abnormen Zuständen, wo das äußere Sehen zurücktrat, in hellseherische Zustände kam. Der Volksmund hat ein altes Wort für diesen Zustand, wo das normale Bewusstsein zurücktritt, wo man einen Gegenstand anschaut und doch nicht sieht. Das nennt man «spannen», «staunen», und dieses Wort ist wurzelhaft verwandt mit dem Wort Gespenst, so dass Sie hier sozusagen das Gespenst vor sich haben, dasjenige, was als inneres Bild auftauchte, was noch nicht äußerer Gegenstand war, sondern durch astralische Kräfte gesehen wurde. Heute ist das etwas Abnormes. Beim Übergang war der Mensch darauf angewiesen, wenn das auftrat, sich zu sagen: Aber ich will doch sehen, ich will nicht, dass du mich anglotzt, ich will sehen. - Da kam ihm das, was als Äußeres vor ihm stand, als etwas vor, das er zu überwinden hatte. Alle Sagen, die darauf ausgehen, das, was einen anglotzt, blind zu machen, zu überwinden, dass es einen nicht mehr anglotzt, haben hier ihren Ursprung. In der Sage von Polyphem, in der Blendung vom Riesen bis zu der wunderbaren Sage, wo Dietrich von Bern den Riesen Grim überwindet, überall haben wir dieses Bewusstseinsmoment.

Die ganze Seltsamkeit der Erscheinungen konnte aber auch für die Seele etwas Lockendes haben. Dadurch, dass sie auftraten, wie einer unbekannten Welt angehörend, hatten sie etwas Verlockendes, dadurch waren diese Wesenheiten solche, die verlockend, verführend auf den Menschen wirken konnten. Der oder die «Lur» oder «Lore» ist das Grundwort für ein Lockgespenst. Wenn der Mensch es erblickte, konnte er nicht anders es sehen, als aus dem Innern der Dinge entstanden. Nun noch etwas

Merkwürdiges: Mit dem Wort «Heimat» hängt wurzelhaft zusammen das Wort «Lei», daher «Lorelei-Felsen». Das ist das

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Lockgespenst, das sich in die Lei, also in seine Heimat zurückzieht, die dort war. Das Wort «Lei» kann man in den mannigfaltigsten Gegenden finden. So haben wir sozusagen das unterbewusste Erlebnis des Sehens der Lore oder Lure, das auftritt, als sich das bestimmte Sehen nach außen entwickelt. Die Alpe oder Elfen sind damit zusammenhängend, dass der Mensch in seinem Innern sein Ich-Bewusstsein erhält.

Aber es ist uns noch eine andere Sage als Erbstück erhalten, die in gewissen slawischen Gegenden noch heute als Sage lebt. Es ist die Sage von der Mittagsfrau. Wenn die Menschen hinausgehen aufs Feld und, statt mittags nach Hause zu gehen, draußen bleiben, so erscheint ihnen die Mittagsfrau in der Gestalt einer weißen Frau. Sie legt dem Menschen Fragen vor, bis die Mittagsglocke schlägt. Kann der Mensch diese Fragen beantworten, so sagt die Mittagsfrau am Schluss: «Es ist gut, du hast mich erlöst.» Was sehen wir in einer solchen Sage? Wir sehen wiederum ein altes hellseherisches Erlebnis hierausgedrückt. So, wie der Mensch mit der Luft den Geist des Ichs einatmet, so hat er aus der geistigen Umwelt, aus dem Makrokosmos, sein ganzes Inneres, seinen ganzen Mikrokosmos aufgebaut. Alles, was innen ist, ist von außen hereingekommen. Unsere innere Intelligenz ist das Ergebnis der äußeren Intelligenz. Es gibt einen Übergang von der Zeit, wo der Mensch die geistigen Wesenheiten gesehen hat, die den Aufbau der Welt leiteten, die die Blumen und Kristalle in ihrer Bildung leiteten, bis zur Bildung der äußeren Intelligenz. Die äußere Intelligenz ist gewissermaßen in den Menschen hineinmarschiert, und er ist sich ihrer bewusst geworden. Nehmen Sie an, das Bewusstsein lösche sich einfach aus durch die Mittagssonne. Diejenigen, die das geistig wussten, nannten die Mittagssonne den Mittagsdämon. Nehmen Sie an, es lösche sich da das lichte Bewusstsein aus - durch einen latenten, partiellen Sonnenstich, könnte man sagen -, und es gehe auf vor dem Menschen dasjenige, was wie die äußere Veranlassung, die äußere Ursache seiner IntelligenzKräfte ist. Wie muss das auftreten? Nur dadurch, dass der

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Mensch seine Intelligenz anspannen muss. Es tritt dem Menschen sozusagen das, was ihm aus der Welt einverwoben ist, objektiv entgegen. Er muss es besiegen, indem er imstande ist, seine Intelligenz so lange anzustrengen, dass er antworten kann, bis die Mittagsglocke ertönt. Gelingt ihm das, so hat er die Aufgabe erfüllt und das Bewusstsein vereinigt sich wieder mit seinem Ich. Und nun übertragen Sie das einmal auf die schönste Form, die dieses geistige Erlebnis erlangt hat, in der es uns entgegentritt im alten Griechenland - und plastisch im alten Ägypten -, wo die große Fragestellerin, die Sphinx auf tritt. Nichts anderes ist die Sphinx als die höchstgesteigerte Mittagsfrau. Sie legt dem Menschen ebenfalls Fragen vor, Fragen über das Menschenrätsel, wo er seine höchste Intelligenz anwenden muss. Denn alle Fragen der Sphinx verlangen die Antwort: «Der Mensch.» So tritt dem Menschen dasjenige, was er im Innern ist, in der Sphinx entgegen, und wer imstande war, das SphinxRätsel zu lösen, der konnte sie erlösen. Dann stürzte sie sich in den Abgrund, das heißt sie vereinigte sich mit der inneren Menschennatur. Wir haben an einzelnen Beispielen gesehen, wie sich in der wunderbaren Sagenwelt nichts anderes ausdrückt als der Gegenstand der Entwickelung des Bewusstseins. Von dem alten Bilderbewusstsein eroberte sich die Menschheit ihr gegenwärtiges helles Tagesbewusstsein, das dem Menschen das Selbstbewusstsein gebracht hat. Und während er früher nicht in sich hineinschauen konnte, nicht ein Selbst dort fand, so fand er, wenn er hinausschaute, überall geistige Wesen, in der Quelle, in der Luft, im Baum - alles war von geistigen Wesen belebt. Wenn er mit seinem dämmerhaften Bewusstsein hinausblickte und sah die Luft, so wusste er, dass sie die Verkörperung desjenigen Gottes war, der sein Inneres gestaltete. Drang die Luft in ihn ein, so wusste er: das bewegt mein Ich. - Brauste der Wind, der sonst von ihm eingeatmet wurde, draußen in kalten, stürmischen Winternächten über die Erde, dann wusste er, dass in dem Sturmesbrausen Wotan einherfährt.

So könnten wir alle Mythen und Sagen durchgehen. Wir würden wohl Umgestaltungen durch Dichtungen finden, aber alle

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führen zurück auf altes hellseherisches Bewusstsein. Aber dieses hellseherische Bewusstsein, wie es sich innerhalb Europas entwickelt hatte, das unterscheidet sich ganz wesentlich von dem der Orientalen. Jedes Volk hat innerhalb der Entwickelung eine besondere Mission, eine besondere Aufgabe zu erfüllen. Während der Orientale überall in der Zeit, in der er gerade jenen Übergang vom alten Hellsehen zur Ausgestaltung des Ichs erlebt, dieses Ich selber nur in sehr geringem Grade hatte, so dass sich dieses Ich sehr leicht hingab an die höheren Wesenheiten, war innerhalb des europäischen Lebens früh das Persönlichkeitsbewusstsein entwickelt. Das charakterisiert jene Übergänge besonders: ungeheuer stark fällt das Ich hinein in jene Übergangsstadien zum Gegenstandsbewusstsein. Der Mensch konnte hineinsehen in das Innere der Dinge, aber er machte in stärkstem Maße sein Ich geltend, fühlte sich von Anfang an als ein starker Kämpfer gegenüber den Wesenheiten, die ihn einspinnen wollten in die Faden der umliegenden geistigen Welt. Daher sind seine Helfer vorzugsweise solche Wesenheiten, die auf die Erringung des Selbstbewusstseins, auf die Befreiung des Ich hinarbeiten.

Wir sehen, wie in dem Sieg, den die Geister erringen wollen, die das persönliche Selbstbewusstsein über die Astralgeister verleihen, etwas gegeben ist, was innerhalb der germanischen, der europäischen mythologischen Literatur eine große Rolle spielt. Der Alpgeist, der unfrei macht, ist in der Midgardschlange, in den Gestalten der Riesen, und auch in den Gestalten der Sirenen, überall im europäischen Bewusstsein vorhanden. Überall sehen Sie, wie sozusagen die Götter dem Menschen Genossen werden zur Ausgestaltung des persönlichen Selbstbewusstseins.

Wir sehen, wie der Gott, der im Atem lebt, Wotan, ein Genosse wird des Menschen im Kampfe gegen all die niederen Geister. Wir sehen, wie der starke Gott dem Menschen zur Seite steht, wenn es sich darum handelt, das niedere Bewusstsein zu überwinden. Donar oder Thor mit seinem Hammer ist es, der die Riesen und die Midgardschlange überwindet; er ist es, der im eigentlichen Sinne ausdrückt, wie der Mensch mit seinem Ich-

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Bewusstsein aus der geistigen Welt heraustritt in die Welt der sinnlichen Wahrnehmung.

In Europa war der vorbereitete Boden für das Christentum dadurch gegeben, dass dieses Besiegen der astralischen Mächte, die den Menschen unfrei machen wollen, ein Hauptmotiv bildet. Dadurch musste das Gemüt der Europäer etwas fühlen, was die orientalischen Völker nicht verspürten. In Europa herrschte der Drang, aufzutauchen mit dem freien Ich aus dem Unterbewusstsein. Darum fühlte das europäische Gemüt in der intensivsten Weise: Ich bin mit meinem Ich herausgestiegen aus der geistigen Welt in die physisch-sinnliche Welt. Wo meine Seele war in uralter Zeit, dieses Land habe ich verloren, ich habe die physische Welt errungen, das aber hat mich blind gemacht gegenüber der alten astralischen Welt; ich habe hingeworfen mein altes dämmerhaftes Bewusstsein. - Das muss am stärksten da zum Ausdruck kommen, wo der Sieg zum Ausdruck kommen sollte über die astralische Welt. Sozusagen den Führer in der hellen astralischen Welt, aus der des Menschen Seele geboren ist, empfand das alte europäische Bewusstsein in Baldur. Er, der sonnenhelle Gott, ist der Führer der Seelen, insofern sie ihrem Heimatlande, der hellen astralischen Welt, angehörten. Jetzt sind die Seelen in den physischen Leib eingeschlossen. Da ist der Führer in der sinnlichen Welt der gegenüber der geistigen Welt blinde Hödur, der den Baldur erschlägt.

So empfanden die alten europäischen Menschen den Untergang der hellseherischen Seele wie den vorläufigen Tod der Seele. Aber sie empfanden diesen Untergang auch wie einen Übergang. Sie haben gefühlt, dass ein Neues folgen musste. Daher die Götterdämmerung, der Untergang jener Ordnung der Welt, die uns die äußeren Gegenstände nur als Bilder vor die Augen stellte. Und weil in den alten Zeiten das persönliche Bewusstsein besonders bei den europäischen Völkern ausgeprägt war, konnte auch der persönliche Gott, der in Christus Jesus erschienen ist, am tiefsten und intensivsten von den europäischen Völkern begriffen und ergriffen werden. Schon vor langer Zeit war dort der

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Berlin,1 Mai1909

Keim gelegt für die Entgegennahme des persönlichen Gottes in Christus.

Wir haben gesehen, wie in Europa das heutige Bewusstsein sich aus dem früheren Bewusstsein herausgebildet hat. Das nächste Mal wird es unsere Aufgabe sein zu zeigen, wie von den großen Eingeweihten schon in den alten Mysterien, lange vor dem Auftreten des Christentums, hingewiesen wurde auf höhere Welten. Wie sich die Mysterien weiter entwickelt haben bis in unsere Zeit hinauf, das werden wir im nächsten Vortrage hören. Dasjenige, was der Eingeweihte früher erschaut hat, das wird durch die Geisteswissenschaft der Mensch lernen, auf höherer Stufe zu sehen, wenn er mit vollem, freiem Bewusstsein hineinsehen wird in die geistige Welt.

Der Mensch ist als ein in seinem Unterbewusstsein lebendes Wesen aus der geistigen Welt heruntergestiegen, um sich in der sinnlichen Welt sein Selbstbewusstsein zu holen. Er wird wiederum hinaufsteigen zur übersinnlichen Welt mit seinem Selbstbewusstsein. Das alte Hellsehen war nicht sein Hellsehen, sondern das, was ihm andere Wesen eingeträufelt haben. Das Hellsehen, das der Mensch sich erwerben wird in der Zukunft, das wird ein selbstbewusstes, ein Ichdurchdrungenes Hellsehen sein. Das wird am besten getroffen durch einen Ausspruch des Christus Jesus. Indem der Christus Jesus hinwies auf den Zusammenhang zwischen Wahrheit und Freiheit, hat er auf eine ferne Zukunft geblickt; und in diese Zukunft hinein weist sein Ausspruch: Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen!

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RUDOLF
http://anthroposophie.byu.edu 4. Auflage 2010
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