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1 Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung Eine explorative Untersuchung zu Erscheinungsformen, Ursachen und Umfang in ausgewählten Branchen in Berlin und Brandenburg im Auftrag des Berliner Bündnisses gegen Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung EUROPÄISCHE UNION 2 Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung Arbeitsausbeutung Eine explorative Untersuchung zu Erscheinungsformen, Ursachen und Umfang in Branchen in und Brandenburg Eineausgewählten explorative Untersuchung zuBerlin Erscheiim Auftrag des Berliner Bündnisses gegen Menschenhandel zum Zweck der nungsformen, Ursachen und Umfang in ausgeArbeitsausbeutung wählten Branchen in Berlin und Brandenburg im Auftrag des Berliner Bündnisses gegen Menschenhandel zum Zweck der September 2010 Arbeitsausbeutung September 2010 Dr. Norbert Cyrus Hamburger Institut für Sozialforschung Dr. Dita Vogel Hamburgisches WeltWirtschaftsinstitut Norbert.cyrus@his-online.de vogel@hwwi.org Katrin de Boer Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) deBoer@euv-frankfurt-o.de Impressum Herausgeber Internationale Organisation für Migration (IOM) Deutschland als Projektleitung des BBGM- Berliner Bündnis gegen Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung Charlottenstrasse 17 10117 Berlin Tel.: 030 27 87 78 11 Fax: 030 27 87 78 99 E-Mail: iom-germany@iom.int Internet: http://www.iom.int/germany/ Diese Studie ist Teil des ESF/ XENOS Projektes “BBGM – Berliner Bündnis gegen Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung” (www.gegen-menschenhandel.de). Dem BBGM gehören der DGB Bezirk Berlin-Brandenburg, die ILO, die IOM und die Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales an. Eine Vervielfältigung im Ganzen oder in Teilen ohne Erlaubnis des Herausgebers ist nicht gestattet. Diese Studie gibt die Auffassung der Autoren und Autorinnen wieder, die nicht notwendigerweise mit derjenigen der Auftraggeber übereinstimmen muss. 3 Vorwort Mit der vorliegenden Studie präsentiert das „Berliner Bündnis gegen Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung“ (BBGM) ein wichtiges Zwischenergebnis seiner Arbeit. Ich danke allen, die bei dem Bündnis mitwirken1 und mit deren Hilfe es gelungen ist, diese Initiative zu starten. Unser vorrangiges Anliegen ist es, die Bekämpfung des „Menschenhandels zum Zweck der Arbeitsausbeutung“ durch Information und Sensibilisierung so konsequent voranzubringen, wie das seit Jahren bei der vergleichbar gelagerten Bekämpfung des „Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung“ geschieht. Konstituiert hat sich das „Berliner Bündnis“ im Jahr 2009 auf Initiative der Internationalen Organisation für Migration Deutschland (IOM) anlässlich von Erkenntnissen nationaler Fachberatungsstellen und der Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) „Menschenhandel und Arbeitsausbeutung in Deutschland“ aus dem Jahr 2005. Im „Berliner Bündnis“ arbeiten neben der IOM die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales (SenIAS) zusammen. Unterstützt wird das Bündnis durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit dem Bundesprogramm „XENOS – Integration und Vielfalt“ aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds. Ich danke sehr herzlich den Autorinnen und dem Autor dieser Studie Dr. Dita Vogel, Katrin de Boer und Dr. Norbert Cyrus für ihre engagierte Arbeit. Gibt es in der Region Berlin-Brandenburg Menschenhandel zum Zwecke der Arbeitsausbeutung? Dieser Frage versucht sich die Studien mithilfe von statistischen Erkenntnissen und mittels Interviews zu nähern. Das Ergebnis: In Berlin und Brandenburg gibt es nach allem, was im Rahmen der Studie anhand der Datenlage ermittelt werden konnte, nur sehr wenige strafrechtlich relevant gewordene Einzelfälle von „Menschenhandel zwecks Arbeitsausbeutung“. Die Studie verweist aber auch darauf – und das deckt sich mit unseren seit Jahren gemachten Erfahrungen -, dass die geringe Zahl von behördlich bekannt gewordenen Fällen des Menschenhandels zwecks Arbeitsausbeutung lediglich einen kleinen Bereich von Ausbeutung auf dem Arbeitsmarkt abbildet. Die Forscherinnen und Forscher der Studie zeigen, wie ließend die Übergänge zwischen strafrechtlich relevanter Ausbeutung, irregulären Ausbeutungsverhältnissen und den teilweise fast schon Normalität gewordenen prekären Beschäftigungsverhältnissen sein können. Besonders belastet sind die hilfsbedürftigen, verletzlichen Menschen, die sich am Ende der langen Schlange der Anbieterinnen und Anbieter von Arbeitskraft beinden und kaum in der Lage sind, die Ausbeutungssituation, in die sie geraten, zu erkennen und dementsprechend abzuwehren oder Hilfe zu suchen. Niedrige Löhne, der Anstieg nicht sozialversicherter Beschäftigung, Leiharbeit und andere Formen prekärer Beschäftigung – diese Themen stehen für unsere Senatsverwaltung genau wie für den DGB seit Jahren auf der Agenda. Wir brauchen dringend bundesgesetzliche Regelungen etwa zur Gleichbehandlung der Leiharbeit sowie einen lächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Auch dafür streiten wir seit Jahren auf der Bundesebene. Die Studie zeigt uns, dass es in Berlin weiterhin bei vielen einen großen Informationsbedarf über Mindeststandards bei Arbeitsbedingungen und Arbeitsentgelten zu geben scheint: seien es Wanderarbeiter, erst jüngst oder schon vor Jahren zugewanderte Arbeitsmigranten, Zuwanderer mit unsicherem Aufenthaltsstatus, Deutsche mit Migrationshintergrund oder Herkunftsdeutsche. Zwar bieten eine Reihe von Berliner Behörden, Institutionen und Verbände und zum Beispiel der Deutsche Gewerkschaftsbund zahlreiche Informationen über die gesetzlichen und tarilichen Anforderungen an Arbeitsverhältnisse sowie individuelle Beratungen an. Offenbar brauchen wir hier aber ein noch größeres Angebot. Die Anregungen dazu nehmen wir gerne auf. 4 Gemäß seinem Projektplan hat das „Berliner Bündnis“ eine solche Informationspolitik in Vorbereitung. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat die Ergebnisse der Studie bereits in konkrete Handlungen umgesetzt. Seit August 2010 gibt es im Berliner DGB-Haus ein Beratungsbüro für entsandte Beschäftigte, das bei der dortigen Beratungsstelle für Migrantinnen und Migranten angesiedelt ist, die es nunmehr seit rund 30 Jahren gibt. Das Beratungsangebot richtet sich vorrangig an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus EU-Staaten, die von ihren Arbeitgebern zeitweilig nach Deutschland entsandt werden. Die Beratung erfolgt in mehreren Sprachen. Noch in diesem Jahr sollen Schulungen zum Thema „Menschenhandel zwecks Arbeitsausbeutung“ starten. Das Berliner Bündnis, meine Verwaltung und ich selbst werden uns weiter nach Kräften gegen menschenunwürdige Arbeitsverhältnisse in unserer Stadt engagieren. Berlin, im September 2010 Staatssekretärin für Integration und Arbeit, Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales Berlin Moderatorin des Runden Tisches zur Bekämpfung des Menschenhandels zum Zwecke der Arbeitsausbeutung 5 Runder Tisch gegen Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung im Land Berlin Moderation Frau Kerstin Liebich, Staatssekretärin für Integration und Arbeit in Berlin Teilnehmende Institutionen Agentur für Arbeit Berlin Nord Agentur für Arbeit Berlin Süd Ban Ying – Beratungs- und Koordinationsstelle gegen Menschenhandel Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Bundesinanzdirektion Mitte Bundeskriminalamt (BKA) Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) Caritasverband für das Erzbistum Berlin e.V. Handwerkskammer Berlin Industrie- und Handelskammer Berlin IG Bau Berlin-Brandenburg Integrationsbeauftragte des Landes Brandenburg IN VIA Beratungsstelle für Frauen, die von Menschenhandel betroffen sind Jesuiten Flüchtlingsdienst KOK - Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Frauenhandel und Gewalt an Frauen im Migrationsprozess e.V. Landeskriminalamt Berlin (LKA) Migrationsrat Berlin Brandenburg (mrbb) Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) Liga der Wohlfahrtsverbände Malteser-Hilfsdienst Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen Senatsverwaltung für Justiz Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen Senatsverwaltung für Justiz Senatsverwaltung für Inneres und Sport SOLWODI Beratungsstelle in Berlin Südost Europa Kultur e.V. Vereinigung der Unternehmensverbände in Berlin und Brandenburg e.V. (uvb) Ver.di: Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di Arbeitskreis Undokumentierte Arbeit Projektpartner Internationale Organisation für Migration Deutschland (IOM) Internationale Arbeitsorganisation Deutschland (ILO) Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales (SenIAS) Berlin 6 Inhalt 0. Zusammenfassung 9 0.1 Stand des Wissens 10 0.2 Die Situation in Berlin und Brandenburg 10 0.3 Die Möglichkeit einer Schätzung 11 0.4 Schlussfolgerungen 11 1. Einführung in Problematik und Methoden 13 1.1 Einleitung 13 1.2 Methodische Herangehensweise 15 2. Deinition und Diskussion des Menschenhandelskonzepts 17 2.1 Das Menschenhandelskonzept der Vereinten Nationen 17 2.2 Zum Stand der internationalen Forschung 23 2.3 Hinweise auf betroffene Branchen 25 2.4 Verwendung von Indikatoren 25 2.5 Hinweise zur Einschätzung der Handlungsfähigkeit von Betroffenen 28 3. Zu der Situation in Europa und der Bundesrepublik Deutschland 33 3.1 Europäische Entwicklung 33 3.2 Der Straftatbestand § 233 StGB 36 3.3 Informationen zu MH/A in der Bundesrepublik Deutschland 40 3.4 Deinition der Begriffe Arbeit, Arbeitsausbeutung und MH/A 42 4. Empirische Bestandsaufnahme der Situation in Berlin und Brandenburg 45 4.1 Untersuchungsmethode und Forschungsfeld 45 4.2 Öffentliche Aufmerksamkeit für MH/A 48 4.3 Darstellung der Erkenntnisse von Behörden 50 7 4.4 Informationen aus der Beratungsarbeit 4.4.1 Hintergrund der Beratungsstellenangebote 4.4.2 Fallsammlung nach Branchen 4.4.3 Analytische Darstellung von Ausbeutungssituationen 4.4.4 Zusammenfassende Einschätzung mit Blick auf § 233 StGB 57 58 60 72 74 4.5 Risikofaktoren 4.5.1 Individuelle Risikofaktoren 4.5.2 Soziale und rechtliche Risikofaktoren 4.5.3 Zwischenfazit 75 76 78 82 4.6 Bekanntwerden, Kontaktaufnahme und Anzeigenbereitschaft 4.6.1 Bekanntwerden ausbeuterischer Arbeitssituationen 4.6.2 Kontaktaufnahme mit Beratungsstellen 4.6.3 Einleitung zivilrechtlicher Schritte und Strafanzeigen 83 83 84 84 4.7 Zusammenfassende Beobachtungen 85 5. Möglichkeiten zur Schätzung der Größenordnung von MH/A 87 5.1 Stand der Diskussion über Schätzungen zu MH/A 88 5.2 Eingrenzung des Untersuchungsfeldes 90 5.3 Methodische Grundlagen 5.3.1 Dunkelziffern aus Falldokumentationen 5.3.2 Mindest- und Maximalschätzungen mit Multiplikatoren 91 92 95 5.4 Analyse der erhobenen Informationen als Anhaltspunkt für eine Schätzung 5.4.1 Überblick über Akteure und ihre Verbindungen 5.4.2 Polizei 5.4.3 Finanzkontrolle Schwarzarbeit 5.4.4 Quantiizierende Aussagen in Expertengesprächen 5.4.5 Falldokumentationen aus dem Beratungskontext 5.4.6 Zusammenfassende Würdigung 96 96 97 97 98 99 100 5.5 Vorschläge zur Schätzung 101 6. Schlussfolgerungen 105 6.1 Einordnung von Berlin und Brandenburg 105 6.2 Die Pyramide der Arbeitsausbeutung 107 6.3 Die Vexierlogik des Menschenhandelskonzepts 110 6.4 Erörterung der Hypothesen 111 7. Literaturverzeichnis 115 8 9 0. Zusammenfassung In den letzten zehn Jahren sind zahlreiche Initiativen zur Bekämpfung des Menschenhandels auf internationaler und nationaler Ebene ergriffen worden, wobei der Schwerpunkt der Aktivitäten auf dem Bereich der Maßnahmen zur Bekämpfung des Menschenhandels zur sexuellen Ausbeutung lag. Seit etwa fünf Jahren wird Menschenhandel zur Ausbeutung der Arbeitskraft (MH/A) verstärkt behandelt. Im Rahmen dieser vom BBGM in Auftrag gegebenen Studie wurde(n): • • • verfügbares Wissen über MH/A zusammengetragen und systematisiert durch qualitative Interviews (mögliche) Fälle von MH/A in Berlin und Brandenburg beschrieben und analysiert eine Methode zur genaueren Schätzung des Umfangs von MH/A entwickelt und deren Umsetzung mit verfügbaren Daten überprüft 10 0.1 Stand des Wissens Trotz eines vermuteten großen Dunkelfelds ist die Zahl der Ermittlungen, Anklagen und Verurteilungen wegen MH/A niedrig. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind trotz einer hohen Anzahl von Veröffentlichungen und Studien unsicher und umstritten. Für Europa werden ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse im Baugewerbe, in Hotels und Gastronomie, in der Landwirtschaft und vor allem in privaten Haushalten festgestellt. Dabei bestehen branchenspeziische Muster der Anwerbung und Beschäftigung, die hinter legalen Fassaden (Werkvertrag, falsch deklarierte Selbstständigkeit, Entsendung) ungünstigere Arbeitsbedingungen aufnötigen. In den seit 2000 zahlreich verabschiedeten internationalen und europäischen Rechtsakten zu Menschenhandel wurde bisher vor allem der Ansatz der Kriminalitätsbekämpfung bestätigt, zunehmend aber auch die Verbindlichkeit des Opferschutzes stärker betont. In der Bundesrepublik Deutschland wurden 2006 bis 2009 insgesamt 221 Ermittlungsverfahren wegen MH/A eröffnet. Die Zahl ist seit 2007 von 92 auf 24 im Jahr 2009 gesunken. Insgesamt lässt sich festhalten, dass der Straftatbestand MH/A in der Bundesrepublik Deutschland selten zur Anwendung kommt. 0.2 Die Situation in Berlin und Brandenburg Nach Auskunft zuständigen Behörden kann MH/A in Brandenburg und Berlin nicht nachgewiesen werden. Im Zeitraum 2006 - 2009 wurden in Brandenburg nur zwei Ermittlungsverfahren eröffnet. In Berlin wurden zwischen 2006 und 2009 insgesamt 98 Ermittlungsverfahren eröffnet. Aber nur in einem einzigen Fall konnte ein Strafbefehl wegen MH/A erwirkt werden. Die Zahl der eröffneten Ermittlungsverfahren sinkt seit 2006 kontinuierlich von 54 auf 3 Verdachtsfälle in 2009. Hingewiesen wurde auf die Komplexität des Straftatbestands, die hohe Anforderung an die Beweisführung, und fehlende Aussagebereitschaft der Betroffenen dazu führt, dass leichter nachweisbare Vergehen zur Anklage gebracht würden. Im Verlauf der Recherche wurden 24 MitarbeiterInnen von Beratungseinrichtungen interviewt, die Fälle extremer Arbeitsausbeutung im Rahmen einer sozialrechtlichen oder aufenthaltsrechtlichen Beratung zwischen 2005 und 2009 betreut hatten. Die geschilderten 36 Fälle betrafen 15 Tätigkeitsbereiche, darunter Baugewerbe, Handel, Gartenund Landschaftsbau, Hotel- und Gaststättenbereich und private Haushalte. Zwölf Fälle aus zehn Tätigkeitsbereichen wurden ausgewählt, um in der Studie ausführlicher die Erscheinungsformen ausbeuterischer Beschäftigungsverhältnisse zu veranschaulichen. Die erhobenen Fälle zeigen, dass extreme Ausbeutung auch in ofiziell angemeldeten und registrierten Beschäftigungsverhältnissen vorkommt und auch EU-BürgerInnen sowie in Deutschland gemeldete Personen mit unsicherem Aufenthaltsstatus (Geduldete) betroffen sind. Die Gefahr, in Ausbeutungssituationen zu geraten, scheint weniger durch individuelle Faktoren (Geschlecht, Alter, Bildung, Sprachkenntnisse) als vielmehr durch soziale und rechtliche Faktoren (unsicherer oder fehlender Aufenthaltsstatus, Mehrfachabhängigkeit, fehlende soziale Einbindung) erhöht zu werden. Bei insgesamt 13 Fällen gab es Hinweise, die einen Anfangstatverdacht auf MH/A begründen. Die besonders schweren Fälle betrafen insbesondere Privathaushalte und Gaststätten. Die Fälle offener Gewaltanwendung spielen eine geringe Rolle. Häuiger wurden subtilere Formen des Zwangs durch Täuschung und Ausnutzung einer Zwangslage beschrieben. Es ist davon auszugehen, dass es auch in Berlin und Brandenburg ein Dunkelfeld extrem ausbeuterischer Beschäftigungsverhältnisse besteht, die nach internationalem Rechtsverständnis Anhaltspunkte auf Menschenhandel aufweisen. 11 0.3 Die Möglichkeit einer Schätzung Zum weltweiten Ausmaß und Erscheinungsformen des MH/A liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor. Eine von der ILO 2005 vorgelegte Schätzung geht von weltweit etwa 7,8 Millionen Zwangsarbeitenden aus, davon 84.000 in Industrieländern. Bei etwa jedem fünften Fall waren auch ‚Rekrutierer’ und ‚Vermittler’ involviert, also ‚Menschenhändler’ im Sinne des internationalen Sprachgebrauchs. Für Deutschland oder einzelne Bundesländer liegen keine methodisch fundierten Schätzungen zum Umfang von MH/A vor. Methodisch sind Schätzungen wegen der deliktbedingt schlechten Datenlage schwierig. Als Basisansatz schlagen die AutorInnen die Logicom-Methode vor, bei der Minimal- und Maximalschätzungen auf unterschiedlichen Datengrundlagen angestrebt werden. Eine bestmögliche Basisschätzung wird dabei durch Vergleich ermittelt und in Expertengesprächen in ihrer Verlässlichkeit geprüft. Die Dauer aufgedeckter Fälle von MH/A wird dabei als Indikator für die Dunkelziffer genutzt. Insgesamt sind die im Rahmen dieser Untersuchung erhobenen Daten aber nicht ausreichend, um eine echte Dunkelzifferschätzung durchzuführen. Beim jetzigen Kenntnisstand gehen die AutorInnen davon aus, dass die Gesamtzahl der Menschenhandelsfälle mit physischer Einschränkung in Berlin und Brandenburg den zweistelligen Bereich nicht übersteigt. Die Gesamtzahl der Fälle, die bei näherer rechtlicher Prüfung möglicherweise den Tatbestand des Menschenhandels zum Zweck der Arbeitsausbeutung erfüllen, könnte jedoch erheblich größer sein als die Zahl der besonders brutalen und eindeutigen Fälle. 0.4 Schlussfolgerungen In der Studie wird vorgeschlagen, mit Blick auf den Grad der Freiwilligkeit verschiedene Formen ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse zu unterscheiden: • • • • Einvernehmlich vereinbarte Ausbeutungsverhältnisse Verschleierte Ausbeutungsverhältnisse Nachträglich aufgenötigte Ausbeutungsverhältnisse Offen erzwungenes Ausbeutungsverhältnis Mit dem Bild der ‚Pyramide der Ausbeutung’ wird auf die graduelle und kumulative Dynamik verdeutlicht. Die Basis bilden die überwiegend einvernehmlichen oder durch Anwendung subtiler Formen des Zwangs verschleierten oder nachträglich aufgenötigten ausbeuterischen Beschäftigungsverhältnisse. Offen erzwungene Ausbeutung bildet eine zahlenmäßig schmale Spitze. Betroffene extremer Ausbeutung verfügen oft noch über ein gewisses Maß an Handlungsfähigkeit. Unter den gegebenen institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen haben die Betroffenen jedoch kaum Ansatzpunkte, ausbeuterische Beschäftigung oder Verdachtsfälle auf MH/A anzuzeigen. Selbst bei entsprechender Beratung entschließen sich Betroffene deshalb oft auch nicht zur Einleitung zivilrechtlicher Schritte. Da sie selbst an der Verletzung von Gesetzen mitgewirkt haben bzw. mitwirken, fürchten sie bei der Einschaltung von Strafbehörden selbst bestraft zu werden. Denn wenn eine Anzeige wegen MH/A nicht bewiesen werden kann, droht Betroffenen ein Verfahren wegen illegalen Aufenthalts oder unangemeldeter Beschäftigung, eine als „Vexierlogik des Menschenhandelskonzepts“ bezeichneter Sachverhalt. Die AutorInnen halten es für sinnvoll, wenn nicht nur das Bringen in Arbeitsausbeutung strafbar wäre, sondern auch ein Delikt Arbeitsausbeutung an sich mit objektiv nachweisbaren Kriterien eingeführt würde und die rechtlichen Rahmenbedingen überprüft werden, um Rechtssicherheit und Konliktfähigkeit für Beschäftigte zu stärken. 12 Einführung in Problematik und Methoden 13 1. Einführung in Problematik und Methoden 1.1 Einleitung In den letzten zehn Jahren sind zur Bekämpfung des Menschenhandels auf internationaler und nationaler Ebene zahlreiche Initiativen ergriffen und Maßnahmen umgesetzt worden. Der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit und der Aktivitäten liegt auf dem Bereich der Maßnahmen zur Bekämpfung des Menschenhandels zur sexuellen Ausbeutung. Der Menschenhandel zur Ausbeutung der Arbeitskraft wird erst in den letzten fünf Jahren verstärkt behandelt, ist bisher aber nicht systematisch angegangen worden. ‚Menschenhandel zur Ausbeutung der Arbeitskraft’ wurde als strafbare Handlung erst im Jahr 2000 in das internationale Recht eingeführt. Die Bundesrepublik Deutschland hat aufgrund internationaler und europäischer Verplichtungen, die sich aus der Ratiizierung internationaler Abkommen und verbindlicher Richtlinienvorgaben der Europäischen Union ergeben, Maßnahmen zur strafrechtlichen Bekämpfung des Menschenhandels und zum effektiven Schutz der Opfer zu ergreifen. Der „Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung“ 14 wurde in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2005 als Tatbestand in das Strafgesetzbuch aufgenommen. Inzwischen wird das Thema Menschenhandel zur Ausbeutung der Arbeitskraft (im Folgenden abgekürzt als MH/A) zunehmend aufgegriffen. Behörden und Institutionen wie das Bundeskriminalamt, das Auswärtige Amt, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie auf Länderebene zum Beispiel die Berliner Senatsverwaltung für Arbeit befassen sich mit dem Thema (Bundesregierung 2009a). Auch Menschenrechtsinstitutionen (Follmar-Otto & Rabe 2009) und nichtstaatliche Akteure haben das Thema inzwischen für sich entdeckt (Koopmann-Aleksin 2007, Schwarze 2007, Prasad & Rohner 2005). Auch vor dem Hintergrund dieser Debatte wurde auf Initiative der Internationalen Organisation für Migration (IOM) im Rahmen des XENOS-Progammes das „Berliner Bündnis gegen Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung“ (BBGM) gegründet.2 Partner in dem Bündnis sind neben der IOM der Landesverband Berlin-Brandenburg des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), die Senatverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales von Berlin und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO). Mit dem Bündnis wird angestrebt, Maßnahmen zur Eindämmung des Menschenhandels zur Arbeitsausbeutung zu initiieren und zu koordinieren. Neben der Einrichtung eines „Runden Tisches“ unter Leitung der Berliner Staatssekretärin für Arbeit, Frau Kerstin Liebich, hat das Berliner Bündnis eine wissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben, um eine Bestandsaufnahme der Situation in Berlin und Brandenburg zu erhalten. Der Untersuchungsauftrag betraf den Tatbestand des MH/A (§ 233 StGB). Die im Straftatbestand Menschenhandel nach deutschem Recht ebenfalls möglichen Deliktformen des Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung (§ 232 StGB) sowie die nach internationalem Verständnis möglichen Erscheinungsformen des Handels mit und die Ausbeutung von Kindern sowie der Organhandel wurden in dieser Recherche nicht behandelt. Aus der Tatsache, dass diese Erscheinungsformen in dem Bericht nicht behandelt werden, lassen sich keine Rückschlüsse ziehen, ob und in welchem Umfang diese Erscheinungsformen des MH in Berlin und Brandenburg vorkommen.3 Im Zentrum der Untersuchung stand wegen der kurzen Untersuchungszeit und der eingeschränkten Ressourcen die Situation von Nicht-EU-Bürgern – so genannten ‚Drittstaatlern’ – , die nach allgemeiner Auffassung einem besonderen Risiko unterliegen, Opfer von MH/A zu werden. Der Schwerpunkt der Untersuchung sollte auf Erhebung und Darstellung branchenspeziischer Erscheinungsformen des MH/A in Berlin und Brandenburg liegen. Allerdings stellte sich im Verlauf der Untersuchung heraus, dass die beabsichtigte branchenspeziische Bestandsaufnahme des MH/A mit erheblichen methodischen und terminologischen Schwierigkeiten konfrontiert ist, die sich einerseits aus konzeptionellen Unschärfen und Anforderungen an die Nachweisbarkeit des Straftatbestands und andererseits aus normativ-ideologischen Auladungen des Menschenhandelskonzepts ergeben. Unter diesen Bedingungen war es nicht möglich, die Erscheinungsformen von Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung in dem ursprünglich beabsichtigen Umfang branchenspeziisch zu untersuchen. Vielmehr stellt sich die Frage, wie die festgestellte Diskrepanz zwischen dem vermuteten Ausmaß von MH/A (das so genannte Dunkelfeld) und den aufgedeckten Fällen (das Hellfeld) erklärt werden kann. Prinzipiell können zur Erklärung vier Hypothesen formuliert werden: 2 http://www.gegen-menschenhandel.de/index.php : zuletzt besucht am 30.08.2010 3 Im Laufe unserer Recherche erhielten wir auch Hinweise auf „Kinderhandel“, wonach Minderjährige in Einwandererfamilien zur Hausarbeit oder zum gewerblichen Betteln gezwungen werden. 15 1. MH/A gibt es – zumindest in der hier untersuchten Region Berlin und Brandenburg – nicht in dem erwarteten oder behaupteten Umfang oder auch gar nicht. 2. Es gibt in der Region MH/A in relevantem Umfang, aber die Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden verfolgen die Verdachtsfälle nicht konsequent als MH/A, sondern weichen auf leichter und mit mehr Aussicht auf Erfolg zu bearbeitende Delikte aus. 3. Die Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden achten auf Hinweise für MH/A, aber der Straftatbestand Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung (§ 233 StGB) ist nicht praktikabel, um die tatsächlichen Erscheinungsformen von MH/A in Deutschland effektiv zu erfassen. 4. Schließlich kann es auch sein, dass Beteiligte selbst ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten nicht als Menschenhandel ansehen und Opfer oder Zeugen keine Anzeige erstatten. 5. Wir werden in den Schlussfolgerungen auf diese Hypothesen zurückkommen. 1.2 Methodische Herangehensweise Zur Annäherung an das Thema, zur Präzisierung der Fragestellung und zur Entwicklung der analytischen Kategorien wurde ein methodenplurales Untersuchungsdesign verfolgt. Grundlegend war die Recherche und Auswertung der internationalen und nationalen Literatur zum Stand der Forschung. Weiterhin wurden zugängliche Berichte und Pressemitteilungen der mit MH/A befassten Behörden in Berlin und Brandenburg recherchiert, gesichtet und ausgewertet sowie eine Recherche in den Online-Archiven der Berliner Tageszeitungen (Tagesspiegel, Berliner Zeitung, Morgenpost, BZ) zu den Stichworten Menschenhandel und Arbeitsausbeutung durchgeführt. Die zentrale Methode zur Datenerhebung war aber die Befragung von Expertinnen und Experten. Eine empirische Untersuchung sensibler Sachverhalte, die – wie die als Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung bezeichneten Handlungen – aufgrund breit geteilter gesellschaftlicher Missbilligung und möglicher harter strafrechtlicher Konsequenzen einer Beobachtung durch Dritte entzogen sind, steht vor besonderen praktischen und methodischen Problemen. Ein direkter Zugang zum Feld, um Informationen aus Erster Hand zu erhalten, ist in der Regel nur möglich, wenn Vertrauen in die Verschwiegenheit und moralische Integrität der Forschenden vermittelt werden kann – ein intensiver und zeitaufwendiger Prozess (vgl. dazu Alt 1999, 2003). Im Rahmen dieser explorativen Untersuchung für das „Berliner Bündnis gegen Menschenhandel“ war ein Feldzugang zur Erhebung von Informationen von direkt Betroffenen aufgrund der engen zeitlichen Vorgaben, knappen materiellen Ressourcen und speziellen thematischen Vorgaben nicht möglich. Wir haben durch die Befragungen die Erfahrungen und das Wissen von MitarbeiterInnen von Beratungsstellen oder Kontrollbehörden, welches sie in ihrer Arbeit im unmittelbaren Kontakt mit Betroffenen erworben haben, erhoben. Die im folgenden vorlegten Befunde stehen unter dieser methodischen Begrenzungen. Wir hoffen, dass die Darstellung den laufenden Diskussionen in der beratenden, kontrollierenden und politischen Praxis neue Impulse bringt. (Die Darstellung des methodischen Vorgehens bei der Expertenbefragung erfolgt in Kapitel 4.1). An dieser Stelle möchten wir uns bei allen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner sehr herzlich bedanken. 16 Defini tion und Diskus sion des Menschenhandelskonzepts 17 2. Deinition und Diskussion des Menschenhandelskonzepts 2.1 Das Menschenhandelskonzept der Vereinten Nationen Das Menschenhandelskonzept in seiner aktuellen Fassung ist im Zusammenhang mit der Ausarbeitung der im Jahr 2000 verabschiedeten UN-Konvention zur Bekämpfung transnationaler organisierter Kriminalität in das internationale Recht eingeführt worden. Noch bis zum Ende der 1990er Jahre beschäftigte sich nur ein kleiner Kreis von Expertinnen und Experten mit Maßnahmen zur Bekämpfung von Menschenhandel (Skinner 2008b). Doch mit der Verabschiedung des ‚Zusatzprotokolls zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauenund Kinderhandels zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität’ vom 15. November 2000 (Palermo Protokoll) (BGBl. 2005 II, S. 995) änderte sich die Situation grundlegend. Inzwischen haben zahlreiche internationale Konferenzen mit bis zu mehreren tausend Teilnehmerinnen sowie unzähli- 18 ge Arbeitstreffen und Workshops zur Bekämpfung des Menschenhandels stattgefunden (Goodey 2008: 434).4 Sucht man in Google alle Seiten, die sowohl das Stichwort „human“ als auch „anti-traficking“ enthalten, erhält man rund 13,9 Millionen Treffer, die Kombination von „Menschenhandel“ und „Bekämpfung“ immerhin noch 718 000 Treffer (Juli 2010). Nicht nur der Menschenhandel, sondern auch das Geschäft mit der Bekämpfung des Menschenhandels boomt. Seit den ersten internationalen Abkommen zur Bekämpfung des Frauenhandels Ende des 19. Jahrhunderts bis zur ersten internationalen Deinition 2000 wurde unter Menschenhandel (traficking) ausschließlich der Handel in die Prostitution und damit hauptsächlich Frauen- und Mädchenhandel verstanden. Anfänglich sollten vornehmlich europäische Mädchen und Frauen als potentiell Betroffene vor dem sittlichen Verfall geschützt werden (Long 2005: 19f). In der 1949 verabschiedeten „Konvention zur Unterbindung des Menschenhandels und der Ausnutzung der Prostitution anderer“5 war Menschenhandel nur auf Prostitution bezogen (Krieg 2008, Markard 2008, Weitzer 2007). In den 1990er Jahren wurde der Begriff Menschenhandel („human traficking“) dann allerdings in Publikationen und Forschungsarbeiten zur internationalen Migration eine Zeitlang auf Vorschlag der IOM als Sammelbegriff für alle Formen unerlaubter grenzüberschreitender Migration benutzt (Ghosh 1998, Salt & Stein 1997). Dabei wurden internationale Migrationsbewegungen als Menschenhandel (traficking) bezeichnet, wenn ein ‚Dienstleister’ für die Organisierung eines ungenehmigten Grenzübertritts auftrat, dafür eine Bezahlungen geleistet wurde, eine internationale Grenze überschritten wurde und der Grenzübertritt unerlaubt aber freiwillig erfolgte (Laczko 2005: 10). Diese Konstellation wird im internationalen Verständnis inzwischen Kasten 1: Deinition Menschenhandel im Palermo Protokoll „Im Sinne dieses Protokolls a) bezeichnet der Ausdruck „Menschenhandel“ die Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder den Empfang von Personen durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderen Formen der Nötigung, durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hillosigkeit oder durch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses einer Person, die Gewalt über eine andere Person hat, zum Zweck der Ausbeutung. Ausbeutung umfasst mindestens die Ausnutzung der Prostitution anderer oder andere Formen sexueller Ausbeutung, Zwangsarbeit oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder sklavereiähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von Körperorganen; b) ist die Einwilligung eines Opfers des Menschenhandels in die unter Buchstabe a genannte beabsichtigte Ausbeutung unerheblich, wenn eines der unter Buchstabe a genannten Mittel angewendet wurde; c) gilt die Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder der Empfang eines Kindes zum Zweck der Ausbeutung auch dann als „Menschenhandel“, wenn dabei keines der unter Buchstabe a genannten Mittel angewendet wurde; d) bezeichnet der Ausdruck „Kind“ jede Person unter achtzehn Jahren“ (Zusatzprotokoll Menschenhandel. Artikel 3: Begriffsbestimmungen). Quelle: http://www.un.org/Depts/german/gv-55/band1/ga55vol1-ann2.pdf, S. 64 4 Eine Übersicht der Aktivitäten der deutschen Regierung bietet der Achte Menschenrechtsbericht der Bundesregierung (2008). 5 Eine deutsche Übersetung der Konvention bietet: http://www.pfcmc.com/Depts/german/uebereinkommen/ar317-iv.pdf : zuletzt besucht am 30.08.2010 19 nicht mehr als Menschenhandel, sondern als Menschenschmuggel (Schleusung) bezeichnet. Erst im Verlauf der Verhandlungen zum „Übereinkommens der Vereinten Nationen zur Bekämpfung grenzüberschreitender organisierter Kriminalität“ wurde der Begriff Menschenhandel inhaltlich genauer deiniert und von Menschenschmuggel (Schleusung) und irregulärer Migration unterschie- den. Menschenhandel und Menschenschmuggel werden als Erscheinungsformen der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität betrachtet, die in zwei so genannten Zusatzprotokollen jeweils separat behandelt wurden (Gallagher 2001). Das mit dem Zusatzprotokoll in das internationale Recht eingeführte Menschenhandelskonzept war das Ergebnis langwieriger und komplexer diplo- Kasten 2: Das ILO Konzept der Zwangsarbeit In der UN-Konvention wird als eine Ausbeutungsform auf die Zwangsarbeit Bezug genommen, die in der ILO-Konvention Nr. 29 verbindlich deiniert wir7 und in der ILO-Konvention 1828 zum Verbot der schlimmsten Formen der Kinderarbeit weiter entwickelt .wurde. Die ILO betonte in ihren Publikationen, dass Zwangsarbeit eine schwere Menschenrechtsverletzung und Einschränkung der menschlichen Freiheit darstellt: „Zwangsarbeit kann nicht einfach mit niedrigen Löhnen oder schlechten Arbeitsbedingungen gleichgesetzt werden. Sie trifft auch nicht auf Situationen rein wirtschaftlicher Notwendigkeit zu, beispielsweise wenn ein Arbeitnehmer sich wegen des tatsächlichen oder vermeintlichen Fehlens von Beschäftigungsalternativen nicht imstande sieht, eine Stelle aufzugeben“ (ILO 2005a: 5). Nach dem Verständnis der ILO wird Zwangsarbeit durch zwei Elemente deiniert: dass die Arbeit unter Androhung einer Strafe verlangt wird und dass sie nicht freiwillig verrichtet wird. Die Androhung einer Strafe beinhaltet nach dem Verständnis von ILO nicht nur strafrechtliche Sanktionen, sondern kann auch den Verlust von Rechten und Privilegien umfassen. Die Androhung einer Strafe kann vielfältige unterschiedliche Formen annehmen. Bei extremen Formen handelt es sich um körperliche Gewalt oder körperlichen Zwang oder sogar Todesdrohungen gegen ein Opfer oder Verwandte. Es kann aber auch subtilere Formen der Drohung geben, beispielsweise psychologischer Art, etwa die Drohung einer Denunziation bei Polizei oder Einwanderungsbehörden bei fehlendem Aufenthaltsstatus. Die Strafen können auch inanzieller Art sein, darunter wirtschaftliche Strafen im Zusammenhang mit Schulden, die Nichtzahlung von Löhnen oder der Verlust von Löhnen im Verein mit Entlassungsdrohungen, falls Arbeitnehmer sich weigern, Überstunden über das in ihren Verträgen oder in der innerstaatlichen Gesetzgebung festgelegte Maß hinaus zu leisten. Arbeitgeber zwingen Arbeitnehmer manchmal auch zur Aushändigung ihrer Ausweise und können mit der Beschlagnahme dieser Dokumente drohen, um Zwangsarbeit zu verlangen (ILO 2005a: 6). Zur Einschränkung der Wahlfreiheit führt die ILO aus, dass eine Reihe von Aspekten relevant sein können, die die Form und den Gegenstand der Einwilligung betreffen; die Rolle äußerer Zwänge oder mittelbaren Zwang; und die Möglichkeit, eine freiwillig gegebene Einwilligung zu widerrufen. „Auch hier kann es viele subtile Formen des Zwangs geben. Viele Opfer begeben sich zunächst freiwillig in Zwangsarbeitssituationen, wenn auch aufgrund von Betrug und Täuschung, nur um später festzutellen zu müssen, dass es ihnen nicht freisteht, die Arbeit einzustellen. Anschließend sind sie infolge gesetzlichen, körperlichen oder psychologischen Zwangs nicht in der Lage, ihren Arbeitsplatz zu verlassen. Die ursprüngliche Einwilligung kann als irrelevant angesehen werden, wenn diese aufgrund von Betrug oder Täuschung erlangt worden ist“ (ILO 2005a: 6). Es wird deutlich, dass von der ILO trotz der einschränkenden Hinweise, wonach Zwangsarbeit eine schwere Menschenrechtsverletzung darstellt, im Grundsatz ein sehr weites Verständnis von Zwangsarbeit vertreten wird. 20 matischer Verhandlungen und ist Ergebnis diplomatischer Kompromisse, die von den Interessen und Vorstellungen der beteiligten Verhandlungsparteien geprägt sind (Gallagher 2001). Das Menschenhandelskonzept im heute etablierten weiten Verständnis, mit dem der zuvor auf Zwangsprostitution eingeschränkte Geltungsbereich auf jede Form der Ausbeutung ausgeweitet wurde, ist als eigenständiges Delikt erst mit der Deinition in Artikel 3 des Zusatzprotokolls6 geschaffen worden (siehe Kasten 1). Nach der Deinition des UN-Protokolls müssen die drei Elemente der Tathandlung, des Tatziels und der Tatmittel gleichzeitig erfüllt sein. (Renzikowski 2005, Rudolphi & Wolter 2005). Als Tathandlung werden verschiedene Formen der Zuführung in die Ausbeutung deiniert. Die strafbaren Handlungen umfassen die Anwerbung, den Transport oder die Beherbergung der Betroffenen für einen Vermögensvorteil. Als Tatzweck muss der oder die Täter die Absicht der Ausbeutung der Sexualität oder der Arbeitskraft verfolgen. Ausbeutung wird nicht deiniert, sondern durch Hinweis auf Ausnutzung der Prostitution anderer oder andere Formen sexueller Ausbeutung, Zwangsarbeit oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder sklavereiähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von Körperorganen bestimmt, wobei die Einfügung des Wortes ‚mindestens’ anzeigt, dass weitere Konstellationen – etwa das im deutschen Strafrecht genannte „ungünstigere Arbeitsverhältnis“ oder die in Belgien deinierte ‚Verletzung der Menschenwürde* – möglich sind. Ein wichtiger Bezugspunkt in der internationalen Diskussion ist der von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) deinierte Zwangsarbeit (siehe Kasten 2). Der Tatbestand des Menschenhandels ist auch bei Einwilligung eines Betroffenen erfüllt, wenn die betroffene Personen noch nicht volljährig ist oder wenn die Einwilligung durch Anwendung verbotener Tatmittel erlangt wurde. Als solche Tatmittel werden aufgeführt die Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderen Formen der Nötigung. Auch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hillosigkeit werden als Tatmittel genannt. Wichtig ist der Hinweis, dass Arbeitsausbeutung, Zwangsarbeit und Menschenhandel nicht identisch sind. Menschenhandel setzt voraus, dass Personen unter Anwendung verbotener Mittel einer Situation der Arbeitsausbeutung zugeführt werden. Zwangsarbeit liegt vor, wenn sie in dieser Situation gehalten werden Deshalb unterscheidet die ILO in ihren Veröffentlichungen zwischen Betroffenen von Zwangsarbeit und Opfern von Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung. Nach Erkenntnissen der ILO werden ein Fünftel aller weltweit von Zwangsarbeit Betroffenen auch Opfer von Menschenhandel, weil gezielt der Zwangsarbeit zugeführt werden (International Labour Ofice 2009). Gegenwärtig haben 117 Staaten das Übereinkommen gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität ratiiziert.9 Mit einer Ratiizierung der UN-Konvention verplichten sich die Signaturstaaten dazu, Handlungen wie Drogenhandel, Waffenschmuggel, Schleusung oder eben auch Menschenhandel als Straftat in das nationale Strafrecht aufzunehmen; in diesen Deliktfeldern mit den Strafverfolgungsbehörden anderer Signaturstaaten zusammenzuarbeiten; die Rückführung der Betroffenen von Menschenhandel nicht zu behindern; sowie Maßnahmen zum Schutz und der Ent- 6 Eine deutsche Fassung des Protokolls ist verfügbar unter: http://www.un.org/Depts/german/gv-55/band1/ga55voll-ann2.pdf : zuletzt besucht am 30.08.2010 7 http://www.ilo.org/ilolex/german/docs/gc029.htm : zuletzt besucht am 30.08.2010 8 http://www.ilo.org/ilolex/german/docs/gc182.htm : zuletzt besucht am 30.08.2010 9 Da in der Internationalen Debatte zur Bekämpfung des Menschenhandels der Schutz der Opfer besonders betont wird, sei an dieser Stelle der Hinweis erlaubt, dass eine weitere UN-Konvention, die vorrangig und verbindlich Schutzrechte für Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen vorsieht, mit bisher 42 Ratiizierungen und 12 Zeichnungen keine vergleichbar hohe Zahl an Ratiizierungen erhalten wie das UN Übereinkommen gegen transnationale organisierte Kriminalität. Kein wichtiges Zielland von Migrationsbewegungen hat die Wanderarbeiterkonvention von 1990 ratiiziert. 21 schädigung der Opfer zu erwägen. Trotz der vorrangigen Orientierung auf Sicherheit und Kriminalitätsbekämpfung bot die Thematisierung der Rechtsstellung und der Rechte der Opfer erstmals Anknüpfungspunkte und Impulse für die internationale Diskussion über einen besseren Schutz und faireren Umgang mit Opfern grenzüberschreitender organisierter Kriminalität: „Im UN-Palermo Protokoll wurde der Dreiklang von Prävention, Strafverfolgung und Opferschutz (prevention, prosecution, protection) geprägt, der seitdem die Sprache internationaler Dokumente bestimmt“ (Follmar-Otto & Rabe 2009: 23). Inzwischen wird in den internationalen und nationalen Debatten betont, dass Menschenhandel eine Menschenrechtsverletzung darstellt und Maßnahmen zum Opferschutz erforderlich sind (Europäisches Parlament 2010). Bereits im „Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität“10 werden Maßnahmen für den Zeugenschutz (Artikel 24) und zur Hilfe und dem Schutz für Opfer (Artikel 25) ausdrücklich behandelt. Allerdings heißt es einschränkend, dass diese Maßnahmen im Rahmen der Möglichkeiten eines jeden Vertragsstaates umgesetzt werden sollen. Auch im Zusatzprotokoll Menschenhandel sind Bestimmungen zum Opferschutz enthalten. In Abschnitt II des Protokolls mit der Überschrift „Schutz der Opfer des Menschenhandels“ werden „Hilfe und Schutz für die Opfer des Menschenhandels“ (Artikel 6), die „Rechtsstellung der Opfer des Menschenhandels in den Aufnahmestaaten“ (Artikel 7) und die „Rückführung der Opfer des Menschenhandels“ in (Artikel 8) behandelt. Vertragsstaaten verplichten sich mit der Zeichnung des Zusatzprotokolls allerdings lediglich dazu, die erwähnten Maßnahmen zum Schutz der Opfer zu erwägen. Es besteht aber keine bindende Verplichtung sie durchzuführen (Zusatzprotokoll Menschenhandel, Art. 6.3). Der unterschiedliche Grad der Verplichtung zur Durchführung von Maßnahmen der Kriminalitätsbekämpfung und des Opferschutzes verdeutlicht, dass die Hauptintention des Übereinkommens der Vereinten Nationen darin bestand, eine internationale Vereinheitlichung von Straftatbeständen und eine Kooperation von Polizeibehörden bei der Bekämpfung grenzüberschreitender organisierter Kriminalität, namentlich Waffen- und Drogenhandel, zu erzielen. Auch wenn die Sorge um menschenrechtliche Belange einen gewissen Anstoß für internationale Aktivitäten gegeben hat, stellen die Fragen der Souveränität und Sicherheit, die mit Menschenhandel und Menschenschmuggel verbunden werden, die eigentlichen Antriebskräfte für die Verabschiedung der Konvention dar (Gallagher 2001: 976f). Das Thema Menschenhandel wird inzwischen von einer kaum noch zu übersehenden Schar internationaler und nationaler Akteure aufgegriffen.11 Mit der Umsetzung und Koordinierung beauftragt ist UNODC12, eine Körperschaft der Vereinten Nationen, die über die Verbreitung und Umsetzung des Übereinkommens regelmäßig Bericht erstattet (UNODC 2009) und ein spezielles Programm UN.GIFT13 aufgelegt hat. Neben Organisationen der Vereinten Nationen (UNODC, UNICEF, ILO) sind internationale Organisationen (IOM, ICMPD), multilaterale Organisationen (OSZE, Europarat) und zunehmend nationalstaatliche Regierungen aktiv beteiligt (einen Überblick bietet UNODC 2009). Führend sind dabei die USA, die in einem jähr- 10 Eine deutsche Fassung des Übereinkommens ist verfügbar unter: http://www.un.org/Depts/german/gv-55/band1/ga55vol1-ann2.pdf : zuletzt besucht am 30.08.2010 17 11 Es würde zu weit führen, hier alle Initiativen aufzuführen. Einen aktuellen Überblick bietet der erwähnte Bericht der UNODC (2009). 12 Informationen zu UNODC sind verfügbar unter www.unodc.org/ : zuletzt besucht am 30.08.2010 13 Informationen zu UNGIFT sind verfügbar unter www.ungift.org/ : zuletzt besucht am 30.08.2010 22 lich erscheinenden Bericht (Traficking in Person Report, kurz TIP-Report) über Stand und Entwicklung der Maßnahmen gegen Menschenhandel informieren und eine – allerdings sehr umstrittene – Einstufung aller Staaten hinsichtlich der Befolgung von Anti-traficking Maßnahmen vornehmen (US State Department 2009; kritisch: Chapkis 2003, Destefano 2007, Desyllas 2007, GAO 2006). Der TIPReport des US-Außenministeriums informiert seit 2003 über die Ergebnisse der Anstrengungen zur Bekämpfung des Menschenhandels (siehe Tabelle 1). teilungen wegen Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung registriert wurden und diese im Folgejahr auf 312 Ermittlungsverfahren und 104 Verurteilungen gesunken sind. Die vorliegenden Daten lassen keine Trendaussage zu. Sie zeigen aber, dass die Zahl der Ermittlungsverfahren und Urteile trotz der Ausweitung und Intensivierung der Strafbarkeit des Menschenhandels nicht zugenommen hatte, sondern rückläuig war. Deutlich wird weiterhin, dass die dokumentierten Ermittlungs- und Gerichtsverfahren zu Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung weltweit nur einen geringen Anteil ausmachen. Die verfügbaren Aufstellungen zeigen, dass Gesetze zur Strafbarkeit des Menschenhandels kontinuierlich neu eingeführt oder verschärft wurden. Trotz der Ausweitung der Gesetzgebung gegen Menschenhandel ist die Zahl der Ermittlungsverfahren und der Verurteilungen weltweit seit 2005 zurückgegangen sind (Destefano 2007, Farrell 2009). Die ab dem Jahr 2007 erstmals verfügbaren Zahlen zu Ermittlungsverfahren und Urteilen wegen Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung zeigen, dass in diesem Jahr weltweit gerade einmal 490 Ermittlungsverfahren und 326 Abur- Tabelle 1: Ermittlungsverfahren und Verteilungen wg. Menschenhandel weltweit Jahr Ermittlungsverfahren Verurteilungen Neue Strafgesetze wg. Menschenhandel 2003 7992 2815 24 2004 6885 3025 39 2005 6178 4379 40 2006 5808 3160 21 2007 5682 (490)* 3427 (326)* 28 2008 5212 (312)* 2983 (104)* 26 * Die Zahlen in den Klammern verweisen auf Fälle von Arbeitsausbeutung Quelle: TIP Report 2009: 47 23 2.2 Zum Stand der internationalen Forschung Seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der Veröffentlichungen von Studien zu Menschenhandel angestiegen. Im letzten Jahrzehnt sind „in nahezu jeder wichtigen Region der Welt Studien zu Menschenhandel durchgeführt worden, obwohl der Schwerpunkt der Veröffentlichungen und der Forschung auf Europa und Asien liegt“ (Laczko & Gozdziak 2005: 7). Dennoch ist der Stand des wissenschaftlichen Wissens zu Menschenhandel trotz der hohen Anzahl von Veröffentlichungen und Studien unsicher und umstritten. Mehrere unabhängig voneinander ausgearbeitete Bestandsaufnahmen zum Stand der Erforschung des MH/A stellen übereinstimmend erhebliche Lücken im wissenschaftlichen Kenntnisstand über Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung fest. Hervorzuheben ist eine im Auftrag des US-Außenministeriums ausgearbeitete systematische Bestandsaufnahme der empirischen Forschung zu Menschenhandel (Gozdziak & Bump 2008), eine im Auftrag der britischen Regierung ausgearbeiteten Übersicht über den Stand der empirischen Forschung zu Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung im Vereinigten Königreich (Dowling et al 2007) und ein Beitrag von Jo Goodey, Mitarbeiter der European Union Agency for Fundamental Rights (FRA) (Goodey 2008). In diesen Arbeiten wird festgehalten, dass die vorliegenden Veröffentlichungen zu Menschenhandel erhebliche konzeptionelle Schwierigkeiten, terminologische Schwierigkeiten und methodische Schwächen offenbaren. Knapp zusammengefasst kommen die Forschungsüberblicke zu dem Ergebnis, dass der Stand des wissenschaftlich produzierten empirischen Wissens unbefriedigend und lückenhaft ist. Es gibt zwar eine große Anzahl an Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Verlagen oder Zeitschriften. Es dominieren Berichte, die im Auftrag oder direkt von internationalen Organisationen, staatlichen Stellen oder NGOs erarbeitet wurden, die in Anti-Traficking Aktivitäten involviert sind. In der überwiegenden Mehrzahl handelt es sich um Ausarbeitungen zur juristischen Bewertung des Menschenhandelskonzepts oder Analysen der ergriffenen oder als notwendig empfohlenen Anti-Traficking-Politiken. Unabhängige, methodisch transparent und systematisch durchgeführte empirische Studien sind selten und weisen auf die enormen Schwierigkeiten im Erfassen von Menschenhandel als empirisches Phänomen hin (Kelly 2005, Schloenhardt 2008). Es gibt nur wenige empirisch ausgelegte Studien des Menschenhandelphänomens selber, die dann allerdings methodisch problematisch sind, da zumeist Daten von Behörden oder von Beratungsstellen verwendet würden, ohne dass die damit verbundenen Verzerrungen systematisch relektiert werden. Im Ergebnis dieser methodischen Mängel würde eine unzulässige Verallgemeinerung von Einzelfällen erfolgen. Kritisiert wird, dass keine genauen Informationen und Statistiken über den Bereich verfügbar sind. Es bestehen zudem in den nationalen Kontexten Probleme bei der Umsetzung und Anwendung des Menschenhandelskonzepts. Ermittlungsbehörden hätten Schwierigkeiten, Betroffene von Menschenhandel zu identiizieren, wenn gegen sie zum Beispiel ein Ermittlungsverfahren wegen illegaler Einreise oder Schwarzarbeit eingeleitet wurde. In allen Ländern, in denen Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung als Straftatbestand existiert, wurde eine große Diskrepanz zwischen der Zahl der Fälle mit Einleitung von Ermittlungsund Strafverfahren und den in den Diskursen vorgetragenen. Schätzungen über das Ausmaß des Menschenhandels festgestellt. (Kelly 2005: 238f, Goodey 2008: 424ff; Chapkis 2003: 925, Weitzer 2007: 463, Schloenhardt 2008: 3) Die Forschungsüberblicke kommen zu dem Schluss, dass bei einer methodisch kontrollierten und systematischen Betrachtung die Schätzungen vermutlich deutlich reduziert werden müssten (Goodey 2008: 426). Die Aggregation nationaler Strafverfolgungsdaten und ihre Nutzung für Schätzungen wird kritisch betrachtet, da die als Menschenhandel erfassten Fälle sehr unterschiedlich deiniert sind (z.B. Kelly 2005: 238f). Auch wenn man sich in der internationalen Politik auf eine rechtliche Deinition des Menschenhandelskonzepts verständigen konnte, besteht unter Forscherinnen und Forschern keine Einigkeit, wie Menschenhandel deiniert und un- 24 tersucht werden soll, denn die rechtliche Deinition ist ohne Anpassungen in empirischen Untersuchungen nicht handhabbar Die Deinition des Menschenhandels durch die Vereinten Nationen konnte keine Lösung für das Problem bringen, was genau in der Forschung unter Menschenhandel verstanden wird und was Gegenstand der Forschung sein soll (Laczko 2005: 10). Es liegen wenige Untersuchungen vor, die methodische Stringenz und terminologische Klarheit aufweisen und ein Annäherung an das Feld ermöglichen. Hier sind zu nennen Veröffentlichungen der niederländischen Beauftragten für Menschenhandelsfragen (Dettmeijer-Vermeulen 2007: 169-190) und eine Untersuchung im Auftrag von Anti-Slavery International (2006). Diese empirischen Untersuchungen des Menschenhandels zur Arbeitsausbeutung nehmen aufgrund der methodologischen und terminologischen Schwierigkeiten Fälle der extremen Arbeitsausbeutung, die einen Anfangsverdacht für Menschenhandel erfüllen könnten, als Ausgangspunkt. Zur Datenerhebung werden Interviews mit Betroffenen oder mit Expertinnen, die mit Extremausgebeuteten direkten Kontakt haben, durchgeführt und transparent dargestellt und methodisch systematisch ausgewertet. Ob die dabei erhobenen Fallschilderungen tatsächlich als Menschenhandel verurteilt würden, lässt sich letztlich nur durch Gerichte für jeden Einzelfall entscheiden. Forschungsarbeiten zum Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung bieten insofern zuerst Informati- onen zu extremer Ausbeutung, die nicht mit dem rechtlich anspruchsvollem Menschenhandelskonzept gleich gesetzt werden kann. Der Bericht der niederländischen Berichterstatterin für Menschenhandelsangelegenheiten (Dettmeijer-Vermeulen 2007, siehe Anhang 1) bietet exemplarisch eine anschauliche Darstellung der vielfältigen methodischen und praktischen Probleme bei der Erfassung von Fällen des MH/A. Als zusätzlich ausgesprochen problematisch erweist sich eine verzerrte Rezeption dieser fachlich höchst umstrittenen Befunde durch politische Institutionen. In politischen Dokumenten werden Untersuchungsergebnisse, die in Originalquellen ausdrücklich als nur teilweise begründete Schätzungen eingeführt werden, als Tatsachenfeststellung eingeführt und zur Begründung für Empfehlungen und Beschlussfassungen herangezogen. Exemplarisch lässt sich hier auf die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. Februar 2010 zur Verhütung des Menschenhandels hinweisen. Kritisch angemerkt wird auch, dass weit reichende Empfehlungen ausgesprochen und Maßnahmen auf Grundlage ungesicherter Annahmen umgesetzt werden, obwohl es an einer systematischen Evaluation der Wirkungen der ergriffenen Maßnahmen im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung (dazu auch Vogel/Cyrus 2008) und auch beim Opferschutz fehlt (dazu auch Internationales Arbeitsamt 2009, ansatzweise Surtees 2008). 25 2.3 Hinweise auf betroffene Branchen In der internationalen Debatte werden im Zusammenhang mit der Diskussion um MH/A immer wieder bestimmte Branchen genannt. Dabei wird im World Migration Report 2008 der IOM festgehalten, dass vor allem die Sexindustrie betroffen ist. Eine Auswertung der von IOM geführten „Global Human Traficking Database“, in der Angaben zu allen von der IOM in Betreuungs- und Rückkehrprogrammen als Menschenhandelsopfer betreuten Personen gesammelt werden, ergab, dass 8 236 von 12 681 Fällen (Stand Dezember 2007) die Zwangsprostitution betrafen. In den übrigen Fällen waren folgende Branchen erwähnt: Landwirtschaft, Baugewerbe, Lebensmittelproduktion, Haushaltsarbeit, Kinderbetreuung, Fischerei und auch zum Zweck der Bettelei, „um nur einige wenige Branchen zu nennen“ (IOM 2008: 205). Der Hinweis deutet darauf hin, dass es noch weitere betroffene Branchen gibt. Im Bericht der niederländischen Berichterstatterin zu Menschenhandelsangelegenheiten wird ein erhöhtes strukturelles Risiko extremer Arbeitsausbeutung für Branchen festgestellt, die dreckige, gefährliche und entwürdigende Jobs anbieten. In diesen Bereichen besteht eine Nachfrage nach billigen und lexiblen Arbeitskräften, insbesondere wenn die Gewinnspannen sehr knapp kalkuliert sind, die Personalkosten einen relevanten Anteil der Produktionsausgaben ausmachen und die Arbeit geringe Qualiikationsanforderungen stellt. Unter diesen Bedingungen steigt das Risiko, dass Arbeitskräfte mit oder ohne Einsatz von Subunternehmen zu schlechten Arbeitsbedingungen beschäftigt werden. Die im Auftrag der niederländischen Beauftragten durchgeführte Befragung ergab, dass die erhobenen Fallschilderungen extremer Arbeitsausbeutung im Gaststättengewerbe, Haushaltsarbeit, Arbeitnehmerüberlassungsagenturen und der Landwirtschaft sowie Gartenbau lokalisiert waren. Während im Gaststättengewerbe ein Schwerpunkt bei chinesischen Lokalen festgestellt wurde, waren bei der Haushaltsarbeit Familien involviert (Dettmeijer-Vermeulen 2007: 166). In einer zusammenfassenden Darstellung einer Untersuchung zu Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung in vier EU-Mitgliedsstaaten (UK, Irland, Tschechische Republik, Portugal) wurden Fallschilderungen extremer Ausbeutung in zahlreichen Branchen erhoben. Die Auswertung der betroffenen Branchen ergab, dass vor allem die Landwirtschaft (und damit verbundene Branchen wie die Lebensmittelverarbeitung, das Sammeln und Verpacken von Krustentieren), das Baugewerbe, der Reinigungssektor, die Haushaltsarbeit und die Forstwirtschaft häuig genannt wurden. Weitere Branchen, die wiederholt genannt wurden, waren Plege, Gaststätten- und Hotelgewerbe, Autowäschereien, Sicherheitsdienste, schwere körperliche Arbeit in Häfen, das Schieben von Einkaufswagen in Supermärkten oder der Verkauf von CDs, DVDs oder anderen Waren im Straßenhandel. Vereinzelte Hinweise gab es auf Bäckereien, Wäschereien, Nagelstudios und Straßenbau (Anti-Slavery International 2006: 17). Im Bericht „Kosten des Zwangs“ hat die Internationale Arbeitsorganisation (Internationales Arbeitsamt 2009) Hinweise auf von Menschenhandel und Zwangsarbeit betroffene Branchen gegeben. Hervorgehoben werden die Bereiche der Seefahrt und der Haushaltsarbeit, in denen die ILO gerade Initiativen für Konventionen vorbereitet. 2.4 Verwendung von Indikatoren Eine intensive Diskussion wird über die Entwicklung und Anwendung geeigneter Indikatoren geführt, um Opfer von Menschenhandel zu identiizieren und Schutzmaßnahmen anbieten zu können. Auch zum Zweck empirischer Analysen werden in der Regel Indikatoren verwendet, um Arbeitsausbeutung und Menschenhandel zu operationalisieren, wobei diese Indikatorensysteme anderen Anforderungen genügen müssen als praxisorientierte Indikatoren. In einer Studie zu Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung in vier europäischen Ländern hat zum 26 Beispiel die Nichtregierungsorganisation AntiSlavery International (2006) mit Berufung auf eine Indikatorenliste, die von der ILO (2005 b) vorgelegte wurde, sechs Indikatoren zur Bestimmung von Zwangsarbeitsverhältnissen in den Zielländern verwendet: (a) Physische Gewalt einschließlich sexueller Gewalt; (b) Einschränkung der Bewegungsfreiheit; (c) Drohungen; (d) Schulden oder andere Formen der Verplichtung; (e) Vorenthalten oder Nichtauszahlen von Lohn und (f) Einziehen von Identitätsdokumenten. Hervorzuheben ist, dass die ILO in Zusammenarbeit mit ExpertInnen aus 27 EU-Ländern in einem Delphi-Verfahren an der Weiterentwicklung der Indikatoren gearbeitet hat und eine umfassendere Version vorgelegt hat (Internationales Arbeitsamt 2009: 15). Die Indikatoren sind in sechs Gruppen gebündelt und betreffen (a) betrügerische Anwerbung (10 Indikatoren); (b) erzwungene Anwerbung (10 Indikatoren); (c) Anwerbung durch Ausnutzung der Verletzlichkeit (16 Indikatoren); (d) Ausbeuterische Arbeitsbedingungen (9 Indikatoren); (e) Formen des Zwangs am Bestimmungsort (15 Indikatoren) und (f) Ausnutzung der Hillosigkeit am Bestimmungsort (7 Indikatoren). Diese umfassende Liste, die auch die Situation im Herkunftsland abdeckt, ist so gedacht, dass eine Organisationen oder auch ein Forschungsteam die Indikatoren als Ausgangspunkt für eigene Indikatorenbündel nutzen kann. Während es bei wissenschaftlichen Studien in der Regel um eine eindeutige Zuordnung von Fällen geht, ist dies für praxisorientierte Listen gerade nicht relevant. Hier wird in der Regel hervorgehoben, dass kein einzelner Indikator zwingend das Vorliegen von Zwangsarbeit oder Menschenhandel anzeigt, sondern dass das Vorliegen mehrerer Indikatoren einen Anfangsverdacht anzeigt, der weiter überprüft werden sollte. Praxisorientierte Indikatorenlisten dienen somit der Sensibilisierung für Verdachtsfälle. Sie sollen Mitarbeiterinnen von Kontroll- und Hilfsorganisationen helfen, geeignete Fragen zu stellen, aus denen sich ein Verdacht ergeben könnte (Andrees 2005: 18f, ILO 2005b). Daher sind solche Indikatorenlisten oft deutlich weiter gefasst als Zusammenstellungen für sozialwissenschaftliche Studien. Entsprechend weit und unspeziisch können die Listen mit Indikatoren sein, die für die Unterstützungspraxis vorgeschlagen werden. So wird in einer Information zur Identiizierung von Opfer von Menschenhandeln der Beratungsstelle Contra (2008) u. a. als Risikofaktor pauschal eine Beschäftigung in Branchen wie Gaststätten und Hotel, Haushalt und Plege oder ein 27 Au Pair Verhältnis genannt. Weiterhin wird das Alter (unter 21 Jahre wegen der besonderen Strafbarkeit) erwähnt. Solche sehr weit gefassten Indikatoren werden erst in Zusammenhang mit anderen Indikatoren als verdachtsverstärkend gewertet, z.B. wenn die Person rund um die Uhr arbeiten muss, in einer unzumutbaren Unterkunft untergebracht ist oder nicht über ihre Einkünfte verfügen kann. Als Beispiel für die Nutzung von Indikatoren in der Kriminalitätsbekämpfung kann auf ein Gespräch im Rahmen dieser Studie zurückgegriffen werden. Im Verlauf eines Gesprächs mit der zuständigen Dezernatsleiterin beim LKA Berlin (Interview vom 8. Januar 2010) wurde erläutert, dass eine Reihe von Anhaltspunkten berücksichtigt wird, um einen Anfangstatverdacht zu begründen. Dabei ließen sich keine pauschalen Aussagen machen, da die Indikatoren, die bei der Beurteilung zusammenließen, in jedem Einzelfall anders sind. Es reiche aber das Vorliegen eines Indikators, damit das auf die Ermittlung von MH/A spezialisierte Kommissariat den Fall übernimmt. Im Verlauf des Gesprächs wurden folgende Indikatoren genannt, die bei Erwerbstätigen festgestellt werden können: Fälle im Krankenhaus mit bestimmten Krankheitsbild; Gewaltanwendung; Pass weggenommen; dauerhafte besondere Unterbringungsformen in Hinterzim- mern oder noch schlechteren Wohnverhältnissen; keine Barmittel; Geld abgenommen; Zwang; längerfristiger Aufenthalt (ohne Aufenthaltsstatus); fehlende Anmeldung des Arbeitgebers; eingeschleuste Personen; Hinweise auf Anwerbung im Ausland; Täuschung; Hillosigkeit; Hinweise auf fehlende Freiwilligkeit der Einreise; Zahlung einer Vermittlungsgebühr oder rechtswidrige Erhebung einer „Standgebühr“ für unangemeldete Verkaufstätigkeit. Die Polizei betonte, dass diese Indikatoren in unterschiedlichen Varianten in verschiedenen Kombinationen aufträten. Die aufgezählten Indikatoren sind zum Teil objektiv feststellbar (unwürdige Unterbringung, fehlende Barmittel), zum Großteil aber nur durch die Aussagen und Informationen von Betroffenen oder Dritten zu erhalten: Eine Zahlung von Vermittlungsgebühren oder Standgebühren, das Vorliegen einer auslandsspeziischen Hillosigkeit oder Zwangslage wird erst sichtbar, wenn beteiligte Personen entsprechende Hinweise geben oder in Geschäftsunterlagen entsprechende Hinweise gefunden werden. Am besten ist es nach Angaben der Polizei, die Aussagen des Opfers zu erhalten. 28 2.5 Hinweise zur Einschätzung der Handlungsfähigkeit von Betroffenen Besonders umstritten ist in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion die Frage, wie handlungsfähig Opfer von Menschenhandel sind. Der Begriff Menschenhandel impliziert, dass Menschen als Ware von einem Händler zum anderen verkauft werden, die Betroffenen von den Händlern durch Einsatz verbotener Gewaltmitteln zu bloßen Objekten degradiert werden, die sich nicht mehr aus eigener Kraft aus der Situation befreien können. Diese Auffassung liegt auch die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. Februar 2010 zugrunde, in der es heißt, dass “Menschenhandel eine moderne Form der Sklaverei, eine schwerwiegende Straftat und eine schwere Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellt und Menschen durch Drohungen, Gewalt und Erniedrigung in einen Zustand völliger Abhängigkeit bringt“ (Europäisches Parlament 2010). Die Handlungsunfähigkeit wird als Deinitionsmerkmal von Menschenhandel betrachtet, obwohl die oben vorgestellten rechtlichen Deinitionen zwar Unfreiwilligkeit, aber keine absolute Handlungsunfähigkeit vorsehen. Die Zuschreibung völliger Abhängigkeit entspricht einem in Medienberichten über Menschenhandel verwendetem Klischee, wonach Betroffene von Menschenhandel stereotypisierend beschrieben werden als Personen, die “hinter dunklen, abgeschlossenen Türen und versteckten Korridoren gefunden werden. Die Opfer leiden unter Entzug von Nahrung, sie werden mit Elektrokabeln, Eisenstangen und Lederriemen geschlagen, sie weisen Brandwunden von Zigaretten auf, sie werden in versteckten Räumen oder Dachböden brutal vergewaltigt. Und wenn man Zugang erhält, indet man Frauen und Kinder in Käigen“ (Minority views, zitiert in Chapkis 2003: 929). Diese für die sexuelle Ausbeutung vorherrschende und auf die Arbeitsausbeutung übertragene Annahme einer ’völligen Abhängigkeit’ impliziert, dass Opfer von Menschenhandel nicht mehr hand- lungsfähig sind und durch Kontrollbehörden aus ihrer ausweglosen Lage befreit werden müssen (so auch Aronowitz 2009b). Tatsächlich spricht sich das US-Außenministerium vehement für Maßnahmen zur proaktiven Identiizierung der Opfer von Menschenhandel durch Behörden aus. Denn man „sollte von den Opfern nicht erwarten, dass sie sich selbst identiizieren. Sie fürchten typischerweise, sich an Behörden zu wenden und als Kriminelle, irreguläre Migranten oder den Behörden ausgelieferte Personen angesehen zu werden. Formale Überprüfungen sollten daher über die Prüfung der Dokumente hinausgehen. Es sollten einige systematische Verfahren der Identiikation der Opfer eingeführt werden, um Gesetzeshüter und andere staatliche und nicht staatliche Stellen in diesem Feld anzuleiten.“ (US State Department 2008: 30). Diese Position wird in der politischen und auch wissenschaftlichen Diskussion teilweise heftig kritisiert (für Deutschland Pates & Schmidt 2008). Die Maßnahmen zur Bekämpfung von Menschenhandel und der in diesem Zusammenhang angebotene Opferschutz seien Strategien zur Rechtfertigung von Kontrollmaßnahmen, die vor allem der Migrationskontrolle dienen (Karakayali 2008: 227-250). Nach dieser Auffassung kann die Ausbeutung von MigrantInnen nicht allein mit Verweis auf fehlende Handlungsfähigkeit und kriminelle Energie von ‚Menschenhändlern’ erklärt werden, sondern stellt eine Begleiterscheinung großer ökonomischer Diskrepanzen zwischen reichen und armen Ländern, restriktiver Einwanderungspolitik und Kriminalisierung unerwünschter Zuwanderung dar. Opferschutz sei nur ein Deckmantel, um Kriminalitätsbekämpfung zu forcieren und in Wirklichkeit nichts weiter als ein „Zeugengewinnungsprogamm“ (Thiée 2005). Erst unter dem Einluss einer „Rettungsindustrie“ (Agustin 2006, 2007) aus Strafverfolgungsbehörden und Fachberatungsstellen würden die von der Polizei aufgegriffenen Betroffenen ihr Arbeitsverhältnis in eine Situation der Zwangsarbeit oder Zwangsprostitution umdeuten, um von angebotenen Vorteilen proitieren zu können. Betont wird die aktive Rolle einer „Rettungsindustrie“ bei der Konstruktion von Menschenhandelsfällen: „Wer Opfer sucht, der indet sie auch dann, wenn sie sich selbst keineswegs als Opfer im strafrechtlichen Sinne empin- 29 den“ (Thiée 2006). Die Betroffenen würden für die Kriminalitätsbekämpfung instrumentalisiert und anschließend abgeschoben. Beim größten Teil der als Menschenhandel eingestuften Fälle handele es sich in Wirklichkeit um freiwillig eingegangene Migrationsprojekte oder unangemeldete Beschäftigungsverhältnisse. Empfohlen wird hier die Beendigung diskriminierender und kontraproduktiver Kontrollen, die sich in Wirklichkeit nur gegen unerwünschte Migration richten würden. Arbeitsmarktkontrollen sollten sich auf die Einhaltung der arbeits-, sozial- und steuerrechtlichen Vorschriften beschränken und keine Überprüfung des Aufenthaltsstatus beinhalten. Aus einer dritten Perspektive wird betont, dass die Vorstellungen des ‚hillosen Opfers’ und des ‚autonomen Migranten’ gleichermaßen nur einen kleinen Ausschnitt der empirischen Wirklichkeit selektiv und einseitig abbilden. In der Diskussion über die Bekämpfung des Menschenhandels würden zur Begründung der jeweiligen Position Einzelfälle unzulässig verallgemeinert und nur statisch aufgefasst (Anderson 2008). Dagegen wird betont, dass es sich bei Migration und Beschäftigung um dynamische Verhältnisse handelt, die zwischen den beteiligten Akteuren ausgehandelt werden und sehr unterschiedliche Formen und Grade der Fairness oder Ausbeutung aufweisen. Dabei bilden faire und ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse keine eindeutig unterschiedenen und getrennten Zustände, sondern ein Kontinuum (Andrees 2008, Cyrus 2006). Das erhöhte Risiko der Ausbeutung von Migrantinnen und Migranten innerhalb und außerhalb der Sexindustrie wird erkannt, der Straftatbestand des Menschenhandels und seine Umsetzung in der aktuelle Fassung aber nicht für geeignet gehalten, um Situationen extremer Ausbeutung nachhaltig zu verhindern. In dieser Perspektive wird kritisiert, dass „die Wahrnehmung von Menschenhandel allein als Resultat organisierter Kriminalität und illegaler Migration zu kurz greift“ (Follmar-Otto 2009: 23). Mit der Betonung von Grenzkontrollen als Instrument zur Verhütung von Menschenhandel geraten alle diejenigen Fälle aus dem Blick, in denen die Betroffenen legal einreisen oder der Menschenhandel innerhalb eines Landes stattindet. So wird Menschenhandel primär als Unterfall von irregulärer Migration und Schleusung betrachtet und damit „zum Begründungsmuster für eine restriktive Visa- und Grenzpolitik, obwohl etwa das Bundeskriminalamt angesichts der überwiegend legal eingereisten in Deutschland bekannt gewordenen Opfer die Erfolgsaussichten grenzpolizeilicher Maßnahmen bezweifelt.“ (Follmar-Otto 2009: 25). Weiterhin wird kritisiert, dass Schutzmaßnahmen und Rechte für Betroffene nicht auf die rechtliche Stellung als Migrantin oder Arbeiterin bezogen sind, sondern allein auf die rechtliche Stellung als Opfer von Menschenhandel beschränkt bleiben (Davies 2009). Mit Blick auf die Situation in den USA wird die Auffassung vertreten, dass „das Gesetz zum Schutz der Opfer von Menschenhandel (Traficking Victims’ Protection Act) wenig zur Stärkung der Rechte der meisten Wanderarbeiten in der Sexindustrie und außerhalb tut” (Chapkis 2003: 934, Loppicolo 2009). Aus dieser Perspektive wird vorgeschlagen, zur Prävention von Menschenhandel verstärkt Maßnahmen und Mindeststandards zum Schutz von Beschäftigten, auch in der informellen Wirtschaft einzuführen. Die Rechte von ArbeitnehmerInnen müssen gestärkt und effektive Instrumente zu ihrer Durchsetzung unabhängig vom Aufenthaltsstatus eingeführt werden. Die Stärkung von Rechtssicherheit und Konliktfähigkeit würde die Anreize zur Organisierung extrem ausbeuterischer Beschäftigung verringern, das Risiko der Aufdeckung erhöhen und damit einen Beitrag zur Geltung arbeitsrechtlicher Standards für alle ArbeitnehmerInnen leisten (Cyrus 2006). 30 Eine aktuelle Auswertung für Australien stellt fest, dass es aufgrund der begrenzten Anzahl an Berichten nicht möglich ist, ein allgemeines Muster zu erkennen, wie Strafverfolgungsbehörden und andere staatliche Stellen Kenntnis von Fällen des Menschenhandels erhalten. Eine im Jahr 2008 veröffentlichte Auswertung deutet allerdings darauf hin, dass die Opfer sich in den meisten Fällen selbst an die Behörden gewandt hatten, indem sie bei Polizeistellen vorsprachen oder den Polizeinotruf nutzten, die Auslandsvertretung in Australien kontaktierten oder indem sie Unterstützung von Freiern in Bordellen suchten. Der Bericht verweist auf nur zwei Fälle, in denen die Opfer in Australien infolge einer Kontrolle durch Polizei oder Einwanderungsbehörden befreit wurden (Schloenhardt 2008: 10). In einer im Jahr 2005 veröffentlichten Auswertung von Gerichtsverfahren wegen Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung in Deutschland wurde festgestellt, dass vor dem Hintergrund bedrohter und wegen ausländergesetzlicher Vorschriften meist selbst straffälliger Opfer bei den befragten Experten aus den Strafverfolgungsbehörden die Meinung vorherrscht, dass die Verfahrensauslösung wegen des Kontrolldelikts Menschenhandel in erster Linie durch polizeiliche Initiative erfolgt. In den durchgeführten schriftlichen Befragung und den Expertengesprächen wurde die proaktive Verdachtsgewinnung in Form von Kontrollen im Rotlichtmilieu und verdeckten Ermittlungsmethoden von den Expertinnen auch als häuigster Ermittlungsauslöser eingestuft. Bei der kriminologischen Auswertung von 49 Gerichtsakten wurde dagegen festgestellt, dass der mit Abstand größte Teil der Verfahren bei dem vermeintlichen Kontrolldelikt Menschenhandel nicht durch polizeiliche Initiativermittlungen oder sonstige polizeiliche Erkenntnisgewinnung, sondern durch Anzeigen und Hinweise ausgelöst worden war (67 %; 4 % der Anzeigen wurden im späteren Prozessverlauf zurückgenommen). Diese Anzeigen und Hinweise kamen in der Regel vom Opfer selbst (43 %) oder von Freiern oder Dritten (22 %), nie aber von (Mit-)Tätern/Teilnehmern oder von Behörden außerhalb der Strafverfolgung (n. f. 3 %). Durch polizeiliche Initiativermittlungen wurden nur 10 % der Verfahren in Gang gesetzt (davon gezielte Vor- und Strukturermittlungen 6 %; Razzia 2 %; n. f. 2 %; eine Verfahrensauslösung durch den Einsatz technischer Mittel, Verdeckter Ermittler oder Vertrauenspersonen konnte nicht festgestellt werden) und 12 % durch zufällige polizeiliche Erkenntnisgewinnung wie etwa Zufallsfunde (n. f. 10 %). In der Strafverfolgung schnitten die angezeigten Fälle am erfolgreichsten ab (Erfolgsquote 39 % vs. 7 %), weil die Strafverfolger sich hier eines tauglichen Personalbeweises versichert sahen (Herz & Minthe 2005: 135). Diese Vermutung wird dadurch untermauert, dass die Fälle besonders erfolgreich waren, in denen die Opfer selbst als Anzeigenerstatter oder Hinweisgeber auftraten (40 % erfolgreiche Fälle vs. 17 % bei Anzeigen/ Hinweisen durch Freier oder Dritte). Bei anderen Verfahrensauslösungen als durch Anzeigen und Hinweise lag die Erfolgsquote bei etwa 10 % und darunter. Die Hinweise aus der empirischen Forschung zu Menschenhandel wecken somit erhebliche Zweifel an der Gültigkeit der stereotypen Repräsentation von Menschenhandelsopfern als handlungsunfähig. Vorliegende Berichte verdeutlichen, dass die die meisten Betroffenen in einigen oder sogar in allen Phasen des Ausbeutungsverhältnisses mit Tätern kooperierten und unter dem Einluss von Drohungen und Praktiken der Verunsicherung ihre Zustimmung nicht offen verweigerten, keiner vollständigen Bewachung unterlagen und zu verschiedenen Momenten die Möglichkeit gehabt hätten, Verwandte, Freunde oder auch (unbeteiligte) Dritte um Hilfe zu ersuchen. Als operativer Begriff vermittelt das Menschenhandelskonzept die Vorstellung, dass organisierte Kriminelle über Grenzen hinweg Menschen in Ausbeutungssituationen bringen, aus denen sie sich nicht mehr selbst befreien können (Gallagher 2001). In Anlehnung an Welsch (1998: 59f) kann das Menschenhandelskonzept als ein Verständigungsbegriff aufgefasst werden, der soziale Wirklichkeit nicht neutral und objektiv abbildet, sondern vielmehr eine Übereinkunft darüber darstellt, wie die soziale Wirklichkeit abgebildet und gesehen werden soll. Menschenhandel ist nicht nur ein bloß beschreibender Begriff, sondern 31 schafft mit der Benennung den Gegenstand, der beschrieben werden soll (mit anderer Begriflichkeit ebenso Doezema 2005). Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass nicht nur „genauer erforscht werden muss, wie der Menschenhandel stattindet, wer ihn betreibt, wer warum zum Opfer wird und wie der Nachfrage entgegengewirkt werden kann“ (Europäisches Parlament 2010), sondern auch relektiert werden muss, dass eine kritiklose Verwendung des ‚Verständigungsbegriffs’ Menschenhandel die soziale Wirklichkeit nicht neutral und objektiv abbildet, sondern eine tendenziell stereotypisierende Verengung des Blicks auf hillose Opfer erzeugt und damit die vorstellbaren Handlungsoptionen auf kriminalitätsbekämpfende, strafrechtliche Ansätze mit angebundenem Opferschutz reduziert. 32 33 3. Zu der Situation in Europa und der Bundesrepublik Deutschland In diesem Kapitel wird der Straftatbestand Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung und die Umsetzung im Europäischen Rechtsraum und der Bundesrepublik Deutschland dargestellt. 3.1 Europäische Entwicklung Auch im europäischen Rechtsraum werden Maßnahmen zur Bekämpfung von Menschenhandel intensiv verhandelt (dazu Krieg 2009, Obakata 2006). Die Europäische Gemeinschaft hat das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität gezeichnet und die Umsetzung in europäischen Rechtsakten vorgenommen.14 Einen Überblick über den Stand der Diskussion und Maßnahmen im Rahmen der europäischen Union bietet z. B. die Website des Europäischen Parlaments.15 In einer aktuelle Mitteilung geht die Europäische Kommission davon aus, dass „Hunderttausende von Personen durch 34 Menschenhandel in die EU verbracht oder innerhalb der EU verschleppt werden“ (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2009: 2). Dabei wird Menschenhandel von den Institutionen der Europäischen Union im Rahmen der gemeinsamen Sicherheitspolitik gegenwärtig vorrangig als eine Erscheinungsform grenzüberschreitender Kriminalität konzeptionalisiert, die von den EUMitgliedsstaaten in gemeinsamer Anstrengung zu bekämpfen ist. Zur Unterbindung des Menschenhandels sollen die Kontrolle der EU-Außengrenzen und die europäische Koordinierung der nationalen Polizeiarbeit verstärkt werden. Diese kontrollpolitische Präferenz wurde jüngst vom Europäischen Parlament in einer Entschließung vom 10. Februar 2010 bestätigt und um konsequentere Beachtung des Opfer- und Menschenrechtsschutzes ergänzt. Das Dokument bietet mit einer umfassenden Aufzählung der relevanten internationalen Dokumente zur Bekämpfung des Menschenhandels einen ersten Überblick über den Stand der internationalen und europäischen Debatte (Europäisches Parlament 2010). In der Entschließung werden der Rat und die Mitgliedsstaaten aufgefordert, einen ‚ganzheitlichen Ansatz’ zu entwickeln, der die Menschenrechte in den Mittelpunkt stellt und auf die Bekämpfung des Menschenhandels, seine Verhütung und Opferschutz ausgerichtet ist. Unter anderem wird gefordert, dass die Unterstützung für Opfer an keinerlei Bedingungen geknüpft sein soll, dass die Zustimmung eines Opfers zur Ausbeutung stets irrelevant sein soll und dass ein Anspruch auf Unterstützung nicht mehr wie bisher von der Bedingung abhängig gemacht wird, in einem Strafverfahren zu kooperieren. Die Europäische Grenzschutzagentur FRONTEX und die einzelstaatlichen Grenzschutzbehörden werden aufgefordert, im Verlauf ihrer Tätigkeit gemeinsame Praktiken festzulegen, um ihre Mitarbeiter stärker für das Problem des Menschenhandels zu sensibilisieren, die Opfer des Menschenhandels zu identiizieren und ihren Schutz zu gewährleisten (Euro- päisches Parlament 2010). Das Europäische Parlament greift mit dieser Position Empfehlungen auf, die bereits im Jahr 2003 von einer von der Europäischen Kommission eingesetzten ‚Sachverständigengruppe Menschenhandel’ vorgelegt worden waren. In dem Bericht der Sachverständigengruppe wurde zur Bekämpfung des Menschenhandels ein ‚ganzheitlicher Ansatz’ empfohlen, der im Wesentlichen eine intensiveren Zusammenarbeit von Kontroll- und Strafverfolgungsbehörden in Kooperation mit Opferschutzeinrichtungen vorsieht, um die Befreiung der Opfer von Menschenhandel und die Bestrafung der Täter zu optimieren (Experts Group on Traficking in Human Beings 2004). Zurzeit erarbeitet eine weitere von der Europäischen Union eingesetzte ‚Sachverständigengruppe Menschenhandel’ eine Konzeption für den politischen Umgang mit Menschenhandel. Die empfohlene vorrangige Verfolgung strafrechtlicher Ansätze wird in den europäischen Rechtsakten, die rechtsverbindliche Vorgaben für Mitgliedsstaaten setzen, umgesetzt. An erster Stelle ist auf den Rahmenbeschluss zur Bekämpfung des Menschenhandels vom 19. Juli 2002 hinzuweisen, der alle EU-Mitgliedsstaaten zu Maßnahmen zur Bekämpfung gegen Menschenhandel verplichtete und vor allem auf eine Annäherung der Strafrechtsvorschriften und der zu verhängenden Strafen abzielte. Da jedoch eine Reihe von Bestimmungen des Rahmenbeschlusses Ausnahmeregelungen oder Vorbehalte ermöglichten und der Rahmenbeschluss ausschließlich Strafrechtsbestimmungen enthielt, blieb die Umsetzung einer umfassenden Politik zur Bekämpfung des Menschenhandels in den Mitgliedstaaten nach Auffassung der Kommission unzureichend (Europäische Kommission 2009: 4). In der Folgezeit wurden mehrere Mitteilungen, Entschließungen, Ratsbeschlüsse und Richtlinien verabschiedet, so die Richtlinie 2004/81/ 14 Im März 2009 hatten 23 EU-Mitgliedsstaaten das Protokoll ratiiziert, die restlichen 4 Mitgliedsstaaten hatten es unterzeichnet. Die Europäische Gemeinschaft hat das Protokoll unterzeichnet und genehmigt (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2009:3) 15 http://www.europarl.europa.eu/comparl/libe/elsj/zoom_in/41_en.htm : zuletzt besucht am 30.08.2010 35 EG vom 29. April 2003, die eine Unterstützung von Drittstaatsangehörigen und die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Opfer von Menschenhandel vorsieht. Im Juni 2009 hat die Europäische Kommission einen weiteren Vorschlag für einen neuen Rahmenbeschluss vorgelegt (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2009). In diesem Vorschlag wird in Anknüpfung an den bestehenden Stand der rechtlichen und institutionellen Umsetzung des Menschenhandelskonzepts vor allem die Strafbarkeit, Strafverfolgung und Bestrafung von Tätern sowie der Umgang mit Opfern detaillierter gefasst. Eine Person ist nach dem Vorschlag der Kommission als Opfer einzustufen, sobald den zuständigen Behörden Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie von Menschenhandel betroffen sein könnte (Art. 10, Abs. 2). Jedes Mitgliedsland soll die Möglichkeit vorsehen, Opfer von Menschenhandel nicht strafrechtlich zu verfolgen, wenn sie illegalen Maßnahmen ausgesetzt waren und sich deshalb an rechtswidrigen Handlungen beteiligt haben (Art. 6). Unter der Überschrift Prävention wird ausgeführt, dass jeder Mitgliedsstaat Anstrengungen unternehmen soll, um der Nachfrage, die jegliche Form von Ausbeutung begünstigt, entgegenzuwirken (Art. 12, Nr. 1). Was genau damit gemeint sein könnte, wird nicht weiter erläutert. Weiterhin sollen Schulungen für Beamte gefördert werden, um sie in die Lage zu versetzen, potenzielle Opfer zu identiizieren. Die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Unterstützung der Opfer (Artikel 10) bleiben nach diesem Vorschlag weiterhin mit Strafverfahren verkoppelt. Im Zusammenhang mit Maßnahmen zur Verhinderung der Arbeitsausbeutung von Migrantinnen und Migranten ist weiterhin die Richtlinie 2009/52/EG vom 18.6.2009 über „Mindeststandards für Sanktionen und Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die Drittstaatsangehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen“ (ABl. L 168 vom 30.6.2009) rele- vant. Die Mitgliedsstaaten sind nach dieser Richtlinie, die im Juni 2009 in Kraft getreten ist, unter anderem verplichtet, Maßnahmen zu ergreifen, damit Arbeitgeber den von ihnen unangemeldet beschäftigten Drittstaatsangehörigen ausstehende Vergütungen für geleistete Arbeit zahlen sowie fällige Steuern und Sozialversicherungsbeiträge entrichten. Wenn die Höhe der Vergütungen nicht festgestellt werden kann, dann soll zumindest von einem Lohn in der Höhe ausgegangen, die in den geltenden Rechtsvorschriften über den Mindestlohn, in den Tarifvereinbarungen oder gemäß den Geplogenheiten in den entsprechenden Beschäftigungsbranchen vorgesehen ist. Die Mitgliedsstaaten sollten weiterhin dafür sorgen, dass Drittstaatsangehörige ihre Ansprüche geltend machen oder geltend machen können, und Mechanismen einrichten, die gewährleisten, dass die Drittstaatsangehörigen die ihnen zustehenden Vergütungen erhalten können. Die Mitgliedstaaten sollten eine Rechtsvermutung für ein Arbeitsverhältnis von mindestens dreimonatiger Dauer vorsehen, so dass der Arbeitgeber die Beweislast für das Vorliegen eines anderen Zeitraums trägt. Den zurzeit weitestgehenden Standard beim Opferschutz bietet die im Mai 2005 nach zähem Ringen vom Europarat verabschiedete Konvention gegen Menschenhandel (Nr. 197), die am 1. Februar 2008 in Kraft getreten ist.16 Bisher haben 24 Staaten das Abkommen ratiiziert (Stand 7.5.2009). Bis März 2009 ist es von 12 EU-Mitgliedstaaten ratiiziert worden; 13 EU-Mitgliedstaaten hatten es unterzeichnet und befanden sich im Ratiizierungsprozess. Deutschland hat angekündigt, die Ratiizierung der Konvention vorzubereiten.17 Ein ausdrückliches Ziel der Konvention besteht darin, den im internationalen Recht vorgesehenen Opferschutz zu verstärken und die vorgeschlagenen Standards fortzuentwickeln (Artikel 39). Die Konvention beinhaltet u. a. verplichtende Schutz- 16 http://www.coe.int/t/dg2/traficing/campaign/Sourse/PDF_Conv_197_Traficking_German.pdf : zuletzt besucht am 30.08.2010 17 Den aktuellen Stand der Ratiizierung indet man in der vollständigen Liste der Verträge des Europarates unter Nr. 197. http://www.conventions.coe.int/Treaty/Commun/QueVoulezVous.asp?NT=197&CM=8&DF=02/03/2010&CL=GER : zuletzt besucht am 30.08.2010 36 maßnahmen wie eine Erholungs- und Bedenkzeit von mindestens 30 Tagen und bestimmt, dass die Schutzmaßnahmen für Opfer von Menschenhandel unabhängig von der Bereitschaft zur Beteiligung an Ermittlungs- und Gerichtsverfahren als Zeuge zu gewähren sind. Damit geht die Europaratskonvention beim Opferschutz über die von der Europäischen Union bis dahin formulierten Standards hinaus. Deutlich wird aber, dass trotz der Betonung der menschenrechtlichen Dimension die Schutzmaßnahmen bisher nur für Opfer vorgesehen waren, die für strafrechtliche Ermittlungen als Zeuginnen benötigt werden. Mit der Umsetzung der Europaratskonvention werden Schutzmaßnahmen für Opfer von Menschenhandel unabhängig von einer Beteiligung als Zeuge oder Zeugin in Ermittlungsund Strafverfahren verplichtend. Die Schutzmaßnahmen werden aber nur gewährt, wenn Behörden einer Person den Status eines Opfers von Menschenhandel zuerkennen. Eine konsequente menschenrechtlich orientierte Strategie zur Bekämpfung des Menschenhandels müsste dagegen nicht nur die Rechte von Personen in ihrer Eigenschaft als Opfer stärken, sondern auch in ihrer Eigenschaft als ArbeitnehmerIn und MigrantIn. 3.2 Der Straftatbestand § 233 StGB Die Umsetzung der Europäischen Rahmenrichtlinie und der UN-Konvention gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität wurden in der Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen18 mit der 37. Strafrechtsänderungsreform vom 19. Februar 2005 umgesetzt. Dabei wird der Straftatbestand ‚Menschenhandel’ im Abschnitt „Straftaten gegen die persönliche Freiheit“ in § 232 StGB (Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung) und in § 233 StGB (Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung) behandelt. Strafbar ist auch die Förderung des Menschenhandels (§ 233 a StGB)19, wobei darunter Handlungen wie die Anwerbung, Beförderung, Beherbergung, Transport, die in den internationalen Abkommen als Tathandlungen des Menschenhandels deiniert sind, unter Strafe gestellt werden, wenn damit der Ausbeutung Vorschub geleistet wird. Der genaue Wortlauf der Strafbestimmungen ist in Kasten 3 dokumentiert. Mit dieser Fassung des Tatbestands Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft ist im deutschen Strafrecht kein Bezug mehr auf organisierte Kriminalität oder die Überschreitung von Grenzen verbunden. Menschenhandel kann daher nicht nur Drittstaatler betreffen, sondern auch EUBürgerinnen und deutsche Staatsangehörige. Der Straftatbestand ist als Erfolgsdelikt formuliert und nur vollendet, wenn die Arbeitskraft des Opfers ausgebeutet worden ist (Renzikowski 2005, Schröder 2005).20 18 Die Vorgaben zum Organhandel wurden im Transplantationsgesetz umgesetzt. 19 In dieser Arbeit gehen wir auf den § 233a StGB nicht weiter ein. Zur juristischen Einordnung dieses Auffangtatbestands siehe Rudolphi & Wolter (2005), Renzikowski (2005). 20 Der relativ hohe Anteil an deutschen Staatsangehörigen, die in den Bereichen des BKA als Opfer von Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung ausgewiesen sind, verweist darauf, dass eine Verstärkung von Grenzkontrollen das Delikt Menschenhandel nur zum Teil abdeckt. 37 Kasten 3: § 233 StGB: Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft (1) Wer eine andere Person unter Ausnutzung einer Zwangslage oder der Hillosigkeit, die mit ihrem Aufenthalt in einem fremden Land verbunden ist, in Sklaverei, Leibeigenschaft oder Schuldknechtschaft oder zur Aufnahme oder Fortsetzung einer Beschäftigung bei ihm oder einem Dritten zu Arbeitsbedingungen, die in einem auffälligen Missverhältnis zu den Arbeitsbedingungen anderer Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer stehen, welche die gleiche oder eine vergleichbare Tätigkeit ausüben, bringt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft. Ebenso wird bestraft, wer eine Person unter einundzwanzig Jahren in Sklaverei, Leibeigenschaft oder Schuldknechtschaft oder zur Aufnahme oder Fortsetzung einer in Satz 1 bezeichneten Beschäftigung bringt. (2) Der Versuch ist strafbar. (3) § 232 Abs. 3 bis 5 gilt entsprechend. § 233 a StGB: Förderung des Menschenhandels (1) Wer einem Menschenhandel nach § 232 oder § 233 Vorschub leistet, indem er eine andere Person anwirbt, befördert, weitergibt, beherbergt oder aufnimmt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren ist zu erkennen, wenn 1. das Opfer der Tat ein Kind (§ 176 Abs. 1) ist, 2. der Täter das Opfer bei der Tat körperlich schwer misshandelt oder durch die Tat in die Gefahr des Todes bringt oder 3. der Täter die Tat mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empindlichen Übel oder gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Taten verbunden hat, begeht. (3) Der Versuch ist strafbar. Der Tatbestand Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung ist nach deutschem Recht erfüllt, wenn eine Person durch Anwendung verbotener Mittel – genannt wird die Ausnutzung einer Zwangslage oder der auslandspeziischen Hillosigkeit – gegen ihren Willen in eine Ausbeutungssituation gebracht wird (Renzikowski 2005). • Die Tathandlung besteht darin, eine andere Person in Arbeitsausbeutung zu ‚bringen‘. Es trägt allerdings nicht gerade zum Verständnis bei, dass der Begriff ‚Arbeitsausbeutung’ nur in der Überschrift des Paragraphen 233 StGB verwendet wird. Im Text selbst ist die strafbare Handlung beschrieben als Bringen einer • Person in vier ausdrücklich bezeichnete Ausbeutungsverhältnisse, nämlich (1) Sklaverei, (2) Leibeigenschaft, (3) Schuldknechtschaft oder (4) Beschäftigung zu Arbeitsbedingungen, die in einem auffälligen Missverhältnis zu den Arbeitsbedingungen vergleichbarer Arbeitnehmer stehen (dazu Renzikowski 2005: 884). Auch die Tatsache, dass ‚Bringen‘ im Deutschen sowohl im Sinne von ‚transportieren, zuführen‘ als auch im Sinne von ‚ein Resultat herbeiführen‘ benutzt wird, macht die Tathandlungsformulierung auslegungsbedürftig. Als Tatmittel werden die Ausnutzung einer Zwangslage oder auslandsspeziischen Hillosigkeit genannt, wobei ebenfalls auslegungs- 38 • bedürftig ist, was darunter zu verstehen ist, Die Tatabsicht muss gegeben sein, d.h. die Handlungen müssen eine Arbeitsausbeutung bezwecken. Diese Tatbestandselemente müssen kumulativ vorliegen, damit Strafbarkeit einsetzt. Das Menschenhandelskonzept im deutschen Strafrecht ist damit komplex und stellt hohe Anforderungen an die Nachweisbarkeit, die insbesondere im Zusammenhang mit der Ermittlung der Ausnutzung einer Zwangslage oder einer auslandspeziischen Hillosigkeit auf die Aussagen der Betroffenen angewiesen ist. Auch bei der Hauptverhandlung ist die Zeugenaussage der Betroffenen erforderlich (Hellmann 2007: 57). In der rechtswissenschaftlichen Diskussion wird die Abgrenzung zum Lohnwucher (§ 291 StGB), der ebenfalls die Ausbeutung der Arbeitskraft unter Strafe stellt, kritisch diskutiert. Hingewiesen wird darauf, dass im Vergleich zu § 291 StGB aus der erheblich höheren Strafandrohung bei § 233 StGB (Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung), den übrigen im Tatbestand beschriebenen Abhängigkeitsverhältnissen und dem Merkmal der Ausbeutung in der gesetzlichen Überschrift zu folgern ist, dass „das Beschäftigungsverhältnis einerseits von längerer Dauer und andererseits „sklavereiähnlich“ (BT-Drs. 15/3045: 9) sein muss“ (Rudolphi & Wolter 2005: § 233: 2). Allerdings ist besonders zu betonen, dass § 233 StGB nicht dazu dient, vor Ausbeutung zu schützen. Er schützt die Freiheit der Person, über den Einsatz und die Verwertung der eigenen Arbeitskraft zu verfügen. Damit wird im Grundsatz die Freiheit geschützt, auch in Arbeits- und Lohnbedingungen einzuwilligen, die in einem deutlichen Missverhältnis zu ortsüblichen oder tarilichen Standards stehen. In einer aktuellen Entscheidung hat der Bundesgerichtshof mit Beschluss (3 StR 507/09) vom 13. Januar 2010 in einer Strafsache wegen Menschenhandels diese Rechtsauffassung u. a. mit folgenden Hinweis für eine auf Revisionsantrag zugelassene neue Hauptverhandlung erläutert: Menschenhandel im Sinne des § 233 Abs. 1 StGB begeht der Täter nicht bereits dann, wenn er eine sich in einer Zwangslage oder in einem Zustand auslandsspeziischen Hillosigkeit beindliche Person in ein als ausbeuterisch zu beurteilendes Beschäftigungsverhältnis übernimmt. Die Vorschrift setzt vielmehr voraus, dass der Täter die Person unter Ausnutzung der Zwangslage oder Hillosigkeit zur Aufnahme oder Fortsetzung bringt (Bundesgerichtshof 2010: 5). Der Bundesgerichtshof führt weiter aus, dass der Begriff des „Dazu-Bringens“ weder eine Einlussnahme von gesteigerter Intensität wie das „Einwirken“ noch eine Willensbeeinlussung im Wege der Kommunikation wie das ‚Dazu-Bestimmen’ verlangt: Ist das Merkmal des Ausnutzens erfüllt, genügt jede ursächliche Herbeiführung des Erfolges, gleichgültig auf welche Art und Weise, sei es auch nur durch das Schaffen einer günstigen Gelegenheit oder durch schlichtes Angebot. (…) Indes beschützt § 233 StGB die Freiheit der Person, über den Einsatz und die Verwertung ihrer Arbeitskraft zu verfügen. Tatbestandsmäßig ist deshalb nur ein Handeln, das gerichtet ist auf das Ziel, den Willen des – bereits in der Freiheit der Willensentschließung beeinträchtigten – Opfers zu beeinlussen und so den in der Aufnahme oder in der Fortsetzung der ausbeuterischen Beschäftigung bestehenden Erfolg herbeizuführen. Der Täter muss einen bislang nicht vorhandenen Entschluss des Opfers, ein solches Beschäftigungsverhältnis einzugehen, hervorrufen oder das Opfer von seinem Entschluss, die Beschäftigung aufzugeben, abbringen. Hieran fehlt es, wenn für den Erfolg eine vom Opfer unabhängig von seiner Lage getroffene eigenverantwortliche Entscheidung maßgeblich war (Bundesgerichtshof 2010: 5f). Die Auslegung des Bundesgerichtshofes legt unmissverständlich fest, dass die Bestimmung des § 233 StGB als das geschützte Rechtsgut die persönliche Freiheit bestimmt, über seine eigene Arbeitskraft zu verfügen. Geschützt wird nicht vor Arbeitsausbeutung, sondern die Freiheit, selbst zu entscheiden, ob man sich ausbeuten lassen will oder eben nicht. Damit macht der BGH die Erfüllung des Straftatbestands Menschenhandel letztlich von subjektiven Aspekten abhängig: Der Tatbestand Menschenhandel ist nach deutschem Recht nur erfüllt, wenn sich eine Person durch Anwendung rechtswidriger Mittel subjektiv dazu gezwungen sieht, ein ausbeuterisches Beschäfti- 39 gungsverhältnis aufzunehmen oder fortzusetzen. Wenn die Anwendung rechtswidriger Mittel auf die Entscheidung der betroffenen Person keinen Einluss hatte und diese nicht verändert haben, kann zwar Ausbeutung bzw. Lohnwucher vorliegen, aber kein Menschenhandel. Damit muss nach der maßgeblichen Meinung des Bundesgerichtshofs nicht nur das Vorliegen von Tathandlung, Tatmitteln und Täterabsicht geprüft werden, sondern auch die Diskrepanz zwischen einem beabsichtigten und einem dann tatsächlich vollzogenem Verhalten einer extrem ausgebeuteten, in einer Zwangslage beindlichen und eventuell auslandsbedingt hillosen Person. Nur wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine Person unter Verletzung ihrer Entscheidungsfreiheit in ein ausbeuterisches Arbeitsverhältnis gebracht oder gehalten wurde, ist ein Anfangstatverdacht gegeben, der besondere Schutzangebote für Betroffene ermöglicht. Die Umsetzung der Verplichtungen zum Opferschutz wurden durch mehrere Veränderungen im Aufenthaltsrecht vorgenommen: Der durch das am 28. August 2007 in Kraft getretene Richtlinienumsetzungsgesetz eingefügte § 25 Abs. 4a AufenthG ermöglicht die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für einen vorübergehenden Aufenthalt an einen Ausländer, der Opfer von Menschenhandel wurde, auch wenn er vollziehbar ausreiseplichtig ist.21 Die Aufenthaltserlaubnis darf dabei nur erteilt werden, wenn die Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet als sachgerecht für das Strafverfahren erachtet wird, er jede Verbindung zu den beschuldigten Personen abgebrochen hat und er seine Bereitschaft erklärt hat, im Strafverfahren als Zeuge auszusagen. Bis zum 31. Dezember 2008 wurde an 22 Personen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4a AufenthG erteilt. 21 dieser Aufenthaltserlaubnisse erhielten Frauen. 9 Personen, die eine entsprechende Aufenthaltserlaubnis erhielten, sind im Jahr 2008 eingereist22 (BAMF 2010: 137). Die aufenthaltsrechtliche Absicherung der Bedenkzeit kann zudem auch über die Erteilung einer Duldung erfolgen. Eine genaue Aufstellung der Anzahl der für die Inanspruchnahme der Bedenkzeit erteilten Duldungen und Aufenthaltserlaubnisse liegt nicht vor. Vorbereitet wird von der Bundesregierung zurzeit auch die Ratiizierung der Europaratskonvention (Bundesregierung 2008: 109), die – wie schon dargestellt – weitere Verplichtungen beim Opferschutz beinhaltet.23Mit der vom BGH bestätigten engen Auslegung des § 233 StGB als Straftat gegen die persönliche Freiheit und den hohen Anforderungen an die Anwendung laufen die insbesondere von Strafverteidigern im Vorfeld der 37. Strafrechtsreform geäußerten Bedenken ins Leere. Die Reform des Menschenhandelsparagraphen war sehr kontrovers diskutiert worden, wobei sich die Diskussion vorrangig auf den Bereich des Menschenhandels zur sexuellen Ausbeutung konzentriert hatte. Insbesondere von Strafverteidigern und Juristen wurden dabei Bedenken vorgetragen, dass die Neufassung des Menschenhandelsparagraphen zu Lasten der Rechte von Angeklagten in Strafverfahren ginge und mit den Opferschutzregelungen Anreize gesetzt würden, sich unberechtigt als Opfer von Menschenhandel zu präsentieren, um einer Strafverfolgung oder Abschiebung zu entgehen (Frommel & Schaar 2005, Schröder 2005, Thiée 2005). Die bisher vorliegenden und im nächsten Abschnitt vorgestellten Erfahrungen verweisen eher darauf, dass der Straftatbestand nicht praktikabel ist. 21 Der eigefügte Absatz dient der Umsetzung der opferschutzrechtlinie (Richtlinie 2004/81/EG vom 29. April 2004) über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet wurde und die mit den zuständigen Behörden kooperieren. 22 Nach Angaben des Bundeskriminalamtes (BKA) wurden im Jahr 2007 689 Opfer des Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung ermittelt, was einem Rückgang von 11 % im Vergleich zum Vorjahr entspricht. Darunter befanden sich 505 Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit. 95 % der Opfer von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung waren Frauen. Zusätzlich wurden 101 Opfer des Menschenhandels zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft registriert (+ 22 % im Vergleich zum Vorjahr), zwei Drittel davon waren Frauen (vgl. dazu Bundeskriminalamt 2008: Menschenhandel - Bundeslagebild 2007). 23 http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/Themen/Menschenrechte/Menschenhandel.html : zuletzt besucht am 30.08.2010 40 3.3 Informationen zu MH/A in der Bundesrepublik Deutschland Für die Bundesrepublik Deutschland informierte das Bundeskriminalamt erstmals für das Jahr 2006 auch über das Delikt Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung. Während bei MH/S, die Auswertung durchgängig auf Meldungen der LKAs beruht, wurden für MH/A nur Angaben der PKS verwertet. (Das Ergebnis dieser Erfassung zeigt Tabelle 2.) Bei der statistischen Darstellung fällt auf, dass bei einem starken Rückgang der ermittelten Verdachtsfälle die Zahl der in Ermittlungsverfahren als Opfer identiizierten Personen nicht im gleichen Maße zurückgegangen, sondern relativ stabil geblieben ist. Hier können aber einzelne Fälle mit einer großen Anzahl an Betroffenen, zum Beispiel bei einem Ermittlungsverfahren in der Landwirtschaft, einen großen Einluss haben. Das BKA merkte im Bundeslagebild für das Jahr 2008 an, dass eine abschließende Bewertung des Deliktbereichs in Anbetracht der wenigen in der PKS registrierten Fälle des Menschenhandels zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft nur bedingt möglich ist. Für das BKA zeigt sich allerdings, dass die aufgedeckten Delikte nach §§ 233, 233a StGB schwerpunktmäßig im Gaststättengewerbe zum Nachteil sich illegal in der Bundesrepublik aufhaltender Ausländer verübt werden oder die Opfer als Haushaltskräfte ausgebeutet werden (Bundeskriminalamt 2009a). Weitere Hinweise auf betroffene Branchen, die für extreme Arbeitsausbeutung anfällig sind, bietet eine im Jahr 2005 veröffentlichte ILO Studie zu Deutschland. Darin heißt es, dass in allen Branchen mit nicht angemeldeter Beschäftigung von Ausländern auch ein gewisser Anteil an Zwangsarbeit vorkommen kann. In der Studie werden Falldarstellungen gegeben für die Sex-Industrie, Haushaltsdienstleistungen einschließlich Au-Pair, Landwirtschaft und Fleischverarbeitung, Restaurants und Gastronomie, Produktionsarbeiten in „sweat shops“, Jahrmärkte, Baugewerbe, Speditionen (Transport) und Verteilung von Werbebro- 41 schüren. Betont wird, dass die Wahrscheinlichkeit der Aufdeckung von erzwungener Arbeit in diesen Bereichen höher war, weil Lobbygruppen wie Gewerkschaften, NGOs oder Kontrollbehörden sich auf diese Bereiche konzentriert haben. Insgesamt würde nur einer von mehreren tausend Fällen nicht angemeldeter Beschäftigung aufgedeckt (zu einer aktuellen kritischen Bestandsaufnahme der Arbeitsmarktkontrollen siehe Bundesrechnungshof 2008). Die sichtbare Präsenz von Ausländern erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Kontrolle. In Branchen, in denen der Einluss der Gewerkschaften hoch ist und die Lohnhöhe kontrolliert wird (Baugewerbe, Fleischverarbeitung, Speditionen), kann ein Trend zum Outsourcing und zur Vergabe von Unteraufträgen beobachtet werden. In solchen Branchen versteckt sich die Zwangsarbeit hinter der legalen Fassade von Werkvertragsarbeit, um die Verantwortlichkeit für die Zwangsarbeit an Subunternehmen weiterzureichen (Cyrus 2006). Die verfügbaren Daten der Verurteilungsstatistiken weisen zum Straftatbestand Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung (§ 233 StGB) eine niedrige Zahl an Aburteilungen24 aus. Auffällig ist, dass auch Jugendliche (z. T. unter 16 Jahren) als Täter verurteilt wurden. Im Jahr 2006 wurden insgesamt 18 Angeklagte abgeurteilt, darunter 8 nach Jugendstrafrecht und 12 nach allgemeinem Strafrecht. In 7 Fällen erfolgte eine Verurteilung wegen Menschenhandels zur Arbeitsausbeutung. Dabei wurden 5 Freiheitsstrafen und 2 Geldstrafen verhängt. Die Freiheitsstrafen blieben in 3 Fällen unter sechs Monaten, in einem Fall im Bereich 1-2 Jahre und in einem Fall bei 3-5 Jahre (Statistisches Bun- Tabelle 2: Informationen aus dem Bundeslagebild Menschenhandel 2006-2009 2006 2007 2008 2009 Fälle § 233 a 3 3 3 7 Fälle § 233 78 92 27 24 Tatverdächtige 101 71 k.A. k.A. Davon männlich 36 40 k.A. k.A. Davon weiblich 65 31 k.A. k.A. Anteil nichtdeutscher Tatverdächtiger 55 % (14, ukrainische, 13 russische, 5 türkische) 59 % (ohne Schwerpunkt) k.A. k.A. Anzahl der Opfer 83 101 96 k.A Davon männlich 61 39 55 k.A Davon weiblich 22 62 41 k.A Ausdrücklich er- Gaststättengewerbe, Gaststättengewerbe, Gaststättengewerbe, k.A. wähnte Branchen Private Haushalte Private Haushalte Private Haushalte Quelle: BKA: 2007, 2008, 2009 24 Die Zahlen der Abgeurteilten, d.h. der Personen, gegen die Stafverfahren nach Eröffnung einer Hauptverhandlung rechtskräftig abgeschlossen worden sind, setzt sich aus den Verurteilten und den Personen zusammen, gegen die andere Entscheidungen getroffen wurden Andere Entscheidungen sind u.a. Verwarnung mit Strafvorbehalt, Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung, Absehen von Strafe, Einstellung des Verfahrens und Freispruch. 42 desamt 2009). Im Jahr 2007 wurden insgesamt 13 Angeklagte abgeurteilt, darunter 2 nach Jugendstrafrecht und elf nach allgemeinem Strafrecht. In 6 Fällen erfolgte eine Verurteilung wegen Menschenhandels zur Arbeitsausbeutung. Dabei wurden 3 Freiheitsstrafen und 3 Geldstrafen verhängt. Die Freiheitsstrafen blieben in 2 Fällen im Bereich sechs bis neun Monate und in 1 Fall im Bereich 1-2 Jahre. Im Jahr 2008 wurden insgesamt 25 Angeklagte abgeurteilt, darunter 8 nach Jugendstrafrecht und 17 nach allgemeinem Strafrecht. In 9 Fällen erfolgte eine Verurteilung wegen Menschenhandels zur Arbeitsausbeutung. Dabei wurden 6 Freiheitsstrafen und 3 Geldstrafen verhängt. Die Freiheitsstrafen blieben in einem Fall im Bereich neun bis 12 Monate, in vier Fällen im Bereich 1-2 Jahre und in einem Fall bei 3-5 Jahre (Statistisches Bundesamt 2009: lfd. Reihe). Die verfügbaren Daten zur Strafverfolgung in Deutschland (Statistisches Bundesamt 2009) fügen sich in das weltweite Bild, wonach einem vermuteten großen Dunkelfeld ein sehr kleines Hellfeld eröffneter Ermittlungsverfahren und durchgeführter Gerichtsverfahren gegenüber steht. In Anbetracht der unterstellten Schwere der Tat und der besonderen Aufmerksamkeit ist es bemerkenswert, dass bei den wenigen Verurteilungen zudem die verhängten Strafhöhen niedrig sind. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass Fälle der Sanktionierung der extremen Arbeitsausbeutung unter anderen Straftatbeständen (Schleusung, Lohnwucher) abgeurteilt werden. Eine Klärung könnte hier eine kriminologische Untersuchung bringen. Besonders hinzuweisen ist auf den Anteil an Jugendlichen und Heranwachsenden unter den wegen Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung Abgeurteilten. Es bietet Anlass zur Sorge, dass bei der Anwendung eines Straftatbestands, der zur Bekämpfung grenzüberschreitender organisierter Kriminalität eingeführt wurde, am Ende Jugendliche und Heranwachsende als Täter verurteilt werden. Hier sind weitere Informationen erforderlich, um den Sachverhalt aufzuklären. In einer Gesamtwürdigung lässt sich festhalten, dass Straftatbestand des MH/A in der Bundesrepublik Deutschland faktisch kaum zur Anwendung kommt. 3.4 Deinition der Begriffe Arbeit, Arbeitsausbeutung und MH/A Für unseren Untersuchungszusammenhang soll Arbeit jede Beschäftigung zur Einkommenserzielung (auch in geringem Umfang) oder Wohlstandsmehrung für sich und andere einschließen, auch z.B. Haushaltstätigkeiten, Betteln, Sexarbeit oder strafbare Handlungen wie Ladendiebstahl oder Rauschgiftproduktion. Wir haben allerdings Zwangsprostitution, sexuelle Ausbeutung und strafbare Handlungen im Auftrag anderer im empirischen Teil dieser Untersuchung nicht gezielt recherchiert und Sexarbeit bei der Erörterung der Schätzmöglichkeiten ausgeschlossen. Bei der Deinition von Ausbeutung gehen wir über in der rechtswissenschaftlichen Literatur vertretene Meinungen hinaus, die Ausbeutung als Verhalten bestimmen, das zu einer spürbaren Verschlechterung der Vermögenssituation des Opfers führt oder durch welches der Täter zu Lasten des Opfers übermäßige Vermögensvorteile erlangt (Steen 2007: 667; Eydner 2006: 12). Bei dieser Deinition würde eine Person, die zu deutlich ungünstigeren Bedingungen als in Deutschland üblich beschäftigt wird, dabei aber die eigene wirtschaftliche Situation verbessern kann, weil die Bedingungen im Herkunftsland noch ungünstiger sind oder das Geld überwiegend in einem Herkunftsland mit einer höheren Kaufkraft verwendet wird, keine Verschlechterung erleiden und insofern auch nicht als ausgebeutet gelten. Dagegen nehmen wir als Bezugsrahmen die Situation in Deutschland und wollen unter Arbeitsausbeutung eine Situation verstehen, die sich deutlich von üblichen Zwängen und Beschäftigungsstandards im kompetitiven deutschen Arbeitsmarkt zu Ungunsten der Beschäftigten abhebt. Damit folgen wir § 233 StGB, der neben Sklaverei u. ä. auch die 43 Beschäftigung zu Bedingungen, die in einem auffälligen Missverhältnis zu denen vergleichbarer ArbeitnehmerInnen in Deutschland stehen, unter der Überschrift Arbeitsausbeutung aufführt. Die Deinition eines ‚auffälligen Missverhältnisses’ wird im deutschen Recht sehr weit gefasst. Sie umfasst neben der Verletzung gesetzlich verbindlicher Mindeststandards (Arbeitszeitregelung, Arbeitsbedingungen oder sozialrechtliche Absicherung und Bestimmungen für die Unterbringung von WanderarbeiterInnen) auch sittenwidrige Entgeltleistungen, die von der Rechtsprechung bei einer Entlohnung von weniger als zwei Drittel des tarilich vorgeschriebenen oder ortsüblichen Lohnes angesetzt wird. Da in der Bundesrepublik Deutschland bisher kein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wurde, erweist sich die Bestimmung eines ‚auffälligen Missverhältnisses’ in Branchen mit geringer Tarifbindung als ausgesprochen schwierig, da ersatzweise zuerst das Niveau ortsüblicher Entgeltzahlung als Maßstab ermittelt werden muss, was aufwendig ist und im Ergebnis umstritten sein kann. Ein allgemein verbindlicher Mindestlohn, der eine klare Orientierung auch für prekär und ausbeuterisch Beschäftigte bieten würde, besteht in Berlin und Brandenburg im Augenblick nur in acht Branchen.25 Im Rahmen dieser Untersuchung wird die Zahlung eines sittenwidrigen Lohnes von weniger als zwei Drittel des tarilichen Lohnes bzw. eines extrem niedrigen Lohnes (vgl. dazu konkret Kapitel 3.4) als ein Indikator für ein auffälliges Missverhältnis herangezogen (vgl. Kapitel 4.1). Auffassung die Begriffe ‚Betroffen von MH/A’ und ‚Zwangsarbeitende’ synonym verwenden. Zwangsarbeit ist nur dann gegeben, wenn zu einer Situation der Arbeitsausbeutung das Element der Unfreiwilligkeit hinzukommt, das durch eine andere Person herbeigeführt wird. ArbeitgeberInnen oder VermittlerInnen müssen psychologischen oder gewaltsamen Druck ausgeübt oder manipuliert Informationen gegeben haben und dabei davon ausgegangen sein, dass sich die Person wegen einer Zwangslage oder Hillosigkeit nicht dagegen wehren kann. Für die Bewertung der Umstände ist daher die Täterperspektive relevant und nicht ein späteres tatsächliches Verhalten der Betroffenen. Die Argumentation, dass eine Zwangslage oder Hillosigkeit nicht vorliegt, wenn eine Person sich aus einer Abhängigkeit lösen konnte, ist nicht überzeugend. Wenn jemand gegen seinen Willen gefesselt war, wird auch dann von Freiheitsberaubung ausgegangen, wenn es der gefesselten Person irgendwann gelingt, die Fesseln abzustreifen. Eine andere Frage ist jedoch, wie die Täterperspektive im Einzelfall festgestellt werden kann. Wie dieses Verständnis für unsere Untersuchung operationalisiert wird, erläutert das folgende Kapitel (4.1). Des Weiteren gehen wir davon aus, dass der im deutschen Recht festgelegte Straftatbestand des Menschenhandels zum Zweck der Arbeitsausbeutung im Wesentlichen Konstellationen erfasst, die in der Terminologie der ILO als „Zwangsarbeit“ bezeichnet wird. Insofern lassen sich nach unserer 25 http://www.berlin.de/imperia/md/content/ses-arbeit/tarifregister/mindestlohn_tv_tabelle.pdf?start&ts=1282036199&ile=mi ndestlohn_tv_tabelle.pdf : zuletzt besucht am 30.08.2010 44 Empi rische Bestandsaufnahme der Situa tion 45 4. Empirische Bestandsaufnahme der Situation in Berlin und Brandenburg 4.1 Untersuchungsmethode und Forschungsfeld Um einen ersten Eindruck vom Stand der öffentlichen Wahrnehmung von MH/A in Berlin und Brandenburg zu erhalten, wurden die Archive regionaler Tageszeitungen auswertet (Ergebnisse in Kapitel 4.2). Die zentrale Methode zur Datenerhebung war die Expertenbefragung. Als ExpertIn kam in Frage, „wer in irgendeiner Weise Verantwortung trägt für den Entwurf, die Implementierung oder die Kontrolle einer Problemlösung oder wer über einen privilegierten Zugang zu Informationen über Personengruppen oder Entscheidungsprozesse verfügt“ (Meuser & Nagel 2005: 73). Aufgrund der kurzen Zeit und der beschränkten Ressourcen konnte die Recherche nur explorativ durchgeführt werden. Nicht systematisch angesprochen wurden z.B. VertreterInnen der Organisationen von EinwanderInnen. Zur Ermittlung relevanter ExpertInnen wurden Hinweise der Mitgliedsorganisationen des ‚Berliner Bündnisses gegen Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung’ 46 aufgegriffen und die genannten ExpertInnen bei Gewerkschaften, Beratungsstellen und Behörden kontaktiert. Zur Ermittlung weiterer relevanter ExpertInnen wurden dann nach der Methode des Schneeballsampling (Lee 1993) weitere Hinweise der Befragten aufgenommen. In einer telefonischen Anfrage wurde jeweils geklärt, ob die angesprochenen ExpertInnen aus ihrer Tätigkeit Kenntnisse über Fälle der Arbeitsausbeutung von ArbeitsmigrantInnen schildern können. Insgesamt wurden etwa 60 telefonische Vorgespräche geführt. In rund zwei Dritteln der Fälle erschien ein Interview nicht sinnvoll, weil die GesprächspartnerInnen nach eigenen Angaben keine Erfahrungen zu diesem Thema beitragen konnten. Etwa ein Drittel der auf diesem Weg identiizierten MitarbeiterInnen von Beratungsstellen erbat sich vor der endgültigen Zu- oder Absage des Interviewtermins eine schriftliche Darstellung des Anliegens (per Email), um Rücksprache mit KollegInnen oder Vorgesetzten zu halten. In vier Fällen wurden den Personen auf ihren Wunsch hin das Bestätigungsschreiben der Berliner Senatsverwaltung, sowie die Leitfragen des Interviews vorab zur Verfügung gestellt. Auf diesem Weg wurden im Zeitraum 9. November 2009 bis 8. Januar 2010 insgesamt 16 Interviews mit MitarbeiterInnen von Beratungsstellen für MigrantInnen in Berlin und Brandenburg vereinbart. Weitere vier Interviews wurden telefonisch durchgeführt. Zusätzlich wurden jeweils ein persönliches Interview mit der zuständigen Dezernatsleiterin der Berliner Kriminalpolizei und dem Beauftragten für Menschenhandel bei der Berliner Staatsanwaltschaft geführt. Zusätzlich konnten nach der Vorlage eines ersten Berichtsentwurfes weitere Gespräche mit MitarbeiterInnen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) in Berlin sowie Brandenburg und dem zuständigen Berliner Oberstaatsanwalt im April und Mai realisiert und für die Endfassung des Berichtes berücksichtigt werden. Somit bilden Informationen aus insgesamt 24 problemzentrierten Interviews das Datenmaterial. (Eine Aulistung mit Name des Interview-Partners, Institution/Funktion, Datum des Gesprächs und Bundesland, in dem das Gespräch durchgeführt wurde ist in Anhang 2 do- kumentiert). Die Durchführung der Interviews erfolgte in Anlehnung an die Regeln des problemzentrierten Interviews (Witzel 2000) auf der Grundlage von Leitfragen, um neben der Sammlung von Fallschilderungen auch subjektive Sichtweisen und Deutungsmuster der Sachverhalte und Prozesse zu erhalten. Alle Experteninterviews wurden zur Dokumentation elektronisch aufgezeichnet. Von den Gesprächen wurden ausführliche Inhaltsprotokolle angefertigt, die den InterviewpartnerInnen zur kommunikativen Validierung vorgelegt und von diesen ergänzt und autorisiert wurden. Es wurde zugesichert, dass die Protokolle als Primärdaten nur zu Forschungszwecken verwendet und nicht weiter gegeben werden. Damit wurde auf Bedenken eingegangen, dass sensible Informationen in unberechtigte Hände geraten könnten. Die Aussagen zu MH/A wurden für die Einschätzung des Diskussions- und Wissenstandes der Situation in Berlin und Brandenburg systematisch ausgewertet. Die Vorrecherchen zeigten, dass der in den juristischen und politischen Diskussionen verwendete starke Begriff ‚Menschenhandel’ von vielen angefragten ExpertInnen, die mit der juristischen Diskussion nicht vertraut waren, sehr eng – im Sinne sklavereiähnlicher Verhältnisse – verstanden wurde. Die angefragten öffentlichen Stellen LKA und Staatsanwaltschaften in Berlin waren mit dem Begriff vertraut und zu einem Interview mit dem einschränkenden Hinweis bereit, dass den Behörden aufgrund fehlender Verfahren keine belastbaren Erkenntnisse vorliegen. Mit Verweis auf die Polizeiliche Kriminalstatistik wurde mitgeteilt, dass vor allem ‚normale‘ Arbeitsmarktdelikte aufgedeckt werden, Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung in Berlin aber nicht nachgewiesen werden kann. Skeptisch ielen auch die Reaktionen auf Anfragen bei Beratungsstellen von Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und MigrantInnenorganisationen aus: Es seien zwar zahlreiche Fälle rechtswidriger Ausbeutung oder prekärer Beschäftigung aus der Beratungstätigkeit bekannt, diese würden aber nicht als Menschenhandel angesehen. Daher wurde im Bereich der Beratungsstellen überwiegend bezweifelt, aus der eigenen Arbeit einen konstruktiven Beitrag zur Untersuchung der Erscheinungsformen von MH/A leisten zu können. Nur 47 drei ExpertInnen, die in einem Arbeitszusammenhang mit Fachberatungsstellen für Opfer von Menschenhandel standen und mit dem Straftatbestand MH/A vertraut waren, reagierten nicht ablehnend, sondern verwendeten den Begriff ‚Menschenhandel’ explizit auch zur Beschreibung extremer Ausbeutungsfälle, die sie betreut hatten.26 Somit ergaben die Vorrecherchen, dass das strafrechtliche Menschenhandelskonzept in Berlin und Brandenburg in der Beratungsarbeit praktisch gar nicht und in der Kriminalitätsbekämpfung nicht erfolgreich angewandt wird. Um unserem Auftrag gerecht zu werden, ggf. nicht erkannte Formen von MH/A aufzuspüren, musste ein breiterer Ansatz gewählt werden. In den ersten Kontaktgesprächen wurden daher zunächst bewusst auf die Einführung des Begriffs Menschenhandel verzichtet und stattdessen die Ziele der Studie wie folgt benannt: Die Erhebung der Erscheinungsformen von Arbeitsausbeutung von Migranten und die Umstände, unter denen diese Erfahrung von den Betroffenen selbst zur Sprache gebracht werden. Zur Annäherung an das Feld wurde somit, wie auch in anderen Studien zu diesem Thema, die Anfrage mit dem Thema der ausbeuterischen Beschäftigung eingeleitet. Denn MH/A beinhaltet, dass Arbeitnehmer gegen ihren Willen in eine Situation der Arbeitsausbeutung gebracht werden. Die Überlegung war daher, im ersten Schritt Fallkonstellationen von Arbeitsausbeutung zu identiizieren und dann die Fallschilderungen daraufhin zu betrachten, inwiefern Anzeichen für MH/A vorliegen. Bei der Recherche wurde nach konkreten Fällen von Arbeitsausbeutung gefragt, die als besonders auffällig eingeschätzt wurden. Die inhaltliche Füllung, was unter besonderer Ausbeutung zu verstehen ist, überließen wir unseren Gesprächspartnern, um so zu eruieren, welche Konzeptionalisierung diese ihrer Arbeit zugrunde legen. Erst nach dieser Einführung wurde mit der Erläuterung des Hintergrunds der Studie und der Auftraggeber auch der Begriff Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung eingeführt. Diese Strategie der Einführung in das Feld führte zu folgendem Ergebnis: (1) Handelte es sich bei dem Gesprächspartner um eine Person, die selbst regelmäßigen Umgang mit MigrantInnen hat, die von (extremer) Arbeitsausbeutung betroffen sind, erklärte sie sich, mit einer Ausnahme, immer dazu bereit, über ihre Erfahrungen im Umgang mit Betroffenen zu berichten. (2) Handelte es sich bei dem/der GesprächspartnerIn um eine Person, die selbst keinen regelmäßigen Umgang mit Betroffenen hat, so konnte sie in allen Fällen Hinweise zu anderen Gesprächspartnern geben. Mit Ausnahme derer, die in erster Linie zu arbeitsrechtlichen Fragen beraten, wiesen dann allerdings alle angesprochenen Personen darauf hin, dass die Problematik der Arbeitsausbeutung nicht im Zentrum ihrer Arbeit stehe: „Wir beschäftigen uns eigentlich mit..., Davon erfahren wir nur am Rande“. Dennoch verfügten alle Interviewten über konkrete Erfahrungen und konnten einen unmittelbaren Bezug zum Thema der ‚(extremen) Arbeitsausbeutung von Migranten’ herstellen. Die im Rahmen dieser Studie beschriebenen Fälle basieren fast vollständig auf den Berichten von BeraterInnen und SeelsorgerInnen. Es gibt zwei Ausnahmen: Über die Arbeitsbedingungen chinesischer Spezialitätenköche berichtete uns ein Anwalt, an den die Betroffenen sich direkt gewandt hatten. Der Fall einer lateinamerikanischen Schmuckverkäuferin wurde nach Rücksprache mit der Beraterin von der Betroffenen selbst in einem telefonischen Interview ergänzt. Die Fallsammlung ist nicht repräsentativ. Durch die Auswahl der ExpertInnen sollte sichergestellt werden, dass zumindest alle typischen Fallkonstellationen, die in professionellen Beratungs- und Kontrollstrukturen aulaufen, erfasst werden. Wir gehen davon aus, dass durch zusätzliche Interviews keine weiteren Fallkonstellationen in diesen Feldern ermittelt worden wären. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass bei Einbeziehung zusätzlicher Felder (z.B. ehrenamtlich Aktive in MigrantInnenorganisationen, gewerkschaftskritische Initiativen oder RechtsanwältInnen mit anderen nationalen Schwerpunkten) Hinweise auf weitere Erscheinungsformen der Arbeitsausbeutung ermittelt worden wären. 26 Siehe auch: http://www.ban-ying.de/modernesklaverei/ : zuletzt besucht am 30.08.2010 48 Ausreichend detaillierte Fallschilderungen in Gesprächen wurden in eine Falltabelle übertragen (siehe Anhang 3). Dies sollte dazu dienen, erstens einen Überblick zu gewinnen und zweitens zu prüfen, ob sich für Schätzansätze relevante Informationen mit dieser Methode gewinnen lassen (vgl. Abschnitt 5.) Zu jedem Fall wurden individuelle Merkmale notiert (Alter, Geschlecht, Herkunftsland oder -region, Aufenthaltsstatus). In Bezug auf das nach Einschätzung der GesprächspartnerInnen ausbeuterische Arbeitsverhältnis wurden der Tätigkeitsbereich bzw. die Branche, die Dauer des Arbeitsverhältnisses und das Jahr der Beendigung vermerkt. Sechs Indikatoren wurden gebildet, um Art und Form der Ausbeutung der Ausübung von Zwang zu erfassen: 1. Wurde Gewalt angewendet oder angedroht, um die Person zur (Weiter-)Arbeit zu zwingen? 2. Wurde die Person eingesperrt, bewacht oder auf andere Weise in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt? 3. War der einvernehmlich vereinbarte Lohn extrem niedrig (2 Euro pro Stunde und weniger, 25 Euro pro Tag und weniger, 500 Euro pro Monat in Vollzeitbeschäftigung und weniger)? 4. Wurde der vereinbarte Lohn durch intransparente Abzüge für Miete, Schulden, Lebensunterhalt und ähnliches reduziert oder durch unvereinbart eingeforderte Überstunden auf ein extrem niedriges Niveau gesenkt? 5. Wurde der vereinbarte Lohn nicht oder nur in kleinen Vorschüssen ausgezahlt? 6. Wurde der Arbeitsschutz in stark gesundheitsgefährdender Form missachtet (z.B. Rund-UmDie-Uhr-Beschäftigung, lebensgefährdende Vernachlässigung von Sicherheitsvorschriften)? Die erhobenen Fallbeschreibungen differieren stark hinsichtlich der enthaltenen Details. In den Interviews wurden insgesamt 47 Fälle in 15 verschiedenen Branchen geschildert. Davon lassen sich 36 Fälle als Arbeitsausbeutung im Sinne unserer Konzeptionalisierung in 3.4 beschreiben, das heißt die Arbeitsbedingungen wiesen mindestens ein erhebliches Missverhältnis zu anderen vergleichbaren Beschäftigungsverhältnissen auf. Die anderen elf geschilderten Fälle betrafen Diskriminierung am Arbeitsplatz, Probleme mit Behörden und ähnliche Aspekte. Zur weiteren Bearbeitung des Materials wurde eine Sammlung der dargestellten Fällen angelegt, die zur Auswertung der Merkmale und Charakteristika in speziischen Branchen diente. Die Übersicht der Fallschilderung und die Zuordnung nach Branchen bietet die Fallübersicht im Anhang 3. 4.2 Öffentliche Aufmerksamkeit für MH/A Berlin, mehr noch als Brandenburg, ist durch episodische Berichte als Tatort für MH/A bekannt geworden. Dennoch ist die öffentliche Thematisierung und das Bewusstsein für das Thema „Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung“ in Berlin und Brandenburg jenseits eines kleinen Kreises von Institutionen, die sich aufgrund ihrer Zuständigkeit damit befassen, eher gering. Diese Einschätzung wird durch die Auswertung von Presseberichten über Menschenhandel in Berlin bestätigt. Dabei zeigt sich, dass der Begriff Menschenhandel seit 2005 in der Presse auch für Tatbestände verwendet wird, die nicht sexuelle Ausbeutung (Zwangsprostitution, Zuhälterei) betreffen. Hier hat es eine Veränderung zur früheren Verwendung des Begriffs Menschenhandel gegeben. Allerdings ist auch festzustellen, dass der Begriff Menschenhandel in der Presse nicht im Sinne der strafrechtlichen Bedeutung nur für Fälle der sexuellen und Arbeitsausbeutung verwendet werden, sondern auch als Synonym für irreguläre Migration oder Menschenschmuggel (Schleusungsdelikte). (Beispiel im Kasten 4). Berichte über Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung machen nur einen sehr kleinen Anteil der Berichterstattung aus und betreffen vereinzelte, aber spektakuläre Fälle. Breite Aufmerksamkeit erhielt der Fall einer äthiopischen Spezialitätenköchin (Die Zeit 2009). Weiterhin ist auf die als Menschenhandel angeprangerten Fälle der ausbeuterischen Beschäftigung von Haushaltsangestellten in privaten Haushalten von Botschafts- 49 angehörigen hinzuweisen.27 In beiden Fallkonstellationen hat eine aktive Öffentlichkeitsarbeit von NGOs zur Berichterstattung und überregionalen Aufmerksamkeit beigetragen. Der Umfang der Berichterstattung ist eher als Indikator für eine erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit von Verbänden und Behörden zu betrachten denn als Darstellung der sozialen Realität. Es ist nicht möglich, von der Wahrnehmung und der Berichterstattung über das Phänomen auf die empirische Verbreitung von MH/A zu schließen. Das geringe öffentliche Interesse am Tatbestand MH/A lässt sich dadurch erklären, dass es bisher – anders als bei Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung und bei Schleusung – kaum öffentlichkeitswirksame erfolgreiche Ermittlungs- und Gerichtsverfahren gegeben hat. Hinzu kommt, dass sich auch zuständige Behörden noch nicht systematisch mit MH/A befassen. Kasten 4: Das Stichwort „Menschenhandel“ in der Berliner Presse Unter dem Stichwort „Menschenhandel“ veröffentlichte die Berliner Morgenpost am 24. September 2009 einen Artikel mit der Überschrift: „Schlag gegen Vietnamesische Schlepperbande.“ Weiter heißt es: „Die Bundespolizei hat in Berlin eine Gruppe vietnamesischer Schlepper ausgehoben. Pro Menschenschmuggel kassierte die Bande rund 25 000 Euro. Erst am Mittwoch war ihnen ein Schlag gegen einen internationalen Schleuserring gelungen.“ Im Text wird informiert, dass der Vorwurf auf gewerbs- und bandenmäßiges Einschleusen von Ausländer lautet. Auch der Tagesspiegel veröffentliche am 23. September 2009 unter dem Stichwort „Menschenhandel“ einen Artikel mit der Überschrift: „Internationaler Schleuserring ausgehoben“, in dem es um die Aufdeckung einer Gruppe von Menschenschmugglern ging. Am 21. April 2009 veröffentlichte der Tagesspiegel unter dem Stichwort „Prozess“ einen Artikel unter der Überschrift: „Menschenhandel: Vietnamesin gesteht.“ In dem Artikel wird dann deutlich, dass es sich bei der Anklage um den Vorwurf der bandenmäßigen Schleusung handelt. Diese Beispiele zeigen, dass in der öffentlichen Darstellung und Wahrnehmung der Begriff „Menschenhandel“ auch zur Bezeichnung von Menschenschmuggel verwendet indet. Die rechtlich getrennten Sachverhalte irreguläre Migration, Schleusung und Menschenhandel werden in der Presse vermengt und das Bild erzeugt, dass irreguläre Migration und Schleusung letztlich nur Varianten oder Vorstufen des Menschenhandels darstellen – und als solche entschieden bekämpft werden müssten. Vor diesem Hintergrund ist es nicht möglich, Medienberichte über Verdachtsfälle von Menschenhandel ohne genauere Informationen als Hinweise auf das Vorliegen von Menschenhandel im Sinne des Gesetzes zu deuten. 27 Prasad 2003; Schwab 2008; Repinski 2008; Kohl 2008; Meixner 2001; Aden & Börnhof 2007; Emmerich 2008 50 4.3 Darstellung der Erkenntnisse von Behörden In diesem Kapitel werden wir die Erkenntnisse relevanter Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden darstellen. Wegen der begrenzten zeitlichen und personellen Ressourcen haben wir uns bei der Recherche auf das Berliner Landeskriminalamt und die Berliner Staatsanwaltschaft sowie die Finanzkontrolle Schwarzarbeit für Berlin und Brandenburg beschränkt. Wir haben darauf verzichtet, das Landeskriminalamt und die Staatsanwaltschaft in Brandenburg zu befragen, da die Polizeiliche Kriminalstatistik für das Land Brandenburg für die Jahre 2006-2009 nur für das Jahr 2006 zwei Ermittlungsfälle wegen des Verdachts auf MH/A auswies. Für die Polizei in Brandenburg spielt MH/A faktisch keine Rolle. Ein deutlich anderer Eindruck ergab sich für die Berliner Kriminalpolizei, bei der sich auch ein operatives und organisatorisches Interesse an der Bearbeitung der Straftatbestände des Menschenhandels feststellen ließ. Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung wird im Rahmen des Dezernats 42 Organisierte Kriminalität ermittelt. Im Rahmen des Dezernats 25 Gewerbekriminalität ist das Kommissariat 256 schwerpunktmäßig mit Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung befasst. Es wurde somit ein Sonderkommissariat eingerichtet. In dem Interview erklärte die zuständige Dezernatsleiterin, dass MH/A vom Ansatz her ein wichtiges Delikt darstellt. Wenn Verdachtsfälle aufträten, würden alle Kapazitäten darauf verwendet. Die praktische Bedeutung des Delikts Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung sei für die aktuelle Polizeiarbeit aber gering. In Berlin wurden zwischen 2005 und 2009 insgesamt 98 Ermittlungsverfahren wegen MH/A eröffnet, wobei es allerdings bisher nur in einem einzigen Fall zur Aburteilung durch ein Gericht kam. Deutlich wird aus den Angaben der polizeilichen Kriminalstatistik ein kontinuierlicher Rückgang der eröffneten Ermittlungsverfahren (siehe Tabelle 3). Die verfügbaren Angaben zeigen zunächst einmal, dass das Delikt in der Berliner PKS nicht systematisch ausgewiesen wird. Auch wenn die geringe Fallzahl keine seriöse statistische Auswertung zulässt, so wollen wir doch einige Beobachtungen festhalten. Auffällig ist im ersten Jahr der statistischen Erfassung eine – im Vergleich für die gesamte Bundesrepublik (78) – sehr hohe Zahl von 54 eingeleiteten Ermittlungsverfahren. Damit führte das Berliner LKA im Jahr 2006 mehr als 2/3 aller bekannt gewordenen Ermittlungsverfahren wg. § 233 StGB in Deutschland. Weiterhin ist auffällig, dass die Zahl in den folgenden Jahren stark zurückging, obwohl die Ermittlungsverfahren bundesweit im Jahr 2007 um 18 Prozent auf 92 angestiegen waren. Offensichtlich gab es in den Anfangsjahren nach der Einführung des Straftatbestandes Unterschiede in der Herangehensweise der Landeskriminalämter. Die Aufklärungsquote, also das Verhältnis der Fälle, in denen ein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte zu allen der Polizei bekannt gewordenen Verdachtsfällen, war anfänglich sehr hoch und ging im Jahr 2008 dramatisch von 100 auf 42,9 Prozent zurück und betrug 2009 wieder 100 Prozent. Welche Gründe jeweils vorliegen, ist nicht bekannt. Allerdings ist zu betonen, dass bei einer kleinen Fallzahl Einzelfälle die Quoten nachhaltig beeinlussen und daher keine generalisierenden Aussagen gemacht werden können. 2006 weist die Statistik mit 74% einen hohen Anteil weiblicher Tatverdächtiger aus – dies sollte über Vorstellungen bezüglich der Tätermerkmale nachdenken lassen (Aronowitz 2009, UNODC 2009). Die Entwicklung der Zahlen deutet darauf hin, dass der § 233 StGB beim LKA Berlin recht früh besondere Aufmerksamkeit erhielt, dann aber die Eröffnung von Ermittlungsverfahren stark zurückgeführt wurde. Im Gespräch mit der zuständigen Dezernatsleiterin wurden mögliche Ursachen für diese Entwicklungen angesprochen. Ein möglicher Hintergrund für den Rückgang der Eröffnung von Ermittlungsverfahren wurde darin gesehen, dass im entsprechenden Zeitraum die Finanzkontrolle Schwarzarbeit mit ihren polizeiähnlichen Kompetenzen alle verdachtsunabhängigen Außenprü- 51 Tabelle 3: Informationen aus der Berliner PKS zu Menschenhandel 2006-2009 2006 2007 2008 2009 Fälle § 233 a 2 7 4 1 Davon wg. Arbeitsausbeutung k.A. 1 0 0 Fälle § 233 54 34 7 3 Davon 233 Abs. 1 54 31 7 3 Gewerbs- und bandenmäßiger Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft k.A. gemäß § 233 Abs. 3 mit Verweis auf § 232 Abs. 3 Nr. 3 StGB 3 k.A. 3 Aufklärungsquote 100 % 42,9 % 100 % 98,1 % Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik Berlin 2006-2009 fungen übernommen hat, während die zuvor zuständige Arbeitsmarktinspektion der Agentur für Arbeit bei Straftaten die Polizei zur Unterstützung holen musste. Weiterhin wurde argumentiert, dass die MitarbeiterInnen der Polizei hinreichend sensibilisiert und geschult seien, um bei Hinweisen auf Arbeitsausbeutung und Menschenhandel das spezialisierte Kommissariat zu kontaktieren und sich beraten zu lassen. Es sei allerdings so, dass die Hinweise in der Regel nicht ausreichen, um einen Anfangstatverdacht zu erhärten. Ein Grundproblem bestehe darin, dass die Betroffenen keine bzw. keine beweissicheren Angaben über die Umstände der Beschäftigung machen würden. Wenn Hinweise auf einen Anfangstatverdacht wegen MH/A vorliegen, bleibe das Problem der Nachweisbarkeit. Nur in einem einzigen Fall sei in Berlin ein Strafbefehl wegen MH/A erreicht worden. Mit Verweis auf die fehlenden Verurteilungen wurde die Vermutung geäußert, dass zumindest in Berlin Fälle der Arbeitsausbeutung, die den Tatbestand des § 233 StGB nachweisbar erfüllen, so gut wie gar nicht vorkommen. Einerseits bewirke eine hohe Kontrolldichte in Verbindung mit einer hohen Strafandrohung eine abschreckende Wirkung. Da es in Berlin zudem eine große Anzahl von WanderarbeiterInnen und Arbeitslosen gebe, die auch freiwillig zu deutlich ungünstigeren Bedingungen arbeiten, sei die Ausübung von Zwang und Gewalt zur Durchsetzung ausbeuterischer Beschäftigung nicht erforderlich. Der Bereich der Beschäftigung in privaten Haushalten, die einen besonders geschützten Bereich bilden und nicht einfach kontrolliert werden dürfen, sei unter Umständen ein Bereich, in dem entsprechende Arbeitsverhältnisse vorstellbar wären. Allerdings wurde betont, dass die Polizei durch Hinweise davon erfahren müsste, wenn es sie geben würde. Betont wurde, dass man jedem Verdacht auf MH/A Vorrang geben und intensiv ‚anermitteln’ würde. Insgesamt wurde auf Seiten der zuständigen Polizeimitarbeiterin aber eine starke Skepsis deutlich, dass die mit dem § 233 StGB deinierten Tathandlungen in Berlin und Brandenburg überhaupt auftreten. Die für Arbeitsmarktkontrollen zuständige Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) veröffentlicht keine Angaben zu Erkenntnissen zum Straftatbestand MH/A. Im Interview mit MitarbeiterInnen der FKS in Berlin und Brandenburg wurde 52 betont, dass die Dienstvorschrift vorsieht, dass einem Verdacht auf MH/A vorrangig nachgegangen werden muss. Allerdings ist es so, dass der Auftrag der FKS bei Arbeitsmarktkontrollen in der Aufdeckung anderer Delikte, insbesondere Beitrags- und Steuerhinterziehung sowie Mindestlohnverstöße, besteht. Der Straftatbestand MH/A wird im Informationsverarbeitungssystem PROBIS auch nicht als eigener Schlüssel, sondern nur unter der Restkategorie ‚Sonstiges’ aufgenommen und kann daher auch nicht dargestellt werden. Die insgesamt vier bei dem Gespräch anwesenden FKSMitarbeiterInnen erklärten aber deutlich, dass die Kontrollen in Berlin und Brandenburg prinzipiell keine Verdachtsfälle auf MH/A ergeben. In Fällen, die Anhaltspunkte für das Vorliegen von MH/A aufwiesen, konnte kein hinreichender Anfangsverdacht begründet werden, da die Betroffenen keine Angaben machten. Die quantitativ häuigs- ten Delikte würden Schwarzarbeit, Leistungsbetrug und Beitragshinterziehung (§ 266a StGB) ausmachen. Dagegen würden Ermittlungsverfahren mit einem aufenthaltsrechtlichen Bezug, der eventuell durch das Merkmal der auslandsspeziischen Hilflosigkeit einen Anknüpfungspunkt für § 233 StGB bietet, gerade einmal 1-2 Prozent aller Ermittlungsfälle in Berlin und Brandenburg betreffen. Durch Brandenburg, so wurde argumentiert, würden ausländische ArbeitnehmerInnen nur durchreisen. Denn es gäbe genügend Einheimische, die als arbeitslos Gemeldete bei laufendem Leistungsbezug eine sehr niedrig entlohnte Beschäftigung unangemeldet ausüben. In der Landwirtschaft wären die angebotenen Arbeits- und Lohnbedingungen für die beschäftigten Saisonarbeitskräfte gut. Die Großbaustelle in Berlin und Brandenburg würde so gut kontrolliert, dass Subunternehmen, die Vorschriften unterlaufen würden, keine Angebo- 53 te einreichen. Auch für Berlin wurde betont, dass der Tatbestand MH/A bei Kontrollen nicht aufgedeckt werden kann. Es wurde allerdings betont, dass die MitarbeiterInnen sensibilisiert seien, wie die Ausarbeitung und Anwendung eines Zusatzfragebogens bei der Überprüfung in Restaurants belege. Mit dem Zusatzfragebogen wird im Verdachtsfall u. a. dokumentiert, wo der Pass aufbewahrt wurde, wo und zu welchen Bedingungen die Unterbringung erfolgte; wie die Beschäftigten reagierten. Die MitarbeiterInnen der FKS zeigten sich aufgeschlossen gegenüber der Zusammenarbeit mit Fachberatungsstellen und erklärten, dass Beschäftigte in Einzelfällen auch auf Beratungsstellen hingewiesen werden. Auch die Bereitschaft zur Beteiligung an Fortbildungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen wurde erklärt. Allerdings wurde auch eine große Skepsis deutlich, dass damit Ermittlungserfolge im Bereich MH/A erzielt werden könnten. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass sich ein Anfangsverdacht nicht erhärten lässt, weil die Beschäftigten keine Aussagen machen. Dazu wurden exemplarisch Beispiele angeführt. In einem Fall war bei einer Kontrolle aufgedeckt worden, dass zwei indische Spezialitätenköche zu deutlich ungünstigeren Beschäftigungs- und Lohnbedingungen gearbeitet hatten. Im Laufe der Ermittlung gaben sie allerdings nachträglich zu Protokoll, dass sie um eine Arbeitszeitreduzierung gebeten hätten und der Stundensatz daher der vorgeschriebenen Lohnhöhe entspreche. Daraufhin mussten die Ermittlungen zum Nachweis einer Ausbeutung der Spezialitätenköche und der Beitragshinterziehung eingestellt werden. Auch für Brandenburg wurde von einem Ermittlungsverfahren berichtet, in dem wegen des Verdachts auf Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung in der Prostitution ermittelt wurde. Die vernommenen Frauen hätten jedoch erklärt, dass sie nicht ausgebeutet werden und wollten zur Wiederaufnahme der Beschäftigung in das Bordell zurückkehren. Insgesamt ergab sich der Eindruck, dass der Tatbestand des MH/A von FKS-MitarbeiterInnen – unter dem Eindruck der von außen kommenden Anfragen – durchaus beachtet wird, aber in der praktischen Arbeit keine Relevanz hat. Es wurde betont, dass bei Hinweisen auf MH/A die Staatsanwaltschaft informiert würde, die dann über das weitere Verfahren entscheide. Die Staatsanwaltschaft wurde sowohl von den MitarbeiterInnen der Polizei als auch der FKS als die entscheidende Instanz benannt, die über die Einleitung von Ermittlungsverfahren und Erhebung einer Anklage wegen § 233 StGB entscheidet. Der für Arbeitsmarktdelikte zuständige Berliner Oberstaatsanwalt erklärte, dass eine Verfolgung des § 233 StGB grundsätzlich anderen Straftatbeständen (wie Lohnwucher) vorgehe. Allerdings komme dem Straftatbestand praktisch nahezu keine Bedeutung zu und sei zur strafrechtlichen Sanktionierung von Arbeitsmarktdelikten auch nicht erforderlich. Strafwürdige Handlungen werden auch von anderen Straftatbeständen wie Lohnwucher (§ 291 StGB) und Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt (§ 266a) mit einer angemessenen Strafe bedroht, wobei die Situation der betroffenen ArbeitnehmerInnen bei der Strafzumessung berücksichtigt wird. Um Anklage wegen MH/A erheben zu können, muss der konkrete Tatverdacht bestehen, dass eine Zwangslage oder auslandsspeziische Hillosigkeit ausgenutzt wird. Dabei sei ein Ausländer, der hier in unzureichenden Arbeitsbedingungen arbeitet, aber schon eine Weile hier wohnt – sei es legal oder illegal – und sich relativ gut verständigen kann, nicht mehr in diesem Sinne als hillos anzusehen. Auch wenn jemand unter Vortäuschung falscher Rahmenbedingungen nach Deutschland gelockt worden sei, komme es auf die Umstände im Einzelfall an: Welche Möglichkeiten hat die Person, sich aus der Beschäftigung zu lösen? Zum Nachweis der Zwangslage oder Hilflosigkeit müsse man ziemlich weit gehende Motivforschung betreiben. Man könne aber nicht in die Köpfe geschädigter Personen hineinschauen. Diese müssten auch bereit und in der Lage sein, sehr umfassend Auskunft zu geben und die ganzen Umstände zu schildern. Und dann müsse geprüft werden, ob die Angaben glaubwürdig sind und zur Realität passen. Im Einzelfall kann fälschlicherweise der Eindruck eines Missverhältnisses zu den Bedingungen anderer ArbeitnehmerInnen bestehen, weil die gewährte freie Kost und Logis nicht ausreichend beachtet wurde. Vor Erhebung einer Anklage müsse sehr genau geprüft werden, da ein Verfahren wegen Menschenhandel zum Zweck 54 der Arbeitsausbeutung erhebliche Folgen für den Angezeigten haben kann. Diese Rechtsauffassung war auch gegenüber dem Berliner Landeskriminalamt verdeutlicht worden, das nach Einführung des Straftatbestands eine Sonderzuständigkeit eingerichtet hatte und den Straftatbestand breit anwenden wollte. Die Staatsanwaltschaft sei damals bei der rechtlichen Beurteilung der vorgetragenen Sachverhalte den Weg der Polizei nicht mitgegangen, den § 233 StGB tatbestandsmäßig häuiger als erfüllt anzusehen. Im Gespräch mit dem Beauftragten für Menschenhandel bei der Berliner Staatsanwaltschaft wurden als Grundprobleme der Strafverfolgung des MH/A die Komplexität des Straftatbestands und die hohe Anforderung an die Nachweisbarkeit genannt. Insbesondere der Nachweis der Ausnutzung einer Zwangslage oder auslandsspeziischen Hillosigkeit sei oftmals nur möglich, wenn die Betroffenen selber Aussagen machen und als Zeugen zur Verfügung stehen. Dies sei nur in sehr wenigen Ermittlungsverfahren gegeben. Dabei ergäbe sich aber das nachfolgende Problem, dass die Zeugenaussagen vor Gericht nicht immer Bestand haben. Es könne sein, dass Betroffene unzutreffende Aussagen machen, um sich selbst vor Strafverfolgung zu schützen. Es könne auch vorkommen, dass ZeugInnen mit ihren Aussagen nicht vollkommen überzeugend seien. In Verfahren ohne objektive Beweismittel komme es aber darauf an, dass die Aussagen der ZeugInnen als „subjektives Beweismittel“ vollkommen überzeugend sind. Wenn auch nur ein geringer Zweifel besteht, wird das Gericht für den Angeklagten entscheiden. StrafverteidigerInnen versuchten daher in Menschenhandelsverfahren gezielt, die Glaubwürdigkeit der ZeugInnen zu erschüttern. Angesichts der hohen Ansprüche an die Nachweisbarkeit und der Komplexität des Straftatbestands sei es aus prozessökonomischen Erwägungen daher geboten, in diesen Fällen Straftatbestände wie Schleusung (§ 96 AufenthG), Lohnwucher (§ 291 StGB) oder Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt (§ 266a StGB) anzuklagen, die mit höherer Wahrscheinlichkeit zu einer Verurteilung führen. Die behördlichen Informationen verdeutlichen die Schwierigkeiten, den § 233 StGB zur Anwendung zu bringen. Es ist bemerkenswert, dass die Berliner Kriminalpolizei zeitnah zur Einführung des Straftatbestands Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung ein spezialisiertes Kommissariat einrichtete und beim Vorliegen von Anhaltspunk- 55 ten ein Ermittlungsverfahren wegen § 233 StGB anstrebte. Von der Staatsanwaltschaft wurde diese Linie jedoch nicht mitgetragen, sondern eine Fokussierung auf andere, weniger aufwändig nachzuweisende Straftatbestände im Zusammenhang mit illegaler Beschäftigung beibehalten. Auch die Senatsverwaltung für Arbeit und die für Arbeitsmarktkontrollen primär zuständige Finanzkontrolle Schwarzarbeit konzentrierten sich auf die Bekämpfung illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit. Wenn sich dabei Hinweise auf die Straftatbestände MH/A und Lohnwucher ergäben, würden diese vorrangig verfolgt. Sowohl von den Mitarbeiterinnen der Polizei als auch der FKS wurde eine Bereitschaft erklärt, bei Vorliegen von Anhaltspunkten Ermittlungen wegen MH/A einzuleiten und mit Opferschutzorganisationen zusammen zu arbeiten. In der Praxis lässt sich aber auch bei Vorliegen von Anhaltspunkten kein hinreichender Anfangstatverdacht begründen, weil die dafür erforderlichen Aussagen geschädigter ArbeitnehmerInnen nicht gewonnen werden können. Betont wurde die Erfahrung, dass Betroffene in ungünstigere Beschäftigungs- und Lohnverhältnisse eingewilligt hätten. Insgesamt bestand bei den Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden eine große Skepsis, ob es überhaupt in nennenswertem Umfang Fälle gibt, in denen die Entscheidungsfreiheit, über die eigene Arbeitskraft zu verfügen, durch Ausnutzung einer Zwangslage oder auslandsspeziischen Hillosigkeit verletzt würde. Weiterhin wurde unter Hinweis auf die besonderen Anforderungen, die mit der Nachweisführung von MH/A und Lohnwucher verbunden sind, auf die arbeitsökonomisch gebotene Anwendung weniger anspruchvoller Straftatbestände hingewiesen, durch die eine angemessene Strafzumessung erreicht wird. Somit lässt sich festhalten, dass die Ergebnisse der Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden vor allem die Orientie- rung der Behörden auf Anwendung effektiver zu handhabender Straftatbestände dokumentieren, aber keine Rückschlüsse auf Ausmaß und Erscheinungsformen ausbeuterischer Beschäftigung in Berlin und Brandenburg zulassen. Die hier dargestellten Erkenntnisse der Strafverfolgungs- und Kontrollbehörden bieten der zuständigen Senatsverwaltung für Arbeit bisher keine hinreichende Begründung, das Thema MH/A schwerpunktmäßig aufzugreifen. Im Wirtschaftsund Arbeitsmarktbericht28 des Berliner Senats (2009) wird ausschließlich über die ergriffenen Maßnahmen und Ergebnisse der Bekämpfung illegaler Beschäftigung berichtet. In der Darstellung der operativen Maßnahmen zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung wird auf Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung nicht eingegangen29 und ggf. mögliche Schutzmaßnahmen werden nicht erwähnt (Senatsverwaltung für Wirtschaft Technologie und Frauen & Senatsverwaltung für Integration Arbeit und Soziales 2009). In der aktuellen Ausgabe30 des Wirtschafts- und Arbeitsmarktbericht (Senatsverwaltung für Wirtschaft Technologie und Frauen & Senatsverwaltung für Integration Arbeit und Soziales 2010) wird im Kapitel über Informationen zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung auch auf den Start des “Berliner Bündnisses gegen Menschenhandel zwecks Arbeitsausbeutung“ (BBGM) im Sommer 2009 hingewiesen. Nicht eingegangen wird in diesem Zusammenhang auf die bereits bestehenden Erfahrungen und Initiativen, die bei Berliner Behörden im Bereich der Maßnahmen zur Bekämpfung des Menschenhandels zur sexuellen Ausbeutung und zum Schutz der Opfer von sexueller Ausbeutung bestehen. Hier werden bereits eine Reihe von Maßnahmen durchgeführt und inanziert,31 die inzwischen auch 28 http://www.berlin.de/imperia/md/content/sen-wirtschaft/publikationen/berichte/wab2009.pfd?start&ts=1279279682&ile=w ab2009.pdf : zuletzt besucht am 30.08.2010 29 Der Begriff Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung wird nur einmal in einer Graik ohne weitere Erläuterung verwendet. 30 http://www.berlin.de/imperia/md/content/sen-wirtschaft/publikationen/berichte/wab2010.pfd?start&ts=1279279682&ile=w ab2009.pdf : zuletzt besucht am 30.08.2010 31 http://www.berlin.de/sen/frauen/gewalt/frauenhandel.html : zuletzt besucht am 30.08.2010 56 Opfer von Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung ansatzweise einbeziehen, sich dabei aber vor allem an Migrantinnen richten, die Opfer von Arbeitsausbeutung werden. Nach den Erfahrungen mit einem Verdachtsfall wurden Absprachen zwischen Behörden und Fachberatungsstellen für Opfer von Menschenhandel getroffen, dass die Polizei bei Verdacht auf MH/A die zuständigen Stellen der Sozialbehörden und die gewerkschaftliche Beratungsstelle informieren, die für das Opfer von MH/A eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4a AufenthG sowie Sozialleistungen beantragen. Es gibt bisher für den Bereich MH/A keine Gesamtstrategie, die dem Vorgehen im Bereich MH/S entsprechen würde (Follmar-Otto & Rabe 2009: 61). Tatsächlich präferiert die Senatsverwaltung für Arbeit einen breiteren Ansatz, der nicht auf extreme Ausbeutung beschränkt bleibt, sondern prekäre und ungünstigere Beschäftigungsverhältnisse in allen Erscheinungsformen erfasst. Die Senatsverwaltung für Arbeit vertritt unter Hinweis auf die bisher vorliegenden Erkenntnisse von Strafverfolgungsbehörden und zivilgesellschaftlicher Stellen die Position, dass Ausbeutungsverhältnisse, die sich u. U. unter § 233 StGB subsumieren lassen, für Berlin im größeren Umfang nicht feststellbar sind. Die Tatbestände des Menschenhandels zum Zweck der Arbeitsausbeutung werden als eine (extreme) Form prekärer Beschäftigungsverhältnissen angesehen, durch die geltende Standards verletzt und eine Abwärtsspirale des Lohndumpings in Gang gehalten wird, die zu einer nicht akzeptablen Erosion und Abwärtsspirale der allgemeinen sozialen Standards in der Beschäftigung insgesamt führt. Um einer solchen Dynamik des Lohndumpings entgegenzuwirken, setze die Senatsverwaltung für Arbeit auf Aufklärung über geltende Rechte und Ansprüche für Beschäftigte. Im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit kläre die Berliner Senatsverwaltung auf ihrer Website auch über den Tatbestand MH/A auf,32 habe darüber hinaus aber noch keine gezielten Aktivitäten durch- geführt. Arbeitsverhältnisse, die den Tatbestand MH/A erfüllen, seien aber in den Aktivitäten zur Förderung fairer Arbeitsbedingungen mit einbezogen. Auf ihren Websites bietet die Senatsverwaltung ausführliche Informationen für Beschäftigten an, die auch für die Identiizierung und Selbstidentiizierung möglicher Opfern von Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung grundlegend sind. Die angebotenen Informationen über gesetzliche Mindestbedingungen bei der Beschäftigung (Arbeitsschutz, Urlaubsanspruch, Arbeitszeitbestimmungen etc.) und bestehende Mindestlohnregelungen, die tatsächlich die Voraussetzung zur Feststellung ein auffälligen Missverhältnisses bilden, werden als elementarer Beitrag zur Bekämpfung auch des MH/A betrachtet. Betont wird die Möglichkeit, Verdachtsfälle auf elektronischem Wege auch anonym melden zu können. Inzwischen wird aber auch erkannt, dass ein ‚Anbieten’ von Informationen über Rechte und Ansprüche von Beschäftigten durch eine Website allein nicht Ziel führend ist. Die angebotenen Informationen sind für Laien nicht leicht nachvollziehbar. Daher werden aktuell Konzepte zur Initiierung und Aktivierung von Netzwerken angedacht, die eine alltagsnahe Verbreitung und Vermittlung der Information über bestehende Rechte und die Möglichkeiten der Durchsetzung ermöglichen. Mit der Initiierung von alltagsnahen und niedrigschwelligen Informations- und Beratungsangeboten würden auch potentielle Opfer von Menschenhandel in die Unterstützung einbezogen. Die Senatsverwaltung für Arbeit erkennt die Notwendigkeit, Beratung und Unterstützung auch für ausländische WanderarbeitnehmerInnen zu gewährleisten und in eine - auch im Zusammenhang mit der Umsetzung der Arbeitgebersanktionenrichtlinie zwingend weiter zu entwickelnde - systematische Gesamtstrategie einzubauen.33 Insgesamt präferiert die Senatsverwaltung einen breiteren Ansatz, der auf Information aller von Ar- 32 http://www.berlin.de/sen/arbeit/schwarzarbeit/menschenhandel/index.html : zuletzt besucht am 30.08.2010 33 In Zusammenhang mit der Umsetzung der Arbeitgebersanktionenrichtlinie werden die Mitgliedsstaaten verplichtet, für unangemeldet beschäftigte Arbeitnehmer aus Drittstaaten Informationen und Rechtsschutz zu gewährleisten. 57 beitsausbeutung betroffenen Beschäftigten abzielt und auf Einbeziehung intermediärer Akteure im Arbeitsmarkt und in der Beratung setzt. Dabei wird das bestehende Spannungsfeld zwischen der Unterstützung der Opfer von Ausbeutung und der Strafandrohung für Personen, die unangemeldet beschäftigt werden oder sich ohne erforderliche Erlaubnisse in Deutschland aufhalten, als Herausforderung für die Konzeptentwicklung gesehen. Die Ausrichtung des Runden Tisches zur Bekämpfung des Menschenhandels zum Zweck der Arbeitsausbeutung wird als eine Möglichkeit erachtet, eine Strategie der Stärkung von Rechtssicherheit und Konliktfähigkeit aller Beschäftigten zu entwickeln und breiter zu verankern. Ausdrücklich erwünscht seien innovative Vorschläge für die Umsetzung breiter gefasster Ansätze zur Verhütung prekärer und ausbeuterischer Beschäftigung. Die im folgenden Abschnitt dargestellten Erfahrungen mit den seit den 1990er Jahren in Berlin durchgeführten Initiativen zur Stärkung der Rechtssicherheit und Konliktfähigkeit von zugewanderten ArbeitnehmerInnen sowie weitere bestehende Vorschläge zur Optimierung eines unterstützenden Ansatzes (z.B. Vogel 2006) bieten für die Konzeptentwicklung Anregungen und Orientierungen. 34 Vgl. dazu Bundestagsdrucksache 17/2282 vom 24.06.2010 4.4 Informationen aus der Beratungsarbeit Im vorhergehenden Kapitel wurde deutlich, dass bisher Maßnahmen zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung und Verfolgung unangemeldet Beschäftigter wegen Schwarzarbeit oder Beitragshinterziehung im Vordergrund standen. Mit der Einführung von Mindestentgeltbestimmungen wird für die betreffenden Branchen inzwischen auch routinemäßig die Einhaltung der Mindestlohnzahlung überprüft. Unregelmäßigkeiten werden im Fall der Aufdeckung als Verstoß der Arbeitgeber gegen das Arbeitnehmer-Entsendegesetz geahndet.34 Auch mit dieser Erweiterung des Kontrollauftrages legen die Ermittlungsbehörden den Schwerpunkt der Arbeitsmarktkontrollen auf Verfolgung illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit, wobei ArbeitgeberInnen als HaupttäterInnen und Beschäftigte als MittäterInnen behandelt werden. Die von uns befragten BeraterInnen stellen dagegen die Situation der Beschäftigten in den Mittelpunkt und thematisieren ihre Benachteiligung und Ausbeutung. Aufgrund ihrer Vertrauensstellung erhielten sie Informationen von Betroffenen, die den Kontroll- und Strafverfolgungsbehörden nicht mitgeteilt werden. Zur Beschreibung der Situation ausbeuterischer Beschäftigung sind die Einsichten und Erkenntnisse aus den Beratungseinrichtungen daher eine wichtige Quelle, um die Erfahrungen der Beschäftigten – die von den Behörden nur in einem geringen Umfang oder nur als Vermutung ermittelt werden – angemessen berücksichtigen zu können. 58 4.4.1 Hintergrund der Beratungsstellenangebote Die Erkenntnisse der Behörden bieten vielfache Hinweise, dass ausländische Beschäftigte in Berlin und Brandenburg aktuell und in der Vergangenheit zu ungünstigeren Bedingungen eingesetzt werden. Im gesellschaftlichen Umgang mit diesen unerwünschten Verhältnissen wurden in Berlin nicht nur repressive Ansätze der Kontrolle und Strafverfolgung umgesetzt, sondern von verschiedenen Akteuren seit den frühen 1990er Jahren unterstützende Ansätze zur Stärkung der Rechtssicherheit und Konliktfähigkeit von unangemeldet oder ungünstiger Beschäftigten entwickelt. Angestrebt war die Verringerung der Verletzlichkeit und die Verhinderung einer Dynamik der Ersetzung abgesicherter durch ungeschützter und prekärer Beschäftigung. Dabei haben neben den Gewerkschaften auch einige informelle Initiativen konkrete Angebote entwickelt und umgesetzt. So hatte die IG BAU in den 1990er Jahren Initiativen zur Ansprache ausländischer Wanderarbeiter auf Großbaustellen und in der Landwirtschaft durchgeführt. Seit 2004 bietet auch der von der IG BAU initiierte ‚Europäische Verband der Wanderarbeiter’ Unterstützung an.35 Auch die in Berlin ansässige DGB-Beratungsstelle bietet Informationen und Unterstützung für ausländische ArbeitnehmerInnen.36 Diese gewerkschaftlichen Angebote richten sich vor allem an ausländische ArbeitnehmerInnen, die in Deutschland leben oder hier vorübergehend ofiziell beschäftigt sind. Diese gewerkschaftlichen Angebote arbeiten teilweise sehr eng mit Kontroll- behörden bei der Bekämpfung illegaler Beschäftigung zusammen. Einige ‚kritische‘ GewerkschafterInnen und NGOs, die diese Zusammenarbeit scharf kritisieren, haben alternative Beratungs- und Unterstützungsangebote für WanderarbeiterInnen entwickelt. So besteht unter dem Dach des Berliner Landesverbandes der Gewerkschaft ver.di seit 2009 ein Beratungsangebot für „Papierlose“. Nach dem Vorbild der in Hamburg von ver.di aufgebauten gewerkschaftlichen Beratungsstelle MigrAr37 wird undokumentiert Beschäftigten Beratung und Unterstützung angeboten, wobei in Berlin allerdings nur an zwei Terminen im Monat Beratungszeiten angeboten werden.38 Diese Beratungsstelle knüpft ausdrücklich an die Erfahrungen früherer in Berlin durchgeführter Unterstützungsangebote wie ZAPO, RESPECT oder ELIXIR-A an. Ein frühes Angebot, das ausdrücklich Unterstützung für WanderarbeiterInnen ohne Aufenthaltsstatus einschloss, war das von 1996-2001 bestehende Projekt ZAPO, eine vom polnischen Sozialrat e.V. getragene und der Berliner Senatsverwaltung für Soziales unterstützte Maßnahme, die prekär beschäftigten ArbeitnehmerInnen aus Mittel- und Osteuropa über arbeitsrechtliche Ansprüche informierte und Unterstützung bei der Durchsetzung anbot.39 Bei der ebenfalls nicht mehr aktiven Initiative ELIXIRA40 handelte es sich um ein informelles Netzwerk, das in Zusammenarbeit mit einer Selbstorganisation von AsylbewerberInnen, der Brandenburger Flüchtlingsinitiative, Aktionen und Demonstrationen zu Gunsten von Flüchtlingen organisierte, um die Auszahlung vorenthaltener Löhne für unangemeldete Beschäftigung durchzusetzen. Das informelle Netzwerk RESPECT41 setzt sich auch durch 35 http://www.emwu.org/ : zuletzt besucht am 30.08.2010 36 http://www.berlin-brandenburg.dgb.de/article/archive/97/ : zuletzt besucht am 30.08.2010 37 http://www.besondere-dienste.hamburg.verdi.de/themen/migrar/themen/anlaufstelle2 : zuletzt besucht am 30.08.2010 38 http://www.besondere-dienste.bb.verdi.de/lbzfg_sonstige_dienstleistungen/verdi_ak_undokumentietre_arbeit/verdi_ak_undokumentierte_arbeit : zuletzt besucht am 30.08.2010 39 http://www.labournet.de/diskussion/wipo/migration/zapo.html : zuletzt besucht am 30.08.2010 40 http://www.issuu.com/bar_m/docs/lohnraub : zuletzt besucht am 30.08.2010 41 http://www.respect-netz.de/pages/frame.htm : zuletzt besucht am 30.08.2010 59 praktische Unterstützung dafür ein, dass informell Beschäftigte den Lohn für die geleistete Arbeit erhalten. Besonders hervorzuheben ist die Arbeit der Fachberatungsstelle Ban Ying, die durch Öffentlichkeitsarbeit, advokatorische Aktivitäten und konkrete Unterstützungsangebote auch Opfern von Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung beisteht. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Frauen, die im Gaststättenbereich, in Privathaushalten oder bei Botschaftsangehörigen von Arbeitsausbeutung betroffen sind. Ban Ying hat die Behörden sehr früh auf das Problem hingewiesen und unter dem Titel „Moderne Sklaverei“ eine Website mit Informationen zum Menschenhandel gestaltet.42 Schließlich ist in diesem Zusammenhang auch auf das Projekt „Zwangsarbeit“ des Deutschen Instituts für Menschenrechte hinzuweisen, das Impulse setzen will, um die Verfolgung arbeitsrechtlicher Schritte zu ermöglichen und zu etablieren.43 Weiterhin sind in Einzelfällen auch MitarbeiterIn- nen der Beratungsangebote der Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Selbstorganisationen in Berlin und Brandenburg im Rahmen ihrer Tätigkeit in Kontakt mit ausbeuterisch beschäftigten MigrantInnen und bieten – oft ohne ein ausdrückliches Mandat – Rat und Unterstützung an. Der Überblick über Aktivitäten und Angebote von Nichtregierungsorganisationen zeigt, dass Initiativen zur Unterstützung von WanderarbeiterInnen bereits seit Mitte der 1990er von verschiedenen Akteuren angeboten werden. In solchen niedrigschwelligen, an den Bedürfnissen der Rat- und Hilfesuchenden orientierten Angebote können BeraterInnen oft das Vertrauen der Ratsuchenden gewinnen und Einblick in die Beschäftigungssituation erhalten. Im Folgenden sollen die in Expertenbefragungen erhobenen Erfahrungen dieser Stellen vorgestellt werden. 42 http://www.ban-ying.de/modernesklaverei/ : zuletzt besucht am 30.08.2010 42 http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/de/projekt-zwangsarbeit-heute.html : zuletzt besucht am 30.08.2010 60 4.4.2 Fallsammlung nach Branchen Die von den Mitarbeiterinnen gewerkschaftlicher und sozialpädagogischer Beratungsstellen im Rahmen ihrer Tätigkeit erhobenen Beispiele extremer Arbeitsausbeutung von MigrantInnen werden in diesem Kapitel vorgestellt und ausgewertet. Da die Untersuchung einen Schwerpunkt auf branchenspeziische Erscheinungsformen extremer Arbeitsausbeutung und MH/A legt, sollen für ausgewählte Branchen zunächst besonders markante Fallschilderungen zusammenfassend dargestellt werden. Die Darstellung verwendet auschließlich Informationen aus Interviews mit BeraterInnen von Wohlfahrtsverbänden und gewerkschaftlichen Anlaufstellen in Berlin und Brandenburg, die diese im Rahmen ihrer Unterstützungsarbeit von den Betroffenen erhalten haben. Es kann dabei nicht ausgeschlossen werden, dass Informationen unvollständig sind, nicht immer nachweisbar und manchmal auch einseitig und nicht zutreffend sein können (aus Unwissenheit oder falscher Einschätzung), was hingenommen werden muss, weil es in einem sensiblen und wenig erforschten Feld wie diesem keine Alternative dazu gibt, so dass diese Methode auch in anderen Studien angewandt wurde (Cyrus 2006, Dettmeijer-Vermeulen 2007). 44 Bei den Zitaten in der Fallschilderung handelt es sich um Aussacgen der ExpertInnen, die den Fall geschildert haben. Babysitting, Babysitting, Gaststätten, Prostitution Gaststätten, Prostitution Bei Frau B. handelt es sich um eine junge Frau Bei B. osteuropäischen handelt es sich um eine junge Frau ausFrau einem EU-Mitgliedsstaat. aus osteuropäischen EU-Mitgliedsstaat. Sie einem ist Angehörige einer türkischsprachigen Sie ist Angehörige einer türkischsprachigen Minderheit und wurde in ihrer Heimat angeMinderheit und wurde in ihrer angeworben mit dem Versprechen, inHeimat Deutschland worben mit dem Versprechen, in Deutschland heiraten zu können. Tatsächlich kam sie dann heiraten zu können. Tatsächlich kamund sie lebte dann im Frühjahr 2009 nach Deutschland im Frühjahr 2009etwa nach drei Deutschland hier insgesamt Monate und lang lebte mit hier insgesamt etwa drei Monate lang mit einem Mann zusammen: „Sie wohnt mit ihm, einem Mann zusammen: „Sie wohnt mit ihm, sie sorgt für ihn, mit allem was dazu gehört sie sorgt fürkochen, ihn, mitBett.“44 allem was dazu gehört – putzen, Nach kurzer Zeit– putzen, kurzer Zeit muss muss siekochen, auch inBett.“44 einem Nach kleinen türkischen Resie auch in einem kleinen türkischen Restaurant staurant arbeiten, das Freunden des Mannes arbeiten, daskassiert Freunden Mannes gehört. gehört. „Er das des Geld, sie bekommt „Er kassiert das Geld, sie bekommt nichts.“ nichts.“ Zwischen ihrer Ankunft in Berlin und Zwischen ihrer Ankunft in Berlin und ihrer ihrer Vermittlung in die genannten Stellen Vermittlung in eine die genannten Stellen lagvernur lag nur knapp Woche. Wenig später knapp eine Woche. Wenig später vermittelt er mittelt er ihr Jobs als Babysitterin, auch dafür ihr Jobssiealskeinen Babysitterin, auch erhält sie erhält Lohn. Erst alsdafür er gewalttätig keinen Lohn. er gewalttätig wird, will, und wird, und sieErst zuralsProstitution zwingen sie zursie. Prostitution zwingen lieht sie. Frau lieht Frau B. wandte sichwill, zunächst an eine B.Beratungsstelle. wandte sich zunächst an eine BeratungsstelDann entschied sie sich dafür, le. entschied sie sich dafür, versuchte dieDann versuchte Vermittlung in diedie Prostitution Vermittlung Prostitution zur Anzeige zu zur Anzeige in zu die bringen, und machte dazu eine bringen, und machte eineDie erste Aussage erste Aussage bei derdazu Polizei. Arbeitsausbei der Polizei. Die Arbeitsausbeutung warzuim beutung war im Rahmen dieser Anzeige Rahmen dieser nur vorrangig am Rande nächst nur amAnzeige Rande zunächst das Thema, das ging sie es um Versuch, gingThema, es umvorrangig den Versuch, zur den Prostitution sie Prostitution zu zwingen. zu zur zwingen. Die Beraterin nicht ausschließen, ausschließen, dass dass Die Beraterin will will aber aber nicht sie hätte entscheiden entscheiden können, können, sie sich sich auch auch dazu dazu hätte die „Das hathat sie dieArbeitsausbeutung Arbeitsausbeutunganzuzeigen: anzuzeigen: „Das erstmal in denin‚Beziehungszusammenhang‘ gesie erstmal den ‚Beziehungszusammenbracht. Das ist natürlich sehr schwierig, da muss hang‘ gebracht. Das ist natürlich sehr schwieman mitmuss den Leuten länger Die Berarig, da man mit denarbeiten.“ Leuten länger arterin hatte sich zunächst sehr gefreut, dass die beiten.“ Die Beraterin hatte sich zunächst sehr Frau sich für eine entschieden Zum gefreut, dass dieAnzeige Frau sich für eine hat. Anzeige nächsten Termin, den sie bei der Polizei hatten, entschieden hat. Zum nächsten Termin, den erschien Frau B. aber nichterschien mehr. Aktuell hat die sie bei der Polizei hatten, Frau B. aber Beraterin keinen Kontakt zu ihr. Sie nimmt an, nicht mehr. Aktuell hat die Beraterin keinen dass FrauzuB.ihr. verschwunden ist,dass weilFrau sie „wahnKontakt Sie nimmt an, B. versinnigen Druck hat, Geld zu verdienen. Sie hat schwunden ist, weil sie „wahnsinnigen Druck zu Hause Kinder.“ Sie hat zu Hause drei hat, Gelddrei zu verdienen. Kinder.“ 61 Plege im Privathaushalt Frau K. war nach Berlin gekommen, um dort eine bettlägerige Frau zu plegen. In ihrem Heimatland bekommt man für etwa 1.000 € einen Pass und die Fahrt nach Deutschland mit einem LKW oder PKW. Die von uns interviewte Expertin kommentiert: „Dann lohnt es sich hierher zu kommen, und die haben schon ein Netzwerk glaube ich, wo sie eingestellt werden, in Familien, wo sich sie sich um alte Frauen kümmern. (...) (Die Frauen) wohnen oft in dieser Familie und die Arbeit ist rund um die Uhr, Wochenende inklusive.“ Frau K. war bereits zum zweiten Mal in Deutschland, beim ersten Mal war sie nach vier Jahren verhaftet und abgeschoben worden. Da sie in ihrer Heimat weder eine Arbeit fand, noch einen Anspruch auf eine Rente hat, kam sie dennoch zurück, um keine „Last für ihre Töchter“ zu sein. Auch dieses Mal lebte und arbeitete sie insgesamt rund vier Jahre lang in Berlin. Frau K. hatte geplant, noch einige Jahre hier zu bleiben und ein wenig Geld zu sparen, dann wollte sie wieder in ihre Heimat gehen. „400 € pro Monat hat sie bekommen. Und sie war am Wochenende und Tag und Nacht immer bei dieser alten Frau.“ Frau K. sprach die gleiche Sprache wie die Frau, die sie plegte. Da diese bettlägerig war, musste Frau K. das Haus regelmäßig verlassen, um Erledigungen zu machen, immer „mit Angst, weil sie keine Papiere hatte, sie war illegal hier.“ Tatsächlich wurde sie 2008 bei einer solchen Gelegenheit von der Polizei in Berlin nach ihren Papieren gefragt und verhaftet. In der Abschiebehaft erzählte sie der Seelsorgerin, sie habe in ihrem Heimatland Kinder und Enkelkinder. „Und das Sozialsystem ist dort natürlich sehr schwach.“ So habe sich Frau K. zwar darüber „beschwert, dass sie so wenig verdient hatte“, dies sei aber immer noch besser „als (in der Heimat) nichts zu tun.“ Laut der Seelsorgerin ist dieser Fall insofern typisch, als dass sie in der Abschiebehaft regelmäßig Frauen trifft, die in der Vergangenheit bereits einmal oder mehrmals abgeschoben wurden und dann nach Deutschland zurückkehrten. Die Seelsorgerin vermutet, dass Frau K. ebenfalls über die genannten Netzwerke nach Deutschland gekommen ist, erklärt dazu aber: „Sie hat natürlich zu viel Angst, darüber zu reden und ich frage auch nicht so gerne nach, obwohl es mich natürlich interessiert, sie fühlt sich schon so benachteiligt, wenn man nicht nachfragt. Dann ist es noch schlimmer.“ Frau K. wurde nach kurzem Aufenthalt in der Haft abgeschoben. 62 Gaststättengewerbe Äthiopische Spezialitätenköchin: Frau D. hatte als Köchin in Addis Abeba in einem Restaurant gearbeitet, das dem Bruder ihres späteren Arbeitgebers gehörte. Bei einem Besuch dort hatte dieser ihr eine gut bezahlte Arbeit in Berlin in Aussicht gestellt. Frau D. reiste 2004 legal als äthiopische Spezialitätenköchin ein. Als sie ihr Arbeitsverhältnis aufnahm, eröffnete man ihr, sie müsse ein Jahr lang kostenlos arbeiten, um ihre Einreisekosten abzuarbeiten, danach würde sie Geld verdienen. Sie arbeitete bis zu 19 Stunden am Tag an sieben Tagen die Woche. Nach einem Jahr wurde sie krank und musste ins Krankenhaus. Dass sie krankenversichert war, wusste sie nicht. Nach ihrer Entlassung teilte der Arbeitgeber ihr mit, sie müsse die Krankenhausrechnung abarbeiten. „Und das war der Punkt, als sie gemerkt hat, sie wird hier nie schuldenfrei.“ Mit der Hilfe eines Stammgastes gelang ihr schließlich die Flucht. Insgesamt hatte sie 1,5 Jahre in dem Restaurant gearbeitet und dafür insgesamt knapp 500 € Lohn erhalten. Eine Vertreterin der Fachkommission Frauenhandel, die angesprochen worden war, kontaktierte darauf hin eine Fachberatungsstelle und teilte ihren Verdacht mit, bei Frau D. handele es sich um ein Opfer von Men- schenhandel. Nach einem Gespräch mit einer Anwältin wurde die Polizei eingeschaltet, die mit der Fachberatungsstelle einen Kooperationsvertrag vereinbart hat. Obgleich der Kooperationsvertrag zu diesem Zeitpunkt nur für sexuelle Ausbeutung galt, habe „niemand hat angezweifelt, dass es eins zu eins umgesetzt wird.“ Auch das Landesamt für Gesundheit und Soziales kooperierte. Für Frau D. wurde in kürzester Zeit ein Platz in einer Zuluchtswohnung organisiert. In diesem Fall gab es insgesamt zwei Verfahren. Im Rahmen eines ersten arbeitsgerichtlichen Verfahrens, wurde ihr eine höhere Summe Geld zugesprochen. Der genaue Betrag soll nicht veröffentlicht werden. Darüber hinaus musste der ehemalige Arbeitgeber Geld für die Sozialversicherung nachzahlen. Wegen ihres Rufes in der Community, war es Frau D. aber „sehr, sehr wichtig“, dass der Täter auch wegen Menschenhandels angeklagt wird. Im Rahmen eines Strafbefehls wegen Menschenhandels zum Zwecke der Arbeitsausbeutung nach § 233 StGB wurde er schließlich zu sechs Monaten Haft für drei Jahre auf Bewährung verurteilt. Die befragte Expertin. erläutert, am Fall von Frau D. könne man exemplarisch zeigen, dass „die Berliner Strukturen wirklich funktionieren.“ 63 Gaststättengewerbe Chinesische Spezialitätenköche: Herr H. wurde in China als Spezialitätenkoch für ein Restaurant in Deutschland angeworben. Für Spezialitätenköche gelten gesonderte Einreiseabkommen. Dabei indet die Anwerbung und das Auswahlverfahren auf chinesischer Seite durch die China International Contractors Association (CHINCA) statt, auf deutscher Seite ist die Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV / ZIHOGA) zuständig. Vor der Einreise hatte Herr H. eine Vermittlungsgebühr in bar an den Vermittler in China gezahlt, für deren Höhe je nach Vereinbarung 7.000 bis 10.000 € angenommen werden kann. Die Ausländerbehörde stimmt den Visa-Anträgen nur zu, wenn die Verträge einen angemessenen Lohn festlegen. Laut Arbeitsvertrag standen Herrn H. monatlich 1.433,00 € brutto inklusive einer angemessenen Unterkunft und Verplegung zu. Weiterhin wurde eine Probezeit von sechs Monaten festgelegt. Herr H. reiste Anfang 2007 nach Deutschland ein und nahm sein Arbeitsverhältnis am darauf folgenden Tag auf. Der Arbeitgeber meldete ihn jedoch erst drei Monate später an. Im Restaurant arbeitete Herr H. durchgehend, an sieben Tagen in der Woche von 10.30 Uhr bis 23 Uhr. Um 15 Uhr und um 22 Uhr durfte er zwar eine Kleinigkeit essen, musste auf Zuruf aber arbeiten. Sobald Herr H. eine richtige Pause haben wollte, wurde er vom Arbeitgeber ärgerlich zurecht gewiesen. Mitte 2007 wurde Herr H. krank. Er litt tagelang unter starken Schmerzen im linken Unterbauch und wurde schließlich in ein Krankenhaus eingewiesen. Der Arbeitgeber holte ihn gegen seinen Willen wieder aus dem Krankenhaus heraus und forderte von den Ärzten außerdem die Herausgabe des Entlassungsberichts. Dieser wurde ihm ausgehändigt. Herr H. erfuhr trotz Nachfrage nichts von seiner Diagnose. Der Arbeitgeber erklärte ihm, er sei gesund und habe nichts. Überprüfen konnte Herr H. diese Aussage nicht, da er selbst nur Chinesisch spricht. Der Arbeitgeber brachte ihn zurück in das Restaurant. Dort musste er weiter arbeiten. Die Schmerzen verschlimmerten sich, was Herr H. seinem Chef mitteilte. Dieser kündigte ihm daraufhin fristlos und teilte ihm mit, er solle sofort mit sämtlichen Sachen das Restaurant verlassen und nicht wieder zur Arbeit erscheinen. Herr H. wandte sich daraufhin an Anwalt B. Dieser reichte lediglich eine Kündigungsschutzklage und verständigte sich mit dem Arbeitgeber darauf, dass das Arbeitsverhältnis noch einige Tage länger dauert, verzichtete aber darauf, Lohnforderungen zu stellen. Laut gerichtlichem Vergleich, den Anwalt B. vereinbart hatte, endete das Arbeitsverhältnis zwischen Herrn H. und seinem Arbeitgeber außerordentlich aufgrund betriebsbedingter Kündigung. Herr H. mandatierte einige Monate später Anwalt W., mit dem wir dieses Interview durchführten. Da der Lohnverzicht im ersten Verfahren nicht wirksam erklärt worden war, konnte Anwalt W. in einem zweiten Verfahren den gesamten ausstehenden Lohn einklagen. Die Lohnabrechnungen von Herrn H. dokumentieren, dass lediglich für die ersten drei Monate, also der Dauer des Visumsverfahrens, der vereinbarte Lohn in Höhe von 1.433,00 € brutto abgerechnet wurde. Dieser Betrag wurde Herrn H. jedoch nicht in voller Höhe ausgezahlt. Alle nachfolgenden Abrechnungen weisen deutlich niedrigere Beträge auf. So weist eine Lohnabrechnung von Herrn H. einen Nettoverdienst rund 550 Euro auf, von der Abzüge für Kost und Unterkunft gemacht wurden, so dass ihm nur etwas mehr als 300 Euro ausgezahlt wurden. Im den letzten beiden Beschäftigungsmonaten erfolgte überhaupt keine Zahlung. Die Forderungen, die Anwalt W. im Rahmen der Zahlungsklage geltend macht, ergeben sich in diesem Fall aus dem vertraglich vereinbarten Lohn. Da Herr H. durch die zunächst erfolgte Mandatierung des Anwalts B. bereits inanzielle Verluste erleiden musste, verzichtete man auf eine Klage zur Zahlung des Lohns für die geleisteten Überstunden, um zeitliche Verzögerungen und zusätzliche Kosten zu vermeiden. Herr H. hatte nach seinem Ausscheiden aus dem Betrieb einen neuen Arbeitsplatz in Deutschland gefunden. Die Klage ist noch anhängig. 64 Gaststättengewerbe Griechisches Lokal: Herr F. wurde über eine Zeitungsannonce in Griechenland angeworben. Er kam zusammen mit seiner Frau nach Deutschland. Gemeinsam arbeiteten sie in einer griechischen Gaststätte im Raum Brandenburg als Küchen- und Putzhilfen. Der Arbeitgeber hatte ihnen eine Unterkunft zur Verfügung gestellt. Für dieses Ein-Zimmer-Appartement im Haus des Arbeitgebers zahlten sie 200 €. Die Qualität der Unterkunft war nicht sonderlich gut, aber angesichts des in Aussicht gestellten Monatslohns und der Tatsache, dass die beiden hin und wieder auch im Restaurant essen durften, empfanden die beiden das Angebot als „vollkommen akzeptabel.“ Dem Mann hatte man 1.200 € im Monat für 40 Wochenstunden in Aussicht gestellt (abzüglich der Miete), hinzu kämen rund 400 € für die Frau. Fünf Monate lang arbeiteten beide, „alles war wunderbar und prima.“ Der Arbeitgeber zahlte den versprochenen Lohn in bar. Im sechsten Monat wurde der Mann krank. „In dem Moment ing die Problematik an.“ Der Arbeitgeber weigerte sich zunächst, die Lohnfortzahlung zu leisten. Er stritt sich mit dem Paar und kündigte beiden mit sofortiger Wirkung. Mit der Kündigung mussten die beiden auch das Appartement aufgeben. Bekannte in Berlin nahmen die beiden auf und gingen gemeinsam mit dem Mann zu der Beratungsstelle. Während der Beratung stellte die Beraterin fest, dass der Mann lediglich im Rahmen der so genannten Gleitzone angemeldet war. Laut Abrechnung verdiente er monatlich ca. 600 €. Der Arbeit- geber hatte diesem Betrag entsprechend auch die Kranken- und Rentenversicherung gezahlt, allerdings nicht für alle Monate. Herr F. berichtete, täglich rund 16 Stunden gearbeitet zu haben, also doppelt so viel, wie ursprünglich vereinbart worden war. Darüber hinaus hatte er nicht nur von Montag bis Freitag gearbeitet, sondern meist auch an den Wochenenden: „Wenn jemand am gleichen Ort wohnt und arbeitet (steht er) dem Arbeitgeber ja zur Verfügung. Er konnte nicht sagen: Ich arbeite nicht.“ Umgerechnet auf den Monatslohn von rund 1.200 € entsprach sein Stundenlohn somit nicht mehr rund 7,50 € sondern betrug nur noch ca. 3 €. Hinzu kam, dass sein angemeldeter Status bei den Behörden und der Krankenkasse nicht seinem tatsächlichen Arbeitsverhältnis entsprach. Weder der Mann noch seine Frau hatten für die Dauer des Arbeitsverhältnisses jedoch den Eindruck, ausgebeutet zu werden. „Bis zu seiner Erkrankung waren er und seine Frau vollkommen zufrieden.“ Die Beraterin sprach zunächst mit dem ehemaligen Arbeitgeber. Dieser war daraufhin bereit, die fehlenden Lohnabrechnungen auszustellen und einige der geleisteten Überstunden zu zahlen. Herr F. bestand jedoch auf Zahlung aller geleisteten Überstunden und brachte den Fall vor das Arbeitsgericht. Dort gab man ihm Recht und verurteilte den Arbeitgeber zur Zahlung der noch ausstehenden Differenzbeträge. Laut Frau S. war er vor Gericht trotz der fehlenden Lohnabrechnungen glaubhaft, „weil er seine Arbeitszeiten immer selbst dokumentiert hatte.“ Dies gelinge aber nicht immer, „viele verlieren ihre Ansprüche.“ 65 Baugewerbe Eine Gruppe junger Männer wurde in Griechenland angesprochen: „Jemand sagte ihnen, er kenne jemanden im Baubereich, wenn ihr Arbeit braucht, (...) dann könnt ihr nach Berlin kommen.“ Da sie arbeitslos waren, gingen die insgesamt acht Männer auf das Angebot ein und „wurden von einer Organisation hierher geschickt“. Kurz nach ihrer Ankunft in Berlin, nahmen die Männer ihre Arbeit auf einer Baustelle auf. Einen Vertrag hatte keiner unterzeichnet. Nach einer Woche bekamen sie ihren ersten Lohn, jeder erhielt 300€. „Die Arbeitgeber waren also glaubwürdig. Man sagte den Männern: Irgendwann, am Ende des Monats bekommt ihr die restliche Summe.“ Die Männer gingen täglich zusammen zu der Baustelle und arbeiteten dort. Betreut wurden Sie von einem Mann, der ihre Sprache beherrschte. Dieser Mann war für sie eine Art Aufseher, ein Mittler, der ihnen ihre Aufgaben als Bauhelfer erläuterte. Sie arbeiteten täglich rund 10 Stunden lang, an insgesamt 20 Arbeitstagen. Wo sie während dieser Zeit wohnten, ist nicht bekannt. Als sie eines Tages wieder zur Baustelle kamen, war „kein Mensch mehr dort.“ Sie gingen noch an einem zweiten und dritten Tag hin. Vermutlich war die Arbeit abgeschlossen worden. Sieben Männer, die ohne Familie gekommen waren, kehrten nach Griechenland zurück. Herr G. war zusammen mit seiner Frau und seinen drei kleinen Kindern. Herr G. spricht kein Deutsch, aber sowohl Griechisch als auch Türkisch. Er sah keine andere Möglichkeit als in Berlin zu bleiben. Nach einem Telefonat mit seinem Vater, konnte die Familie bei Bekannten in Berlin unterkommen. An Frau S. wandte sich Herr G. um zu erfahren „was er jetzt machen kann. Nicht unbedingt wegen der Arbeit auf der Baustelle, da er wusste, der Arbeitgeber war nicht da, bzw. der Mittler (...). Er sagte, er brauche Geld und eine Wohnung und fragte, ob er Leistungsanspruch hat.“ In der Beratung sagte man ihm, wenn er nachweisen könne, dass er hier als Arbeitnehmer tätig war, werde man seinen Anspruch beim Jobcenter durchsetzen. Herr G. konnte jedoch weder den Namen des Arbeitgebers noch den genauen Ort der Baustelle angeben. Frau S. beriet ihn ausführlich zu den Möglichkeiten, die ihm offen standen. Ohne Angabe von Gründen erschien er dann nicht mehr bei der Beratung. 66 Handel Frau F. lebt seit Anfang der 1990er Jahre in Deutschland. 2006 wurde ihr Asylantrag endgültig abgelehnt. Aktuell hat sie eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, nach § 25 Abs. 4 AufenthG. Um diesen Titel zu festigen, muss sie arbeiten und eigenständig den Lebensunterhalt ihrer Familie sichern. Frau F. ist allein erziehend und hat zwei Kinder, die im Raum Brandenburg zur Schule gehen. 2009 machte ihr ein Mann das Angebot, in Berlin Schmuck zu verkaufen. Frau F. wusste, dass der Mann in ihrer ethnischen Community einen schlechten Ruf hatte. Man erzählte, dass er hauptsächlich Personen ohne Aufenthaltstitel oder Arbeitserlaubnis einstellt und sie um ihren Lohn betrügt. Da Frau F. legal in Deutschland arbeiten darf und man ihr einen schriftlichen Vertrag zusicherte, ging sie dennoch auf das Angebot ein. Der Vertrag, den sie unterzeichnete, legte einen Stundenlohn von nur 6 € fest, versprochen worden waren zunächst 8 € Stundenlohn. Sie unterzeichnete trotzdem. Frau F. gab sich große Mühe, arbeitete täglich und war parallel auch auf Handel Wohnungssuche, in der Hoffnung, bald ihre Frau F. lebt seit Anfang der 1990er Jahre in Kinder nach Berlin nachholen zu können. Als Deutschland. 2006 wurde ihr Asylantrag endgüldas erste Gehalt nicht wie erwartet am 1. des tig abgelehnt. Aktuell hat sie eine AufenthaltserFolgemonats auf ihrem Konto war, sagte ihr laubnis aus humanitären Gründen, nach § 25 Abs. Chef, in Berlin sei es üblich das Geld erst zum 4 AufenthG. Um diesen Titel zu festigen, muss 15. zu überweisen. Als es am 20. noch immer sie arbeiten und eigenständig den Lebensunnicht auf ihrem Konto war, ging sie erneut zu terhalt ihrer Familie sichern. Frau F. ist allein erihm. Er sagte, das Geld würde schon kommen. ziehend und hat zwei Kinder, die im Raum BranAm Ende des Monats, nach insgesamt acht denburg zur Schule gehen. 2009 machte ihr ein Wochen Arbeit ohne Lohn, kündigte Frau F. Mann das Angebot, in Berlin Schmuck zu verkauund suchte eine Beratungsstelle für Migranfen. Frau F. wusste, dass der Mann in ihrer ethten ihrer Sprachgruppe auf. Dort verwies man nischen Community einen schlechten Ruf hatte. sie an einen Anwalt, der muttersprachliche Man erzählte, dass er hauptsächlich Personen Rechtsberatung anbietet. Sie klagte mit seiner ohne Aufenthaltstitel oder Arbeitserlaubnis einUnterstützung auf die Zahlung des ausstestellt und sie um ihren Lohn betrügt. Da Frau F. henden Lohns. Das Geld hat sie bislang noch legal in Deutschland arbeiten darf und man ihr nicht bekommen. Frau F. erklärte, sie mache einen schriftlichen Vertrag zusicherte, ging sie sich diesbezüglich keine großen Hoffnundennoch auf das Angebot ein. Der Vertrag, den gen, sei aber dennoch froh geklagt zu haben. sie unterzeichnete, legte einen Stundenlohn von Andere Migranten, die von dem gleichen nur 6 € fest, versprochen worden waren zunächst Mann betrogen wurden, sich wegen fehlender 8 € Stundenlohn. Sie unterzeichnete trotzdem. Aufenthaltspapiere aber nicht wehren wollten, Frau F. gab sich große Mühe, arbeitete täglich hatten sie in ihrem Vorhaben unterstützt. Jetzt und war parallel auch auf Wohnungssuche, in wisse zumindest jeder, auch das Gericht, das der Hoffnung, bald ihre Kinder nach Berlin nachder Mann „ein Verbrecher“ sei. holen zu können. Als das erste Gehalt nicht wie erwartet am 1. des Folgemonats auf ihrem Konto war, sagte ihr Chef, in Berlin sei es üblich das Geld erst zum 15. zu überweisen. Als es am 20. noch immer nicht auf ihrem Konto war, ging sie erneut zu ihm. Er sagte, das Geld würde schon kommen. Am Ende des Monats, nach insgesamt acht Wochen Arbeit ohne Lohn, kündigte Frau F. und suchte eine Beratungsstelle für Migranten ihrer Sprachgruppe auf. Dort verwies man sie an einen Anwalt, der muttersprachliche Rechtsberatung anbietet. Sie klagte mit seiner Unterstützung auf die Zahlung des ausstehenden Lohns. Das Geld hat sie bislang noch nicht bekommen. Frau F. erklärte, sie mache sich diesbezüglich keine großen Hoffnungen, sei aber dennoch froh geklagt zu haben. Andere Migranten, die von dem gleichen Mann betrogen wurden, sich wegen fehlender Aufenthaltspapiere aber nicht wehren wollten, hatten sie in ihrem Vorhaben unterstützt. Jetzt wisse zumindest jeder, auch das Gericht, das der Mann „ein Verbrecher“ sei. 67 Hotelreinigung Frau P. kam 1996 als ca. 6jährige mit ihrer Familie aus Serbien nach Deutschland und lebte ohne Aufenthaltstitel in Berlin. Seit 2009 hat die heute 19jährige Roma eine Aufenthaltsgenehmigung aus humanitären Gründen. Sie wohnt mit ihrer Mutter zusammen. Der Vater wurde zwischenzeitlich abgeschoben. Obwohl sie in Berlin groß wurde, durfte sie nie zu einer Schule gehen. Sie spricht sehr gut Deutsch, ist aber Analphabetin. Frau P. kann über die Härtefallregelung einen Aufenthaltstitel erlangen. Voraussetzung dafür ist, dass sie ihren Lebensunterhalt aus eigener Arbeit inanzieren kann. Die junge Frau hatte sich an das Jobcenter gewandt, um zu erfahren, wo sie sich als Analphabetin bewerben könne und ob sie Hilfe bekäme. Man teilte ihr mit, dass im Flur ein Ständer mit Broschüren zu inden sei. Von dort nahm sie dann vermutlich die Broschüre einer Firma mit, die Reinigungskräfte an Hotels vermittelt. Sie bewarb sich dort und konnte wenig später einen Vertrag unterzeichnen. Laut Auskunft der Interviewpartnerin kam Frau P. danach „glücksstrahlend“ zu ihr. Sie freute sich zunächst mit der Frau, bis sie den Arbeitsvertrag begutachtet hatte: Für die Reinigung in einem bekannten Berliner Hotel erhält Frau P. laut Vertrag pro gereinigtes Zimmer 2,25 € brutto. Der Beraterin gegenüber sagte die junge Frau, sie brauche für ein Zimmer mindestens eine halbe Stunde, häuig aber auch eine dreiviertel Stunde. Für die Reinigung eines Appartements erhält sie 3,25 € brutto. Die Beraterin errechnete, dass der Stundenlohn von Frau P. in etwa 3,05 € bis 3,07 € netto beträgt. Der von der Ausländerbehörde festgelegte Plichtunterhalt liegt bei rund 850,00 €. Um diesen Betrag zu verdienen, muss sie somit zwischen 67 und 70 Stunden pro Woche arbeiten. Der Vertrag ist stets befristet. Verlängerungen erhält sie entsprechend der Verlängerung ihres Aufenthaltstitels. Die Beraterin bestätigt, dass Frau P. die Stelle als Glücksfall empfunden habe. Ihre Kritik am Arbeitsvertrag habe sie „entsetzt“. Das erste Gehalt, das man Frau P. auszahlte, betrug 725 €. Für diesen Betrag arbeitete sie einen Monat lang rund 60 Stunden pro Woche. Die Beraterin berichtete, dass Frau P. sehr gerne eine Schule besuchen wollte, um Lesen und Schreiben zu lernen. Dies wurde von der Ausländerbehörde jedoch abgelehnt: Sie müsse zunächst ihren Lebensunterhalt verdienen. Es stehe Frau P. jedoch frei, tagsüber arbeiten zu gehen und eine Abendschule zu besuchen. Die Beraterin erklärte, dass sie dies durchaus von einigen Personen, die sie betreut, erwartet, „aber nicht bei so einem Job“. Die Vermittlerirma mit der Frau P. den Vertrag abgeschlossen hat, ist der Beraterin bereits bekannt. Ihres Wissens arbeiten dort viele Personen, die sich in einer ähnlichen Situation wie Frau P. beinden. So liegt ihr ein nahezu identischen Vertrag für ein Berliner Luxushotel vor. In der Hotelreinigungsbranche liefe alles über Vermittlerirmen. Die Verträge werden demnach nicht direkt zwischen dem Hotel und den Reinigungskräften geschlossen. „Es ist also durchaus möglich, dass das Hotel der Vermittlerirma 15 € die Stunde bezahlt. Aber ich verlange von so einem Hotelbetrieb, dass sie sich erkundigen: Was sind das für Firmen? Was kriegen meine Angestellten?“ Trotz der geringen Löhne seien die betreffenden Personen stets „heilfroh“ über ihre Arbeitsverträge. 68 Dienstleistungsgewerbe: Wäscherei In der ehemaligen DDR hatte Frau O. als Vertragsarbeiterin gearbeitet und wurde, wie viele ihrer Landsleute, nach der Wende entlassen. Frau O. kehrte damals in ihre Heimat zurück. Dort fand sie keine Basis für ein Leben mehr. Zudem fühlte sie sich Deutschland durch ihren jahrelangen Aufenthalt dort sehr verbunden. Sie reiste 1998 ein und stellte einen Asylantrag, der abgelehnt wurde. Aufgrund einer Erkrankung wurde ihr jedoch ein Abschiebeschutz gewährt, aktuell hat sie einen Duldungsstatus. Frau O. „hängt in der Luft“ und versucht ökonomisch unabhängig zu werden. Sie verfügt aktuell über eine Arbeitserlaubnis, dennoch sieht sich „diese Frau unter dem Druck, jede nur erdenkliche Arbeit anzunehmen.“ Dies war den Arbeitgebern bekannt. Im Jahr 2008 arbeitete sie einige Monate lang in einer Wäscherei. Diese Beschäftigung stellte zwar ein legales Arbeitsverhältnis dar – so war sie ordnungsgemäß angemeldet und ihr Arbeitgeber zahlte die entsprechenden Beiträge – trotzdem wurde sie dort „ausgebeutet, bis auf die Knochen.“: Ihr Bruttoverdienst betrug laut Vertrag rund 4,50 €. Sie arbeitete zwischen 50 und 60 Stunden pro Woche und musste „auf Abruf“ bereitstehen. Sie hatte „maximal einen freien Tag in der Woche, wenn überhaupt.“ Dieser wird nur gegeben, „wenn es den Arbeitgebern passend erscheint.“ Der Frau wurde somit verwehrt, eine „weitergehende Planung für ihr Leben zu machen.“ In den Gesprächen machte sie auf die Beraterin einen völlig erschöpften Eindruck. Sie ist „bei der Beratung fast eingeschlafen (und hat es) körperlich ja auch kaum noch durchgehalten.“ Als sie nach einem kleinen Arbeitsunfall für ein oder zwei Tage lang nicht arbeiten konnte, wurde sie von ihrem Arbeitgeber sofort entlassen. Im Grund genommen, so die Beraterin, „arbeitete sie als Sklavin in diesem Betrieb.“ Haushaltsangestellte bei Botschaftsangehörigen Bei Frau N. handelt es sich um eine philippinische Frau, die ein gutes Jahr als Hausangestellte eines Diplomaten in Berlin arbeitete. In Manila arbeitete sie für einen Bekannten ihres späteren Arbeitgebers und wurde über ihn angeworben. Im Februar 2008 unterschrieb sie in ihrer Heimat einen Arbeitsvertrag, der einen Monatslohn in Höhe von 750 € festlegte, was dem vereinbarten Mindestlohn für Hausangestellte von Diplomaten entspricht. Dieser war die Basis für die Erteilung des Visums. Drei Monate später legte die Botschaft Frau N. einen anderen Arbeitsvertrag zur Unterschrift vor. Dieser setzte einen Lohn in Höhe von 500 US $ fest. Im Juni 2008 reiste Frau N. ein. In Berlin angekommen arbeitete sie fast rund um die Uhr im Haushalt des Diplomaten. In der Regel stand sie morgens um halb acht auf und ging nachts um ein Uhr zu Bett. Im ersten dreiviertel Jahr durfte sie das Haus nicht verlassen. Frau N. bekam Hautprobleme, weil man ihr keine Hygieneartikel zur Verfügung stellte. Sie wusch sich daher mit Waschpulver. Zudem war ihr auf der Hinreise der Koffer abhanden gekommen, da aber ohnehin nicht „vorgesehen war, dass sie rausgeht (hat er ihr lediglich) Hauskleidung gekauft. (...) Wir haben uns getroffen an einem total regnerischen Tag. (...) Und sie stand da in einem T-Shirt und Sandalen und schlotterte.“ Da der Sohn des Diplomaten übergewichtig wurde, wies man sie an, regelmäßig mit ihm zum Spielplatz gehen. Frau N. hatte ein Handy, aber kein Guthaben auf ihrer Karte. Sie war somit ständig erreichbar, konnte selbst aber nicht telefonieren. Auf dem Spielplatz bat sie andere Mütter mehrfach um Hilfe, eine davon stellte schließlich den Kontakt zu der Beratungsstelle her. Bis die Frauen auf dem Spielplatz tatsächlich handelten, brauchte es 69 „acht oder neun Anläufe (...), weil die anfangs dachten, die spinnt. (...) Ich denke, da hat auch eine ordentliche Portion Rassismus eine Rolle gespielt. Sie müssen sich vorstellen, da ist eine philippinische Frau - sie hatte eine sehr schlechte Haut (...) sprach nicht so gut Englisch und fragte dann im edlen Charlottenburg am Spielplatz eine Frau: Können sie mir bitte die Adresse des Auswärtigen Amtes geben? (...) In der Logik der Frau war das vollkommen richtig, weil das Auswärtige Amt zuständig ist für Hausangestellte von Diplomaten. Und sie hatte die Vorstellung, wenn sie die Adresse hat, kann sie dahin fahren. Gott sei Dank hat ihr niemand die Adresse gegeben, denn die Enttäuschung wäre groß gewesen – Sie wäre am Pförtner geendet.“ Mit Unterstützung der Beratungsstelle gelang ihr im Mai 2009 schließlich die Flucht. Von Seiten des Arbeitgebers versuchte man mehrfach, Frau N. über das Handy zu erreichen und bedrohte sie per SMS. Die Lohnzahlungen des Arbeitgebers waren unregelmäßig erfolgt, summierten sich auf 2.054,00 € für die gesamte Zeit. Ein ordentliches gerichtliches Verfahren gab es nicht. Die Beratungsstelle wandte sich mit den Lohnforderungen für Frau N. direkt, da entsprechende Vereinbarungen bestehen, an das Auswärtige Amt. Da es schwierig gewesen wäre, die Überstunden nachzuweisen, bestand man darauf, zumindest die Wochenenden in Rechnung zu stellen. Die Beratungsstelle konnte nachweisen, dass sie auch an Wochenenden mit dem Kind auf dem Spielplatz war. Mit Erfolg: Zusätzlich zu den 750 € für jeden Monat erhielt Frau N. weitere 72 € pro Wochenende abzüglich der vom Arbeitgeber bereits geleisteten Zahlungen. „Natürlich hatte die Gegenseite eine ganz andere Sicht der Dinge“, nachdem man mit der Veröffentlichung des Falles drohte, lenkte die betreffende Botschaft aber ein. „Das ist der einzige Druck, den wir haben.“ Ein anderer Fall betrifft Frau H., eine Indone- sierin. Sie wurde über eine Agentur angeworben. Für die Arbeit in einem Diplomatenhaushalt stellte man ihr einen Monatslohn von 150 US$ in Aussicht. Frau H. arbeitete zwei Jahre in Ägypten und zweieinhalb Jahre lang in Deutschland als Hausangestellte eines Kulturattachés. In Berlin war sie die gesamte Zeit lang in einer Wohnung am Potsdamer Platz eingesperrt. Das Haus durfte sie nur unter Aufsicht verlassen, ihr Essen wurde rationiert, für ihre Arbeit erhielt sie keinen Lohn. „Ihr Glück war, das muss man wirklich – so makaber es ist – sagen, dass sie offene TBC bekommen hat.“ Erst sechs Monate nach Ausbruch der Krankheit, als sie bereits vollkommen abgemagert und geschwächt war, brachte ihr Arbeitgeber sie ins Krankenhaus. Die Ärzte dort waren angesichts ihres Zustandes „erschüttert“. Der Arbeitgeber von Frau H. machte den Ärzten gegenüber „sehr deutlich“, dass er Diplomat ist und drängte auf ihre Entlassung. Die Ärzte verwiesen auf die hohe Ansteckungsgefahr und gaben dem Drängen nicht nach. Aufgrund ihres Krankheitsbildes und seines Verhaltens baten die Ärzte zunächst die indonesische Botschaft um Hilfe. Vertreter der Botschaft kamen in das Krankenhaus, sprachen mit Frau H. und sagten dann „(...) es ist alles in Ordnung, das regeln wir intern.“ Der Sozialdienst recherchierte daraufhin im Internet und fand die Kontaktdaten einer Fachberatungsstelle. Eine Kollegin der Expertin fuhr zusammen mit einer Sprachmittlerin in die Klinik „... und dann war sowieso völlig klar, die Frau geht auf keinen Fall zurück zu diesem Arbeitgeber.“ Der Arbeitgeber von Frau H. ging „komplett straffrei“ aus. So bekam sie zwar rückwirkend den Lohn für die zweieinhalb Jahre in Berlin ausgezahlt, aber nicht vom Arbeitgeber, sondern von der Botschaft. „Der Arbeitgeber hat ganz normal seine fünf oder sechs Jahre in Deutschland zu Ende gearbeitet und ist, glaube ich, letztes Jahr im Herbst – oder wann auch immer die fünf Jahre zu Ende waren – ganz normal weiter gezogen. Wer weiß wohin.“ 70 Garten – und Landschaftsbau Herr D. befand sich in der Bleiberechtsregelung, die langjährig Geduldeten bei Erfüllung bestimmter Bedingungen wie Straffreiheit und Lebensunterhalt aus eigener Beschäftigung einen sicheren Aufenthaltsstatus eröffnet.45 Dem entsprechend stand Herr D. somit unter großem Druck und wollte unbedingt eine Arbeitsstelle inden. Er hat eine Familie mit drei Kindern, seine Frau war wieder schwanger. Herr D. hatte in Deutschland bis dahin nur über eine Arbeitsgelegenheit des Sozialamtes arbeiten können und war dabei mit Hausmeistertätigkeiten, Gärtnerarbeiten und Reinigung betraut. Gegenüber den Beratern der Anlaufstelle eines Wohlfahrtsverbandes, die Herrn D. bei seiner Arbeitssuche unterstützen, erklärte er daher, er wolle gern eine Arbeit als Hausmeister oder Gartenhelfer inden. „Er war sehr motiviert (...) hat viele Bewerbungen geschrieben.“ Von einer Stelle gab es schnell eine Rückmeldung. In der Stellenanzeige hieß es: „Im Vorfeld wird ein dreiwöchiges Praktikum bei unserem Kunden absolviert. Im Auftrag unseres Kunden suchen wir im Rahmen der Personalvermittlung mehrere MitarbeiterInnen zur Grünanlagenplege im Gartenbereich.“ Oftmals wird bei Personen, die keine einschlägige Qualiizierung in einem bestimmten Bereich haben, eine Trainingsmaßnahme vorgeschaltet. Die betreffenden Personen erhalten für die Dauer dieser Maßnahme weiterhin Sozialeistungen. Der Ar- beitgeber hat den Arbeitnehmer für diese Zeit „frei Haus.“ Die BeraterInnen wiesen darauf hin, dass eine solche Maßnahme in der Regel aber erst dann zur Anwendung käme, wenn man den Lebenslauf eines potentiellen Arbeitnehmers gesehen hat und sie für notwendig erachtet. Drei Wochen seien überdies eine sehr lange Zeit, üblich sind ein bis zwei Wochen. Die Beraterin besprach dies mit ihrem Klienten, er wollte dennoch auf das Angebot eingehen und erhielt in kürzester Zeit die Rückmeldung, er könne mit dem Praktikum beginnen. Er arbeitete als Grünanlagenpleger an zahlreichen unterschiedlichen Orten in Berlin und musste während des Arbeitstages häuig von einem Ort zum anderen wechseln. Herr D. berichtete, dass Arbeitskollegen von vielen Personen sprachen, die dort schon seit drei Monaten ohne Vertrag arbeiten und keinen Lohn bekommen. „Er war sich total unsicher, wollte aber weiter machen.“ Während der Trainingsmaßnahme gab es sehr viele Praktikanten. Die Fluktuation war hoch. Neue Personen nahmen die Arbeit auf und beendeten sich schnell wieder, weil sie körperlich zu schwer war. Herr D. berichtete, dass er rund 50 Kilo schwere Säcke in Container hieven musste. Fast am Ende der Maßnahme hatte Herr D. einen Arbeitsunfall. Gemeinsam mit einer Kollegin hatte er einen schweren Sack in einen Container gehoben, dabei knickte seine Hand um und das Gelenk brach. Der Arbeitnehmer übernahm ihn nicht, weil er „die Trainingsmaßnahme nicht bestanden“ hatte. 45 Mehr Informationen unter: http://www.berlin.de/lb/intmig/themen/luechtlinge/bridge.html : zuletzt besucht am 30.08.2010 71 Illegaler Zigarettenhandel Frau M. wurde in Vietnam angesprochen. Man versprach ihr Arbeit in Deutschland. Frau M. ist Witwe mit einem kleinen Kind und muss ihre Familie unterstützen. Sie willigte ein. Um die geforderte Vermittlungsgebühr in Höhe von 10 000 € aufbringen zu können, verkaufte Frau Ms. Familie ihr Grundstück. Frau M. war bewusst, dass sie sich illegal in Deutschland aufhalten würde. Man versprach ihr einen Monatsverdienst in Höhe von etwa 500 €. Dieses Geld sollte sie durch den Verkauf von Zigaretten verdienen. In Deutschland angekommen, brachte man sie nach Berlin. Dort lebte sie in einer Art Wohngemeinschaft zusammen mit den „Schleppern“ und anderen VerkäuferInnen. Insgesamt teilten sich etwa zehn Personen die kleine Wohnung. Frau M. zahlte monatlich einen Betrag von 200 € für ihren Lebensunterhalt und Miete für ihr Bett in einem Vierbettzimmer. Hinzu kamen 100 € monatlich, die ihr für den Platz, an dem sie die Zigaretten verkaufte, in Rechnung gestellt wurden. Man rechnete ihr vor, dass sie pro Tag fünf Stangen verkaufen müsste. Der Lohn dafür betrug 20 €. Da ihr Platz am Tag besetzt war, musste sie am Abend oder in der Nacht arbeiten. Erreichte sie das vorgegebene Ziel von fünf Stangen pro Tag, verdiente sie zwischen 500 € und maximal 600 € pro Monat. Abzüglich der Kosten für den Lebensunterhalt und der Miete für den Verkaufsplatz blieben ihr monatlich zwischen 200 € und 300 €. Davon schickte sie den größten Teil, meist rund 200 €, nach Hause, um ihrer Familie zu helfen. Knapp ein Jahr lang lebte und arbeitete sie in Berlin, bevor sie von der Polizei beim Verkauf von Zigaretten verhaftet wurde. In der Abschiebehaft lernt Frau M, die Seelsorgerin kennen. Mit Hilfe anderer vietnamesischen Frauen, die sich die Zelle mit Frau M, teilten, und einem weiteren Seelsorger, der vietnamesisch spricht, erzählte sie der Seelsorgerin ihre Geschichte und vertraute ihr an, dass sie schwanger ist. Der Vater ist ebenfalls Vietnamese, lebte auch in der WG und war bereits verheiratet. Aus Angst vor der bevorstehenden Abschiebung und aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage ihrer Familie in Vietnam wollte sie das Kind abtreiben lassen. Die Seelsorgerin und ihre MitarbeiterInnen schalteten daraufhin die für Rückkehrberatung zuständige Mitarbeiterin einer Beratungsstelle ein. Gemeinsam sorgten dafür, dass Frau M. einen Mikrokredit erhielt, mit dem sie sich nach der Abschiebung eine eigene Existenz in ihrem Dorf in Vietnam aufbauen konnte. Nachdem man ihr diese Perspektive eröffnet hatte, entschied sich Frau M. dafür, das Kind zu behalten. 72 4.4.3 Analytische Darstellung von Ausbeutungssituationen Die erhobenen Fallschilderungen werden zunächst unter Berücksichtigung der zwei Dimensionen der Einwilligung (Freiwilligkeit) und des Zeitverlaufs ausgewertet. Bei der Betrachtung der Dimension der (mehr oder weniger freiwilligen) Einwilligung der Beschäftigten in ungünstigere Beschäftigungsbedingungen wird aus der Perspektive der Beschäftigten unterschieden zwischen (1) einem einvernehmlich hingenommenen Ausbeutungsverhältnis, (2) einem nachträglich aufgenötigtem Ausbeutungsverhältnis, (3) einem verschleierten Ausbeutungsverhältnis und (4) einem offen erzwungenem Ausbeutungsverhältnis. Zusätzlich werden die analytisch nach dem Grad der Einwilligung unterschiedenen Beschäftigungsverhältnisse in einer Verlaufsdimension als dynamische Beziehungen betrachtet, die im Zeitverlauf ineinander übergehen oder sich ablösen können. Mit diesem dynamischen Konzept von Arbeitsausbeutung als prozessualem Beziehungsverhältnis soll die weit verbreitete und implizite Unterstellung vermieden werden, wonach beim Menschenhandel ein von Anfang an absichtsvoller Täter ein ahnungsloses Opfer verleitet. Die empirischen Berichte zeigen ein komplexeres und dynamischeres Bild ausbeuterischer Beschäftigungsverhältnisse. Offen einvernehmliche Ausbeutungsverhältnisse Das Konzept der Ausbeutung ist umstritten. Insbesondere die Frage, ob man von Ausbeutung sprechen kann, wenn Betroffene in die angebotenen Arbeits- und Lohnbedingungen einwilligen, wird kontrovers diskutiert (Munro 2009). Im Sample gibt es Darstellungen von offen und einvernehmlich vereinbarten Lohnabsprachen mit extrem geringem Lohn für Vollzeitstellen, die den Tatbestand der Sittenwidrigkeit erfüllen und daher von uns auch bei bestehender Einvernehmlichkeit als Arbeitsausbeutung eingestuft wurden (vgl. Abschnitt 3.4 und 4.2). Dabei wurden zwei Muster beschrieben: (1) Zur Aufnahme einer Beschäftigung neu eingereiste Personen willigen in ungünstigere Beschäftigungsbedingungen ein, weil der angebo- tene Lohn vor dem Hintergrund der Lebens- und Verdienstmöglichkeiten des eigenen Landes attraktiv erscheint. So stimmte Frau K. für eine Tätigkeit in der Plege „Rund-um-die-Uhr“ einem Monatslohn von 400 € zu. Frau A. erhielt für die Betreuung der älteren Dame nur den einfachen Plegesatz in Höhe von rund 200 € monatlich. Die Beschreibungen deuten darauf hin, dass eine Lohnhierarchie besteht, bei der – wie eine Beraterin es auf den Punkt brachte – „nach Nationalität bezahlt“ wird. Die Übereinkommen werden ihrer Ansicht nach dadurch begünstigt, dass VermittlerInnen häuig aus dem gleichen Land kommen und die jeweilige Kaufkraftunterschiede zwischen westlichen Währungen (Dollar, Euro) und der Landeswährung kennen. (2) Das zweite Muster extrem geringer Lohnvereinbarungen betraf Personen, die auf den Nachweis einer angemeldeten Beschäftigung angewiesen waren, weil sie so hofften, z.B. im Rahmen der Bleiberechtsregelung einen unsicheren Aufenthaltsstatus verfestigen zu können. Diese Personen akzeptieren extrem niedrige Monatslöhne für Vollzeitbeschäftigung. In einem Fall arbeitete die geduldete Frau N. für 400 € monatlich Montag bis Freitag von 9 bis 18 Uhr und am Samstag von 9 bis 13 Uhr in einem Nagelstudio. Dies entspricht umgerechnet einem Stundenlohn von etwa 2 €. Wenn die Beschäftigung ofiziell angemeldet war, wurde mit doppelten Verträgen operiert. Die Beschäftigten unterzeichneten vor der Einreise bzw. vor der Arbeitsaufnahme einen Vertrag, der den Behörden vorgelegt wird. In einem zweiten Vertrag wurden dann deutlich niedrigere Lohnzahlungen vereinbart. In diesen Fällen beteiligen die Beschäftigten sich wissentlich an dem Versuch, die tatsächlichen Arbeits- und Lohnbedingungen vor den Behörden zu verschleiern. Nachträglich aufgenötigte Ausbeutungsverhältnisse Viele der geschilderten Arbeitsverhältnisse lassen sich als nachträglich aufgenötigt bezeichnen. Darunter fassen wir Ausbeutungsverhältnisse, bei denen getroffene Vereinbarungen von Seiten der ArbeitgeberInnen nach Aufnahme der Beschäftigung einseitig ‚neu interpretiert’ und systematisch unterlaufen werden. Dabei werden Beschäftigte 73 dazu gebracht, die deutlich schlechteren Bedingungen nachträglich zu akzeptieren. Charakteristisch für dieses Ausbeutungsverhältnis ist die Methode, nicht vereinbarte oder rechtswidrige Abzüge und Lohnkürzungen nachträglich einzuführen und zu rechtfertigen, um die Kooperation der Beschäftigten zu erhalten. Dabei werden zwei Ziele verfolgt: Zum einen soll die Akzeptanz der Praktiken der Lohnminderung durch die Beschäftigten erhöht und diese an ihren Arbeitsplatz gebunden werden. Zum anderen soll die Aufdeckung der Ausbeutungssituation durch Dritte erschwert werden. Die Praktiken der Rechtfertigung kommen daher insbesondere in ofiziell angemeldeten Beschäftigungsverhältnissen zur Anwendung. In dieser Kategorie wurde über intransparente und nicht vereinbarte Abzüge sowie die Erhöhung der geforderten Arbeitsleistung bei gleich bleibender Bezahlung als Instrumente zur Durchsetzung ungünstigerer Beschäftigungsbedingungen berichtet. Nicht transparente Abzüge für Kost und Logis wurden im Fall des chinesischen Spezialitätenkoches berichtet. Auch die Praktiken, die im Fall der äthiopischen Köchin Frau D. zur Anwendung kamen, lassen sich hier einordnen: Die Weigerung der Lohnauszahlung wurde ihr gegenüber zunächst mit den Einreisekosten, dann mit den Kosten für einen Krankenhausaufenthalt gerechtfertigt. Die Erhöhung der geforderten Arbeitsleistung bei gleicher Bezahlung ist eine in der Gebäude- und Hotelreinigungsbranche offenkundig sehr verbreitete Praxis. Zur Umgehung von Mindestlöhnen oder Lohnerhöhungen wird die Anforderung an die Arbeitsleistung erhöht. So berichtet Frau S. über eine Klientin, die in dieser Branche schon lange tätig ist und darüber klagte, dass die Arbeitsstunden verringert und zugleich die Reinigungsläche vergrößert wurden, so dass bei gleicher Entlohnung die doppelte Arbeitsleistung erbringen mussten. Die Betroffenen in den hier erwähnten Fällen hatten durchaus das Bewusstsein ungerechter und rechtswidriger Behandlung. Sie willigten aber – aus Mangel an Alternativen oder Hoffnung auf Besserung – ein, die Beschäftigung zu den veränderten, schlechteren Bedingungen fortzusetzen. Verschleierte Ausbeutungsverhältnisse Bei diesem Muster verschleiern ArbeitgeberInnen die Absicht einer rechtswidrigen Ausbeutung nicht nur gegenüber Behörden, sondern auch gegenüber den Beschäftigten. Bei der verdeckt täuschenden Ausbeutung arbeiten die Beschäftigten in der Erwartung, dass getroffene Vereinbarungen – seien es einvernehmlich vereinbarte oder nachträglich aufgenötigte Absprachen - eingehalten werden. Durch kleinere Anzahlungen werden die ArbeitnehmerInnen im Glauben gelassen, dass sie nach Erfüllung des Arbeitsvertrags den vereinbarten Lohn in voller Höhe ausgezahlt bekommen. Es liegen mehrere Schilderungen zu dieser Konstellation vor. Der Fall der griechischen Bauarbeiter kann exemplarisch für ein verdeckt täuschendes Ausbeutungsverhältnis stehen. Mit einer ersten kleinen Anzahlung erwarb der Mittler das Vertrauen der Männer und stellte somit sicher, dass sie bis zum Monatsende die vereinbarte Arbeitsleistung erbrachten und keine weiteren Forderungen erhoben. Die ArbeitnehmerInnen können auch über die ordnungsgemäße Anmeldung bei den Behörden getäuscht werden. Der Anwalt, der bundesweit chinesische Köche vertritt, erklärte, er habe „von 100 Fällen nicht einen gehabt, bei dem vom ersten Tag an die Anmeldung erfolgte.“ Viele werden von dem Arbeitgeber nie angemeldet und erfahren dies erst, wenn bei einer Arbeitsmarktkontrolle die Dokumente überprüft werden oder nach Einleitung arbeitsgerichtlicher Schritte oder Ermittlungsverfahren. Herr F. erfuhr erst nach seiner Erkrankung von der Krankenkasse, dass er und seine Frau nicht zu jedem Zeitpunkt ordnungsgemäß angemeldet und versichert waren. Diese Konstellation kann aber nur eine vorübergehende Phase darstellen, da Beschäftigte mit zunehmender Zeit erkennen, dass Absprachen nicht eingehalten werden. Dann wird die betroffene Person mit dem Arbeitgeber verhandeln wollen. In der Folge kann die Person eventuell die vereinbarten Leistungen zumindest teilweise (eventuell mit Hilfe Dritter) durchsetzen, oder aber die Beschäftigung ohne Erhalt des vereinbarten Lohnes aufgeben oder durch Androhung und Anwendung von Zwang in ein nachträglich aufgenötigtes oder offen erzwungenes Ausbeutungsverhältnis gebracht werden. 74 Offen erzwungenes Ausbeutungsverhältnis Schließlich kann ein Ausbeutungsverhältnis auch durch Anwendung oder Androhung von Gewalt und Ausübung von Zwang durchgesetzt werden. Aus den vorliegenden Fallschilderungen ergibt sich, dass in insgesamt fünf Fällen die Anwendung oder Androhung physischer und psychischer Gewalt und die Isolation der Betroffenen von der Außenwelt dargestellt wurde. In einem Fall kam es zu einer Anzeige und Verurteilung nach § 233 StGB. Insgesamt ist auffällig, dass in dem von uns erhobenen Fallsample vor allem Frauen von einer offen erzwungenen Ausbeutung betroffen waren, die im Haushalt eines Arbeitgebers arbeiteten und wohnten. Neben den Hausangestellten von Botschaftsangehörigen wurde ein Fall berichtet, in dem Frau B. mit der Aussicht auf eine Eheschließung einreiste, von dem Mann aber missbraucht und ausgenutzt wurde. Den diesbezüglich extremsten Fall stellt sicherlich die geschilderte Geschichte von Frau H. dar, die von ihrem Arbeitgeber eingesperrt, eingeschüchtert und mit rationiertem Essen unterversorgt wurde. 4.4.4 Zusammenfassende Einschätzung mit Blick auf § 233 StGB Mit Blick auf die im Rahmen der Recherche geschilderten Fälle bildeten die extremen Formen des Zwangs die Ausnahme. Auch nach den Erkenntnissen der Berliner Polizei spielte bei den eröffneten Ermittlungsverfahren wegen § 233 StGB die offene Gewaltanwendung eine geringe Rolle. Häuiger wurden subtilere Formen des Zwangs beschrieben, derer sich die ArbeitgeberInnen bedienten. Sie sind eher charakteristisch für Arbeitsverhältnisse, die von uns als einvernehmlich, nachträglich aufgenötigt oder verschleiert bezeichnet werden. Ob in solchen Konstellationen die Tatbestandsmerkmale des § 233 StGB erfüllt sind, ist – wie der zuständige Berliner Oberstaatsanwalt betonte – für jeden Einzelfall durch die Bewertung der Täterabsichten und der eventuell bestehenden auslandsspeziischen Hillosigkeit oder Zwangslange zu prüfen. Zumindest in den von uns aufgenommenen Fällen des von Anfang an einvernehmlichen Ausbeutungsverhältnisses ist aufgrund der niedrigen Löhne von weniger als zwei Drittel des tarilichen oder ortsüblichen Lohnes die Schwelle zur Sittenwidrigkeit überschritten, was wir als Ausbeutungsverhältnis ansehen. Wenn eine sittenwidrig niedrige Entlohnung über einen längeren Zeitraum erfolgt, wäre aber durchaus zu überlegen, ob dies nicht auf die bewusste Ausnutzung einer Zwangslage oder auslandsspeziischen Hillosigkeit hinweist. Bei einem verschleierten Ausbeutungsverhältnis liegen die gleichen Voraussetzungen bzgl. Arbeitsausbeutung und zusätzlich der Arbeitgebermotivation vor. Außerdem kann für diese Konstellation argumentiert werden, dass sich ArbeitnehmerInnen nur durch das verschleiernde Arbeitgeberverhalten zur Fortsetzung der Beschäftigung entschlossen haben. Zumindest in den Fällen, in denen für die letzten Monate kein Lohn gezahlt wurde, kann man davon ausgehen, dass sie das Arbeitsverhältnis nicht fortgesetzt hätten, wenn sie nicht getäuscht worden wären. Damit sind die im UN-Protokoll Menschenhandel genannten Merkmale gegeben. Bei dem nachträglich aufgenötigten Ausbeutungs- 75 verhältnis lässt sich nicht ohne weiteres schlussfolgern, wie eine Person sich entschieden hätte, wenn sie von Anfang über die nachträglich angebotenen, schlechter gestalteten Arbeits- und Lohnbedingungen informiert gewesen wäre. In einigen Fällen kann auch die ungünstigere Vertragsgestaltung durchaus noch Arbeits- und Lohnbedingungen darstellen, die gegenüber der Beschäftigung im Herkunftsland für die betroffene Person eine Verbesserung darstellt. Auch hier kommt es auf die Würdigung der Umstände im Einzelfall an: Kann sich die Person z. B. aufgrund einer eingegangen Verschuldung, um die Kosten für die Einreise zu inanzieren, nicht mehr aus dem Abhängigkeitsverhältnis von ArbeitgeberInnen oder -vermittlerInnen lösen? Als Konsequenz aus dem Beschluss des BGH wäre allerdings zusätzlich nach der noch geltenden Rechtslage zur Erhebung einer Anklage wegen § 233 StGB in jedem Fall zwingend zu zeigen, dass die Entscheidung der Beschäftigten für das Eingehen oder Fortführen des ausbeuterischen Arbeitsverhältnisses durch das Handeln der ArbeitgeberInnen herbeigeführt wurde. Dies kann nur gelingen, wenn die betroffenen Beschäftigten einen überzeugenden Einblick in ihre Gedanken und Gefühle, die mit der Entscheidung der Aufnahme oder Fortsetzung einer ungünstigeren Beschäftigung verbunden waren, gewähren – oder die TäterInnen ein Geständnis ablegen. Die Darstellung zeigt, dass auch in Berlin und Brandenburg Fälle bekannt werden, die Hinweise auf einen Anfangstatverdacht wegen MH/A bieten. Aber erst nach eingehender Prüfung und Beweisaufnahme, die auf Aussagen und Angaben der Geschädigten und der Beschuldigten angewiesen sind, ließe sich rekonstruieren, wie die Situation der Arbeitsausbeutung zustande gekommen ist. Es müsste geprüft werden, inwiefern die einvernehmliche oder durch nachträglich aufgenötigte Einwilligung der Beschäftigten durch Ausübung subtiler oder offener Formen des Zwangs und der Gewalt herbeigeführt wurde und ob die betroffene Person dadurch tatsächlich in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeschränkt wurde. 4.5 Risikofaktoren Im Vorschlag für einen neuen Rahmenbeschluss vertritt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften die Auffassung, dass die Verletzlichkeit der Opfer „wohl die Hauptursache des Menschenhandels“ ist (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2009: 2). In der Literatur indet sich eine Vielzahl von Bestimmungen für diesen Begriff. Zumeist wird auf die immer noch als grundlegend geltende Deinition von Chambers (1989: 1) Bezug genommen: Verletzlichkeit bezeichnet eine Situation, in der eine Person Unwägbarkeiten und Stress ausgesetzt ist und Schwierigkeiten hat, diese zu bewältigen. Verletzlichkeit hat zwei Seiten: Die externe Seite der Risiken, der Schock- und Stresssituationen, der eine Person oder ein Haushalt ausgesetzt ist; und die interne Seite der Wehrlosigkeit, also dem fehlenden Vermögen zu reagieren ohne Schaden zu erleiden (Steinbrink 2009: 56). Im Anschluss an diese Deinition haben Bohle und Watts (1993: 3) drei grundlegende Dimensionen der Verletzlichkeit abgeleitet. (1.) Das Risiko, einer Stresssituation bzw. Krise ausgesetzt zu werden (potenzielle Krisengefährdung/„exposure“); (2.) das Risiko, einem Stressereignis keine geeigneten Bewältigungsstrategien entgegensetzen zu können („coping capacities“); (3.) das Risiko schwerwiegender negativer Folgen und das Risiko, dass sich die betroffenen Gruppen nur langsam oder gar nicht von Krisenereignissen erholen („recovery capabilities“). Nach diesem Verständnis sind diejenigen Gruppen besonders verletzlich, die dem größten Krisenrisiko ausgesetzt sind, die wenigsten Möglichkeiten haben, auftretende Krisen zu bewältigen und unter den Folgen einer Krise am stärksten zu leiden haben sowie die längste Zeit benötigen, um sich von den Krisenereignissen zu erholen. Exposition, Bewältigungskapazität sowie Folgeschäden und Erholung stellen die Eckpfeiler des Modells der Verwundbarkeit dar (Steinbrink 2009: 56). In einer empirischen Untersuchung zum Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung, bei der in vier europäischen Ländern (Irland, UK, Portugal, Tsche- 76 chische Republik) Interviews mit ExpertInnen und direkt betroffenen WanderarbeiterInnen durchgeführt werden konnten, wurden in Anlehnung an das Konzept der Verletzlichkeit vier Faktorenbündel identiiziert, die das Risiko der Entstehung von Situationen extremer Ausbeutung erhöhen (AntiSlavery International 2006): (1) die individuelle Verletzlichkeit des Arbeitnehmers, (2) die Komplexität aufenthalts- und arbeitsrechtlichen Bestimmungen des Ziellandes, (3) verunsichernde oder einschüchternde Verhaltensweisen von Arbeitgebern und (4) starker Kosten- und Wettbewerbsdruck in bestimmten Branchen des Ziellandes. Betont wird insbesondere • • • • • dass die individuelle Verletzlichkeit mit der Mehrfachabhängigkeit von einer einzigen Personengruppe zunimmt, dass die Unübersichtlichkeit rechtlicher Regelungen des Ziellandes eine informierte Entscheidung über die eigenen Handlungsmöglichkeiten erschwert, dass die Bindung des Aufenthaltsstatus an einem bestimmten Arbeitgeber diesem Ausbeutungsoptionen eröffnet, dass kursierende Erzählungen über die gewalttätige Durchsetzung von Arbeitsausbeutung dazu führen, dass in vielen anderen Fällen ein Zwang durch die Androhung oder auch nur Andeutung von Gewalt ausgeübt werden kann (Verunsicherungspraktiken von Arbeitgebern), dass eine Kombinationen von starkem Kostendruck in bestimmten Bereichen des Arbeitsmarktes des Ziellandes mit starkem Existenzdruck in Herkunftsländern Ausbeutungssituationen begünstigen. In Anlehnung an diese Konzeptionalisierung wollen wir die Fallschilderungen nach Risikobündeln der Verletzlichkeit auswerten. Dabei wollen wir nach Faktoren unterscheiden, die einerseits mit den Betroffenen verbunden sind und Bewältigungskapazitäten betreffen sowie andererseits solchen, die eher mit branchentypischen Beschäftigungsbedin- gungen oder der Migrationssituation verbunden sind und Krisengefährdungen betreffen. 4.5.1 Individuelle Risikofaktoren Eine aktuelle Veröffentlichung von EUROPOL hat eine schematische Darstellung der „at risk group“ Opfer von Menschenhandel veröffentlicht. Danach wird das Risiko, Opfer von Menschenhandel zu werden, etwa durch niedrige Bildung oder durch Geburt in ländlicher Region etc. erhöht.46 Auch das in Wien angesiedelte Forschungsinstitut ICMPD hat in einer aktuellen Studie Risikofaktoren für potentielle Opfer von Menschenhandel formuliert (ICMPD 2010). In beiden Ausarbeitungen sind die vorgeschlagenen Faktoren aber sehr allgemein gehalten sind und die Bestimmung der ‚Risikofaktoren’ oder ‚Risikogruppen’ weisen eine so starke Überdehnung auf, dass das angestrebte prognostizistische Ziel nicht erreicht wird. Die Betrachtung der individuellen Merkmale der von Arbeitsausbeutung betroffenen Personen weist auch in unserem Sample eine so breite Streuung auf, dass letztlich nur wenig konkrete Hinweise auf besonders risikoträchtige Merkmale oder Gruppen identiiziert werden, die unmittelbar mit der ‚individuellen’ Seite verbunden sind. Geschlecht: Von Arbeitsausbeutung betroffen sind sowohl Männer als auch Frauen, wobei eine deutliche geschlechtsspeziische Verteilung nach Branchen deutlich wird. Offen- erzwungene Arbeitsausbeutung wurde im Rahmen der Interviews nur für abgeschottete Beschäftigungsbereiche wie Gaststätten und Privathaushalte berichtet, wobei in unserem Sample nur Frauen betroffen waren. Alter: Im Falle der Arbeitsausbeutung fällt auf, dass im Vergleich zur sexuellen Ausbeutung, bei der nur ein geringer Anteil der Betroffenen älter als 25 Jahre alt ist, eine große Altersspanne zwischen 19 und 55 Jahre besteht. Betrafen die Fälle ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse Männer, die älter als 40 Jahre 46 EUROPOL, http://www.europol.eu/publications/Serious_Crime_Overviews/Traficking%20in%20Human%20Beings%20 June%202009.pdf : zuletzt besucht am 30.08.2010 77 alt sind, so handelte es sich dabei überwiegend um Familienväter, deren Frauen und Kinder ebenfalls in Deutschland leben. Frauen in dieser Altersgruppe lebten und arbeiteten hier deutlich häuiger allein, typischerweise in Privathaushalten und arbeiteten als Reinigungskraft oder in der Plege. Alter an sich scheint kein besonderer Risikofaktor zu sein. Bildung: Die verfügbaren Informationen zu Bildungsniveau und berulicher Qualiikation ergeben ebenfalls ein gemischtes Bild. Neben Personen mit niedriger Bildung und geringer Qualiikation, die vor allem bei neu eingereisten Betroffenen von Arbeitsausbeutung vertreten waren, gab es insbesondere bei Asylbewerbern und Personen mit Duldung Höhergebildete. Sprachkenntnisse: Mit Bezug auf die Sprachkenntnisse lässt sich festhalten, dass sich die Gruppe derer, die über keine oder nur sehr geringe (Fremd) Sprachkenntnisse verfügt, vor allem aus Personen zusammensetzt, die zu Arbeitszwecken neu einreisten. Es handelte sich dabei um Personen, die unabhängig davon, ob sie legal oder illegal einreisten, nur einen temporären Arbeitsaufenthalt beabsichtigten. Auffällig ist, dass ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, denen eine legale Einreise zur Aufnahme einer Beschäftigung vorangegangen war, immer mit mangelnden Sprachkenntnissen einher gingen. Es ist aber auch bemerkenswert, dass etwa die Hälfte der im Sample erfassten Personen gute bis sehr gute Kenntnisse der deutschen oder einer anderen europäischen Fremdsprache aufwiesen. Dabei handelte es sich überwiegend um AsylbewerberInnen und langjährig Geduldete sowie Personen, die sehr lange illegal in Deutschland leben. Bis auf eine Frau, die bereits 1987 mit einem Touristenvisum einreiste und fast 22 Jahre lang als Hausangestellte in Botschaften und Privathaushalten arbeitete, setzt sich diese Gruppe somit fast ausschließlich aus Personen zusammen, die nicht zu Arbeitszwecken eingereist waren, sondern in fast allen Fällen gemeinsam mit mehreren Familienangehörigen ihre Heimat aus unterschiedlichen Gründen verlassen mussten. 78 4.5.2 Soziale und rechtliche Risikofaktoren Neben dem Aufenthaltsstatus und individuellen, den einzelnen ArbeitsmigrantInnen eigenen individuellen Merkmale wie Alter, Bildung, Geschlecht, Sprachkenntnisse lassen sich auch soziale und rechtliche Risikofaktoren identiizieren. Hierzu zählen die mit einer Migrationssituation und branchentypischen Praktiken der Ausgestaltung von Beschäftigungsverhältnissen verbundenen Risiken der Mehrfachabhängigkeit. Aufenthaltsstatus: In dem Sample ergaben sich Hinweise, dass nicht nur ein fehlender, sondern auch ein unsicherer Aufenthaltsstatus einen Risikofaktor bilden. Drei Viertel der uns von den angefragten Experten geschilderten Fälle extremer Arbeitsausbeutung betrafen Personen, die legal einreisten und hier arbeiteten oder Personen, die durch Ausübung einer angemeldeten Beschäftigung eine Verstetigung ihres Aufenthaltstitels erreichen wollten. Diese Gewichtung ist auf die Zielgruppenspezialisierung der Beratungsstellen zurückzuführen: Fünf Interviews wurden mit MitarbeiterInnen von Beratungsstellen für Migranten durchgeführt, die sich auf Fragen der Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen und Geduldeten konzentrieren. Die geschilderten Fälle von Migranten, die in Deutschland Opfer extremer Arbeitsausbeutung wurden, lassen sich vier Gruppen zuordnen. (1) Bleiberecht durch Arbeit. Zu dieser Gruppe gehören diejenigen, die sich in der Bleiberechtsregelung beinden oder einen ungesicherten Aufenthalt haben. Mehrere Faktoren tragen zu ihrer Verletzlichkeit bei: Sie unterlagen meistens eines mehrjährigen Aufenthalts einem Arbeitsverbot. Im Ausland erworbene Qualiikationen wurden nicht anerkannt oder haben ihren Wert verloren, so dass sich Beschäftigungsmöglichkeiten vor allem im Niedriglohnsektor bieten. In ihren Augen ist die Beschäftigung zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen häuig der Preis, den sie für den Erhalt eines gesicherten Aufenthaltes zu zahlen haben. Je größer die Angst vor einer Abschiebung ist, desto höher ist auch die Bereitschaft, auffällig ungünstige Arbeitsbedingungen hinzunehmen. Zudem betreffen alle geschilderten Fälle in dieser Gruppe Personen, die mit ihrer Familie eingereist sind bzw. Kinder haben, die in Deutschland geboren sind. Personen, die sich dieser Gruppe zuordnen lassen, arbeiten überwiegend in der Hotelreinigung, dem Dienstleistungssektor, der Produktion und in der Gastronomie. (2) Einreise als EU-Bürger: Bei den geschilderten Fällen extremer Arbeitsausbeutung von EU-Bürgern lassen sich wenig Gemeinsamkeiten benennen. Auffällig ist vor allem, dass sich viele erst in Deutschland auf die Suche nach Arbeit begeben haben. BeraterInnen berichten immer wieder über Menschen, die ohne konkreten Plan zu Bekannten oder entfernten Verwandten nach Deutschland kommen, die ihnen bei der Suche nach Arbeit helfen sollen. Wenn sie eine unangemeldete Beschäftigung aufnehmen, können sie wegen fehlender Sprachkenntnisse, mangelnder Bildung oder mangelndem Zutrauen in ihre Rechtsansprüche in vergleichbar problematische Situationen wie Drittstaatler geraten. Den Berichten lassen sich Hinweise entnehmen, dass diese Personen vor allem im Baugewerbe, der Gebäude- und Hotelreinigung, sowie der Gastronomie beschäftigt werden. (3) Einreise mit Beschäftigungsvisum: Insgesamt sechs Fälle betreffen Drittstaatler, die ofiziell registriert mit dem Ziel einreisten, für einen bestimmten Zeitraum hier zu arbeiten. An die Vergabe von Visa für Spezialitätenköche und Hausangestellten von Diplomaten sind jeweils bestimmte Bedingungen geknüpft. Der Aufenthalt von Spezialitätenköchen ist an ihre Tätigkeit geknüpft, der von Botschaftshausangestellten ist an den Arbeitgeber persönlich gebunden. Das daraus resultierende Abhängigkeitsverhältnis ist also ungleich höher. Anders als Spezialitätenköche können diese Hausangestellten sich keine vergleichbare Tätigkeit bei einem anderen Arbeitgeber in Deutschland suchen, sollten sie entlassen werden. Der Aufenthalt ist grundsätzlich zeitlich befristet. Mit Ausnahme der äthiopischen Köchin wurden die Betroffenen dieser Gruppe im Heimatland meist gezielt über Zeitungsannoncen angeworben und die Vermittlung 79 lief über professionelle Agenturen. Angesichts der eher geringen Anzahl von Arbeitsvisa, die jährlich genehmigt werden, sind Betroffene dieser Kategorie im Sample auffällig häuig vertreten. (4) Irreguläre Einreise und Aufenthalt: Ein Viertel der im Sample erfassten Personen, die sich in extrem ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen befanden oder noch immer beinden, war illegal eingereist. Bei allen handelt es sich um Frauen. Hinsichtlich ihrer Strategien gibt es auffällige Parallelen: 1) Sie wählten ihre Arbeitsverhältnisse bereits im Vorfeld gezielt aus und setzten sich konkrete Ziele, die sie – häuig innerhalb eines bestimmten Zeitraums – mit Hilfe der Arbeit verwirklichen wollten. Frau E. wollte mit dem Geld die Ausbildung ihrer Kinder sichern, nachdem ihr Mann arbeitslos geworden war. Die Tochter von Frau C. wünschte sich ein Musikinstrument – sie rechnete daher genau aus, wie lange sie arbeiten müsste, um ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Frau L. ist allein stehend, hat keine Familie, die sie im Alter unterstützen könnte. Sie wollte so lange in Deutschland arbeiten, bis sie genug für ihre Altersvorsorge gespart hätte. 2) Sie planten, zurück in ihre Heimat zu gehen, sobald sie die selbst gesetzten Ziele erreicht hätten. 3) Sie suchten und fanden die Arbeit über ihre eigene Community. Die Frauen arbeiteten überwiegend in Privathaushalten sowie in der Gastronomie. Die Auswertung des Samples zeigt, dass Betroffene von Arbeitsausbeutung eine sehr heterogene Gruppe darstellen. Obgleich es zahlreiche Hinweise auf extrem ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse von Asylbewerbern ohne Arbeitserlaubnis gab, konnte keiner dieser Fälle in das Sample aufgenommen werden. Aus Angst vor den Konsequenzen vertrauen die Betroffenen sich den BeraterInnen nur selten an und geben keine detaillierten Informationen die Gestaltung und Bezahlung des Arbeitsverhältnisses betreffend preis. Unterbringung: In 14 Fällen wurden die Betroffenen von ArbeitgeberInnen oder -vermittlerInnen untergebracht und standen unter Beobachtung oder zumindest unter deren enger Aufsicht. Es fällt dabei auf, dass alle Beschäftigten, die dergestalt untergebracht waren, kein Deutsch sprachen. Die enge Aufsicht wurde in zwei branchenspeziisch unterschiedlichen Formen umgesetzt. Im Baugewerbe organisiert der Arbeitgeber die Unterkunft, holt die Betroffenen morgens ab und bringt sie abends wieder zurück. Bei der Beschäftigung in Gaststätten und im privaten Haushaltsbereich werden die Betroffenen direkt am Arbeitsplatz untergebracht. In sechs Fällen hielten die Betroffenen sich unerlaubt in Deutschland auf. In diesen Fällen wurde die mit der Unterbringung durch die ArbeitgeberIn verbundene Isolation von der Außenwelt von den Betroffenen zunächst als Schutz empfunden. So war es Frau A., die in Berlin eine alte Frau plegte, zu Beginn gar nicht bewusst, dass man sie kontrolliert, denn „sie konnte kein Deutsch, sie hatte diese scheinbare Freiheit“ und der Sohn der alten Frau ging für sie einkaufen. Anfänglich habe sie gar nicht das Bedürfnis gehabt, allein rauszugehen. Sie hatte Angst und war „auch psychisch (...) in sich selbst gefangen.“ In den verbleibenden acht Fällen waren die Personen(gruppen) ofiziell eingereist und befanden sich in einem angemeldeten Arbeitsverhältnis bzw. gingen davon aus, sich in einem zu beinden. Aufgrund der permanenten Verfügbarkeit für ArbeitgeberInnen klagten die Betroffenen übereinstimmend darüber, „Tag und Nacht“ arbeiten zu müssen, in der Regel an sieben Tagen die Woche. Echte Ruhephasen gibt es nicht. Selbst Pausen wurden, wie in dem geschilderten Fall des chinesischen Kochs, bei Bedarf jederzeit unterbrochen und wären somit als „Bereitschaftszeiten“ zu bewerten. Bei einer Unterbringung am Arbeitsplatz ist es leichter, die Ausnutzung von Ruhezeiten als Arbeits- und Bereitschaftszeiten zu verschleiern und so vorher einvernehmlich ausgehandelte Bedingungen zu unterlaufen. Verschuldung: Ein hohes Risiko bildet die Verschuldung, um Gebühren für legale oder illegale Vermittlungsagenturen oder Darlehen für Reisekosten zu bezahlen. Die Verschuldung, um Vermittlungsgebühren aufbringen zu können, steht im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme der Dienste von Vermittlungsagenturen oder Privatpersonen, die entweder vom Ausland aus die Einreise und Vermittlung eines Arbeitsplatzes organisieren oder aber vom im Inland einen Arbeitsplatz vermitteln. In sechs Fällen ist bekannt, dass eine Ver- 80 mittlungsgebühr bezahlt wurde. Fünf dieser Fälle liefen über Agenturen im jeweiligen Heimatland. Sie vermittelten die Betroffenen in ofiziell angemeldete Arbeitsverhältnisse nach Deutschland. Im Fall von Frau Frau H. geschah die Vermittlung in das Arbeitsverhältnis über eine professionelle Agentur. Laut der Beraterin handelt es sich dabei um eine „übliche Praxis.“ Etwa fünf Millionen IndonesierInnen „verlassen das Land jährlich, und alle diese Indonesier müssen über eine Rekrutierungsagentur hierhin.“ Die Agenturen garantieren zwar einen Arbeitsplatz sowie einen reibungslosen Ablauf der Visa- und Einreiseprozeduren, sie tragen mitunter aber erheblich zur Ausbeutung der Betroffenen bei. So waren die von der Agentur verlangten Gebühren meist extrem hoch. Wenn die Betroffenen Auskunft über die Höhe gaben, so lag diese je nach Vertrag bei 7 000 oder 10 000 €. Die Betroffenen kommen somit bereits verschuldet in Deutschland an und sind auf den Arbeitsplatz und ein regelmäßiges Einkommen angewiesen. Wird die Gebühr nicht schon vor Einreise fällig, pfänden die Agenturen häuig die ersten Monatsgehälter, um die geforderte Summe zu erhalten. Frau H. hatte sich sehr schnell Hilfe suchend an die Agentur gewandt. Da sie in deren Augen aber noch verschuldet war, verweigerte man ihr jede Unterstützung. Dies sei „bei Indonesierinnen und Philippinas, die über Rekrutierungsagenturen gehen, ein echtes Problem. Weil diese Agenturen sagen, erst die Gebühr und dann die Hilfe.“ Eine Finanzierung der Gebühren wurde durch Verschuldung im Familienkreis oder durch den Verkauf von Familienbesitz (Grundstück) aufgebracht. Die Forderung einer hohen Vermittlungsgebühr führt in jedem Fall zu hohen Verletzlichkeit. Die Angst, die Beschäftigung zu verlieren und verschuldet nach Hause zurück zu kehren, wird von den ArbeitgeberInnen vorsätzlich geschürt. Da die Agenturen ihren Sitz stets im Ausland hatten und es über geleistete Zahlungen keine Nachweise gab, wäre es in keinem der geschilderten Fälle möglich gewesen, die Agenturen auf Rückzahlung der überteuerten (und damit nach Auffassung der Beraterin illegalen) Gebühren zu verklagen. Auffällig ist zudem, dass alle Betroffenen, die über Agenturen in das Land kamen, über keine Fremdsprachenkenntnisse verfügen und in Arbeitsverhältnisse vermittelt wurden, in denen sie unter enger Aufsicht ihrer ArbeitgeberInnen lebten und arbeiteten. Weder bei den Spezialitätenköchen und -köchinnen, noch bei den Hausangestellten der Diplomaten gab es daher eine erkennbare Trennung zwischen Arbeits- und Freizeit. Anstellung über Subunternehmen oder Vermittlungsagenturen im Inland: Der Einsatz von Subunternehmen und die daraus resultierenden Abhängigkeiten sind vor allem aus der Baubranche bekannt und betrafen fast ausschließlich Männer. Auffällig ist, dass Vermittler der Subunternehmen stets gezielt Arbeitnehmer aus EU-Ländern mit einem deutlich niedrigeren Lohnniveau ansprachen. Die so angeworbenen Arbeitnehmer können legal einreisen, es ist zu vermuten, dass auch sie, wie bereits geschildert, „nach Nationalität“ bezahlt werden. Die Betroffenen sprachen in der Regel kein Deutsch und waren auf einen Mittler angewiesen, der sie betreute und die Arbeitsanweisungen gab. Die Männer lebten und arbeiteten unter enger Aufsicht: Eine Unterkunft wurde organisiert, man holte sie morgens zur Arbeit ab und brachte sie abends wieder zurück. Das daraus resultierende Abhängigkeitsverhältnis weist starke Ähnlichkeiten zu jenem auf, in dem sich die Angestellten von Vermittlungsagenturen beinden. Die Funktion und Arbeitsweise dieser Agenturen ist vor allem aus Berichten zur Reinigungsbranche bekannt: Sie fungieren gewissermaßen als ‚gate-keeper’ für Stellen in der Gebäudereinigung, vor allem aber der Hotelreinigungsbranche. Den großen Hotels garantiert man niedrige Personalkosten, dafür stellen diese ihr Personal lediglich über solche Agenturen ein. Wer eine Stelle in dieser Branche sucht, kommt an den Vermittlungsagenturen nicht vorbei ฀ und diese nutzen ihre Torwächterfunktion aus, um ungünstige Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Alle Personen, die in der Hotelreinigung arbeiteten, hatten einen legalen Aufenthaltstitel und eine Arbeitserlaubnis für Deutschland. Betroffen waren sowohl Personen, die sich in der Bleiberechtsregelung befanden oder den Behörden aus einem anderen Grund eine geregelte Tätigkeit nachweisen mussten, um ihren Aufenthaltstitel zu verstetigen, als auch Bürger aus EU-Mitgliedsstaaten. Es gibt hier offensichtlich inzwischen ein großes Angebot an Arbeitsplätzen, 81 sodass selbst Personen ohne jegliche Deutschkenntnisse sofort eine Stelle erhielten. Während der Recherche wurde sehr deutlich, dass die extrem niedrigen Löhne und die schlechten Arbeitsbedingungen die Hotelreinigungsbranche bereits so in Verruf gebracht haben, dass Menschen sich auf diese Arbeit nur noch einlassen, wenn sie gar keine Alternative sehen. Die BeraterInnen berichten, dies ginge soweit, dass Klienten bereits einleitend sagen: „Sie machen alles, jede Arbeit, außer Hotelreinigung.“ Auch andere Projekte, die auf die Arbeitsmarktintegration von Migranten spezialisiert sind, vermitteln an diese Agenturen nur im „absoluten Notfall“. Nicht nur Frauen, auch Männer arbeiten als so genannte room-boys für diese Firmen in Hotels. Die Probleme, die aus einem Anstellungsverhältnis bei einem Subunternehmen oder einer Vermittlungsagentur resultieren, werden zumeist erst nach Beendigung desselbigen deutlich. In vielen Fällen war es den Betroffenen selbst mit Unterstützung der BeraterInnen nur unter erheblichen Schwierigkeiten möglich, einen Verantwortlichen ausindig zu machen, von dem man Entlassungspapiere, Lohnbescheide oder ähnliche wichtige Dokumente und Unterlagen einfordern konnte. „Hierher kamen Leute, die hatten nur eine Handynummer und einen Vornamen, die meisten wissen doch meist gar nicht mehr, wer der Arbeitgeber ist.“ Für die Dauer ihres Arbeitsverhältnisses hatten die Betroffenen meist lediglich regelmäßigen persönlichen oder telefonischen Kontakt zu den bereits erwähnten Mittlern. Rekrutierung über engen Bekannten- oder Verwandtenkreis: Wer eine Beschäftigung in Deutschland sucht, aber keine Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis besitzt, ist häuig auf die Vermittlung über private, informelle Netzwerke angewiesen. In diesem Sample wurde diese Konstellation insbesondere für die Vermittlung von Frauen in Privathaushalte geschildert. Wenn bekannt ist, dass dafür Gebühren gezahlt wurden, so waren diese verhältnismäßig gering (1 000 - 1 500 €). Entscheidend für die erfolgreiche Vermittlung in einen Haushalt scheint weniger die gleiche Nationalität, als vielmehr die gleiche Sprache zu sein. (Sprachminderheiten, Raum Russland). Da die Frauen sich unerlaubt in Deutschland aufhielten und große Angst davor hatten, verhaftet und abgeschoben zu werden, wurde die Isolation von der Außenwelt zugleich als Schutz empfunden. Die Frauen waren somit in mehrfacher Hinsicht auf ihre ArbeitgeberIn angewiesen. Bei einem länger andauernden Arbeitsverhältnis bauten viele eine enge persönliche Bindung zur ArbeitgeberIn auf und sahen sich nicht in der Lage, gegen sie vorzugehen. Bevor die Betroffenen sich dafür entschieden, ihr Arbeitsverhältnis zu beenden und Hilfe bei einer Beratungsstelle zu suchen, vergingen meist mehrere Monate. Manche beendeten ihr Arbeitsverhältnis nicht aus eigenem Antrieb, sondern wurden entlassen oder von der Polizei verhaftet und in Abschiebegewahrsam gebracht. In den hier geschilderten Fällen kannten die VermittlerInnen häuig den engsten Familien- oder Freundeskreis der Betroffenen. Entsprechend groß war die Scheu dieser Personen vor einer Anzeige. Dazu konnte sich auch Frau A. nicht durchringen, die in einem Privathaushalt acht Monate lang als Plegehelferin gearbeitet hatte. Obgleich die Beraterin sie auf die Möglichkeit einer Anzeige hinwies, wollte sie dies nicht, „weil es Bekannte waren (...) das macht man nicht.“ Die Beraterin erläutert, über diese Möglichkeit spreche sie mit allen Betroffenen, zu einer Anzeige könnten sich aber die wenigsten durchringen. Zum einen gäbe es die Angst vor Rache, „weil der Kreis zu klein ist“. Zum anderen müssten die Betreffenden dann den Kontakt zu den Bekannten oder sogar der Familie abbrechen – dies käme für die wenigsten in Frage. Die Vermischung von persönlichen Beziehungen mit einem Beschäftigungsverhältnis kann dazu beitragen, dass extreme Ausbeutung in persönlichen Beziehungen seltener vorkommt als in rein geschäftlichen Beziehungen. Wenn sie allerdings vorkommt – und nur solche Fälle wurden in dieser Untersuchung aufgegriffen – dann ist es für die Betroffenen umso schwerer, sich zu wehren. 82 4.5.3 Zwischenfazit Die Betrachtung der Risikofaktoren zeigt erneut, wie facettenreich die von den BeraterInnen geschilderten ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse sind. Die Betroffenen von Ausbeutungsverhältnissen waren Männer und Frauen innerhalb einer großen Altersspanne. Mangelnde Sprachkenntnisse waren ein Risikofaktor, entscheidender erschienen aber ein fehlender oder prekärer Aufenthaltsstatus und fehlende soziale Einbindung, die eine Abhängigkeit von ArbeitgeberInnen oder -vermittlerInnen zur Folge hat. Die erhobenen Fallschilderungen bestätigen die Beobachtung, dass mit einer Mehrfachabhängigkeit von einem Personenkreis die Verletzlichkeit höher wird und damit das Risiko, Opfer von Arbeitsausbeutung und Menschenhandel zu werden (Anti-Slavery International 2006, Dettmeijer-Vermeulen 2007). Aus den Darstellungen und Beobachtungen der BeraterInnen wird deutlich, dass einige Branchen für ausbeuterische Praktiken besonders anfällig sind. Für Personen ohne Aufenthaltserlaubnis ist hier vor allem die Beschäftigung in privaten Haushalten, oft bei Landsleuten, zu nennen. Darüber hinaus sind insbesondere Branchen betroffen, in denen die Verantwortung für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen auf Subunternehmen verlagert werden kann. Hier sind die Baubranche und das Hotelgewerbe zu erwähnen. Weiterhin besteht dort die Gefahr der Durchsetzung ausbeuterischer Beschäftigung, wenn die Beschäftigten eine arbeitserlaubnisrechtliche oder aufenthaltsrechtliche Abhängigkeit von ArbeitgeberIn oder ArbeitsvermittlerIn sehen. 83 4.6 Bekanntwerden, Kontaktaufnahme und Anzeigenbereitschaft Zur Erarbeitung von Strategien zur Vermeidung ausbeuterischer Beschäftigungsverhältnisse bei MigrantInnen sind Kenntnisse erforderlich, unter welchen Umständen die Ausbeutungsverhältnisse bekannt werde; wie die Betroffenen den Weg zu einer unterstützenden Einrichtung inden, und wovon die Anzeigenbereitschaft abhängt. 4.6.1 Bekanntwerden ausbeuterischer Arbeitssituationen Sehr oft wurden Informationen über ausbeuterische Beschäftigung bei der Gelegenheit aufenthaltsrechtlicher Beratungsgespräche gegeben. Da es sich häuig um unangemeldete oder falsch deklarierte Beschäftigungsverhältnisse handelte, wurden diese von den Ratsuchenden in Beratungsgesprächen zu aufenthaltsrechtlichen Fragen oft nur beiläuig erwähnt. Über die ausbeuterischen Beschäftigungsverhältnisse wurde in der Regel erst auf Nachfragen und Bitten von BeraterInnen ausführlicher berichtet. Wenn die Betroffenen im Zusammenhang mit Beschäftigungsverhältnissen einen Hilfebedarf äußerten, dann ging es in der Regel nicht um arbeitsrechtliche Ansprüche und Möglichkeiten der Durchsetzung, sondern um Rat und Unterstützung bei der Suche nach einer neuen Beschäftigung. Daneben gab es aber auch Betroffene, die ganz gezielt eine Beratung und Hilfe im Zusammenhang mit einer ausbeuterischen Beschäftigungssituation suchten, wenn sie sie zu der Einsicht kamen, dass sie den versprochenen Lohn nie erhalten würden und die Hoffnung auf Verbesserung der Situation aufgegeben wurde. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte von Frau D., die die Entscheidung zum Verlassen des Arbeitsplatzes erst trifft, nachdem man ihr eröffnet, dass sie nun auch die Krankenhausrechnung abarbeiten müsse. Sie erkennt, dass sie dort „nie schuldenfrei“ werden wird. Ein weiterer Grund dafür, den Arbeitsplatz zu verlassen und Hilfe zu suchen, war die körperliche Erschöpfung der Betroffenen. So wandte sich Frau A. erst an eine Beratungsstelle, nachdem sie „nervlich am Ende“ war – als Konsequenz aus der harten Arbeit, dem ständigen Schlafentzug und einer Erkrankung. Wieder andere lohen, wenn sie eine baldige Verschlimmerung ihrer Situation befürchten mussten, wie Frau B., die in die Prostitution vermittelt werden sollte. Hinsichtlich der Motivation dieser Personen, Kontakt zu einer Beratungsstelle aufzunehmen, muss betont werden, dass keine der Betroffenen diesen Schritt mit bestimmten Forderungen verband. Eine Beraterin berichtete, dass die unmittelbaren Erstbedürfnisse von Frauen nach der Aufgabe des Beschäftigungsverhältnisses zur sexuellen wie auch zur Arbeitsausbeutung darin besteht, zu schlafen, zu essen, zum Arzt gehen und zur Ruhe zu kommen. Lediglich die chinesischen Spezialitätenköche wandten sich direkt an einen Anwalt, nachdem sie in einer chinesisch-sprachigen Zeitung von den Erfolgen des Anwaltes in ähnlich gelagerten Fällen gelesen hatten. Die erfolgreiche Durchsetzung einer Lohnforderung in beträchtlicher Höhe hatte einen überaus motivierenden und überzeugenden Effekt. Ziel der Konsultation war daher primär, Lohnforderungen durchzusetzen. Schließlich erhielten auch SeelsorgerInnen in Abschiebehaft bei Gesprächen mit Inhaftierten Hinweise auf ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse. Dabei wollen Männer und Frauen aber nur in Ausnahmefällen über ihre Arbeitserfahrungen sprechen, da sie sich selbst im Unrecht fühlen. Insofern sie sich den SeelsorgerInnen dennoch anvertrauen, so geschah dies nie in Verbindung mit einer bestimmten Forderung. Einzig erkennbare Motivation sei der Wunsch sich mitzuteilen, „weil es sie persönlich so bedrückt. (...) Nicht um jemanden anzuklagen, oder um Recht zu bekommen..“ 84 4.6.2 Kontaktaufnahme mit Beratungsstellen Weiterhin ist interessant, wie die Betroffene den Weg zu einer Beratungsstelle gefunden haben. Dabei kann einerseits auf Personen hingewiesen werden, die bereits in Deutschland leben und Beratungsstellen bereits wegen sozial- oder aufenthaltsrechtlicher Fragen konsultieren. Die BeraterInnen in diesem Feld beobachten mit Sorge, wie sehr sich ihre Klienten in den Arbeitsverhältnissen ausbeuten lassen, da sie auf eine Verfestigung ihres Aufenthaltsstatus durch Nachweis einer Beschäftigung hoffen. Sie können ihnen aber kaum Alternativen anbieten oder Auswege aufzeigen. Viele berichteten, ihre KlientInnen wollen aus Angst vor den möglichen Auswirkungen auf ihren Aufenthaltstitel ein ausbeuterisches Arbeitsverhältnis grundsätzlich nur dann aufgeben, wenn sie direkt in ein neues Beschäftigungsverhältnis wechseln können. Viele KlientInnen verstoßen mit ihrer Beschäftigung selbst gegen arbeitserlaubnisrechtliche Bestimmungen. Unter diesen Umständen wird unabhängig von den Erfolgsaussichten sowohl bei strafrechtlich relevanten Sachverhalten keine Anzeige erstattet als auch auf Einleitung zivilrechtlicher Schritte verzichtet. Bei der Fallkonstellation der Personen, die zur Aufnahme einer befristeten Beschäftigung neu einreisten, kam der Kontakt mit Beratungsstellen auf unterschiedlichem Wege zustande. (1) In der überwiegenden Anzahl von Fällen nahmen die Betroffenen zunächst Kontakt zu FreundInnen oder Bekannten im In- und Ausland auf. Sie berichteten ihnen teilweise telefonisch von ihrer Lage und baten sie um Hilfe. Die Kontaktpersonen suchten dann gezielt nach einer Beratungsstelle in der Nähe, die Beratungen in der jeweiligen Sprache anbietet. Häuig waren die Stellen und die jeweiligen BeraterInnen innerhalb der Community bereits als vertrauenswürdig bekannt. Im Interview betonte eine Beraterin daher die Bedeutung von Vernetzung unter den Beschäftigten. „Wir können nur helfen, wenn jemand zu uns kommt.“ Sie bestätigt, dass die Personen, die Beratung suchen, häuig von Verwandten oder Bekannten an die Beratungsstelle verwiesen werden. Nicht selten haben diese Personen selbst einmal Hilfe gesucht und empfehlen die Stelle aufgrund der guten Erfahrungen, die sie dort gemacht haben, weiter. So gäbe es Familien, in denen die Beraterin Mitglieder der ersten, zweiten und dritten Generation betreut, mitunter erhalte sie auch Anrufe aus dem Ausland, denn „Beratungsstellen wie unsere existieren dort nicht.“ (2) Einige Fälle von extremer Arbeitsaubeutung wurden allein deshalb bekannt, weil sich die Betroffenen in der Abschiebehaft den SeelsorgerInnen anvertrauten – meist erst nach mehrfachen Besuchen. Die Personen in Abschiebehaft wurden häuig wegen „Lappalien“ festgenommen. In den geschilderten Fällen zogen die Festgenommenen durch einen Zufall die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich: Entweder sie wurden bei Kontrollen auf der Straße verhaftet – zumeist, weil sie versuchten zu liehen – oder die Polizei traf sie in Wohnungen an, in denen sie eigentlich jemand anderen verhaften wollten. (3) In zwei Fällen waren die Betroffenen auf die Unterstützung und Aufmerksamkeit von Dritten, ihnen unbekannten Personen, angewiesen: Frau N, die als Haushaltsarbeiterin bei einem Diplomaten beschäftigt war, versuchte einem Spielplatz mehrfach andere Personen auf ihre Situation aufmerksam zu machen und Hilfe zu leisten und schließlich Erfolg hatte. Und ohne das geistesgegenwärtige Verhalten der Ärzte wäre Frau H., die mit TBC in das Krankenhaus eingeliefert worden war, von ihrem ‚Arbeitgeber’ wieder abgeholt worden. 4.6.3 Einleitung zivilrechtlicher Schritte und Strafanzeigen Selbst wenn die Betroffenen legal eingereist sind und nicht befürchten müssen, abgeschoben zu werden, fällt die Entscheidung schwer, Anzeige zu erstatten: Eine Beraterin erklärt, den Frauen, die sie betreut, sei bewusst, dass sich rechtliche Auseinandersetzungen über Jahre hinziehen können. Die Betroffenen aber leben im „hier und jetzt“ und haben keine Zeit, auf Geld zu warten. Angesichts der Tatsache, dass der Aufenthalt und die Arbeit in Deutschland zumeist der Verwirklichung eines konkreten Ziels dienen sollten, wird genau abge- 85 wogen, welche Vor- und welche Nachteile mit einer Anzeige verbunden sind. In den hier geschilderten Fällen war der Druck, in kurzer Zeit möglichst viel Geld verdienen zu müssen, meist zu groß, als dass die Betroffenen den langen und mühsamen Rechtsweg gehen wollten. Bei Personen ohne geregelten Aufenthalt, die Unterstützung in der Beratung suchten, iel diese Kosten-Nutzen-Rechnung stets gegen die Entscheidung aus, Anzeige zu erstatten: Nach der Beratung suchten und fanden die Betroffenen – in den hier geschilderten Fällen ausschließlich Frauen – in kurzer Zeit neue Arbeitsverhältnisse über ihre Netzwerke. Nach unseren Recherchen zeigen BeraterInnen zwar nicht in Erstgesprächen, in denen die Betroffenen nicht aufnahmefähig sind, aber in Folgegesprächen den Betroffenen gezielt Handlungsoptionen auf. Eine Beraterin berichtet: „Bei den Lohnforderungen ist es tatsächlich so, dass manche Frauen das anfangs nicht unbedingt wollen. Weil es ihnen peinlich wäre. Weil sie nicht möchten, dass man denkt, sie sagen diese Sachen nur, damit sie an Geld kommen. Das ist für die Frauen ganz beleidigend. Da ist es mittlerweile aber schon so, dass wir sehr darauf achten, zu sagen: Doch, der Lohn steht Ihnen zu. Und dass wir die Frauen sehr darin stärken, das zu fordern.“ Eine Beraterin erklärte, sie spreche mit allen Betroffenen über die Möglichkeit einer Strafanzeige. Dazu könnten sich aber die allerwenigsten durchringen. Mit Blick auf die im Rahmen der Recherche geschilderten Fälle lässt sich jedoch ein deutlicher Unterschied zwischen den Entscheidungen feststellen, die Personen mit und ohne legalen Aufenthaltstitel treffen. Eine Reihe von Fällen konnte deshalb im Rahmen der Studie erhoben werden, weil sich die legal mit einem Arbeitsvisum eingereisten Beschäftigten aufgrund der Beratung dazu entschlossen hatten, Lohnforderungen zu erheben. Nur im Fall der äthiopischen Spezialitätenköchin Frau D. kam es zu einer Strafanzeige und Verurteilung des Arbeitgebers nach §233 StGB. In diesem Fall beteiligte sich die Betroffene deshalb an der Aufklärung und Strafverfolgung, um ihren persönlichen Ruf in der Community wiederherzustellen. 4.7 Zusammenfassende Beobachtungen Die Informationen der MitarbeiterInnen von Beratungsstellen und RechtsanwältInnen verdeutlichen, dass ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse unterschiedlichen nichtstaatlichen Stellen bekannt werden, die mit einem niedrigschwelligen Angebot das Vertrauen der Klienten gewinnen, wenn sie keine Schritte ohne Zustimmung der Betroffenen durchführen. Allerdings zeigt sich, dass die Beratungsstellen unter den gegebenen rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen kaum Ansatzpunkte sehen, um ausbeuterische Beschäftigung oder Verdachtsfälle auf MH/A zur Anzeige zu bringen. Aufgrund der Strafandrohung wegen illegalem Aufenthalt oder Schwarzarbeit für den Fall, dass sich der Verdacht auf MH/A nicht erhärten lässt, können die Betroffenen in der Regel nicht dazu motiviert werden, eine Strafanzeige zu stellen und Ermittlungsarbeiten zu unterstützen. Aus diesen Gründen sind die Betroffenen häuig auch nicht dazu bereit, zivilrechtliche Schritte einzuleiten. Diesbezüglich kommt erschwerend hinzu, dass die Betroffenen oft keine hinreichenden Informationen und Nachweise über die Arbeits- und Lohnbedingungen der Beschäftigung erbringen können. 86 87 5. Möglichkeiten zur Schätzung der Größenordnung von MH/A Wie aus den bisher dargestellten Befunden deutlich wurde, ist eine Schätzung der Größenordnung schon aus begriflichen Gründen mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Ziel dieses Abschnitts ist es zu untersuchen, inwiefern dennoch Aussagen zur Größenordnung möglich sein könnten. Da für Deutschland bisher keine Schätzungen vorliegen, wird in einem ersten Abschnitt auf internationaler Ebene die ILO-Schätzung zur Zwangsarbeit in der Privatwirtschaft als ungefähres Äquivalent identiiziert, bevor in einem zweiten Abschnitt der Untersuchungsgegenstand näher eingegrenzt wird. Es werden Überlegungen zu den methodischen Grundlagen möglicher Schätzungen vorgestellt. Auf dieser Basis wird gesichtet, inwiefern das im empirischen Teil zusammengestellte Material bereits Ansatzpunkte für eine Schätzung bietet und wie solche Ansatzpunkte geschaffen werden könnten. Da das erhobene Material nicht genügend Anhaltspunkte für eine Schätzung bietet und allenfalls die vorsichtige Plausibilitätseinschätzung hindeutet, dass besonders schwere Fälle von Zwangsarbeit nur selten vorkommen, werden Vorschläge zur Verbesserung der quantitativen Lageeinschätzung vorgeschlagen. 88 5.1 Stand der Diskussion über Schätzungen zu MH/A „Zahlen sind nicht so wichtig – jeder Betroffene ist einer zu viel“ – so wird oft argumentiert, wenn nach Dunkelziffern gefragt wird. Das ist sicherlich richtig, wenn es um ein grundsätzliches moralisches Urteil geht. Allerdings beraten und entscheiden Politiker und Politikerinnen sowie auch Praktiker und Praktikerinnen immer auch vor dem Hintergrund vorgestellter Größenordnungen, ob nun explizite Zahlen genannt werden oder nicht. Stark überschätzte und unterschätzte Phänomene können zu politischen Fehlentscheidungen führen (Tyldum, Brunovskis 2005, S. 19). Im ‚Berliner Bündnis gegen Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung’ wird von der Annahme ausgegangen, dass es so wenige ofiziell identiizierte Fälle gibt, weil Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung nicht wahrgenommen wird und weil die Betroffenen sich bislang nur auf unzureichende Hilfe stützen können. Damit ist angedeutet, dass von einer erheblichen Dunkelziffer ausgegangen wird. Letztlich ist es das Ziel des Projekts, effektivere Hilfe- und Beratungsstrukturen aufzubauen, damit Betroffene Auswege aus extrem ausbeuterischen Situationen inden und ihre Rechte einfordern können. Was adäquate Hilfe- und Beratungsstrukturen sind, hängt von vielen Faktoren ab, darunter auch vom Umfang des Phänomens. Vor diesem Hintergrund sind Überlegungen zur Möglichkeit der Schätzung von Dunkelziffern sinnvoll und sollen hier vorgestellt werden. Zu Ausmaß und Erscheinungsformen des Menschenhandels liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor. Bereits früh wurden die in den jährlich veröffentlichten Menschenhandelsberichten des Auswärtigen Amtes der USA (US Department of State, 2002, 2003, 2004) genannten globalen Gesamtzahlen der Opfer des Menschenhandels als überhöht kritisiert. Die Herausgeber des TIP-Berichts korrigierten daraufhin zwischen 2001 und 2005 die Schätzungen kontinuierlich nach unten: Nach einer anfänglichen Schätzung von 0,7 bis 4 Millionen Menschenhandelsopfern wurde die Zahl auf 600-800 000 Opfer reduziert (Kelly 2005: 239f). Die umfassendste und auch am besten dokumentierte Schätzung zum weltweiten Umfang von Zwangsarbeit und Menschenhandel hat die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) vorgelegt. Sie beruht auf einer umfassenden Informationssammlung über einen Zeitraum von zehn Jahren und wurde 2005 veröffentlicht. Darin wird Zwangsarbeit (forced labour) und Menschenhandel (traficking) unterschieden. Zwangsarbeit wird deiniert als Arbeit, die unter Bedrohung durch psychologischen oder gewalttätigen Zwang unfreiwillig aufgenommen wurde (vgl. Kasten 2, Kapitel 2.1), während Menschenhandel die Rekrutierung und den Transport in die Zwangsarbeit bezeichnet (für Details zum Begriffsverständnis siehe Belser, Cock und Mehran 2005: 7-9). Zwangsarbeit wird weiter danach unterschieden, ob sie durch den Staat oder Privatpersonen durchgesetzt wird. Privat erzwungene Arbeit wird weiter danach unterschieden, ob sie im Zusammenhang mit der Sexindustrie steht oder ob nicht-sexuelle Arbeiten erzwungen werden. Hier sei noch einmal daran erinnert, dass die im deutschen Recht gewählte Speziizierung von ‚Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft‘ in §233 im Wesentlichen dem entspricht (vgl. Abschnitt 3.4), was die ILO als Zwangsarbeit zur ökonomischen Ausbeutung bezeichnet, so dass sich MH/A-Betroffene und Zwangsarbeitende im Wesentlichen synonym verwenden lässt. Die im deutschen Recht als ‚Förderung des Menschenhandels‘ in § 233 a StGB unter Strafe gestellten Tätigkeiten entsprechen im Wesentlichen dem, was in der ILO-Abgrenzung als Menschenhandel bezeichnet wird. Das muss berücksichtigt werden, wenn man die Zahlen interpretiert. 89 Tabelle 4: Mindestschätzung der ILO zur weltweiten Verbreitung von Zwangsarbeit (2005) in Tausend Durch den Staat erzwungen Kommerzieller sexueller Missbrauch Ökonomische MischAusbeutung formen Darunter Opfer von Insgesamt Menschenhandel Industrieländer 19 200 84 58 360 270 Übergangsländer 1 98 10 103 210 200 902 5 964 434 9 490 1 360 115 994 3 1 320 250 Asien und 2 186 paziischer Raum Lateinamerika und 205 Kaibik Subsaharisches Afrika 70 50 531 13 660 130 Mittlerer Osten und Nordafrika 7 25 229 - 260 230 Welt 2 490 1 390 7 810 610 12 300 2 450 Quelle: Belser, Cock und Mehran (2005:2) Es wird geschätzt, dass weltweit mindestens 12,3 Millionen Menschen Zwangsarbeit leisten müssten, die meisten davon in Asien. Für die Industrieländer wird eine Zahl von mindestens 360 000 Menschen geschätzt, die Opfer von sexueller oder Arbeitsausbeutung sind47 Die Zahl der Personen, die von Arbeitsausbeutung betroffen sind, wird auf 84 000 geschätzt. Während kommerzielle sexuelle Ausbeutung weltweit nur 11 Prozent der Schätzergebnisse ausmacht, sind es in den Industrieländern 56 Prozent. Es wird geschätzt, dass weltweit etwa 20 Prozent aller Zwangsarbeitenden durch Menschenhandel in diese Situation gebracht wurden, während der Anteil in Industrieländern auf 75 Prozent geschätzt wird, was mit dem höheren Anteil an sexueller Ausbeutung zusammenhängt. Die für die Industrieländer geschätzte Mindestzahl von 84 000 zwangsweise ökonomisch Ausgebeuteten ist die Zahl, die sich am ehesten als Vergleichszahl zum Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft im Sinne des deutschen Rechts (MH/A § 233 StGB) eignet. Schätzungen zu einzelnen Ländern wurden nicht veröffentlicht. Wären die geschätzten Zwangsarbeitenden in der Privatwirtschaft gleichmäßig nach der Bevölkerung in der Ländergruppe der Industrieländer verteilt, könnte man für Deutschland eine Mindestzahl von ca. 7 000 und für Berlin und Brandenburg eine 47 Die Berechnung für „Industrieländer“ in der ILO-Schätzung stützt sich auf das „Regional breakdown according to ILO‘s KILM (Key Indicators of Labour Market)“. Eine Aulistung der als „Industrieländer“ zusammengefassten Staaten bietet Belser, Cock und Mehran (2005:38f) 90 Mindestzahl von 500 erwarten. Es sei noch einmal betont, dass dies keine Schätzung ist. Es wurde nur eine Berechnung durchgeführt, die zeigen soll, welche Erwartungen weltweit genannte Zahlen für die Situation in Deutschland wecken könnten. Es gibt keine methodisch fundierten Schätzungen zum Umfang von Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung für Deutschland oder einzelne Bundesländer. 5.2 Eingrenzung des Untersuchungsfeldes Je genauer eine Straftat im Gesetz speziiziert ist und je stärker das Alltagsverständnis der Begriffe mit den Gesetzestatbeständen übereinstimmt, desto leichter fällt es, zum Beispiel in Umfragen und Expertengesprächen auch Informationen zu ermitteln, die zur Dunkelzifferschätzung verwendet werden können. Wenn zum Beispiel Dunkelziffern zum Ladendiebstahl bei Jugendlichen geschätzt werden sollen, kann man relativ sicher davon ausgehen, dass Forschende und Jugendliche eine ähnliche Vorstellung von Diebstahl haben und ‚nur‘ noch das Problem zu lösen ist, dass aus Scham zu wenig oder aus Angeberei zu viel angegeben wird. Beim Thema Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung liegt – wie oben gezeigt wurde – kein übereinstimmendes Verständnis vor, an das empirische Analysen anknüpfen könnten. Unser grundlegendes Verständnis der Begriffe Arbeit, Arbeitsausbeutung und Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung (Zwangsarbeit) wurden bereits in Abschnitt 3.4 dargelegt. Hier wird hier also nach Möglichkeiten zur Schätzung der Zahl der Personen in erzwungener Arbeit oder synonym Zwangsarbeit gesucht. Da das ‚Bringen in‘ eine Situation der Arbeitsausbeutung nicht zwingend eine Zuführung durch Dritte impliziert, sondern auch durch den Arbeitgeber selbst geschehen kann, wird bei den Überlegungen zur Schätzung nicht weiter verfolgt, durch welche Beförderungsund Rekrutierungswege jemand in eine Situation der Zwangsarbeit geraten ist. Der Bereich der Ausbeutung in der Sexarbeit wird hier ausgeklammert. Dabei ist uns bewusst, dass es auch dort zu Arbeitsausbeutung im Sinne unserer Deinition kommen kann, wenn nicht die Prostitution an sich gegen den Willen der Betroffenen erzwungen wird, sondern ‚nur’ die Ausübung oder Weiterführung zu ausbeuterischen Bedingungen. Wenn einzelne Fälle als Zwangsarbeitsfälle identiiziert werden sollen, werden typischerweise Indikatoren verwendet (vgl. Abschnitt 2.5). Die Prüfung komplexer Anforderungen, die Motivation der Ar- 91 beitgeber und Sinneswandel bei den Beschäftigten einschließen, sind schon in Gerichtsverfahren kaum zu bewältigen und können nicht als Ansatzpunkt für eine Schätzung genommen werden. Um in der Falldokumentation, die auf der Basis von ExpertInnengesprächen zusammengestellt wurde, Personen zu identiizieren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit von Zwangsarbeit betroffen waren, wurden vorab zwei Logiken festgelegt: 1. Ein Fall wird als Verdachtsfall von MH/A eingeordnet, wenn die Arbeit unter Anwendung oder Androhung von Gewalt gefordert wurde oder wenn die Person eingesperrt oder bewacht wurde, so dass sie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt war. In der Diskussion dürfte ein hoher Grad an Einverständnis erzielt werden können, dass hier Zwang und Befreiungsbedarf vorliegt, auch wenn Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung gerichtlich nicht immer im Einzelfall nachgewiesen werden kann. 2. Ein Fall wird als Verdachtsfall von MH/A eingeordnet, wenn jemand über einen längeren Zeitraum extreme Arbeitsausbeutung hingenommen hat. Eine Eingrenzung auf extreme Situationen soll sicherstellen, dass einleuchtend argumentiert werden kann, dass informierte Arbeitende sie nicht freiwillig eingegangen wären, und dass Arbeitgeber sich dessen bewusst sein müssen. Eine gewisse Dauer soll vorausgesetzt werden, um plausibel zu argumentieren, dass sich die Arbeitenden nicht ohne weiteres aus der Situation befreien konnten. Dies wird von uns für diese Untersuchung folgendermaßen operationalisiert: • • Es liegt ein Arbeitsverhältnis von mindestens 3 monatiger Dauer vor. Es liegt mindestens einer der vier Indikatoren für extreme Arbeitsausbeutung, die in der Falldokumentation aufgenommen wurden, vor (extrem niedriger vereinbarter Lohn, drastische intransparente Lohnkürzung, Nicht-Auszahlung von Löhnen, krasse Missachtung des Arbeitsschutzes, vgl. Abschnitt 4.1) Die Angabe für die Dauer mit 3 Monaten wurde gewählt, weil eine Beschäftigte spätestens dann gemerkt haben müsste, dass eine ArbeitgeberIn sich nicht an vorher vereinbarte Bedingungen hält. Der extrem niedrige Lohn wurde in Anlehnung an Pressemitteilungen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit gewählt, in der entsprechende Löhne als Beispiele für extreme Niedriglöhne zitiert werden. Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass auch andere Fälle in der Dokumentation den Tatbestand des § 233 StGB erfüllen könnten, insbesondere auch kürzerfristige Fälle, in denen aus dem Ausland eingereiste Menschen um ihren Lohn betrogen worden sind. Zugleich könnte die nähere rechtliche Prüfung der indizierten Fälle möglicherweise zu dem Ergebnis kommen, dass es sich nicht um MH/A im Sinne des deutschen Rechts gehandelt hat. Anhand der Falltabelle (Anhang 3) könnten auch andere Merkmalskombinationen als verdachtsindizierend gewertet werden. 5.3 Methodische Grundlagen Es ist schwierig, die Größe einer Bevölkerungsgruppe zu schätzen, die für direkte Umfragen nicht zugänglich ist. In einem Zielland wie Deutschland erscheint es wenig aussichtsreich, eine größere Zahl von Migranten direkt nach Erfahrungen zu fragen, die auf Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung hindeuten, weil die unbekannte Gesamtzahl im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung auf jeden Fall klein ist, und die Kriminalisierung und Stigmatisierung in Deutschland hoch sind, so dass sich mit einer Umfrage keine statistisch verwertbaren Ergebnisse erzielen lassen (International Labour Organisation 2009, S. 13). Die Schätzung der ILO zu Zwangsarbeit und Menschenhandel ist die einzige Schätzung, bei der die Methoden und zugrunde liegenden Annahmen umfassend dargestellt und erläutert wurden. Die eigentliche Schätzmethode der ILO für Zwangsarbeit lässt sich wie folgt beschreiben: Sie geht davon aus, dass ein Teil der tatsächlichen Fälle von Zwangsarbeit in Medienberichten und Veröffentlichungen von Organisationen auftauchen, dass es 92 aber im Weltmaßstab unmöglich ist, alle diese Veröffentlichungen zu inden. Nun haben zwei Teams unabhängig voneinander mit identischen Kriterien nach Veröffentlichungen für den Zeitraum 1995 bis 2004 gesucht und daraus Fallzahlen extrahiert. Mit Hilfe der Relation von neuen zu bereits von Team 1 erfassten Fällen in der Stichprobe von Team 2 lässt sich die Gesamtzahl der bekannt gewordenen Fälle schätzen (Capture-Recapture-Methode). Brunovskis zu dem Schluss, dass statistische Schätzungen in diesem Feld zwar prinzipiell möglich sind, aber immer selten bleiben werden, weil sie mit hohen Risiken und Kosten verbunden sind. Eine systematische Sammlung und Analyse vorhandener Informationen unter Berücksichtigung und Dokumentierung ihrer Verzerrungen würde aber unser Verständnis schon deutlich verbessern (Tyldum, Brunovskis 2005, S. 31). Durch Multiplikation der Zahl der Fälle mit ihrer Dauer wird die Schätzung der in einem Zeitraum berichteten Fälle in eine Stichtagsschätzung umgewandelt. Schwierig ist die Beurteilung, wie hoch die Zahl und Dauer der nicht berichteten Fälle ist. Je kürzer ein Zwangsarbeitsverhältnis gedauert hat, desto unwahrscheinlicher ist sein Bekanntwerden, so die Annahme der ILO. Lang andauernde Zwangsarbeitsverhältnisse sind also in der Stichprobe der bekannt gewordenen Fälle überrepräsentiert. Laut ILO kann angenommen werden, dass der Effekt aus der Überrepräsentierung lang und Unterrepräsentierung kurz andauernder Verhältnisse gleich ist, so dass die Zahl der bekannt gewordenen Fälle der Gesamtzahl der Fälle entspricht (Belser et al. 2005, S. 23). Damit wird also eine Dunkelziffer von 0 angenommen, und eine differenzierte Dunkelzifferschätzung durch diese Annahme ersetzt. Die Schätzung wird als Mindestschätzung klassiiziert. Einen solchen Ansatz haben Vogel und Aßner (2009a, 2009b) entwickelt, um den Umfang der Bevölkerung ohne Aufenthaltsstatus in Hamburg zu schätzen. Dieser Logicom-Ansatz zur Schätzung versteckter Bevölkerungsgruppen wird auch hier als Rahmenmethode verwendet. Dabei werden statistische Datenspuren und quantitative Experteneinschätzungen systematisch gesammelt und Oberund Untergrenzen aus unterschiedlichen Quellen geschätzt. Im Rahmen dieser Studie werden Vorarbeiten durchgeführt, dann wird geprüft, ob sich auf der Basis der Datenerhebung der Kooperationspartner bereits Schätzungen durchführen lassen. Möglichkeiten zu weiterführenden Datenerhebungen und Schätzungen werden erörtert. Die ILO-Schätzungen wie auch andere Schätzungen der Zahl der Betroffenen in Aufnahmeländern beruhen entweder auf Veröffentlichungen über Fälle von Menschenhandel oder auf Polizeidaten. Eine geplante Studie der Universität Göttingen wird ebenfalls im Wesentlichen ein neues Verfahren zum internationalen Vergleich von Fall- und Polizeidaten entwickeln. Nach einer Pressemitteilung geht es darum, bereits vorhandene Datenbanken wie zum Beispiel die des United Nations Ofice on Drugs and Crime (UNODC) auszuwerten und daraus einen „Composite Index of Traficking in Europe (CITE)“ zu erarbeiten.48In ihrem Methodenüberblick über Möglichkeiten zur Schätzung von Menschenhandelsopfern kommen Tyldum und 5.3.1 Dunkelziffern aus Falldokumentationen Die ausführlichen ILO-Überlegungen zum Zusammenhang von beobachtbaren und unbeobachteten Größen (Belser 2005, S. 21–24) bilden hier den Ausgangspunkt für veranschaulichende und weiterführende Überlegungen, wobei jedoch z. T. andere Ergebnisse erzielt werden. Zunächst muss man konstatieren, dass es sich bei Beobachtungen in der Regel um Fälle handelt, die in einem bestimmten Zeitraum der Polizei oder einer Beratungsorganisation zur Kenntnis gelangen. Wenn man die Zahl der Menschen schätzen möchte, die zu einem bestimmten Zeitpunkt von Zwangsarbeit betroffen sind, ist es nötig, auch die Dauer der Verhältnisse vor Bekanntwerden zu kennen. 47 http://www.uni-goettingen.de/de/3240.html?cid=3460 : zuletzt besucht am 30.08.2010 93 Unter der Annahme gleichmäßiger Verteilung ergibt sich folgende Formel: Schätzung Zeitpunkt = Zahl der berichteten Fälle im Zeitraum * durchschnittliche Dauer der berichteten Fälle = Gesamtdauer der berichteten Fälle mit S Schätzung zu einem Zeitpunkt, B Gesamtzahl der berichteten Fälle, db durchschnittliche Dauer der berichteten Fälle Db Dauer eines Einzelfalls sowie j für den betreffenden Zeitraum, z.B. ein Jahr. Was das konkret bedeutet, soll an idealisierten Beispielen veranschaulicht werden. Nehmen wir an, in einer Beratungsstelle werden in den Jahren 2007 und 2008 jeweils 8 Fälle beraten, von denen vier Fälle drei Monate dauern und die andere Hälfte zwei Jahre. Wir stellen uns vor, dass die Fälle jeweils zum Ende eines Quartals beraten worden sind. In Abbildung 1 ist die Dauer der einzelnen Fälle auf einem Zeitstrahl abgetragen. Dabei wird deutlich, dass bei den 3-Monatsfällen zu jedem einzelnen Zeitpunkt nur eine Person in einer Zwangsarbeitssituation steckt. Die Zwei-Jahresfälle gehören aber zu den unaufgedeckten Fällen des Vorjahres. Die Gesamtzahl der Personen, die sich zu jedem einzelnen Zeitpunkt in Zwangsarbeit beinden, lässt sich dann durch die Gesamtdauer der Zwangsarbeitszeiten approximieren. Das heißt in diesem Fall: Die bekannt gewordenen Fälle lassen darauf schließen, dass zu jedem Zeitpunkt im Zeitraum 2007 und 2008 neun Personen von Zwangsarbeit betroffen waren. Alternativ ausgedrückt: Aus der Zahl der Fälle lässt sich mit einem Multiplikator von 1,125, der der durchschnittlichen Dauer eines Zwangsarbeitsverhältnisses entspricht, die Gesamtzahl zu einem Zeitpunkt errechnen. Wir können die Informationen zusätzlich nutzen, um einen Multiplikator für eine Mindestdunkelziffer für Fälle in einem Zeitraum zu erhalten. Wir wissen, dass 2007 8 Fälle beraten worden sind. Wir wissen darüber hinaus aus den Beratungen von 2008, dass in 4 Fällen schon 2007 Zwangsarbeit vorlag, aber nicht beraten wurde. Diese 4 Fälle sind die Mindestdunkelziffer für 2007, so dass die Gesamtzahl mit einem Multiplikator von 1,5 auf die 2007 beratenen Fälle errechnet werden kann. 94 Man bräuchte Angaben zur Dauer aller bekannt gewordenen Fälle in mindestens 2 Zeiträumen, um einen Multiplikator zu errechnen, mit der sich die Mindestgesamtzahl eines Jahres errechnen lässt. Für jeden Fall im späteren Jahr müsste bestimmt werden, ob die Person schon im Vorjahr betroffen war, d.h. von der Gesamtdauer müsste die Dauer der Zeit im Berichtsjahr abgezogen werden. Mindestdunkelziffer für Bj wobei B* nur die im Jahr j+1 berichteten Fälle anzeigt, die auch schon im Jahr Bj bestanden. Das ist eine recht robuste Mindestdunkelziffer, da durch die Zahlen des Folgejahres bekannt ist, dass die Fälle schon im Vorjahr existierten. Die in der ILO-Schätzung getroffene Annahme einer Mindestdunkelziffer von 0 erscheint nach dieser Überlegung zu niedrig. Der genaue Zeitpunkt der Aufdeckung wird sich in Statistiken und Erhebungen nicht immer feststellen lassen, so dass dann ein Näherungswert gefunden werden muss, wie viele Fälle schon im Vorjahr bestanden. Dazu könnte man die Verteilung der Fälle mit 0 bis 12monatiger Dauer betrachten und den Medianwert errechnen, also den Wert, bei dem genau die Hälfte der Fälle darüber und darunter ist. Alle Fälle, deren Gesamtdauer kleiner ist als der Medianwert, werden nicht zur Dunkelziffer des Vorjahres gezählt. Nun wurde bisher davon ausgegangen, dass Fälle identisch sind mit Personen. Es können aber auch in einem Fall mehrere Personen betroffen sein, die eine je unterschiedliche und nicht ermittelbare Dauer in einem Zwangsarbeitsverhältnis gearbeitet haben. Das Verhältnis von Fallzahl zu Personen spielt bei der ILO-Schätzung eine große Rolle, da es sich besonders bei Berichten aus Asien oft um größere Zahlen von Menschen dreht, die in einem einzigen Betrieb zur Arbeit gezwungen werden und 95 bei denen nicht für Einzelne die Dauer ermittelt werden kann. Für Deutschland ist im empirischen Teil die Vermutung zu prüfen, dass es sich hier eher um einzelne Personen oder kleine Gruppen handelt, so dass eine Umrechnung auf Personen mit je eigener Dauer möglich ist. Die Dunkelzifferschätzung ist als Mindestdunkelzifferschätzung einzustufen, weil sie auf der Zahl der Personen beruht, die irgendwann einmal bekannt werden. Es gibt aber auch Fälle, die nie bekannt werden, weil die Personen sich selbst befreien oder von Privatpersonen befreit werden, ohne jemals mit Organisationen oder Personen in Kontakt zu kommen, die die Fälle für eine Schätzungsdokumentation zugänglich machen könnten. Annahmen zur Zahl der niemals beobachteten Fälle scheinen mir auf der Basis beobachteter Fälle nicht plausibel zu begründen, so dass ich die ILO-Annahme nicht nachvollziehen kann, warum wir unterstellen sollen, dass es der Quotient aus Dauer und Aufdeckungswahrscheinlichkeit genau 1 ergeben soll geben soll. Außerdem wird durch diese Annahme eine prinzipiell erhebbare Information (die Dauer aufgedeckter Fälle) nicht für die Schätzung genutzt. 5.3.2 Mindest- und Maximalschätzungen mit Multiplikatoren Für maximale Dunkelzifferschätzungen müssten andere Wege beschritten werden. So könnten Branchen oder beobachtbare Arbeitssituationen identiiziert werden, in denen nach den beobachteten Fällen Zwangsarbeitsverhältnisse vorkommen. Dann stellt die Gesamtzahl der so identiizierten Verhältnisse eine absolute Obergrenze für Zwangsarbeitsverhältnisse in diesem Bereich dar. Zum Beispiel kann die Zahl der von Botschaftsangehörigen in Zwangsarbeit gehaltenen Haushaltshilfen nicht höher sein als die Gesamtzahl der Haushaltshilfen von Botschaftsangehörigen zu einem Zeitpunkt. Nun müsste nach geeigneten Mitteln gesucht werden, um den Anteil der mit hoher Wahrscheinlichkeit erzwungenen bzw. nicht erzwungenen Verhältnisse festzustellen, z.B. über Experteneinschätzungen oder auch über Kontrollen durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, sofern es sich um Branchen handelt, die solchen Kontrollen zugänglich sind. Es werden also Minimal- und Maximalschätzungen mit Multiplikatoren angestrebt. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass es für bestimmte Phänomene nur verzerrte Daten gibt, dass sich aber die Art und Richtung der Verzerrung oft feststellen lässt. Für Ober- oder Untergrenzenschätzungen werden Datengrundlagen benötigt, bei denen das interessierende Phänomen mit hoher Wahrscheinlichkeit entweder über- oder unterrepräsentiert ist. Ober- und Untergrenzenschätzungen nach diesem Prinzip sind möglich, weil (nicht obwohl) Daten eine schlechte Zufallstichprobe darstellen. Zu solchen verzerrten Datenquellen zählen z.B. Statistiken der Polizei und anderer Behörden sowie von Hilfs- und Beratungsorganisationen, aber auch quantiizierende Aussagen von Experten, wenn sie auf identiizierbarer empirischer Erfahrung beruhen. Beim Multiplikatorprinzip muss also unterstellt werden können, dass die interessierende Größe in einem Mindest- oder Maximalverhältnis zu einer gemessenen Größe steht. In einer Stichprobe müssen die interessierenden Fälle identiizierbar sein, aber zugleich muss auch mindestens eine gemessene Größe identiizierbar sein, deren Gesamtumfang aufgrund anderer Daten relativ sicher feststellbar ist. Mit den Daten der Teilgesamtheit lässt sich ein Multiplikator errechnen, der auf die gemessene Gesamtheit angewendet wird und so zu einer Schätzung führt. Mathematisch sind solche Berechnungen relativ einfach und kommen mit einer Dreisatzlogik aus (Vogel, Aßner 2009b, S. 45–48). Aufwändig sind die Prüfung der Datenqualität, der Voraussetzungen und Implikationen. Analyse der erhobenen Informationen als Anhaltspunkte für eine Schätzung. 96 5.4 Analyse der erhobenen Informationen als Anhaltspunkte für eine Schätzung Die Kooperationspartner Katrin de Boer und Norbert Cyrus haben hauptsächlich Expertengespräche geführt und in diesem Rahmen auch – wenn möglich – Statistiken gesammelt und Abläufe und Verknüpfungen ermittelt, die für eine Schätzung relevant sein können. Die Interviewprotokolle sowie einige weitere Materialien wurden für die Analyse zur Verfügung gestellt. Sie werden nun im Folgenden daraufhin analysiert, inwiefern sie schon Ansatzpunkte für Schätzungen enthalten. Abbildung 2 Quelle: eigene Darstellung 5.4.1 Überblick über Akteure und ihre Verbindungen Nach den Recherchen lassen sich fünf Typen von Organisationen identiizieren, die direkt mit Fällen von Zwangsarbeitenden und Extremausgebeuteten in Kontakt kommen (s. Abb. 2). Die Interviews vermitteln den Eindruck, dass es recht wenige Überlappungen zwischen den Fällen gibt, die bei den unterschiedlichen Organisationen bekannt werden. Nur in einem geschilderten Fall einer Fachberatungsstelle wurde auch die Polizei eingeschaltet. Von der FKS an die Polizei übergebene Fälle wurden nicht berichtet. Der interviewte Anwalt ist auf chinesische Spezialitätenköche spezialisiert, die in keinem der anderen Interviews 97 auftauchen. Gewerkschafter berichten in den betreuten Branchen von Fällen, die nicht zum Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen geworden sind. Medien sind nicht als eigenständige Informationsquelle aufgeführt. Zwar ist es denkbar, dass Zeitungen oder Magazine von Fällen berichten, die weder im Beratungs- noch im Kontrollkontext bekannt geworden sind. In der Medienrecherche der Partner sind aber nur Berichte aufgetaucht, die Informationen aus dem Beratungs- oder Kontrollkontext aufgreifen und widergeben. Daher sind Medien hier nicht als eigenständige Sekundärquellen aufgeführt. Eine Medienrecherche führt in der Regel zu Informationen aus dritter Hand, kann jedoch nützlich sein, um geeignete Sekundärinformanten zu lokalisieren. 5.4.2 Polizei Die Polizeien der Länder oder die Bundespolizei kann im Rahmen von Ermittlungen gegen Arbeitgeber oder Vermittler auf Verdachtsfälle stoßen. Dass sich Betroffene direkt an die Polizei wenden, ist nicht bekannt. Ein Teil der Informationen der Polizei wird in der Polizeilichen Kriminalstatistik veröffentlicht. In die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) gehen Fälle in dem Moment ein, in dem sie an die Staatsanwaltschaft weitergeben werden. In die Strafverfolgungsstatistik gehen Fälle ein, wenn vor Gericht Entscheidungen getroffen worden sind. Die Statistiken wurden bereits in Abschnitt 3.3 ausführlich dargestellt. Mit den derzeit öffentlich vorliegenden Daten können keine Dunkelzifferschätzungen durchgeführt werden. In den Jahren unmittelbar nach der Einführung eines neuen Straftatbestandes (oder nach einem richtungsweisenden Gerichtsurteil) entwickelt sich der praktische Umgang in der Interaktion verschiedener Beteiligter, hier insbesondere der Polizei, der Staatsanwaltschaft, der Gerichte, Beratungsstellen und Rechtsanwälte. Die Auslegung des Straftatbestandes im Rechtssystem stabilisiert sich, die Beteiligten machen ihre Erfahrungen und reagieren darauf. In diesem Fall bestehen die Erfahrungen darin, dass der Nachweis schwierig zu führen ist, auch weil der Tatbestand in der Rechtsprechung eng ausgelegt wird. Es spricht vieles dafür, dass die Entwicklung der Zahlen durch einführungsbedingte Anpassungsbewegungen stärker beeinlusst sein ist als durch zugrundeliegende Straftatenentwicklungen, insbesondere in Berlin. Da in mehreren Interviews darauf hingewiesen wurde, dass möglicherweise andere, leichter nachweisbare Straftaten angeklagt werden, könnten interne Polizeistatistiken auf Hinweise geprüft werden. Da ab 2009 alle Länder über Einzeldatensätze verfügen und diese auch für die PKS an das BKA weiterleiten, könnten hier im Gespräch mit der Polizei weitergehende Auswertungsmöglichkeiten geprüft werden. Nach dem, was in der PKS erfasst wird, sind dadurch aber eher Rahmendaten zur Plausibilitätsprüfung anderweitig gewonnener Schätzungen als eigenständige Schätzungen zu erwarten. Eine Überlegung wäre z.B., die Angaben zur Opfer-Täter-Beziehung bei Delikten gegen die persönliche Freiheit näher zu prüfen. Bei rund 223 000 Ermittlungsfällen wegen Straftaten gegen die persönliche Freiheit wurde in 0,7 Prozent erfasst, das Täter und Opfer aus demselben Land stammen (Bundeskriminalamt 2009b: 61). Diese rund 1.600 Fälle könnten näher auf das Vorliegen weiterer Delikte, die auf Arbeitsausbeutung hindeuten, betrachtet werden, weil hier möglicherweise eine Ausnutzung auslandsspeziischer Unwissenheit vorliegen könnte. 5.4.3 Finanzkontrolle Schwarzarbeit Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit kann verdachtsunabhängig Arbeitsorte betreten und Prüfungen vornehmen, um illegale Beschäftigung aufzudecken. Sie geht im Rahmen von Außenkontrollen Hinweisen nach, prüft aber auch im Rahmen von Schwerpunktkontrollen umfassend ganze Bereiche. Sie hat 2008 rund 46 000 Arbeitgeber geprüft, dabei an Arbeitsplätzen rund 480 000 Personen befragt und über 100 000 Strafverfahren eingeleitet (Bundesregierung 2009b: 14). Diese gehen in der Regel nicht in die PKS ein, was auch die Aussagekraft der PKS für arbeitsmarktrelevante Straftaten stark einschränkt. Der Prüfauftrag, die Prüfkompetenzen und der 98 Umfang der Tätigkeit sprechen dafür, dass sich mit Daten der FKS systematische Mindest- und Maximalschätzungen durchführen lassen müssten, wie sie z.B. für illegalen Aufenthalt und illegale Ausländerbeschäftigung grob kalkuliert wurden (Vogel & Aßner 2009c: 85-92). Dabei konnte auf Auswertungen des Bundesrechnungshofes zurückgegriffen werden (Bundesrechnungshof 2008). Generell ist aber die öffentliche Dokumentation der Tätigkeit der Finanzkontrolle Schwarzarbeit im Vergleich zu Polizei und im Vergleich zu ähnlichen Organisationen (z.B. in den Niederlanden) ausgesprochen mager. Auch in diesem Projekt waren interessante und offene Expertengespräche mit Mitarbeitern der Finanzkontrolle Schwarzarbeit nach langem Vorlauf möglich (vgl. Abschnitt 4.3), die jedoch nicht zu in quantitativer Hinsicht relevanten Informationsweitergaben führten. Eine Schätzung in Kooperation mit der FKS wäre denkbar und könnte zu branchenspeziischen Minimal- und Maximalschätzungen führen, die nicht nur für Deutschland interessant, sondern auch m.W. im Weltmaßstab innovativ wären. Solche Schätzungen wären jedoch aufwändig und sind im Rahmen dieses Projekts nicht möglich. Es könnte auch geprüft werden, ob Informationen aus einem in Berlin und Brandenburg erarbeiteter Zusatzfragebogen für den Restaurantbereich zur Auswertung zur Verfügung gestellt werden könnte und Ansatzpunkte für eine Schätzung liefern könnte. Zur Veranschaulichung stellen wir uns eine Schwerpunktprüfung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) in einer bestimmten Branche vor, bei der die Kontrollierenden in einem Zusatzfragebogen zu den üblichen Formularen auch ihre Beobachtungen zu Indikatoren für extreme Arbeitsausbeutung dokumentieren. Nehmen wir an, dass die FKS in dieser Schwerpunktkontrolle hauptsächlich Arbeitsstätten auswählt, in denen sie Verstöße erwartet. Nehmen wir weiter an, dass insgesamt 1 000 Personen überprüft wurden, darunter 800 sozialversicherungsplichtig Beschäftigte. Bei 10 Personen werden durch den Zusatzfragebogen deutliche Anhaltspunkte für das Vorliegen auf Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeu- tung gefunden. In der Branche arbeiten insgesamt 80 000 sozialversicherungsplichtig Beschäftigte. Dann kann man davon ausgehen, dass in der gesamten Branche höchstens so viel Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung vorliegt wie in der Stichprobe. Das Verhältnis von Fällen mit MH/A-Indikation zu sozialversicherungsplichtig Beschäftigten in der Stichprobe (10/800) lässt sich als Maximalmultiplikator interpretieren, der auf die Gesamtzahl der sozialversicherungsplichtigen Beschäftigten in einem Bereich angewendet wird, so dass man für diese iktive Branche auf eine Maximalzahl von 1 000 Zwangsarbeitsfällen kommt. Je nach Auswahlprinzipien der Schwerpunktprüfung und Gestaltung eines Zusatzfragebogens könnten nach dieser Grundidee solide Minimal- und Maximalschätzungen für unterschiedliche Verstöße gegen Straf- und Arbeitsgesetze errechnet werden. 5.4.4 Quantiizierende Aussagen in Expertengesprächen ExpertInnen im Beratungs- und Kontrollkontext machen Erfahrungen. Von sich aus oder auf Rückfrage machen sie manchmal auch quantiizierende Schätzungen, indem sie eigene Erfahrungen auf größere Zusammenhänge extrapolieren. Sie machen also einfache Multiplikatorschätzungen, wobei oft nicht klar ist, welche Zusammenhänge sie ihren Schätzungen zugrunde legen und ob sie sich bewusst machen, dass sie selbst durch ihre professionelle Eingebundenheit einen verzerrten Ausschnitt der Grundgesamtheit wahrnehmen. Daher müssen diese Angaben immer mit großer Vorsicht interpretiert werden. Manchmal ist jedoch erkennbar, worauf die Einschätzungen beruhen, so dass sie als Hinweise herangezogen werden können. Zugleich zeigen sie, in welchem Rahmen Größenordnungen vorgestellt werden, so dass abgeschätzt werden kann, ob Schätzungen auf anderer Grundlage als überraschend wahrgenommen werden. Die in dieser Studie angesprochenen ExpertInnen (zur Auswahl siehe Abschnitt 4.1) gaben häuig an, dass Bedingungen extremer Arbeitsausbeutung bei ihren KlientInnen oder in bestimmten Branchen 99 weit verbreitet sind. Dabei wird nicht immer genau deutlich, was sie bei ihren quantiizierenden Aussagen genau darunter verstehen. Allerdings gibt es eine Reihe von Fallbeschreibungen, die unter die oben getroffene Deinition von extremer Arbeitsausbeutung fallen, wenn zum Beispiel Löhne durch Überstunden und überzogene Arbeitsanforderungen auf ein Niveau von höchstens 2 Euro pro Stunde gedrückt werden. In einer Beratungsstelle wird davon gesprochen, dass von rund 700 im Jahr 2008 Beratenen etwa die Hälfte Jobs ausübten, die gering bis gar nicht bezahlt werden. Besonders auffallend ist, dass insbesondere reguläre Zuwanderer mit einer schwachen Rechtsstellung als Opfer genannt werden, also zum Beispiel Geduldete, die ein Bleiberecht durch Beschäftigung anstreben, Asylbewerber, Hausangestellte von Botschaftsangehörigen und Spezialitätenköche. Dies deutet darauf hin, dass Gesamtzahlen von diesen Gruppen ggf. als Bezugsgrößen für Maximalschätzungen geeignet sein könnten. Direkt auf Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung angesprochen, gehen fast alle Gesprächspartner von sehr kleinen Zahlen aus. Aus dem Kontext geht z. T. hervor, dass hier die Rekrutierung und der Verkauf an einen Arbeitgeber sowie extreme Zwangsmaßnahmen wie Gewalt und Einsperren durch den Arbeitgeber als Tatbestandsmerkmale für Menschenhandel gesehen werden. Hier ist die Einschätzung übereinstimmend, dass es sich nur um sehr kleine Zahlen handeln könne. Aus der eigenen Beratungspraxis werden z.B. von einer Fachberatungsstelle Zahlen wie 3 bis 5 pro Jahr genannt. Typisch scheinen Situationen zu sein, in denen eine legale und moralische Rechtfertigungsfassade durch die Arbeitgeber aufgebaut wird, so dass Betroffene auch nach einer Beratung geringe Aussichten sehen, gerichtlich oder außergerichtlich Ansprüche gegen Arbeitgeber durchzusetzen. Wenn sich dies ändert, kommen auch mehr Fälle zutage, wie das Interview mit dem Anwalt zeigt, der chinesische Spezialitätenköche vertritt. Er schätzt auf der Basis seiner Erfahrung mit mehr als 100 Klienten, dass nahezu alle in der entsprechenden Visumkategorie eingereisten Köche als Menschenhandelsopfer betrachtet werden können. Auch wenn hier Vorsicht geboten ist, weil der Blickwinkel des Anwalts leicht zu einer Überschätzung führen kann, sollte diese Visumkategorie doch als anfällig für Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung identiiziert werden, so dass Gesamtvisazahlen für Berlin und Brandenburg als Bezugsgröße für eine Obergrenzenschätzung dienen könnten. Bundesweit wurden 2008 2 677 Arbeitserlaubnisse an Spezialitätenköche vergeben, darunter 1802 an chinesische Staatangehörige (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2010). Hier könnten Bestandsdaten ermittelt werden und Gespräche zu den wichtigsten anderen Herkunftsländern (Indien, Thailand) geführt werden. 5.4.5 Falldokumentationen aus dem Beratungskontext Die Falldokumentationen auf der Basis aller Interviews machen deutlich, dass es schwierig ist, Informationen zusammenzustellen, die auch für eine Quantiizierung geeignet sind. Teilweise fehlt eine Zuordnung der Fälle zu Kalenderjahren, teilweise werden keine Angaben zur Dauer der Beschäftigungsverhältnisse gemacht, teilweise geht aus den Beschreibungen nicht hervor, wie hoch der Lohn oder wie deutlich Lohnabzüge für vermeintliche Kosten waren, teilweise werden schon lange zurückliegende Fälle genannt, weil sie besonders eindrücklich waren. Im Folgenden werden nur die Fälle näher betrachtet, für die in den Jahren 2005 bis 2009 ausreichende Angaben vorlagen. Bei 9 Fallschilderungen liegen Gewalt- oder Freiheitsberaubungsindikatoren vor (Gewalt, Gewaltandrohung, Einsperren, Bewachen). Zusätzlich gab es 4 Fälle, in denen Gewalt oder Isolierung nicht dokumentiert sind, in denen aber aufgrund einer längerfristigen Hinnahm extremer Arbeitsausbeutung die Annahme naheliegt, dass ArbeitgeberInnen bewusst eine Zwangslage oder auslandsspeziische Hillosigkeit ausgenutzt hat. Betroffen waren Privathaushalte und das Gaststättengewerbe. Es ging jeweils um Einzelpersonen. 100 Berichte von Fällen, die eine größere Zahl von Personen betrafen, waren entweder nicht ausreichend dokumentiert oder die Betroffenen haben sich nach Lohnbetrug nach relativ kurzer Zeit selbst aus einem Arbeitsverhältnis gelöst. Mit diesen Fallschilderungen wurden einige Beispielrechnungen durchgeführt, die allerdings nicht als Dunkelzifferschätzungen betrachtet werden sollen. Sie sollen exemplarisch zeigen, wie solche Berechnungen bei einer systematischen Erhebung durchgeführt werden könnten. Nur in einem der 13 Fälle wurde auch von der Polizei wegen MH/A ermittelt. Die Verhältnisse dauerten zwischen 3 Monaten und 22 Jahren mit einem Durchschnitt von etwa 4 Jahren. Wenn die Verhältnisse in diesen Falldokumentationen typisch wären und man alle beratenen Extremfälle erfasst hätte, würde dies bedeuten, dass zu jedem Zeitpunkt etwa viermal mehr Menschen betroffen sind, als in einem Jahr beraten werden. Von den acht für die Jahre 2008 und 2009 berichteten Fällen waren 5 schon im Jahr 2007 betroffen, gehörten also in diesem Jahr zur Dunkelziffer. Für eine echte Dunkelzifferschätzung mit Falldokumentationen müsste eine Vollerhebung für zwei vollständige Jahre durchgeführt werden. Legt man allerdings die Schwierigkeiten zugrunde, in dieser Studie überhaupt Gesprächspartner zu diesem Thema zu inden, so ist zu erwarten, dass zumindest für längerfristige und gewaltbelastete Verhältnisse nur eine geringe Zahl von Fällen erhoben werden könnte. Würden 20 Beratungsorganisationen jeweils einen solchen Fall pro Jahr beraten, so käme man bei einer Dunkelziffer von 4 auf rund 80 Fälle. Insgesamt würde eine Dunkelzifferschätzung auf der Basis von Falldokumentationen am ehesten Sinn machen, wenn sie sich auf die besonders harten Fälle von längerfristiger Zwangsarbeit beschränkt, in denen sich eine Person nicht ohne Hilfe von Institutionen der Aufnahmegesellschaft befreien kann. Nach eigener Auskunft können Beratungsorganisationen Betroffenen von Arbeitsausbeutung wenig Hilfe und Alternativen bieten. Dies macht es unwahrscheinlich, dass sie mit vielen Fällen in Kontakt kommen, in denen Zwangsarbeit nur kurzfristig hingenommen wurde und in denen die Betroffenen in der Lage sind, sich selbständig eine neue Perspektive aufzubauen oder ins Herkunftsland zurückzukehren. 5.4.6 Zusammenfassende Würdigung Insgesamt sind die erhobenen Daten nicht ausreichend, um eine echte Dunkelzifferschätzung durchzuführen. Der Umfang der Polizeiermittlungen, wie er sich in der PKS widerspiegelt, ist gering und noch stark durch die erst herausbildende Rechtspraxis geprägt, so dass sie als Grundlage für eine Dunkelzifferschätzung nicht geeignet sind. Von der Finanzkontrolle Schwarzarbeit, deren Arbeitsergebnisse aufgrund ihres Arbeitsauftrages für Fälle außerhalb von privaten Haushalten gute Anhaltspunkte liefern könnten, lagen keine auswertbaren Daten im Rahmen dieser Studie vor. Für den Beratungskontext sind auch die Erfahrungen bei der Suche nach Gesprächspartnern relevant: Bei Vorrecherchen ließen sich nur wenige Personen inden, die überhaupt zu diesem Themenkomplex Auskunft geben konnten. Besonders bei einer Eingrenzung auf Fälle, in denen sich Menschen nicht ohne Hilfe selbst aus der Zwangsarbeitssituation lösen können, wurde ein hoher Anteil möglicher Ansprechpartner tatsächlich befragt. Unter der Voraussetzung, dass Professionelle im Beratungskontext oft voneinander wissen und auf andere verweisen konnten, kann man davon ausgehen, dass dies bei einer angemessenen Untersuchungsdauer auch einigermaßen gelingen kann. Es ist nicht auszuschließen, dass eine nach Herkunftsländern differenzierte Recherche noch weitere Rechtsanwälte zutage fördern könnte, die für bestimmte Staatsangehörigkeiten gezielt Fälle im Bereich Arbeitsmarktausbeutung betreut und in diesem Kontext Hinweise haben könnte, die auch auf Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung hindeuten, aber nicht zur Anzeige gebracht werden. Die Befragten aus dem Beratungskontext berichten überwiegend von sehr kleinen Zahlen, in denen 101 ein Befreiungsbedarf unterstellt werden kann, weil eine physische Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch Gewalt, Gewaltandrohung, Bewachung oder Einsperren gegeben ist. Hier sind jedoch zum Teil erhebliche Zeiträume berichtet worden. Weil jeder beobachtete Fall für die Dauer bis zum Bekanntwerden in einem Beratungskontext ein unbeobachteter Fall ist, kann mithilfe der Dauer eine Mindestzahl errechnet werden. Wären die Fälle mit ausreichenden Informationen in der Falldokumentation typisch, wovon wir nicht unbedingt ausgehen können, beträgt das tatsächliche Volumen der Arbeitsausbeutung mindestens das Vierfache der beratenen Fälle. Beim jetzigen Kenntnisstand erscheint es plausibel, dass die Gesamtzahl der Zwangsarbeitsverhältnisse mit physischer Einschränkung den zweistelligen Bereich nicht übersteigt. Eine echte Dunkelzifferschätzung ist auf der Basis der vorhandenen Informationen nicht möglich. Bei einer weniger engen Interpretation von Indikatoren wird die Informationslage noch schwieriger. Die befragten BeraterInnen können aufgrund ihrer Aufgabenstellung und ihren Hilfsmöglichkeiten nur einen kleinen Bereich dieses Spektrums wahrnehmen. Einige Einschätzungen von Beratern deuten darauf hin, dass sich bestimmte legale Konstellationen (Visa für Spezialitätenköche; Geduldete, die sich um einen Aufenthaltsstatus durch Arbeit bemühen) besonders anfällig sind. Hier könnten Visa- oder Beschäftigungszahlen als Ansatzpunkte für Maximalschätzungen dienen. 5.5 Vorschläge zur Schätzung Nach den bisherigen Ergebnissen werden drei Ansätze vorgeschlagen, um zu genaueren Schätzungen zu gelangen. Für den Bereich der privaten Haushalte wurde zunächst überlegt, eine telefonische Befragung aller Beratungsstellen, die nach den Vorrecherchen möglicherweise Kontakt mit Fällen haben könnten, vorzuschlagen. Bei einer solchen Umfrage sollte eine kleine Zahl von gezielten Fragen gestellt werden, in denen Fälle mit konkreten Indikatoren für extreme und andauernde Arbeitsausbeutung in privaten Haushalten in den vergangenen beiden Jahren erfragt werden, ohne dass die Begriffe Menschenhandel oder Arbeitsausbeutung genannt werden. Nach Erfahrungen einer schriftlichen Umfrage mit erforderlichen telefonischem Nacherhebungen unter Fachberatungsstellen für Menschenhandel, die inzwischen im Rahmen eines anderen Projekts durchgeführt worden ist, erscheint es jedoch fraglich, ob angemessene Antwortquoten erreicht werden können. Für den Bereich der Privatwirtschaft, insbesondere Gaststätten könnten zunächst Berichte über bisherige Schwerpunktkontrollen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit im Gaststättenbereich analysiert und auf etwaige Multiplikatorschätzungsmöglichkeiten geprüft werden. Im Sommer 2009 wurde z.B. in einigen Bundesländern – aber nicht in Berlin und Brandenburg – eine Schwerpunktkontrolle in chinesischen Restaurants durchgeführt, von der in der Presse berichtet wurde. Ob sich ex post für eine Abschätzung wichtigen Faktoren ermitteln lassen, ist nach den inzwischen durchgeführten Gesprächen mit der Finanzkontrolle Schwarzarbeit skeptisch zu bewerten. Möglicherweise könnte ein schon von der FKS verwendeter Zusatzfragebogen für Restaurantprüfungen Anhaltspunkte liefern. Branchenspeziische Schätzungen sollten zur Validierung mit Branchenexperten aus Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und mit spezialisierten Rechtsanwälten diskutiert werden. Ideal wäre die wissenschaftliche Begleitung einer Schwerpunktkontrolle der FKS von der Planung über die Durchführung bis zur abschließenden Auswertung, am besten noch unter Einbeziehung der Nachverfolgung der daraus resultierenden Strafverfahren. Bei der Planung wäre z.B. wichtig zu dokumentieren, bei welchem Teil der Betriebe Verdachtsmomente eine Kontrolle auch außerhalb einer Schwerpunktkontrolle wahrscheinlich gemacht hätten und welcher Teil nach dem Vollständigkeits- oder Zufallsprinzip ausgewählt wurde. Eine solche Auswertung wäre aufwändiger und würde umfangreiche Vorbereitungen und einen ausgeprägten Kooperationswillen der Behörde voraussetzen, so dass sie wahrscheinlich nur möglich wäre, wenn sie breiter angelegt wäre 102 und auch den Umfang anderer Tatbestände wissenschaftlich abschätzen würde. Darüber hinaus könnte es lohnend sein, branchenübergreifende Obergrenzenschätzungen für Arbeitsausbeutung in bestimmten aufenthaltsrechtlichen Konstellationen anzustreben. Insbesondere Visazahlen für Spezialitätenköche und Arbeitsgenehmigungen für Geduldete könnten hier Anhaltspunkte bieten. Branchenspeziische Obergrenzenschätzungen könnten an der Produktion in bestimmten Branchen ansetzen, also z.B. für die Hotelreinigungsbranche mit einer Kombination aus Expertengesprächen und Datenanfragen bei verschiedenen Stellen (Verbände, Bundesagentur für Arbeit, Statistik Übernachtungszahlen) das Potenzial für Niedriglohnbeschäftigung, die eine Ausnutzung einer Zwangslage nahe legt, eingrenzen. Hier würde es eher um eine weiter gefasste Operationalisierung gehen. 103 104 105 6. Schlussfolgerungen 6.1 Einordnung von Berlin und Brandenburg Abschließend sollen die Faktoren, die Arbeitsausbeutung von MigrantInnen begünstigen, für Berlin und Brandenburg diskutiert werden. Im Bericht der niederländischen Beauftragten für Menschenhandelsfragen wird auf der Grundlage von Befragungen festgehalten, dass Arbeitsausbeutung in den Niederlanden vor allem in den großen Städten und ihrem Umland sowie in Grenzgebieten lokalisiert wird (Dettmeijer-Vermeulen 2007). Für Deutschland liegen keine vergleichbaren Erkenntnisse vor. Es gibt aber keine Anhaltspunkte dafür, dass die Aussage nicht auch auf Deutschland übertragbar ist. Die Nachfrage nach billigen und lexiblen Arbeitskräften konzentriert sich in den Agglomerationen, denn große Städte bieten vielfältige Arbeitsmöglichkeiten im formellen und informellen Sektor. Im Bereich der privaten Haushalte, der als besonders anfällig für Arbeitsausbeutung gilt, besteht aufgrund der demographischen Struktur in Berlin und auch in 106 Brandenburg ein Bedarf an Arbeitskräften, der oftmals informell gedeckt wird, auch weil in Privathaushalten keine verdachtsunabhängigen Kontrollen durchgeführt werden dürfen. Weiterhin bietet ein hoher Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in großen Städten auch neu einreisenden ArbeitsmigrantInnen vermehrte Chancen, über ethnische Netzwerke auch ohne ofizielle Erlaubnis Zugang zu Unterkunft oder Beschäftigung zu bekommen. Zudem gibt es in Berlin als Hauptstadt die Risikogruppe der Haushaltsangestellten von Botschaftsangehörigen. Für Brandenburg ergibt sich dagegen durch die im Zuge der Wohnortzuweisung und Residenzplicht von AsylberwerberInnen und Flüchtlingen erfolgte Ansiedlung von ZuwanderInnen ein Faktor für die Anwesenheit von Risikogruppen. Mit der Anwesenheit dieser Risikogruppen verletzlicher ArbeitnehmerInnen steigt auch das Risiko der Zwangsarbeit und MH/A. Auf der anderen Seite lässt sich argumentieren, dass Berlin und Brandenburg eine im Bundesvergleich überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit aufweisen. Unter diesen Umständen gibt es ein hohes Potential an Personen, die aus Mangel an Al- ternativen ungünstigere Arbeits- und Lohnbedingungen akzeptieren, um ein (zusätzliches) Einkommen zu erzielen. Zudem wurde argumentiert, dass die Kontrolldichte in Berlin zumindest in einigen Wirtschaftsbereichen sehr hoch und die Strafandrohung wegen MH/A so drakonisch ist, dass von einer weit gehenden abschreckenden Wirkung zumindest für Beschäftigungsverhältnisse, die in öffentlich einsichtigen oder zugänglichen Bereichen (Bau, Gaststätten) angesiedelt sind, ausgegangen wird. Allerdings ist schwer einzuschätzen, ob die Strafandrohungen auch bei den Adressaten bekannt sind und tatsächlich abschreckend wirken. Zudem ergaben sich Hinweise, dass illegale Beschäftigung zu ungünstigeren Bedingungen hinter legalen Fassaden (Werkvertrag, falsch deklarierte Selbstständigkeit) organisiert wurde. Ob und in welcher Weise die genannten Faktoren wirken und zusammenspielen, ist eine offene Frage, die sich im Rahmen und mit den Methoden dieser Untersuchung nicht beantworten lässt. Empfehlenswert ist auf jeden Fall eine systematische Evaluation der zur Verhütung von Menschenhandel, zum Schutz der Opfer von Menschenhandel und zur Bekämpfung von illegaler Beschäftigung durchgeführten Maßnahmen. 107 6.2 Die Pyramide der Arbeitsausbeutung Die Betrachtung der 36 erhobenen Fallschilderungen ergab in 13 Fällen Anhaltspunkte auf einen dringenden Verdacht für Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung, wobei in 9 Fällen dieser Verdacht durch Arbeitsausbeutung im Zusammenhang mit Gewalt, Gewaltandrohung, Einsperren oder aktiver Kontrolle und Isolierung durch die Arbeitgeber begründet wird und in vier weiteren Fällen extrem ausbeuterische Bedingungen über einen längeren Zeitraum vorlagen, was auf die wissentliche Ausnutzung einer Zwangslage oder auslandspeziischer Hillosigkeit hindeutet. Es ging jeweils um Einzelpersonen. Die erhobenen Fälle zeigen, dass extrem ausbeuterische Arbeitsverhältnisse auch in ofiziell angemeldeten und registrierten Beschäftigungsverhältnissen vorkommen. Vor allem bei Spezialitätenköchen und der Beschäftigung durch Subunternehmen wurden auffällig ungünstigere Bedingungen hinter legalen Fassaden versteckt. Die schwerwiegendsten Fälle betrafen in Privathaushalten oder in der Gastronomie beschäftigte Frauen. Bei der Beschäftigung in privaten Haushalten war auffällig, dass Arbeitgeber die gleiche Nationalität wie die von Arbeitsausbeutung Betroffenen aufwiesen oder diplomatische Immunität genossen. Dieses Ergebnis unserer Recherche deckt sich mit dem im ersten Teil vorgestellten Hinweisen anderer empirischer Untersuchungen und Quellen (Bundeskriminalamt 2009a, Dettmeijer-Vermeulen 2007). Tatsächlich ist der Bereich der privaten Haushalte, der auch vom Berliner Landeskriminalamt als risikoträchtig und zugleich vor Kontrollen ausgenommen erwähnt wurde, hier auffällig. Unsere Recherchen zeigen aber, dass Beratungsstellen auch in diesem Bereich ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse bekannt werden – diese aber nicht zur Anzeige bringen. Auf die geschilderten Fälle waren die Beratungsstellen in der Regel durch Vermittlung Dritter, Krankenhausmitarbeiterinnen oder sogar Zufallsbekanntschaften, die um Hilfe gebeten wurden, aufmerksam geworden. Auffällig sind auch die Fallschilderungen zum Gaststättengewerbe, die Hinweise auf einen Anfangstatverdacht für extreme Arbeitsausbeutung boten. Eine Ursache dafür ist die Aufnahme von drei Fallschilderungen zur Beschäftigungssituation chinesischer Spezialitätenköche aus dem Gespräch mit einem Anwalt. Dass diese Fälle bekannt wurden, ist maßgeblich dem Umstand zu verdanken, dass ein engagierter Rechtsanwalt eine gezielte muttersprachlich unterstützte Rechtsvertretung anbot und durch eine erfolgreiche Vertretung weitere chinesische Spezialitätenköche motivierte, ihre Ansprüche zivilrechtlich geltend zu machen. Die beiden anderen Fälle betrafen eine äthiopische Spezialitätenköchin und eine Frau aus einem neuen EU-Mitgliedsland. Die Fallschilderungen zu Beschäftigungsverhältnissen in öffentlich zugänglichen Branchen und bei sichtbaren Tätigkeiten wie dem Baugewerbe oder Hausmeistertätigkeit deuten darauf hin, dass es auch in den für Kontrollen prinzipiell zugänglichen Bereichen Arbeitsausbeutung gibt und es grundsätzlich zu Fällen von MH/A kommen kann. Die Annahme der Polizei, dass in öffentlich sichtbaren und den Kontrollbehörden zugänglichen Arbeitsplätzen eine hohe Strafandrohung in Verbindung mit einer hohen Kontrolldichte abschreckend wirken, lässt sich daher nicht bestätigen. Vielmehr fanden sich Hinweise, dass ungünstigere Beschäftigungsverhältnisse durch legale Fassaden versteckt oder Arbeitnehmer durch Strategien der Verunsicherung zur Kooperation gebracht werden sollen. In den meisten hier erhobenen Fallschilderungen wurden die Betroffenen nicht durch proaktive Polizeiaktionen befreit, sondern fanden durch Vermittlung Dritter den Weg zu einer Beratungsstelle oder erhielten im Krankenhaus Hilfe – und erstatteten nur in einem der geschilderten Fälle Strafanzeige. Die Fallschilderung des illegalen Zigarettenhandels bildet eine Besonderheit, weil hier Hinweise auf einen direkten Zusammenhang zu Formen organisierter Kriminalität bestand, die Betroffene von der Polizei aufgegriffen worden war, aber nicht als Betroffene von MH/A identiiziert wurde, da sie gegenüber der Polizei keine Aussage machte. In 108 den Gesprächen mit Polizei und Staatsanwaltschaft wurde hervorgehoben, dass die Behörden auf Hinweise und Zeugenaussagen der Betroffenen angewiesen sind, um Fälle von MH/A aufzudecken. Insgesamt verdeutlichen die Fallschilderungen die Schwierigkeiten, aufgrund des dynamischen Verlaufs der Auferlegung extrem ausbeuterischer Beschäftigung Verdachtsfälle zu identiizieren. Die in Berlin und Brandenburg erhobenen Fallschilderungen extremer Ausbeutung wiesen die vier Risikofaktoren der individuellen Verletzlichkeit, der rechtlichen Unsicherheit, der Anwendung von Strategien der Verletzlichkeit und dem Vorliegen struktureller Unsicherheit auf. Die individuelle Verletzlichkeit ergab sich in allen Fällen durch ökonomische Armut, fehlendes Wissen über Rechte und Ansprüche, fehlende Sprachkenntnisse, sowie Mehrfachabhängigkeiten von Personen(gruppen). Ein fehlender oder unsicherer Aufenthaltsstatus verschärfte die individuelle Verletzlichkeit. Die rechtliche Situation war für die Betroffenen nicht durchschaubar und ungünstig. Sie sahen keine andere Möglichkeit des Zugangs zum Arbeitsmarkt, als unangemeldet zu arbeiten oder aber bei einer angemeldeten Beschäftigung vorschriftswidrig ungünstige Bedingungen hinzunehmen. Die rechtliche Verunsicherung wurde dadurch verschärft, dass sie mit ihrer Beteiligung an unangemeldeter oder falsch angemeldeter Beschäftigung selbst vordergründig gegen die Bestimmungen von Aufenthalts-, Arbeitserlaubnis- und Arbeitsrecht verstoßen. Den Betroffenen ist – ebenso wie den Beraterinnen – die Möglichkeit der Strafbefreiung für Opfer von MH/A nicht bekannt. Sie könnten auch nicht einschätzen, wann die Schwelle zur Zuschreibung eines Opferstatus erreicht sein könnte – und ob sie bei einer Anzeige auch als Opfer von MH/A anerkannt würden. Schließlich wurden auch Fallschilderungen erhoben, die Anwendungen von Strategien der Verunsicherung beinhalteten. In den Fällen extremer Ausbeutung wurden die Betroffenen unter Angaben, die später nicht eingehalten wurden, angeworben; durch Vorenthalten oder Vermittlung falscher Informationen manipuliert; durch Androhung von Konsequenzen wie Lohnabzügen, Verschlechterung der Arbeitsbedingungen oder Entlassung dazu gebracht, Arbeitsbedingungen hinzunehmen, die sie nicht freiwillig akzeptiert hätten. Offene Androhung oder Anwendung von Gewalt, um eine Person in eine Ausbeutungssituation zu bringen oder zu halten, ist aber äußerst selten. Die Verletzlichkeit führt dazu, dass Arbeitnehmer nicht auf Einhaltung geltender Ansprüche bestehen, sondern sich sogar offen einvernehmlich an der Umsetzung ungünstigerer Beschäftigungsverhältnisse beteiligen. Ein Motiv zur offen-einvernehmlichen Beteiligung ist die Hoffnung, auch bei einem für deutsche Verhältnisse schlechten Entgelt ein Einkommen erzielen zu können, das über dem im Herkunftsland erzielbaren Einkommen liegen würde. Solange Arbeitgeber ein verschleiertes Ausbeutungsverhältnis aufrecht erhalten können, sind zur Durchsetzung auffällig ungünstiger Beschäftigungsbedingungen keine Mittel wie Androhung oder Anwendung von Gewalt oder Nötigung erforderlich. Die meisten der von uns erhobenen Fallschilderungen verblieben in einem Rahmen, der als „normale Arbeitsausbeutung“ angesehen wurde. So verhielten sich z. B. die griechischen Bauarbeiter in einem vorgestellten Fall ausgesprochen naiv und glaubten den Versprechungen von Vermittlern, von denen sie nicht einmal schriftliche Verträge erhielten oder Angaben über Firmenadresse erhielten. Die Betroffenen wurden in diesem Fall getäuscht, es kam aber nicht zur Androhung oder Anwendung von Nötigung oder Gewalt. Hier stellt sich die Frage, wie das Verhältnis sich entwickelt hätte, wenn die Betroffenen vor Abschluss ihrer angewiesenen Bautätigkeiten auf Auszahlung zumindest eines Teils des vereinbarten Lohnes bestanden hätten. Wenn man die Dynamik ausbeuterischer Beschäftigungsverhältnisse (von einvernehmlich vereinbarten ungünstigen Beschäftigungsverhältnissen ohne strafrechtliche Relevanz bis hin zu erzwungenen Arbeitsverhältnissen, die den Tatbestand des MH/A erfüllen) mit der mutmaßlichen Häuigkeit verbindet, ergibt sich das Bild einer Pyramide. Die Basis bilden die Fälle der offen einvernehmlicher Beschäftigung, in denen Menschen die in einem 109 oder mehreren Aspekten zu deutlich ungünstigeren Bedingungen als vergleichbare ArbeitnehmerInnen arbeiten, die aber nicht im Sinne des § 233 StGB strafrechtlich relevant sind. Mit der graduellen Verschärfung ungünstiger Bedingungen wird die Zahl der betroffenen Arbeitsverhältnisse geringer, aber die Schwelle zur Strafbarkeit unter Umständen beim nachträglich aufgenötigten Ausbeutungsverhältnis überschritten. Die Spitze der Pyramide bilden die zahlenmäßig wahrscheinlich geringen Fälle offen erzwungener Ausbeutung, bei denen Arbeitnehmer im Extremfall mit Gewalt in ihrer Freiheit eingeschränkt werden. Das Bild der Pyramide versucht sichtbar zu machen, dass die Fälle des MH/A nur einen kleinen Anteil ausbeuterischer Beschäftigungsverhältnisse umfassen. Es sollte auch sichtbar werden, dass MH/A keine eigene Klasse der Arbeitsausbeutung darstellt, sondern in einem Kontinuum zu anderen, strafrechtlich weniger schwer wiegenden Fällen gesehen werden sollte. Es soll auch sichtbar gemacht werden, dass die Anwendung verbotener Mittel zur Durchsetzung auffällig schlechter Arbeitsbedingungen graduell und kumulativ erfolgen kann. Im Menschenhandelskonzept, das dem internationalem Verständnis und dem deutschen Strafgesetz zu Grunde liegt, wird der in Kapitel 4 dargestellte dynamische und graduell-kumulative Charakter nicht angemessen berücksichtigt. Dort wird von einer statischen Vorstellung ausgegangen, dass ein Täter einen vorab gefassten Plan zum Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung fasst und umsetzt.49 Eine solche Konzeption mag für die Strafverfolgung sachdienlich sein, ist aber für eine strategische Überlegung angemessener Prävention und Intervention nicht angemessen. In der Realität werden Wahl und Intensität der zur Durchsetzung ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse angewandten Mittel auch durch die Reaktionen der Beschäftigten beeinlusst. Das Beispiel der Haushaltsarbeiterin, die weniger und schließlich gar keinen Lohn mehr erhielt, nachdem die Arbeitgeber von ihrem illegalem Aufenthaltsstatus erfahren hatten, bietet ein besonders anschauliches Beispiel dafür. In einigen Fällen scheinen Arbeitgeber erst durch das Erkennen der Verletzlichkeit der Beschäftigten dazu veranlasst worden zu sein, die Bedingungen zu verschlechtern. Abbildung 3: Pyramide ausbeuterischer Beschäftigungsverhältnisse Spitze: Beschäftigungsverhältnisse nach MH/A Durchsetzung ausbeuterischer Verhältnisse mit - Anwendung von Gewalt - Androhung von Gewalt - Nötigung - Täuschung Beschäftigungsverhältnisse mit strafrechtlich relevanter Ausbeutung (z.B. Lohnwucher) Basis: Offen-einvernehmliche ungünstigere Beschäftigungsverhältnisse (zivilrechtlich einzuklagende Ansprüche) Quelle: Eigene Ausarbeitung der Autoren 110 6.3 Die Vexierlogik des Menschenhandelskonzepts Die Erfassung und Bekämpfung der vielfältigen Formen extremer Ausbeutung durch Anwendung der Menschenhandelskonzepts wird durch die für die Betroffenen unkalkulierbare Überlappung der strafrechtlichen Konzepte Menschenhandel, Menschenschmuggel, irreguläre Migration und Schwarzarbeit nachhaltig beeinträchtigt. Exemplarisch sei auf ein aktuelles Dokument der Europäischen Kommission verwiesen (Europäische Kommission 2009: 2). Dort wird angemerkt, dass Menschenhandel in der EU oft mit illegaler Einwanderung und Einschleusung von Migranten in Zusammenhang steht. Allerdings sei Folgendes der entscheidende Punkt: Menschenhandel ist eine Straftat, die einen Verstoß gegen die Grundrechte des Einzelnen darstellt, während das Einschleusen von Personen gegen die Rechtsvorschriften zum Schutz der Grenzen verstößt. Im Falle der durch Schleuser erleichterten illegalen Einwanderung gibt es eine Vereinbarung zwischen dem Migranten und dem Schleuser, wobei die Beziehung zwischen beiden endet, sobald der Migrant in das Gebiet des Aufnahmestaats gelangt ist. Im Falle des Menschenhandels dagegen werden illegale Mittel wie Nötigung, Täuschung oder Ausnutzung besonderer Hillosigkeit angewandt und die Betroffenen an einen anderen Ort der weiteren Ausbeutung gebracht (Europäische Kommission 2009: 2). Die hier eingeführte Unterscheidung kennt nur zwei Sachverhalte: Die irregulär eingereisten bzw. eingeschleusten MigrantInnen werden entweder als aktive TäterInnen gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen oder als ohnmächtige Opfer von MenschenhändlerInnen angesehen. Die Stereotypisierung der von Menschenhandel Betroffenen als hillose Opfer führt dazu, dass ihnen jegliche Handlungsfähigkeit abgesprochen wird. Daher werden die Mitgliedsstaaten aufgefordert, den proaktiven Ansatz der Identiikation von Opfern verstärken, insbesondere wenn die Opfer Kinder sind, und die Politiken verstärken, die auf eine Handlungsermächtigung (empowerment) von gehandelten Menschen abzielt, und die sie ermutigen soll, sich zu offenbaren und die Ausbeutung anzuzeigen (JLS Services 2007). Weil Handlungsunfähigkeit als wesentliches Element der Betroffenheitscharakterisierung dargestellt wird, stellt sich die Frage, ob Handlungsermächtigung (Empowerment) dazu führt, dass Personen nicht mehr als unterstützungsbedürftige Opfer, sondern als TäterInnen wahrgenommen werden. Die empirische Analyse hat gezeigt, dass von Ausbeutung betroffene MigrantInnen keine Anzeige erstatten, da sie selber befürchten, wegen illegaler Beschäftigung oder illegaler Einwanderung belangt zu werden. Ihnen wird aber in Aussicht gestellt, dass sie nicht mehr als TäterInnen behandelt werden, wenn die Beschäftigung zu Bedingungen erfolgt, die den Tatbestand des MH/A erfüllen. Um diesen Perspektivenwechsel vorzunehmen, sind die Strafverfolgungsbehörden auf Informationen und Aussagen der Betroffenen angewiesen. Diese sind allerdings über die Bestimmungen zum Schutz der Opfer von Menschenhandel nicht informiert. Wenn sie informiert werden, ist schwer einzuschätzen, ob die beschriebenen Sachverhalte für den Tatvorwurf Menschenhandel hinreichend sind. Unsicher ist auch, ob der Nachweis gerichtsfest möglich ist. Für die Betroffenen und ihre Beraterinnen ist das Angebot der Behörden, im Gegenzug zu Aussagen und Kooperation in Ermittlungs- und Strafverfahren einen Opferstatus und damit Straffreiheit und Aufnahme in ein Unterstützungsprogramm zu gewähren, nicht kalkulierbar. Sie können allerdings mit Sicherheit davon ausgehen, dass es zu einer Verfolgung möglicher aufenthaltsrechtlicher, arbeitserlaubnisrechtlicher, und arbeitsrechtlicher Vergehen kommt, wenn die Hinweise nicht ausreichen, um einen Opferstatus zuzusprechen. In der Praxis führt die stereotype Kategorisierung, die nur Opfer oder Täter kennt, zur Anwendung der Logik eines Vexierbildes (Kippigur), bei der ein anfänglicher Eindruck einem ganz anderen Platz macht, sobald das Bild aus einer anderen Perspektive betrachtet wird: Eine in herrlicher Kleidung 111 abgebildete Figur ist plötzlich nackt zu sehen ist, sobald das Bild gekippt wird, also die Perspektive verändert wird. Das Menschenhandelskonzept beinhaltet eine vergleichbare Vexierlogik. Wenn ein Verdacht auf Menschenhandel nicht nachweisbar ist, kippt die Wahrnehmung der Figur. Statt einer in seiner Menschenwürde verletzten Person ist nur noch eine irregulärer MigrantIn oder – wenn es nicht um irreguläre Migration geht – eine SchwarzarbeiterIn zu sehen, die für ihr Fehlverhalten sanktioniert werden muss. Für die Betroffenen und auch für andere Beteiligte ist es dabei in der Regel nicht einzuschätzen, ob der Eindruck von Menschenhandel auch bei näherer Betrachtung noch erhalten bleibt oder ob das Bild kippt. Diese Unsicherheit ergibt sich vor allem aus der komplexen Deinition des Tatbestands Menschenhandel, die den Nachweis von Absichten und Entscheidungsgründen bei ArbeitgeberInnen und ArbeitneherInnen erfordert. weil die Betroffenen keine Anzeige erstatten wollen, da sie sich damit unter Umständen selbst der Strafverfolgung wegen illegalem Aufenthalt oder Schwarzarbeit aussetzen (Anti-Slavery International 2006, Cyrus 2006, Dettmeijer-Vermeulen 2007). Zur Verringerung der Verletzlichkeit kann an dieser Stelle nur auf Empfehlungen hingewiesen werden, die Rechtssicherheit und Konliktfähigkeit von Beschäftigten unabhängig vom sozialrechtlichen und aufenthaltsrechtlichen Status zu stärken und bei der Arbeitsmarktkontrolle innovative Ansätze zu erproben, die stärker arbeitgeber- und abgabenorientiert sind (Vogel 2006: 118f). Diese „Vexierlogik des Menschenhandelskonzepts“, bei der Betroffene zu TäterInnen werden, wenn der Opferstatus nicht gewährt wird, ist der Hauptgrund, warum auch in schweren Fällen von Arbeitsausbeutung von den Betroffenen und ihren BeraterInnen keine Anzeige erstattet wird. Selbst wenn Anzeige erstattet wird, werden auf der ArbeitgeberInnenseite eher andere Straftaten angeklagt, die geringere Anforderungen an die Nachweisbarkeit stellen, z. B. andere Straftaten gegen die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung sein. Als besonders relevant hat sich in diesem Sinne § 266 a StGB (Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt) erwiesen – dabei sind nicht mehr die Beschäftigten, sondern die Sozialversicherungsträger die Geschädigten. Darüber hinaus können die §§ 96f AufenthG, die das Einschleusen von Ausländern mit Strafe bedrohen, als Auffangtatbestände greifen (Hellmann 2007: 52). Dann wird aber auch gegen die Beschäftigten wegen illegaler Einreise und Aufenthalt (§ 96 AufenthG), oder Schwarzarbeit ein Strafverfahren ermittelt, was auch in den anderen Fällen des Ausweichens auf andere Straftatbestände wahrscheinlich ist. Die hier vorgelegte Untersuchung bestätigt das Ergebnis anderer Studien, dass extrem ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse bestehen, die den Strafverfolgungsbehörden nicht bekannt werden, Abschließend soll auf die in der Einleitung aufgestellten Hypothesen zur Erklärung der Diskrepanz zwischen dem vermuteten Dunkelfeld und dem Hellfeld der aufgedeckten Fälle des Menschenhandels zum Zweck der Arbeitsausbeutung eingegangen werden. 6.4 Erörterung der Hypothesen (1) Die Ergebnisse unserer Recherche zeigen, dass von den Beratungsstellen auch in Berlin und Brandenburg Fälle beraten wurden, die Anhaltspunkte auf einen Anfangstatverdacht MH/A bieten, die aber nicht zur Anzeige gebracht wurden. Daher lässt sich schlussfolgern, dass es auch in Berlin und Brandenburg ein Dunkelfeld extrem ausbeuterischer Beschäftigungsverhältnisse gibt, die bei näherer Prüfung möglicherweise den Tatbestand des Menschenhandels zum Zweck der Arbeitsausbeutung erfüllen würden. Über das Ausmaß lassen sich aber mit den zurzeit verfügbaren Informationen keine verlässlichen Aussagen machen. Die im Abschnitt 5 vorgestellten Überlegungen verdeutlichen, dass durchaus Ansätze entwickelt werden können, um zu besser gesicherten Einschätzung zu kommen. (2) Ist das Hellfeld so klein, weil die Ermittlungsund Strafverfolgungsbehörden das Delikt MH/A nicht angemessen verfolgen? Die Informationen 112 und Daten der Berliner Polizei und Staatsanwaltschaft zeigen, dass die Polizei dem Delikt große Aufmerksamkeit und Aufklärungsintensität gewidmet hatte. Beim Berliner Landeskriminalamt ist ein Kommissariat auf die Bearbeitung von Verdachtsfällen von MH/A spezialisiert. Im ersten Jahr nach Einführung des Straftatbestandes MH/A wurden 54 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Trotz intensiver und prioritärer Aufklärungsbemühungen konnte aber bei 98 in den Jahren 2006 bis 2009 eingeleiteten Ermittlungsverfahren nur in einem Fall ein Strafbefehl erreicht werden. Es ist zumindest für die Berliner Polizei nicht plausibel, das kleine Hellfeld auf fehlendes Bewusstsein und Interesse der Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden zurückzuführen. Auch die Aussagen von FKS-MitarbeiterInnen verweisen darauf, dass es durchaus Versuche zur Anwendung des § 233 StGB gab, die aber scheiterten, weil die Betroffenen keine Aussagen machten. (3) Die Probleme der Strafverfolgung lassen sich zu einem erheblichen Teil auf die Komplexität des Straftatbestandes, die hohen Anforderungen an die Beweisführung und insbesondere die Bestimmung des schützenden Rechtsgutes als Freiheit, über seine Arbeitskraft zu verfügen, zurückführen. Es würde zur Klarheit beitragen, wenn nicht nur das Bringen in Arbeitsausbeutung strafbar wäre, sondern Arbeitsausbeutung an sich, wobei ein abgestuftes System von Straftatbeständen eine je nach Schwere angemessene Intervention erlauben müsste. (4) Personen, die an einer Situation extremer Ausbeutung als Opfer beteiligt sind, ist in der Regel nicht bekannt, dass der Tatbestand MH/A zu ihren Gunsten zur strafrechtlichen Bearbeitung Anwendung inden kann. Da die Betroffenen oft noch über ein gewisses Maß an Handlungsfähigkeit verfügen, sehen sie sich selbst nicht als Opfer von Menschenhandel. Da sie selbst an der Verletzung von Gesetzen mitgewirkt haben bzw. mitwirken, fürchten sie zu Recht, bei der Einschaltung von Strafbehörden selbst bestraft zu werden. Sie sind also nicht hinreichend informiert über einen möglicherweise angebotenen Schutz, der sich aus der Anerkennung eines Status als Opfer von Arbeits- ausbeutung ergibt. Selbst wenn sie darüber informiert wären, könnten weder sie selbst noch ihre BeraterInnen vorab realistisch einschätzen, ob ihnen ein Opferstatus tatsächlich zugesprochen würde (Vexierlogik des Menschenhandelskonzepts). Vor diesem Hintergrund wären Maßnahmen unterhalb der strafrechtlichen Verfolgung ein Weg, um Betroffenen durch Ermöglichung und Unterstützung bei der zivilrechtlichen und arbeitsgerichtlichen Durchsetzung von Ansprüchen aus einem Arbeitsverhältnis zu ermutigen, ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse nicht hinzunehmen. Das Beispiel der chinesischen Spezialitätenköche zeigt, dass auf diesem Wege auch die Bereitschaft für die Kooperation mit Strafverfolgungsbehörden erhöht werden kann. 113 114 115 7. Literaturverzeichnis 116 Aden M & Bornhöft P.2007. Diplomatie. Einladung zum Falschparken. In: Der Spiegel 9/2007: 36, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-50666669. html; zuletzt besucht am 30.08.2010 Agustin L. 2006. The Disappearing of a Migration Category: Migrants Who Sell Sex. Journal of Ethnic and Migration Studies 32: 29-47 Agustin LM. 2007. Sex at the Margins: Migration, Labour Markets and the Rescue Industry. London and New York: Zed Books Alt J. 1999. Illegal in Deutschland. 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Zur Annäherung an MH/A wurde daher durch schriftliche Befragung von Kontrollbehörden und Beratungsstellen Fälle extremer Arbeitsausbeutung erhoben. Im Ergebnis wurde eine Liste mit 119 Fallbeschreibungen erstellt, die ausdrücklich als Informationen aus zweiter Hand (bzw. vom Hörensagen) benannt wurden, weil sie ausschließlich auf Berichten der angefragten Stellen beruhte. Im zweiten Schritt wurden die Fallschilderungen danach bewertet, ob die beschriebene Fallkonstellation eine Ausbeutungssituation im Sinne des niederländischen Menschenhandelsparagraphen darstellen. Es wurde ausdrücklich erläutert, dass es auf Grundlage der erhobenen Fallschilderungen nur möglich sei einzuschätzen, ob es sich um eine Situation der Arbeitsausbeutung im Sinne des niederländischen Menschenhandelsparagrafen handelt. Eine Einstufung als Menschenhandel sei auf Grundlage der Fallschilderung nicht möglich, da es an Informationen über die subjektiven Absichten der Täter fehle und auch eine Einschätzung nicht möglich sei, inwiefern die geschilderten Sachverhalte sich gerichtlich nachweisen lassen. Es wurde also eine deutliche Einschränkung gemacht, dass man keine Fälle von Menschenhandel darstellt, sondern Fälle von Arbeitsausbeutung im Sinne des niederländischen Menschenhandelsparagraphen, die zumindest vom Sachverhalt den Tatbestand erfüllen (und bei Vorliegen der subjektiven Tatvoraussetzung der Absicht den Tatbestand erfüllen würden). Vorgeführt wird, wie intensiv die AutorInnen sich um eine transparente Deinition der Bedeutung des Schlüsselkonzepts der Arbeitsausbeutung im Sinne des niederländischen Menschenhandelsparagrafen (i.S.n.M.) bemühen. Als Kriterium für das Vorliegen von Arbeitsausbeutung i.S.n.M wird bestimmt, dass als Grundvoraussetzung (konstanter Faktor) eine Einschränkung der Freiheit und zusätzlich mindestens ein Element der erzwungenen Arbeit gegeben sein muss. Die Einschränkung der Freiheit bildet das feste Element zur Deinition von Arbeitsausbeutung i.S.n.M. Als variable Elemente erzwungener Arbeit werden genannt (1) Zwang, einschließlich der Ausübung oder Androhung körperlicher oder sexueller Gewalt, die Androhung der Anzeige eines illegalen Aufenthaltes oder einer illegalen Beschäftigung, die Ausnutzung einer Autoritätsposition oder die Ausnutzung einer verletzlichen Position; oder (2) schlechte Arbeitsbedingungen, einschließlich unverhältnismäßig langer Arbeitszeiten, niedriger Entlohnung oder gefährlicher Arbeitsbedingungen unter Missachtung der Schutzbestimmungen; oder (3) mehrfache Abhängigkeiten, einschließlich der Beschäftigung zum Abarbeiten von Schulden und die gleichzeitige Abhängigkeit von einer Person bei Beschäftigung und Unterbringung oder Vorenthaltung von Dokumenten. „Eine Situation kumuliert dann zu Ausbeutung (i.S.n.M.), wenn eines dieser Probleme besteht und die Betroffenen nicht frei sind, diese Situation zu verlassen oder aber begründet annehmen, dass sie nicht die Freiheit haben, das Beschäftigungsverhältnis zu beenden. In der Praxis können sich der konstante und die variablen Faktoren überlappen. Die Einschränkung der Freiheit kann verknüpft sein mit extremen Arbeitsbedingungen oder die Ausnutzung einer verletzlichen Lage kann so heftig sein, dass der Betroffene keine andere Möglichkeit hat als Ausbeutung zu erleiden. Bei der Einschätzung einer Situation müssen alle Besonderheiten des Einzelfalls, etwa die Dauer, der Grad der Organisierung oder das Alter der Betroffenen berücksichtigt werden“ (Dettmeijer-Vermeulen 2007: 158). Nach dieser Deinition wurden schließlich 119 Fallschilderungen als Ausbeutung i.S.n.M. eingestuft. Weitere erhobene Fallschilderungen wurden als 122 „gewöhnliche Ausbeutung“ eingestuft, bei der zivilrechtliche, aber keine strafrechtlichen Bestimmungen verletzt wurden oder sogar als lediglich schlechte, aber im rechtlichen Sinne nicht ausbeuterische Arbeitsbedingungen. Die Darstellung der niederländischen Berichterstatterin zeigt anschaulich und nachvollziehbar mögliche Hintergründe für die Diskrepanz zwischen dem vermuteten und dem schließlich festgestellten Ausmaß an MH/A in den Niederlanden. Extreme Ausbeutung wird danach erst dann als MH/A klassiiziert, wenn die Freiheit der betroffenen Person eingeschränkt wird. Bemerkenswert an dem Bericht ist, dass durch Befragung von Behörden und Beratungsstellen relativ zahlreiche Hinweise auf ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse in den Niederlanden erhoben werden konnten, die aber nicht zu Anzeigen geführt hatten. 123 Anhang 2 Aulistung aller durchgeführten Interviews Laufende Institution/Funktion Nummer Name Bundesland Art Datum 1 Jesuiten Flüchtlingsdienst M. Stark Berlin telefonisches IV 06.11.09 2 Rechtsanwalt B. Welke Brandenburg persönliches IV 09.11.09 3 DGB Beratungsstelle für Migranten V. Siewert Berlin persönliches IV 10.11.09 4 Härtefallkommission T. Vorbrodt Berlin persönliches IV 16.11.09 5 Die Unabhängigen (Charité) Z. Safaei Berlin persönliches IV 16.11.09 6 IG Bau L. Dieckmann, Berlin persönliches IV 18.11.09 7 Fachgemeinschaft Bau Herr A., Herr B., H.-J. Rosenwald Berlin persönliches IV 24.11.09 8 SeelsorgerInnen im Abschiebegefängnis (ev. Kirche) K. Frisch Berlin persönliches IV 24.11.09 9 Ban Ying N. Prasad Berlin persönliches IV 25.11.09 10 Invia B. Eritt Berlin persönliches IV 26.11.09 11 Kirchenkreis Oranienburg, Beratung für Flüchtlinge und Migranten S. Tetzlaff Brandenburg persönliches IV 26.11.09 12 Diakonisches Werk in Cottbus I. Küchle Brandenburg persönliches IV 02.12.09 13 Verein Europäischer Wanderarbeiter M. Balan Berlin telefonisches IV 02.12.09 14 Solwodi B. Mariotti Berlin persönliches IV 03.12.09 15 Bleiberecht durch Arbeit E.-M. Kulla Berlin telefonisches IV 03.12.09 16 Malteser Migranten Medizin A. Franz Berlin persönliches IV 08.12.09 17 Diakonisches Werk in Potsdam M. Rau, J. Schührer Brandenburg persönliches IV 09.12.09 18 Diakonisches Werk in Senftenberg Herr Jahn, Frau Herzog Brandenburg persönliches IV 16.12.09 19 Wohnungslosenhilfe R. Thiele Berlin persönliches IV 17.12.09 20 (Schmuckverkäuferin) Frau F. Berlin telefonisches IV 11.02.10 21 LKA Berlin R Lawitzke Berlin persönliches IV 08.01.10 22 Staatsanwaltschaft Berlin F. Heller Berlin persönliches IV 18.02.10 23 FKS Berlin Brandenburg Vier MitarbeiterInnen Berlin und Brandenburg persönliches IV 26.04.10 24 Staatsanwaltschaft Berlin Klatt Berlin persönliches IV 30.06.10 Quelle: Eigene Aufstellung