1
Menschenhandel
zum Zweck der Arbeitsausbeutung
Eine explorative Untersuchung zu Erscheinungsformen, Ursachen und Umfang
in ausgewählten Branchen in Berlin und Brandenburg im Auftrag des Berliner Bündnisses gegen Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung
EUROPÄISCHE UNION
2
Menschenhandel
zum Zweck der Arbeitsausbeutung
Arbeitsausbeutung
Eine explorative Untersuchung zu Erscheinungsformen, Ursachen und Umfang
in
Branchen in
und Brandenburg Eineausgewählten
explorative Untersuchung
zuBerlin
Erscheiim
Auftrag des
Berliner
Bündnisses
gegen Menschenhandel zum Zweck der
nungsformen,
Ursachen
und Umfang
in ausgeArbeitsausbeutung
wählten Branchen in Berlin und Brandenburg im Auftrag des Berliner Bündnisses gegen
Menschenhandel zum Zweck der
September
2010
Arbeitsausbeutung
September 2010
Dr. Norbert Cyrus
Hamburger Institut für Sozialforschung
Dr. Dita Vogel
Hamburgisches WeltWirtschaftsinstitut
Norbert.cyrus@his-online.de
vogel@hwwi.org
Katrin de Boer
Europa-Universität
Viadrina Frankfurt (Oder)
deBoer@euv-frankfurt-o.de
Impressum
Herausgeber
Internationale Organisation für Migration (IOM) Deutschland
als Projektleitung des BBGM- Berliner Bündnis gegen Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung
Charlottenstrasse 17
10117 Berlin
Tel.: 030 27 87 78 11
Fax: 030 27 87 78 99
E-Mail: iom-germany@iom.int
Internet: http://www.iom.int/germany/
Diese Studie ist Teil des ESF/ XENOS Projektes “BBGM – Berliner Bündnis gegen Menschenhandel zum
Zweck der Arbeitsausbeutung” (www.gegen-menschenhandel.de). Dem BBGM gehören der DGB Bezirk
Berlin-Brandenburg, die ILO, die IOM und die Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales an. Eine Vervielfältigung im Ganzen oder in Teilen ohne Erlaubnis des Herausgebers ist nicht gestattet.
Diese Studie gibt die Auffassung der Autoren und Autorinnen wieder, die nicht notwendigerweise mit
derjenigen der Auftraggeber übereinstimmen muss.
3
Vorwort
Mit der vorliegenden Studie präsentiert das „Berliner Bündnis gegen Menschenhandel zum Zweck
der Arbeitsausbeutung“ (BBGM) ein wichtiges Zwischenergebnis seiner Arbeit.
Ich danke allen, die bei dem Bündnis mitwirken1
und mit deren Hilfe es gelungen ist, diese Initiative
zu starten. Unser vorrangiges Anliegen ist es, die
Bekämpfung des „Menschenhandels zum Zweck
der Arbeitsausbeutung“ durch Information und
Sensibilisierung so konsequent voranzubringen,
wie das seit Jahren bei der vergleichbar gelagerten
Bekämpfung des „Menschenhandels zum Zweck
der sexuellen Ausbeutung“ geschieht.
Konstituiert hat sich das „Berliner Bündnis“ im Jahr
2009 auf Initiative der Internationalen Organisation für Migration Deutschland (IOM) anlässlich von
Erkenntnissen nationaler Fachberatungsstellen und
der Studie der Internationalen Arbeitsorganisation
(ILO) „Menschenhandel und Arbeitsausbeutung
in Deutschland“ aus dem Jahr 2005. Im „Berliner
Bündnis“ arbeiten neben der IOM die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales (SenIAS)
zusammen. Unterstützt wird das Bündnis durch
das Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit
dem Bundesprogramm „XENOS – Integration und
Vielfalt“ aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds.
Ich danke sehr herzlich den Autorinnen und dem
Autor dieser Studie Dr. Dita Vogel, Katrin de Boer
und Dr. Norbert Cyrus für ihre engagierte Arbeit.
Gibt es in der Region Berlin-Brandenburg Menschenhandel zum Zwecke der Arbeitsausbeutung?
Dieser Frage versucht sich die Studien mithilfe von
statistischen Erkenntnissen und mittels Interviews
zu nähern. Das Ergebnis: In Berlin und Brandenburg gibt es nach allem, was im Rahmen der Studie
anhand der Datenlage ermittelt werden konnte,
nur sehr wenige strafrechtlich relevant gewordene
Einzelfälle von „Menschenhandel zwecks Arbeitsausbeutung“.
Die Studie verweist aber auch darauf – und das
deckt sich mit unseren seit Jahren gemachten Erfahrungen -, dass die geringe Zahl von behördlich
bekannt gewordenen Fällen des Menschenhandels
zwecks Arbeitsausbeutung lediglich einen kleinen
Bereich von Ausbeutung auf dem Arbeitsmarkt abbildet. Die Forscherinnen und Forscher der Studie
zeigen, wie ließend die Übergänge zwischen
strafrechtlich relevanter Ausbeutung, irregulären
Ausbeutungsverhältnissen und den teilweise fast
schon Normalität gewordenen prekären Beschäftigungsverhältnissen sein können.
Besonders belastet sind die hilfsbedürftigen, verletzlichen Menschen, die sich am Ende der langen
Schlange der Anbieterinnen und Anbieter von Arbeitskraft beinden und kaum in der Lage sind, die
Ausbeutungssituation, in die sie geraten, zu erkennen und dementsprechend abzuwehren oder Hilfe
zu suchen.
Niedrige Löhne, der Anstieg nicht sozialversicherter Beschäftigung, Leiharbeit und andere Formen
prekärer Beschäftigung – diese Themen stehen für
unsere Senatsverwaltung genau wie für den DGB
seit Jahren auf der Agenda. Wir brauchen dringend
bundesgesetzliche Regelungen etwa zur Gleichbehandlung der Leiharbeit sowie einen lächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Auch dafür
streiten wir seit Jahren auf der Bundesebene.
Die Studie zeigt uns, dass es in Berlin weiterhin
bei vielen einen großen Informationsbedarf über
Mindeststandards bei Arbeitsbedingungen und
Arbeitsentgelten zu geben scheint: seien es Wanderarbeiter, erst jüngst oder schon vor Jahren zugewanderte Arbeitsmigranten, Zuwanderer mit
unsicherem Aufenthaltsstatus, Deutsche mit Migrationshintergrund oder Herkunftsdeutsche.
Zwar bieten eine Reihe von Berliner Behörden, Institutionen und Verbände und zum Beispiel der
Deutsche Gewerkschaftsbund zahlreiche Informationen über die gesetzlichen und tarilichen Anforderungen an Arbeitsverhältnisse sowie individuelle
Beratungen an. Offenbar brauchen wir hier aber
ein noch größeres Angebot. Die Anregungen dazu
nehmen wir gerne auf.
4
Gemäß seinem Projektplan hat das „Berliner
Bündnis“ eine solche Informationspolitik in Vorbereitung. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat die
Ergebnisse der Studie bereits in konkrete Handlungen umgesetzt. Seit August 2010 gibt es im Berliner DGB-Haus ein Beratungsbüro für entsandte
Beschäftigte, das bei der dortigen Beratungsstelle
für Migrantinnen und Migranten angesiedelt ist,
die es nunmehr seit rund 30 Jahren gibt. Das Beratungsangebot richtet sich vorrangig an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus EU-Staaten, die
von ihren Arbeitgebern zeitweilig nach Deutschland entsandt werden. Die Beratung erfolgt in
mehreren Sprachen. Noch in diesem Jahr sollen
Schulungen zum Thema „Menschenhandel zwecks
Arbeitsausbeutung“ starten.
Das Berliner Bündnis, meine Verwaltung und ich
selbst werden uns weiter nach Kräften gegen menschenunwürdige Arbeitsverhältnisse in unserer
Stadt engagieren.
Berlin, im September 2010
Staatssekretärin für Integration und Arbeit,
Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales Berlin
Moderatorin des Runden Tisches
zur Bekämpfung des Menschenhandels
zum Zwecke der Arbeitsausbeutung
5
Runder Tisch
gegen Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung im Land Berlin
Moderation
Frau Kerstin Liebich, Staatssekretärin für Integration und Arbeit in Berlin
Teilnehmende Institutionen
Agentur für Arbeit Berlin Nord
Agentur für Arbeit Berlin Süd
Ban Ying – Beratungs- und Koordinationsstelle gegen Menschenhandel
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)
Bundesinanzdirektion Mitte
Bundeskriminalamt (BKA)
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS)
Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)
Caritasverband für das Erzbistum Berlin e.V.
Handwerkskammer Berlin
Industrie- und Handelskammer Berlin
IG Bau Berlin-Brandenburg
Integrationsbeauftragte des Landes Brandenburg
IN VIA Beratungsstelle für Frauen, die von Menschenhandel betroffen sind
Jesuiten Flüchtlingsdienst
KOK - Bundesweiter Koordinierungskreis
gegen Frauenhandel und Gewalt an Frauen im Migrationsprozess e.V.
Landeskriminalamt Berlin (LKA)
Migrationsrat Berlin Brandenburg (mrbb)
Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo)
Liga der Wohlfahrtsverbände
Malteser-Hilfsdienst
Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen
Senatsverwaltung für Justiz
Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen
Senatsverwaltung für Justiz
Senatsverwaltung für Inneres und Sport
SOLWODI Beratungsstelle in Berlin
Südost Europa Kultur e.V.
Vereinigung der Unternehmensverbände in Berlin und Brandenburg e.V. (uvb)
Ver.di: Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft
Ver.di Arbeitskreis Undokumentierte Arbeit
Projektpartner
Internationale Organisation für Migration Deutschland (IOM)
Internationale Arbeitsorganisation Deutschland (ILO)
Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB)
Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales (SenIAS) Berlin
6
Inhalt
0. Zusammenfassung
9
0.1 Stand des Wissens
10
0.2 Die Situation in Berlin und Brandenburg
10
0.3 Die Möglichkeit einer Schätzung
11
0.4 Schlussfolgerungen
11
1. Einführung in Problematik und Methoden
13
1.1 Einleitung
13
1.2 Methodische Herangehensweise
15
2. Deinition und Diskussion des Menschenhandelskonzepts
17
2.1 Das Menschenhandelskonzept der Vereinten Nationen
17
2.2 Zum Stand der internationalen Forschung
23
2.3 Hinweise auf betroffene Branchen
25
2.4 Verwendung von Indikatoren
25
2.5 Hinweise zur Einschätzung der Handlungsfähigkeit von Betroffenen
28
3. Zu der Situation in Europa und der Bundesrepublik Deutschland
33
3.1 Europäische Entwicklung
33
3.2 Der Straftatbestand § 233 StGB
36
3.3 Informationen zu MH/A in der Bundesrepublik Deutschland
40
3.4 Deinition der Begriffe Arbeit, Arbeitsausbeutung und MH/A
42
4. Empirische Bestandsaufnahme der Situation
in Berlin und Brandenburg
45
4.1 Untersuchungsmethode und Forschungsfeld
45
4.2 Öffentliche Aufmerksamkeit für MH/A
48
4.3 Darstellung der Erkenntnisse von Behörden
50
7
4.4 Informationen aus der Beratungsarbeit
4.4.1 Hintergrund der Beratungsstellenangebote
4.4.2 Fallsammlung nach Branchen
4.4.3 Analytische Darstellung von Ausbeutungssituationen
4.4.4 Zusammenfassende Einschätzung mit Blick auf § 233 StGB
57
58
60
72
74
4.5 Risikofaktoren
4.5.1 Individuelle Risikofaktoren
4.5.2 Soziale und rechtliche Risikofaktoren
4.5.3 Zwischenfazit
75
76
78
82
4.6 Bekanntwerden, Kontaktaufnahme und Anzeigenbereitschaft
4.6.1 Bekanntwerden ausbeuterischer Arbeitssituationen
4.6.2 Kontaktaufnahme mit Beratungsstellen
4.6.3 Einleitung zivilrechtlicher Schritte und Strafanzeigen
83
83
84
84
4.7 Zusammenfassende Beobachtungen
85
5. Möglichkeiten zur Schätzung der Größenordnung von MH/A
87
5.1 Stand der Diskussion über Schätzungen zu MH/A
88
5.2 Eingrenzung des Untersuchungsfeldes
90
5.3 Methodische Grundlagen
5.3.1 Dunkelziffern aus Falldokumentationen
5.3.2 Mindest- und Maximalschätzungen mit Multiplikatoren
91
92
95
5.4 Analyse der erhobenen Informationen als Anhaltspunkt für eine Schätzung
5.4.1 Überblick über Akteure und ihre Verbindungen
5.4.2 Polizei
5.4.3 Finanzkontrolle Schwarzarbeit
5.4.4 Quantiizierende Aussagen in Expertengesprächen
5.4.5 Falldokumentationen aus dem Beratungskontext
5.4.6 Zusammenfassende Würdigung
96
96
97
97
98
99
100
5.5 Vorschläge zur Schätzung
101
6. Schlussfolgerungen
105
6.1 Einordnung von Berlin und Brandenburg
105
6.2 Die Pyramide der Arbeitsausbeutung
107
6.3 Die Vexierlogik des Menschenhandelskonzepts
110
6.4 Erörterung der Hypothesen
111
7. Literaturverzeichnis
115
8
9
0.
Zusammenfassung
In den letzten zehn Jahren sind zahlreiche Initiativen zur Bekämpfung des Menschenhandels auf
internationaler und nationaler Ebene ergriffen
worden, wobei der Schwerpunkt der Aktivitäten
auf dem Bereich der Maßnahmen zur Bekämpfung
des Menschenhandels zur sexuellen Ausbeutung
lag. Seit etwa fünf Jahren wird Menschenhandel
zur Ausbeutung der Arbeitskraft (MH/A) verstärkt
behandelt.
Im Rahmen dieser vom BBGM in Auftrag gegebenen Studie wurde(n):
•
•
•
verfügbares Wissen über MH/A zusammengetragen und systematisiert
durch qualitative Interviews (mögliche) Fälle
von MH/A in Berlin und Brandenburg beschrieben und analysiert
eine Methode zur genaueren Schätzung des
Umfangs von MH/A entwickelt und deren Umsetzung mit verfügbaren Daten überprüft
10
0.1
Stand des Wissens
Trotz eines vermuteten großen Dunkelfelds ist die
Zahl der Ermittlungen, Anklagen und Verurteilungen wegen MH/A niedrig. Wissenschaftliche
Erkenntnisse sind trotz einer hohen Anzahl von
Veröffentlichungen und Studien unsicher und umstritten.
Für Europa werden ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse im Baugewerbe, in Hotels und
Gastronomie, in der Landwirtschaft und vor allem
in privaten Haushalten festgestellt. Dabei bestehen branchenspeziische Muster der Anwerbung
und Beschäftigung, die hinter legalen Fassaden
(Werkvertrag, falsch deklarierte Selbstständigkeit,
Entsendung) ungünstigere Arbeitsbedingungen
aufnötigen.
In den seit 2000 zahlreich verabschiedeten internationalen und europäischen Rechtsakten zu Menschenhandel wurde bisher vor allem der Ansatz der
Kriminalitätsbekämpfung bestätigt, zunehmend
aber auch die Verbindlichkeit des Opferschutzes
stärker betont.
In der Bundesrepublik Deutschland wurden 2006
bis 2009 insgesamt 221 Ermittlungsverfahren
wegen MH/A eröffnet. Die Zahl ist seit 2007 von 92
auf 24 im Jahr 2009 gesunken. Insgesamt lässt sich
festhalten, dass der Straftatbestand MH/A in der
Bundesrepublik Deutschland selten zur Anwendung kommt.
0.2
Die Situation in Berlin und
Brandenburg
Nach Auskunft zuständigen Behörden kann MH/A
in Brandenburg und Berlin nicht nachgewiesen
werden. Im Zeitraum 2006 - 2009 wurden in Brandenburg nur zwei Ermittlungsverfahren eröffnet.
In Berlin wurden zwischen 2006 und 2009 insgesamt 98 Ermittlungsverfahren eröffnet. Aber nur in
einem einzigen Fall konnte ein Strafbefehl wegen
MH/A erwirkt werden. Die Zahl der eröffneten Ermittlungsverfahren sinkt seit 2006 kontinuierlich
von 54 auf 3 Verdachtsfälle in 2009.
Hingewiesen wurde auf die Komplexität des
Straftatbestands, die hohe Anforderung an die Beweisführung, und fehlende Aussagebereitschaft
der Betroffenen dazu führt, dass leichter nachweisbare Vergehen zur Anklage gebracht würden.
Im Verlauf der Recherche wurden 24 MitarbeiterInnen von Beratungseinrichtungen interviewt, die
Fälle extremer Arbeitsausbeutung im Rahmen
einer sozialrechtlichen oder aufenthaltsrechtlichen
Beratung zwischen 2005 und 2009 betreut hatten.
Die geschilderten 36 Fälle betrafen 15 Tätigkeitsbereiche, darunter Baugewerbe, Handel, Gartenund Landschaftsbau, Hotel- und Gaststättenbereich und private Haushalte. Zwölf Fälle aus zehn
Tätigkeitsbereichen wurden ausgewählt, um in der
Studie ausführlicher die Erscheinungsformen ausbeuterischer Beschäftigungsverhältnisse zu veranschaulichen.
Die erhobenen Fälle zeigen, dass extreme Ausbeutung auch in ofiziell angemeldeten und registrierten Beschäftigungsverhältnissen vorkommt und
auch EU-BürgerInnen sowie in Deutschland gemeldete Personen mit unsicherem Aufenthaltsstatus
(Geduldete) betroffen sind. Die Gefahr, in Ausbeutungssituationen zu geraten, scheint weniger durch
individuelle Faktoren (Geschlecht, Alter, Bildung,
Sprachkenntnisse) als vielmehr durch soziale und
rechtliche Faktoren (unsicherer oder fehlender
Aufenthaltsstatus, Mehrfachabhängigkeit, fehlende soziale Einbindung) erhöht zu werden.
Bei insgesamt 13 Fällen gab es Hinweise, die einen
Anfangstatverdacht auf MH/A begründen. Die
besonders schweren Fälle betrafen insbesondere
Privathaushalte und Gaststätten. Die Fälle offener
Gewaltanwendung spielen eine geringe Rolle.
Häuiger wurden subtilere Formen des Zwangs
durch Täuschung und Ausnutzung einer Zwangslage beschrieben.
Es ist davon auszugehen, dass es auch in Berlin und
Brandenburg ein Dunkelfeld extrem ausbeuterischer Beschäftigungsverhältnisse besteht, die nach
internationalem Rechtsverständnis Anhaltspunkte
auf Menschenhandel aufweisen.
11
0.3
Die Möglichkeit einer
Schätzung
Zum weltweiten Ausmaß und Erscheinungsformen
des MH/A liegen keine gesicherten Erkenntnisse
vor. Eine von der ILO 2005 vorgelegte Schätzung
geht von weltweit etwa 7,8 Millionen Zwangsarbeitenden aus, davon 84.000 in Industrieländern. Bei
etwa jedem fünften Fall waren auch ‚Rekrutierer’
und ‚Vermittler’ involviert, also ‚Menschenhändler’
im Sinne des internationalen Sprachgebrauchs.
Für Deutschland oder einzelne Bundesländer liegen
keine methodisch fundierten Schätzungen zum
Umfang von MH/A vor. Methodisch sind Schätzungen wegen der deliktbedingt schlechten Datenlage
schwierig. Als Basisansatz schlagen die AutorInnen
die Logicom-Methode vor, bei der Minimal- und
Maximalschätzungen auf unterschiedlichen Datengrundlagen angestrebt werden. Eine bestmögliche
Basisschätzung wird dabei durch Vergleich ermittelt und in Expertengesprächen in ihrer Verlässlichkeit geprüft. Die Dauer aufgedeckter Fälle von
MH/A wird dabei als Indikator für die Dunkelziffer
genutzt.
Insgesamt sind die im Rahmen dieser Untersuchung erhobenen Daten aber nicht ausreichend, um
eine echte Dunkelzifferschätzung durchzuführen.
Beim jetzigen Kenntnisstand gehen die AutorInnen davon aus, dass die Gesamtzahl der Menschenhandelsfälle mit physischer Einschränkung in
Berlin und Brandenburg den zweistelligen Bereich
nicht übersteigt. Die Gesamtzahl der Fälle, die bei
näherer rechtlicher Prüfung möglicherweise den
Tatbestand des Menschenhandels zum Zweck der
Arbeitsausbeutung erfüllen, könnte jedoch erheblich größer sein als die Zahl der besonders brutalen
und eindeutigen Fälle.
0.4
Schlussfolgerungen
In der Studie wird vorgeschlagen, mit Blick auf den
Grad der Freiwilligkeit verschiedene Formen ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse zu unterscheiden:
•
•
•
•
Einvernehmlich vereinbarte
Ausbeutungsverhältnisse
Verschleierte Ausbeutungsverhältnisse
Nachträglich aufgenötigte
Ausbeutungsverhältnisse
Offen erzwungenes Ausbeutungsverhältnis
Mit dem Bild der ‚Pyramide der Ausbeutung’ wird
auf die graduelle und kumulative Dynamik verdeutlicht. Die Basis bilden die überwiegend einvernehmlichen oder durch Anwendung subtiler
Formen des Zwangs verschleierten oder nachträglich aufgenötigten ausbeuterischen Beschäftigungsverhältnisse. Offen erzwungene Ausbeutung
bildet eine zahlenmäßig schmale Spitze.
Betroffene extremer Ausbeutung verfügen oft
noch über ein gewisses Maß an Handlungsfähigkeit. Unter den gegebenen institutionellen und
rechtlichen Rahmenbedingungen haben die Betroffenen jedoch kaum Ansatzpunkte, ausbeuterische Beschäftigung oder Verdachtsfälle auf MH/A
anzuzeigen. Selbst bei entsprechender Beratung
entschließen sich Betroffene deshalb oft auch nicht
zur Einleitung zivilrechtlicher Schritte. Da sie selbst
an der Verletzung von Gesetzen mitgewirkt haben
bzw. mitwirken, fürchten sie bei der Einschaltung
von Strafbehörden selbst bestraft zu werden. Denn
wenn eine Anzeige wegen MH/A nicht bewiesen
werden kann, droht Betroffenen ein Verfahren
wegen illegalen Aufenthalts oder unangemeldeter Beschäftigung, eine als „Vexierlogik des Menschenhandelskonzepts“ bezeichneter Sachverhalt.
Die AutorInnen halten es für sinnvoll, wenn nicht
nur das Bringen in Arbeitsausbeutung strafbar
wäre, sondern auch ein Delikt Arbeitsausbeutung
an sich mit objektiv nachweisbaren Kriterien eingeführt würde und die rechtlichen Rahmenbedingen
überprüft werden, um Rechtssicherheit und Konliktfähigkeit für Beschäftigte zu stärken.
12
Einführung in
Problematik
und
Methoden
13
1.
Einführung in Problematik
und Methoden
1.1
Einleitung
In den letzten zehn Jahren sind zur Bekämpfung
des Menschenhandels auf internationaler und nationaler Ebene zahlreiche Initiativen ergriffen und
Maßnahmen umgesetzt worden. Der Schwerpunkt
der Aufmerksamkeit und der Aktivitäten liegt auf
dem Bereich der Maßnahmen zur Bekämpfung des
Menschenhandels zur sexuellen Ausbeutung. Der
Menschenhandel zur Ausbeutung der Arbeitskraft
wird erst in den letzten fünf Jahren verstärkt behandelt, ist bisher aber nicht systematisch angegangen worden.
‚Menschenhandel zur Ausbeutung der Arbeitskraft’
wurde als strafbare Handlung erst im Jahr 2000 in
das internationale Recht eingeführt. Die Bundesrepublik Deutschland hat aufgrund internationaler
und europäischer Verplichtungen, die sich aus der
Ratiizierung internationaler Abkommen und verbindlicher Richtlinienvorgaben der Europäischen
Union ergeben, Maßnahmen zur strafrechtlichen
Bekämpfung des Menschenhandels und zum effektiven Schutz der Opfer zu ergreifen. Der „Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung“
14
wurde in der Bundesrepublik Deutschland im
Jahr 2005 als Tatbestand in das Strafgesetzbuch
aufgenommen. Inzwischen wird das Thema Menschenhandel zur Ausbeutung der Arbeitskraft (im
Folgenden abgekürzt als MH/A) zunehmend aufgegriffen.
Behörden und Institutionen wie das Bundeskriminalamt, das Auswärtige Amt, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie auf Länderebene zum Beispiel die Berliner Senatsverwaltung für
Arbeit befassen sich mit dem Thema (Bundesregierung 2009a). Auch Menschenrechtsinstitutionen
(Follmar-Otto & Rabe 2009) und nichtstaatliche
Akteure haben das Thema inzwischen für sich entdeckt (Koopmann-Aleksin 2007, Schwarze 2007,
Prasad & Rohner 2005).
Auch vor dem Hintergrund dieser Debatte wurde
auf Initiative der Internationalen Organisation für
Migration (IOM) im Rahmen des XENOS-Progammes das „Berliner Bündnis gegen Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung“ (BBGM) gegründet.2
Partner in dem Bündnis sind neben der IOM der
Landesverband Berlin-Brandenburg des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), die Senatverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales von
Berlin und die Internationale Arbeitsorganisation
(ILO). Mit dem Bündnis wird angestrebt, Maßnahmen zur Eindämmung des Menschenhandels
zur Arbeitsausbeutung zu initiieren und zu koordinieren. Neben der Einrichtung eines „Runden
Tisches“ unter Leitung der Berliner Staatssekretärin für Arbeit, Frau Kerstin Liebich, hat das Berliner
Bündnis eine wissenschaftliche Studie in Auftrag
gegeben, um eine Bestandsaufnahme der Situation in Berlin und Brandenburg zu erhalten.
Der Untersuchungsauftrag betraf den Tatbestand
des MH/A (§ 233 StGB). Die im Straftatbestand
Menschenhandel nach deutschem Recht ebenfalls möglichen Deliktformen des Menschenhandel
zum Zweck der sexuellen Ausbeutung (§ 232 StGB)
sowie die nach internationalem Verständnis möglichen Erscheinungsformen des Handels mit und die
Ausbeutung von Kindern sowie der Organhandel
wurden in dieser Recherche nicht behandelt. Aus
der Tatsache, dass diese Erscheinungsformen in
dem Bericht nicht behandelt werden, lassen sich
keine Rückschlüsse ziehen, ob und in welchem
Umfang diese Erscheinungsformen des MH in
Berlin und Brandenburg vorkommen.3
Im Zentrum der Untersuchung stand wegen der
kurzen Untersuchungszeit und der eingeschränkten Ressourcen die Situation von Nicht-EU-Bürgern
– so genannten ‚Drittstaatlern’ – , die nach allgemeiner Auffassung einem besonderen Risiko unterliegen, Opfer von MH/A zu werden. Der Schwerpunkt der Untersuchung sollte auf Erhebung und
Darstellung branchenspeziischer Erscheinungsformen des MH/A in Berlin und Brandenburg liegen.
Allerdings stellte sich im Verlauf der Untersuchung
heraus, dass die beabsichtigte branchenspeziische
Bestandsaufnahme des MH/A mit erheblichen methodischen und terminologischen Schwierigkeiten
konfrontiert ist, die sich einerseits aus konzeptionellen Unschärfen und Anforderungen an die
Nachweisbarkeit des Straftatbestands und andererseits aus normativ-ideologischen Auladungen
des Menschenhandelskonzepts ergeben.
Unter diesen Bedingungen war es nicht möglich,
die Erscheinungsformen von Menschenhandel zur
Arbeitsausbeutung in dem ursprünglich beabsichtigen Umfang branchenspeziisch zu untersuchen.
Vielmehr stellt sich die Frage, wie die festgestellte Diskrepanz zwischen dem vermuteten Ausmaß
von MH/A (das so genannte Dunkelfeld) und den
aufgedeckten Fällen (das Hellfeld) erklärt werden
kann. Prinzipiell können zur Erklärung vier Hypothesen formuliert werden:
2 http://www.gegen-menschenhandel.de/index.php : zuletzt besucht am 30.08.2010
3 Im Laufe unserer Recherche erhielten wir auch Hinweise auf „Kinderhandel“, wonach Minderjährige in Einwandererfamilien zur
Hausarbeit oder zum gewerblichen Betteln gezwungen werden.
15
1. MH/A gibt es – zumindest in der hier untersuchten Region Berlin und Brandenburg
– nicht in dem erwarteten oder behaupteten Umfang oder auch gar nicht.
2. Es gibt in der Region MH/A in relevantem
Umfang, aber die Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden verfolgen die Verdachtsfälle nicht konsequent als MH/A,
sondern weichen auf leichter und mit
mehr Aussicht auf Erfolg zu bearbeitende
Delikte aus.
3. Die Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden achten auf Hinweise für MH/A,
aber der Straftatbestand Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung
(§ 233 StGB) ist nicht praktikabel, um die
tatsächlichen Erscheinungsformen von
MH/A in Deutschland effektiv zu erfassen.
4. Schließlich kann es auch sein, dass Beteiligte selbst ein strafrechtlich relevantes
Fehlverhalten nicht als Menschenhandel
ansehen und Opfer oder Zeugen keine
Anzeige erstatten.
5. Wir werden in den Schlussfolgerungen auf
diese Hypothesen zurückkommen.
1.2
Methodische
Herangehensweise
Zur Annäherung an das Thema, zur Präzisierung
der Fragestellung und zur Entwicklung der analytischen Kategorien wurde ein methodenplurales
Untersuchungsdesign verfolgt. Grundlegend war
die Recherche und Auswertung der internationalen und nationalen Literatur zum Stand der Forschung. Weiterhin wurden zugängliche Berichte
und Pressemitteilungen der mit MH/A befassten
Behörden in Berlin und Brandenburg recherchiert,
gesichtet und ausgewertet sowie eine Recherche in
den Online-Archiven der Berliner Tageszeitungen
(Tagesspiegel, Berliner Zeitung, Morgenpost, BZ)
zu den Stichworten Menschenhandel und Arbeitsausbeutung durchgeführt. Die zentrale Methode
zur Datenerhebung war aber die Befragung von
Expertinnen und Experten. Eine empirische Untersuchung sensibler Sachverhalte, die – wie die als
Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung bezeichneten Handlungen – aufgrund breit geteilter gesellschaftlicher Missbilligung und möglicher harter
strafrechtlicher Konsequenzen einer Beobachtung
durch Dritte entzogen sind, steht vor besonderen praktischen und methodischen Problemen.
Ein direkter Zugang zum Feld, um Informationen
aus Erster Hand zu erhalten, ist in der Regel nur
möglich, wenn Vertrauen in die Verschwiegenheit
und moralische Integrität der Forschenden vermittelt werden kann – ein intensiver und zeitaufwendiger Prozess (vgl. dazu Alt 1999, 2003). Im
Rahmen dieser explorativen Untersuchung für das
„Berliner Bündnis gegen Menschenhandel“ war ein
Feldzugang zur Erhebung von Informationen von
direkt Betroffenen aufgrund der engen zeitlichen
Vorgaben, knappen materiellen Ressourcen und
speziellen thematischen Vorgaben nicht möglich.
Wir haben durch die Befragungen die Erfahrungen
und das Wissen von MitarbeiterInnen von Beratungsstellen oder Kontrollbehörden, welches sie in
ihrer Arbeit im unmittelbaren Kontakt mit Betroffenen erworben haben, erhoben. Die im folgenden
vorlegten Befunde stehen unter dieser methodischen Begrenzungen. Wir hoffen, dass die Darstellung den laufenden Diskussionen in der beratenden, kontrollierenden und politischen Praxis neue
Impulse bringt. (Die Darstellung des methodischen
Vorgehens bei der Expertenbefragung erfolgt in
Kapitel 4.1). An dieser Stelle möchten wir uns bei
allen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner sehr herzlich bedanken.
16
Defini
tion und
Diskus
sion
des Menschenhandelskonzepts
17
2.
Deinition und Diskussion
des Menschenhandelskonzepts
2.1
Das Menschenhandelskonzept der Vereinten
Nationen
Das Menschenhandelskonzept in seiner aktuellen
Fassung ist im Zusammenhang mit der Ausarbeitung der im Jahr 2000 verabschiedeten UN-Konvention zur Bekämpfung transnationaler organisierter Kriminalität in das internationale Recht
eingeführt worden. Noch bis zum Ende der 1990er
Jahre beschäftigte sich nur ein kleiner Kreis von Expertinnen und Experten mit Maßnahmen zur Bekämpfung von Menschenhandel (Skinner 2008b).
Doch mit der Verabschiedung des ‚Zusatzprotokolls zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung
des Menschenhandels, insbesondere des Frauenund Kinderhandels zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende
organisierte Kriminalität’ vom 15. November 2000
(Palermo Protokoll) (BGBl. 2005 II, S. 995) änderte
sich die Situation grundlegend. Inzwischen haben
zahlreiche internationale Konferenzen mit bis zu
mehreren tausend Teilnehmerinnen sowie unzähli-
18
ge Arbeitstreffen und Workshops zur Bekämpfung
des Menschenhandels stattgefunden (Goodey
2008: 434).4
Sucht man in Google alle Seiten, die sowohl das
Stichwort „human“ als auch „anti-traficking“ enthalten, erhält man rund 13,9 Millionen Treffer, die
Kombination von „Menschenhandel“ und „Bekämpfung“ immerhin noch 718 000 Treffer (Juli
2010). Nicht nur der Menschenhandel, sondern
auch das Geschäft mit der Bekämpfung des Menschenhandels boomt.
Seit den ersten internationalen Abkommen zur Bekämpfung des Frauenhandels Ende des 19. Jahrhunderts bis zur ersten internationalen Deinition
2000 wurde unter Menschenhandel (traficking)
ausschließlich der Handel in die Prostitution und
damit hauptsächlich Frauen- und Mädchenhandel
verstanden. Anfänglich sollten vornehmlich europäische Mädchen und Frauen als potentiell Betroffene vor dem sittlichen Verfall geschützt werden
(Long 2005: 19f). In der 1949 verabschiedeten
„Konvention zur Unterbindung des Menschenhandels und der Ausnutzung der Prostitution anderer“5
war Menschenhandel nur auf Prostitution bezogen
(Krieg 2008, Markard 2008, Weitzer 2007). In den
1990er Jahren wurde der Begriff Menschenhandel
(„human traficking“) dann allerdings in Publikationen und Forschungsarbeiten zur internationalen
Migration eine Zeitlang auf Vorschlag der IOM als
Sammelbegriff für alle Formen unerlaubter grenzüberschreitender Migration benutzt (Ghosh 1998,
Salt & Stein 1997). Dabei wurden internationale
Migrationsbewegungen als Menschenhandel (traficking) bezeichnet, wenn ein ‚Dienstleister’ für
die Organisierung eines ungenehmigten Grenzübertritts auftrat, dafür eine Bezahlungen geleistet
wurde, eine internationale Grenze überschritten
wurde und der Grenzübertritt unerlaubt aber freiwillig erfolgte (Laczko 2005: 10). Diese Konstellation wird im internationalen Verständnis inzwischen
Kasten 1: Deinition Menschenhandel im Palermo Protokoll
„Im Sinne dieses Protokolls a) bezeichnet der Ausdruck „Menschenhandel“ die Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder den Empfang von Personen durch die Androhung oder
Anwendung von Gewalt oder anderen Formen der Nötigung, durch Entführung, Betrug, Täuschung,
Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hillosigkeit oder durch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses einer Person, die
Gewalt über eine andere Person hat, zum Zweck der Ausbeutung. Ausbeutung umfasst mindestens
die Ausnutzung der Prostitution anderer oder andere Formen sexueller Ausbeutung, Zwangsarbeit
oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder sklavereiähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von Körperorganen; b) ist die Einwilligung eines Opfers des Menschenhandels in die unter
Buchstabe a genannte beabsichtigte Ausbeutung unerheblich, wenn eines der unter Buchstabe a
genannten Mittel angewendet wurde; c) gilt die Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder der Empfang eines Kindes zum Zweck der Ausbeutung auch dann als „Menschenhandel“, wenn dabei keines der unter Buchstabe a genannten Mittel angewendet wurde; d) bezeichnet
der Ausdruck „Kind“ jede Person unter achtzehn Jahren“ (Zusatzprotokoll Menschenhandel. Artikel
3: Begriffsbestimmungen).
Quelle: http://www.un.org/Depts/german/gv-55/band1/ga55vol1-ann2.pdf, S. 64
4 Eine Übersicht der Aktivitäten der deutschen Regierung bietet der Achte Menschenrechtsbericht der Bundesregierung (2008).
5 Eine deutsche Übersetung der Konvention bietet:
http://www.pfcmc.com/Depts/german/uebereinkommen/ar317-iv.pdf : zuletzt besucht am 30.08.2010
19
nicht mehr als Menschenhandel, sondern als Menschenschmuggel (Schleusung) bezeichnet.
Erst im Verlauf der Verhandlungen zum „Übereinkommens der Vereinten Nationen zur Bekämpfung
grenzüberschreitender organisierter Kriminalität“ wurde der Begriff Menschenhandel inhaltlich
genauer deiniert und von Menschenschmuggel
(Schleusung) und irregulärer Migration unterschie-
den. Menschenhandel und Menschenschmuggel
werden als Erscheinungsformen der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität betrachtet,
die in zwei so genannten Zusatzprotokollen jeweils
separat behandelt wurden (Gallagher 2001).
Das mit dem Zusatzprotokoll in das internationale
Recht eingeführte Menschenhandelskonzept war
das Ergebnis langwieriger und komplexer diplo-
Kasten 2: Das ILO Konzept der Zwangsarbeit
In der UN-Konvention wird als eine Ausbeutungsform auf die Zwangsarbeit Bezug genommen,
die in der ILO-Konvention Nr. 29 verbindlich deiniert wir7 und in der ILO-Konvention 1828 zum
Verbot der schlimmsten Formen der Kinderarbeit weiter entwickelt .wurde. Die ILO betonte in ihren
Publikationen, dass Zwangsarbeit eine schwere Menschenrechtsverletzung und Einschränkung
der menschlichen Freiheit darstellt: „Zwangsarbeit kann nicht einfach mit niedrigen Löhnen oder
schlechten Arbeitsbedingungen gleichgesetzt werden. Sie trifft auch nicht auf Situationen rein wirtschaftlicher Notwendigkeit zu, beispielsweise wenn ein Arbeitnehmer sich wegen des tatsächlichen
oder vermeintlichen Fehlens von Beschäftigungsalternativen nicht imstande sieht, eine Stelle aufzugeben“ (ILO 2005a: 5).
Nach dem Verständnis der ILO wird Zwangsarbeit durch zwei Elemente deiniert: dass die Arbeit
unter Androhung einer Strafe verlangt wird und dass sie nicht freiwillig verrichtet wird.
Die Androhung einer Strafe beinhaltet nach dem Verständnis von ILO nicht nur strafrechtliche Sanktionen, sondern kann auch den Verlust von Rechten und Privilegien umfassen. Die Androhung einer
Strafe kann vielfältige unterschiedliche Formen annehmen. Bei extremen Formen handelt es sich
um körperliche Gewalt oder körperlichen Zwang oder sogar Todesdrohungen gegen ein Opfer oder
Verwandte. Es kann aber auch subtilere Formen der Drohung geben, beispielsweise psychologischer
Art, etwa die Drohung einer Denunziation bei Polizei oder Einwanderungsbehörden bei fehlendem
Aufenthaltsstatus. Die Strafen können auch inanzieller Art sein, darunter wirtschaftliche Strafen
im Zusammenhang mit Schulden, die Nichtzahlung von Löhnen oder der Verlust von Löhnen im
Verein mit Entlassungsdrohungen, falls Arbeitnehmer sich weigern, Überstunden über das in ihren
Verträgen oder in der innerstaatlichen Gesetzgebung festgelegte Maß hinaus zu leisten. Arbeitgeber zwingen Arbeitnehmer manchmal auch zur Aushändigung ihrer Ausweise und können mit der
Beschlagnahme dieser Dokumente drohen, um Zwangsarbeit zu verlangen (ILO 2005a: 6).
Zur Einschränkung der Wahlfreiheit führt die ILO aus, dass eine Reihe von Aspekten relevant sein
können, die die Form und den Gegenstand der Einwilligung betreffen; die Rolle äußerer Zwänge
oder mittelbaren Zwang; und die Möglichkeit, eine freiwillig gegebene Einwilligung zu widerrufen.
„Auch hier kann es viele subtile Formen des Zwangs geben. Viele Opfer begeben sich zunächst freiwillig in Zwangsarbeitssituationen, wenn auch aufgrund von Betrug und Täuschung, nur um später
festzutellen zu müssen, dass es ihnen nicht freisteht, die Arbeit einzustellen. Anschließend sind sie
infolge gesetzlichen, körperlichen oder psychologischen Zwangs nicht in der Lage, ihren Arbeitsplatz zu verlassen. Die ursprüngliche Einwilligung kann als irrelevant angesehen werden, wenn diese
aufgrund von Betrug oder Täuschung erlangt worden ist“ (ILO 2005a: 6).
Es wird deutlich, dass von der ILO trotz der einschränkenden Hinweise, wonach Zwangsarbeit eine
schwere Menschenrechtsverletzung darstellt, im Grundsatz ein sehr weites Verständnis von Zwangsarbeit vertreten wird.
20
matischer Verhandlungen und ist Ergebnis diplomatischer Kompromisse, die von den Interessen
und Vorstellungen der beteiligten Verhandlungsparteien geprägt sind (Gallagher 2001).
Das Menschenhandelskonzept im heute etablierten weiten Verständnis, mit dem der zuvor auf
Zwangsprostitution eingeschränkte Geltungsbereich auf jede Form der Ausbeutung ausgeweitet
wurde, ist als eigenständiges Delikt erst mit der
Deinition in Artikel 3 des Zusatzprotokolls6 geschaffen worden (siehe Kasten 1).
Nach der Deinition des UN-Protokolls müssen die
drei Elemente der Tathandlung, des Tatziels und
der Tatmittel gleichzeitig erfüllt sein. (Renzikowski
2005, Rudolphi & Wolter 2005). Als Tathandlung
werden verschiedene Formen der Zuführung in die
Ausbeutung deiniert. Die strafbaren Handlungen
umfassen die Anwerbung, den Transport oder die
Beherbergung der Betroffenen für einen Vermögensvorteil. Als Tatzweck muss der oder die Täter
die Absicht der Ausbeutung der Sexualität oder
der Arbeitskraft verfolgen. Ausbeutung wird nicht
deiniert, sondern durch Hinweis auf Ausnutzung
der Prostitution anderer oder andere Formen sexueller Ausbeutung, Zwangsarbeit oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder sklavereiähnliche
Praktiken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von
Körperorganen bestimmt, wobei die Einfügung des
Wortes ‚mindestens’ anzeigt, dass weitere Konstellationen – etwa das im deutschen Strafrecht genannte „ungünstigere Arbeitsverhältnis“ oder die
in Belgien deinierte ‚Verletzung der Menschenwürde* – möglich sind. Ein wichtiger Bezugspunkt
in der internationalen Diskussion ist der von der
Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) deinierte Zwangsarbeit (siehe Kasten 2).
Der Tatbestand des Menschenhandels ist auch bei
Einwilligung eines Betroffenen erfüllt, wenn die
betroffene Personen noch nicht volljährig ist oder
wenn die Einwilligung durch Anwendung verbotener Tatmittel erlangt wurde. Als solche Tatmittel
werden aufgeführt die Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderen Formen der Nötigung. Auch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer
Hillosigkeit werden als Tatmittel genannt.
Wichtig ist der Hinweis, dass Arbeitsausbeutung,
Zwangsarbeit und Menschenhandel nicht identisch
sind. Menschenhandel setzt voraus, dass Personen
unter Anwendung verbotener Mittel einer Situation der Arbeitsausbeutung zugeführt werden.
Zwangsarbeit liegt vor, wenn sie in dieser Situation
gehalten werden Deshalb unterscheidet die ILO in
ihren Veröffentlichungen zwischen Betroffenen von
Zwangsarbeit und Opfern von Menschenhandel zur
Arbeitsausbeutung. Nach Erkenntnissen der ILO
werden ein Fünftel aller weltweit von Zwangsarbeit
Betroffenen auch Opfer von Menschenhandel, weil
gezielt der Zwangsarbeit zugeführt werden (International Labour Ofice 2009).
Gegenwärtig haben 117 Staaten das Übereinkommen gegen grenzüberschreitende organisierte
Kriminalität ratiiziert.9 Mit einer Ratiizierung der
UN-Konvention verplichten sich die Signaturstaaten dazu, Handlungen wie Drogenhandel, Waffenschmuggel, Schleusung oder eben auch Menschenhandel als Straftat in das nationale Strafrecht
aufzunehmen; in diesen Deliktfeldern mit den
Strafverfolgungsbehörden anderer Signaturstaaten zusammenzuarbeiten; die Rückführung der
Betroffenen von Menschenhandel nicht zu behindern; sowie Maßnahmen zum Schutz und der Ent-
6 Eine deutsche Fassung des Protokolls ist verfügbar unter:
http://www.un.org/Depts/german/gv-55/band1/ga55voll-ann2.pdf : zuletzt besucht am 30.08.2010
7 http://www.ilo.org/ilolex/german/docs/gc029.htm : zuletzt besucht am 30.08.2010
8 http://www.ilo.org/ilolex/german/docs/gc182.htm : zuletzt besucht am 30.08.2010
9 Da in der Internationalen Debatte zur Bekämpfung des Menschenhandels der Schutz der Opfer besonders betont wird, sei an
dieser Stelle der Hinweis erlaubt, dass eine weitere UN-Konvention, die vorrangig und verbindlich Schutzrechte für Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen vorsieht, mit bisher 42 Ratiizierungen und 12 Zeichnungen keine vergleichbar hohe Zahl
an Ratiizierungen erhalten wie das UN Übereinkommen gegen transnationale organisierte Kriminalität. Kein wichtiges Zielland
von Migrationsbewegungen hat die Wanderarbeiterkonvention von 1990 ratiiziert.
21
schädigung der Opfer zu erwägen.
Trotz der vorrangigen Orientierung auf Sicherheit
und Kriminalitätsbekämpfung bot die Thematisierung der Rechtsstellung und der Rechte der
Opfer erstmals Anknüpfungspunkte und Impulse
für die internationale Diskussion über einen besseren Schutz und faireren Umgang mit Opfern
grenzüberschreitender organisierter Kriminalität:
„Im UN-Palermo Protokoll wurde der Dreiklang
von Prävention, Strafverfolgung und Opferschutz
(prevention, prosecution, protection) geprägt, der
seitdem die Sprache internationaler Dokumente
bestimmt“ (Follmar-Otto & Rabe 2009: 23). Inzwischen wird in den internationalen und nationalen
Debatten betont, dass Menschenhandel eine Menschenrechtsverletzung darstellt und Maßnahmen
zum Opferschutz erforderlich sind (Europäisches
Parlament 2010).
Bereits im „Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität“10 werden Maßnahmen für den
Zeugenschutz (Artikel 24) und zur Hilfe und dem
Schutz für Opfer (Artikel 25) ausdrücklich behandelt. Allerdings heißt es einschränkend, dass diese
Maßnahmen im Rahmen der Möglichkeiten eines
jeden Vertragsstaates umgesetzt werden sollen.
Auch im Zusatzprotokoll Menschenhandel sind
Bestimmungen zum Opferschutz enthalten. In Abschnitt II des Protokolls mit der Überschrift „Schutz
der Opfer des Menschenhandels“ werden „Hilfe
und Schutz für die Opfer des Menschenhandels“
(Artikel 6), die „Rechtsstellung der Opfer des Menschenhandels in den Aufnahmestaaten“ (Artikel 7)
und die „Rückführung der Opfer des Menschenhandels“ in (Artikel 8) behandelt. Vertragsstaaten
verplichten sich mit der Zeichnung des Zusatzprotokolls allerdings lediglich dazu, die erwähnten
Maßnahmen zum Schutz der Opfer zu erwägen.
Es besteht aber keine bindende Verplichtung sie
durchzuführen (Zusatzprotokoll Menschenhandel,
Art. 6.3).
Der unterschiedliche Grad der Verplichtung zur
Durchführung von Maßnahmen der Kriminalitätsbekämpfung und des Opferschutzes verdeutlicht,
dass die Hauptintention des Übereinkommens der
Vereinten Nationen darin bestand, eine internationale Vereinheitlichung von Straftatbeständen
und eine Kooperation von Polizeibehörden bei der
Bekämpfung grenzüberschreitender organisierter
Kriminalität, namentlich Waffen- und Drogenhandel, zu erzielen. Auch wenn die Sorge um menschenrechtliche Belange einen gewissen Anstoß
für internationale Aktivitäten gegeben hat, stellen
die Fragen der Souveränität und Sicherheit, die mit
Menschenhandel und Menschenschmuggel verbunden werden, die eigentlichen Antriebskräfte für
die Verabschiedung der Konvention dar (Gallagher
2001: 976f).
Das Thema Menschenhandel wird inzwischen von
einer kaum noch zu übersehenden Schar internationaler und nationaler Akteure aufgegriffen.11
Mit der Umsetzung und Koordinierung beauftragt
ist UNODC12, eine Körperschaft der Vereinten Nationen, die über die Verbreitung und Umsetzung
des Übereinkommens regelmäßig Bericht erstattet (UNODC 2009) und ein spezielles Programm
UN.GIFT13 aufgelegt hat. Neben Organisationen
der Vereinten Nationen (UNODC, UNICEF, ILO) sind
internationale Organisationen (IOM, ICMPD), multilaterale Organisationen (OSZE, Europarat) und
zunehmend nationalstaatliche Regierungen aktiv
beteiligt (einen Überblick bietet UNODC 2009).
Führend sind dabei die USA, die in einem jähr-
10 Eine deutsche Fassung des Übereinkommens ist verfügbar unter:
http://www.un.org/Depts/german/gv-55/band1/ga55vol1-ann2.pdf : zuletzt besucht am 30.08.2010 17
11 Es würde zu weit führen, hier alle Initiativen aufzuführen. Einen aktuellen Überblick bietet der erwähnte Bericht der UNODC
(2009).
12 Informationen zu UNODC sind verfügbar unter www.unodc.org/ : zuletzt besucht am 30.08.2010
13 Informationen zu UNGIFT sind verfügbar unter www.ungift.org/ : zuletzt besucht am 30.08.2010
22
lich erscheinenden Bericht (Traficking in Person
Report, kurz TIP-Report) über Stand und Entwicklung der Maßnahmen gegen Menschenhandel informieren und eine – allerdings sehr umstrittene –
Einstufung aller Staaten hinsichtlich der Befolgung
von Anti-traficking Maßnahmen vornehmen (US
State Department 2009; kritisch: Chapkis 2003, Destefano 2007, Desyllas 2007, GAO 2006). Der TIPReport des US-Außenministeriums informiert seit
2003 über die Ergebnisse der Anstrengungen zur
Bekämpfung des Menschenhandels (siehe Tabelle
1).
teilungen wegen Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung registriert wurden und diese im Folgejahr
auf 312 Ermittlungsverfahren und 104 Verurteilungen gesunken sind. Die vorliegenden Daten lassen
keine Trendaussage zu. Sie zeigen aber, dass die
Zahl der Ermittlungsverfahren und Urteile trotz
der Ausweitung und Intensivierung der Strafbarkeit des Menschenhandels nicht zugenommen
hatte, sondern rückläuig war. Deutlich wird weiterhin, dass die dokumentierten Ermittlungs- und
Gerichtsverfahren zu Menschenhandel zum Zweck
der Arbeitsausbeutung weltweit nur einen geringen Anteil ausmachen.
Die verfügbaren Aufstellungen zeigen, dass
Gesetze zur Strafbarkeit des Menschenhandels
kontinuierlich neu eingeführt oder verschärft
wurden. Trotz der Ausweitung der Gesetzgebung
gegen Menschenhandel ist die Zahl der Ermittlungsverfahren und der Verurteilungen weltweit
seit 2005 zurückgegangen sind (Destefano 2007,
Farrell 2009). Die ab dem Jahr 2007 erstmals verfügbaren Zahlen zu Ermittlungsverfahren und Urteilen wegen Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung zeigen, dass in diesem Jahr weltweit gerade
einmal 490 Ermittlungsverfahren und 326 Abur-
Tabelle 1:
Ermittlungsverfahren und Verteilungen wg. Menschenhandel weltweit
Jahr
Ermittlungsverfahren
Verurteilungen
Neue Strafgesetze
wg. Menschenhandel
2003
7992
2815
24
2004
6885
3025
39
2005
6178
4379
40
2006
5808
3160
21
2007
5682 (490)*
3427 (326)*
28
2008
5212 (312)*
2983 (104)*
26
* Die Zahlen in den Klammern verweisen auf Fälle von Arbeitsausbeutung
Quelle: TIP Report 2009: 47
23
2.2
Zum Stand der
internationalen Forschung
Seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der Veröffentlichungen von Studien zu Menschenhandel angestiegen.
Im letzten Jahrzehnt sind „in nahezu jeder wichtigen Region der Welt Studien zu Menschenhandel
durchgeführt worden, obwohl der Schwerpunkt
der Veröffentlichungen und der Forschung auf
Europa und Asien liegt“ (Laczko & Gozdziak 2005:
7). Dennoch ist der Stand des wissenschaftlichen
Wissens zu Menschenhandel trotz der hohen
Anzahl von Veröffentlichungen und Studien unsicher und umstritten.
Mehrere unabhängig voneinander ausgearbeitete
Bestandsaufnahmen zum Stand der Erforschung
des MH/A stellen übereinstimmend erhebliche
Lücken im wissenschaftlichen Kenntnisstand über
Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung fest.
Hervorzuheben ist eine im Auftrag des US-Außenministeriums ausgearbeitete systematische
Bestandsaufnahme der empirischen Forschung zu
Menschenhandel (Gozdziak & Bump 2008), eine
im Auftrag der britischen Regierung ausgearbeiteten Übersicht über den Stand der empirischen
Forschung zu Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung im Vereinigten Königreich (Dowling et al
2007) und ein Beitrag von Jo Goodey, Mitarbeiter der European Union Agency for Fundamental
Rights (FRA) (Goodey 2008).
In diesen Arbeiten wird festgehalten, dass die vorliegenden Veröffentlichungen zu Menschenhandel
erhebliche konzeptionelle Schwierigkeiten, terminologische Schwierigkeiten und methodische
Schwächen offenbaren. Knapp zusammengefasst
kommen die Forschungsüberblicke zu dem Ergebnis, dass der Stand des wissenschaftlich produzierten empirischen Wissens unbefriedigend
und lückenhaft ist. Es gibt zwar eine große Anzahl
an Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Verlagen oder Zeitschriften. Es dominieren Berichte,
die im Auftrag oder direkt von internationalen Organisationen, staatlichen Stellen oder NGOs erarbeitet wurden, die in Anti-Traficking Aktivitäten
involviert sind. In der überwiegenden Mehrzahl
handelt es sich um Ausarbeitungen zur juristischen
Bewertung des Menschenhandelskonzepts oder
Analysen der ergriffenen oder als notwendig empfohlenen Anti-Traficking-Politiken. Unabhängige,
methodisch transparent und systematisch durchgeführte empirische Studien sind selten und weisen
auf die enormen Schwierigkeiten im Erfassen von
Menschenhandel als empirisches Phänomen hin
(Kelly 2005, Schloenhardt 2008). Es gibt nur wenige
empirisch ausgelegte Studien des Menschenhandelphänomens selber, die dann allerdings methodisch problematisch sind, da zumeist Daten von
Behörden oder von Beratungsstellen verwendet
würden, ohne dass die damit verbundenen Verzerrungen systematisch relektiert werden. Im Ergebnis dieser methodischen Mängel würde eine
unzulässige Verallgemeinerung von Einzelfällen erfolgen. Kritisiert wird, dass keine genauen Informationen und Statistiken über den Bereich verfügbar
sind. Es bestehen zudem in den nationalen Kontexten Probleme bei der Umsetzung und Anwendung
des Menschenhandelskonzepts. Ermittlungsbehörden hätten Schwierigkeiten, Betroffene von Menschenhandel zu identiizieren, wenn gegen sie zum
Beispiel ein Ermittlungsverfahren wegen illegaler
Einreise oder Schwarzarbeit eingeleitet wurde.
In allen Ländern, in denen Menschenhandel zum
Zweck der Arbeitsausbeutung als Straftatbestand
existiert, wurde eine große Diskrepanz zwischen
der Zahl der Fälle mit Einleitung von Ermittlungsund Strafverfahren und den in den Diskursen vorgetragenen. Schätzungen über das Ausmaß des
Menschenhandels festgestellt. (Kelly 2005: 238f,
Goodey 2008: 424ff; Chapkis 2003: 925, Weitzer
2007: 463, Schloenhardt 2008: 3) Die Forschungsüberblicke kommen zu dem Schluss, dass bei einer
methodisch kontrollierten und systematischen
Betrachtung die Schätzungen vermutlich deutlich
reduziert werden müssten (Goodey 2008: 426).
Die Aggregation nationaler Strafverfolgungsdaten
und ihre Nutzung für Schätzungen wird kritisch
betrachtet, da die als Menschenhandel erfassten
Fälle sehr unterschiedlich deiniert sind (z.B. Kelly
2005: 238f). Auch wenn man sich in der internationalen Politik auf eine rechtliche Deinition des
Menschenhandelskonzepts verständigen konnte,
besteht unter Forscherinnen und Forschern keine
Einigkeit, wie Menschenhandel deiniert und un-
24
tersucht werden soll, denn die rechtliche Deinition ist ohne Anpassungen in empirischen Untersuchungen nicht handhabbar Die Deinition des
Menschenhandels durch die Vereinten Nationen
konnte keine Lösung für das Problem bringen,
was genau in der Forschung unter Menschenhandel verstanden wird und was Gegenstand der
Forschung sein soll (Laczko 2005: 10). Es liegen
wenige Untersuchungen vor, die methodische
Stringenz und terminologische Klarheit aufweisen
und ein Annäherung an das Feld ermöglichen. Hier
sind zu nennen Veröffentlichungen der niederländischen Beauftragten für Menschenhandelsfragen
(Dettmeijer-Vermeulen 2007: 169-190) und eine
Untersuchung im Auftrag von Anti-Slavery International (2006). Diese empirischen Untersuchungen des Menschenhandels zur Arbeitsausbeutung
nehmen aufgrund der methodologischen und terminologischen Schwierigkeiten Fälle der extremen
Arbeitsausbeutung, die einen Anfangsverdacht für
Menschenhandel erfüllen könnten, als Ausgangspunkt. Zur Datenerhebung werden Interviews mit
Betroffenen oder mit Expertinnen, die mit Extremausgebeuteten direkten Kontakt haben, durchgeführt und transparent dargestellt und methodisch
systematisch ausgewertet. Ob die dabei erhobenen Fallschilderungen tatsächlich als Menschenhandel verurteilt würden, lässt sich letztlich nur
durch Gerichte für jeden Einzelfall entscheiden.
Forschungsarbeiten zum Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung bieten insofern zuerst Informati-
onen zu extremer Ausbeutung, die nicht mit dem
rechtlich anspruchsvollem Menschenhandelskonzept gleich gesetzt werden kann. Der Bericht der
niederländischen Berichterstatterin für Menschenhandelsangelegenheiten (Dettmeijer-Vermeulen
2007, siehe Anhang 1) bietet exemplarisch eine
anschauliche Darstellung der vielfältigen methodischen und praktischen Probleme bei der Erfassung
von Fällen des MH/A. Als zusätzlich ausgesprochen
problematisch erweist sich eine verzerrte Rezeption dieser fachlich höchst umstrittenen Befunde
durch politische Institutionen. In politischen Dokumenten werden Untersuchungsergebnisse, die
in Originalquellen ausdrücklich als nur teilweise
begründete Schätzungen eingeführt werden, als
Tatsachenfeststellung eingeführt und zur Begründung für Empfehlungen und Beschlussfassungen
herangezogen. Exemplarisch lässt sich hier auf die
Entschließung des Europäischen Parlaments vom
10. Februar 2010 zur Verhütung des Menschenhandels hinweisen.
Kritisch angemerkt wird auch, dass weit reichende
Empfehlungen ausgesprochen und Maßnahmen
auf Grundlage ungesicherter Annahmen umgesetzt werden, obwohl es an einer systematischen
Evaluation der Wirkungen der ergriffenen Maßnahmen im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung
(dazu auch Vogel/Cyrus 2008) und auch beim Opferschutz fehlt (dazu auch Internationales Arbeitsamt 2009, ansatzweise Surtees 2008).
25
2.3
Hinweise auf
betroffene Branchen
In der internationalen Debatte werden im Zusammenhang mit der Diskussion um MH/A immer
wieder bestimmte Branchen genannt. Dabei wird
im World Migration Report 2008 der IOM festgehalten, dass vor allem die Sexindustrie betroffen ist.
Eine Auswertung der von IOM geführten „Global
Human Traficking Database“, in der Angaben zu
allen von der IOM in Betreuungs- und Rückkehrprogrammen als Menschenhandelsopfer betreuten Personen gesammelt werden, ergab, dass
8 236 von 12 681 Fällen (Stand Dezember 2007) die
Zwangsprostitution betrafen. In den übrigen Fällen
waren folgende Branchen erwähnt: Landwirtschaft,
Baugewerbe, Lebensmittelproduktion, Haushaltsarbeit, Kinderbetreuung, Fischerei und auch zum
Zweck der Bettelei, „um nur einige wenige Branchen zu nennen“ (IOM 2008: 205). Der Hinweis
deutet darauf hin, dass es noch weitere betroffene
Branchen gibt.
Im Bericht der niederländischen Berichterstatterin zu Menschenhandelsangelegenheiten wird ein
erhöhtes strukturelles Risiko extremer Arbeitsausbeutung für Branchen festgestellt, die dreckige,
gefährliche und entwürdigende Jobs anbieten.
In diesen Bereichen besteht eine Nachfrage nach
billigen und lexiblen Arbeitskräften, insbesondere wenn die Gewinnspannen sehr knapp kalkuliert sind, die Personalkosten einen relevanten
Anteil der Produktionsausgaben ausmachen und
die Arbeit geringe Qualiikationsanforderungen
stellt. Unter diesen Bedingungen steigt das Risiko,
dass Arbeitskräfte mit oder ohne Einsatz von Subunternehmen zu schlechten Arbeitsbedingungen
beschäftigt werden. Die im Auftrag der niederländischen Beauftragten durchgeführte Befragung
ergab, dass die erhobenen Fallschilderungen extremer Arbeitsausbeutung im Gaststättengewerbe,
Haushaltsarbeit, Arbeitnehmerüberlassungsagenturen und der Landwirtschaft sowie Gartenbau lokalisiert waren. Während im Gaststättengewerbe
ein Schwerpunkt bei chinesischen Lokalen festgestellt wurde, waren bei der Haushaltsarbeit Familien involviert (Dettmeijer-Vermeulen 2007: 166).
In einer zusammenfassenden Darstellung einer
Untersuchung zu Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung in vier EU-Mitgliedsstaaten (UK, Irland,
Tschechische Republik, Portugal) wurden Fallschilderungen extremer Ausbeutung in zahlreichen
Branchen erhoben. Die Auswertung der betroffenen Branchen ergab, dass vor allem die Landwirtschaft (und damit verbundene Branchen wie
die Lebensmittelverarbeitung, das Sammeln und
Verpacken von Krustentieren), das Baugewerbe,
der Reinigungssektor, die Haushaltsarbeit und die
Forstwirtschaft häuig genannt wurden. Weitere
Branchen, die wiederholt genannt wurden, waren
Plege, Gaststätten- und Hotelgewerbe, Autowäschereien, Sicherheitsdienste, schwere körperliche
Arbeit in Häfen, das Schieben von Einkaufswagen
in Supermärkten oder der Verkauf von CDs, DVDs
oder anderen Waren im Straßenhandel. Vereinzelte
Hinweise gab es auf Bäckereien, Wäschereien, Nagelstudios und Straßenbau (Anti-Slavery International 2006: 17).
Im Bericht „Kosten des Zwangs“ hat die Internationale Arbeitsorganisation (Internationales Arbeitsamt 2009) Hinweise auf von Menschenhandel
und Zwangsarbeit betroffene Branchen gegeben.
Hervorgehoben werden die Bereiche der Seefahrt
und der Haushaltsarbeit, in denen die ILO gerade
Initiativen für Konventionen vorbereitet.
2.4
Verwendung von
Indikatoren
Eine intensive Diskussion wird über die Entwicklung
und Anwendung geeigneter Indikatoren geführt,
um Opfer von Menschenhandel zu identiizieren
und Schutzmaßnahmen anbieten zu können. Auch
zum Zweck empirischer Analysen werden in der
Regel Indikatoren verwendet, um Arbeitsausbeutung und Menschenhandel zu operationalisieren,
wobei diese Indikatorensysteme anderen Anforderungen genügen müssen als praxisorientierte Indikatoren.
In einer Studie zu Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung in vier europäischen Ländern hat zum
26
Beispiel die Nichtregierungsorganisation AntiSlavery International (2006) mit Berufung auf eine
Indikatorenliste, die von der ILO (2005 b) vorgelegte wurde, sechs Indikatoren zur Bestimmung
von Zwangsarbeitsverhältnissen in den Zielländern
verwendet: (a) Physische Gewalt einschließlich sexueller Gewalt; (b) Einschränkung der Bewegungsfreiheit; (c) Drohungen; (d) Schulden oder andere
Formen der Verplichtung; (e) Vorenthalten oder
Nichtauszahlen von Lohn und (f) Einziehen von
Identitätsdokumenten.
Hervorzuheben ist, dass die ILO in Zusammenarbeit mit ExpertInnen aus 27 EU-Ländern in einem
Delphi-Verfahren an der Weiterentwicklung der
Indikatoren gearbeitet hat und eine umfassendere
Version vorgelegt hat (Internationales Arbeitsamt
2009: 15).
Die Indikatoren sind in sechs Gruppen gebündelt
und betreffen (a) betrügerische Anwerbung (10
Indikatoren); (b) erzwungene Anwerbung (10 Indikatoren); (c) Anwerbung durch Ausnutzung der
Verletzlichkeit (16 Indikatoren); (d) Ausbeuterische
Arbeitsbedingungen (9 Indikatoren); (e) Formen
des Zwangs am Bestimmungsort (15 Indikatoren)
und (f) Ausnutzung der Hillosigkeit am Bestimmungsort (7 Indikatoren). Diese umfassende Liste,
die auch die Situation im Herkunftsland abdeckt,
ist so gedacht, dass eine Organisationen oder auch
ein Forschungsteam die Indikatoren als Ausgangspunkt für eigene Indikatorenbündel nutzen kann.
Während es bei wissenschaftlichen Studien in der
Regel um eine eindeutige Zuordnung von Fällen
geht, ist dies für praxisorientierte Listen gerade
nicht relevant. Hier wird in der Regel hervorgehoben, dass kein einzelner Indikator zwingend das
Vorliegen von Zwangsarbeit oder Menschenhandel anzeigt, sondern dass das Vorliegen mehrerer
Indikatoren einen Anfangsverdacht anzeigt, der
weiter überprüft werden sollte. Praxisorientierte
Indikatorenlisten dienen somit der Sensibilisierung
für Verdachtsfälle. Sie sollen Mitarbeiterinnen von
Kontroll- und Hilfsorganisationen helfen, geeignete Fragen zu stellen, aus denen sich ein Verdacht
ergeben könnte (Andrees 2005: 18f, ILO 2005b).
Daher sind solche Indikatorenlisten oft deutlich
weiter gefasst als Zusammenstellungen für sozialwissenschaftliche Studien. Entsprechend weit und
unspeziisch können die Listen mit Indikatoren
sein, die für die Unterstützungspraxis vorgeschlagen werden. So wird in einer Information zur Identiizierung von Opfer von Menschenhandeln der
Beratungsstelle Contra (2008) u. a. als Risikofaktor
pauschal eine Beschäftigung in Branchen wie Gaststätten und Hotel, Haushalt und Plege oder ein
27
Au Pair Verhältnis genannt. Weiterhin wird das Alter
(unter 21 Jahre wegen der besonderen Strafbarkeit) erwähnt. Solche sehr weit gefassten Indikatoren werden erst in Zusammenhang mit anderen
Indikatoren als verdachtsverstärkend gewertet, z.B.
wenn die Person rund um die Uhr arbeiten muss,
in einer unzumutbaren Unterkunft untergebracht
ist oder nicht über ihre Einkünfte verfügen kann.
Als Beispiel für die Nutzung von Indikatoren in der
Kriminalitätsbekämpfung kann auf ein Gespräch
im Rahmen dieser Studie zurückgegriffen werden.
Im Verlauf eines Gesprächs mit der zuständigen
Dezernatsleiterin beim LKA Berlin (Interview vom
8. Januar 2010) wurde erläutert, dass eine Reihe
von Anhaltspunkten berücksichtigt wird, um einen
Anfangstatverdacht zu begründen. Dabei ließen
sich keine pauschalen Aussagen machen, da die
Indikatoren, die bei der Beurteilung zusammenließen, in jedem Einzelfall anders sind. Es reiche
aber das Vorliegen eines Indikators, damit das auf
die Ermittlung von MH/A spezialisierte Kommissariat den Fall übernimmt. Im Verlauf des Gesprächs
wurden folgende Indikatoren genannt, die bei Erwerbstätigen festgestellt werden können: Fälle im
Krankenhaus mit bestimmten Krankheitsbild; Gewaltanwendung; Pass weggenommen; dauerhafte
besondere Unterbringungsformen in Hinterzim-
mern oder noch schlechteren Wohnverhältnissen; keine Barmittel; Geld abgenommen; Zwang;
längerfristiger Aufenthalt (ohne Aufenthaltsstatus); fehlende Anmeldung des Arbeitgebers; eingeschleuste Personen; Hinweise auf Anwerbung
im Ausland; Täuschung; Hillosigkeit; Hinweise
auf fehlende Freiwilligkeit der Einreise; Zahlung
einer Vermittlungsgebühr oder rechtswidrige Erhebung einer „Standgebühr“ für unangemeldete
Verkaufstätigkeit. Die Polizei betonte, dass diese
Indikatoren in unterschiedlichen Varianten in verschiedenen Kombinationen aufträten.
Die aufgezählten Indikatoren sind zum Teil objektiv
feststellbar (unwürdige Unterbringung, fehlende
Barmittel), zum Großteil aber nur durch die Aussagen und Informationen von Betroffenen oder
Dritten zu erhalten: Eine Zahlung von Vermittlungsgebühren oder Standgebühren, das Vorliegen einer auslandsspeziischen Hillosigkeit oder
Zwangslage wird erst sichtbar, wenn beteiligte
Personen entsprechende Hinweise geben oder in
Geschäftsunterlagen entsprechende Hinweise gefunden werden. Am besten ist es nach Angaben
der Polizei, die Aussagen des Opfers zu erhalten.
28
2.5
Hinweise zur Einschätzung
der Handlungsfähigkeit
von Betroffenen
Besonders umstritten ist in der politischen und
wissenschaftlichen Diskussion die Frage, wie handlungsfähig Opfer von Menschenhandel sind. Der
Begriff Menschenhandel impliziert, dass Menschen
als Ware von einem Händler zum anderen verkauft
werden, die Betroffenen von den Händlern durch
Einsatz verbotener Gewaltmitteln zu bloßen Objekten degradiert werden, die sich nicht mehr aus
eigener Kraft aus der Situation befreien können.
Diese Auffassung liegt auch die Entschließung des
Europäischen Parlaments vom 10. Februar 2010
zugrunde, in der es heißt, dass “Menschenhandel
eine moderne Form der Sklaverei, eine schwerwiegende Straftat und eine schwere Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellt und Menschen
durch Drohungen, Gewalt und Erniedrigung in
einen Zustand völliger Abhängigkeit bringt“ (Europäisches Parlament 2010). Die Handlungsunfähigkeit wird als Deinitionsmerkmal von Menschenhandel betrachtet, obwohl die oben vorgestellten
rechtlichen Deinitionen zwar Unfreiwilligkeit, aber
keine absolute Handlungsunfähigkeit vorsehen.
Die Zuschreibung völliger Abhängigkeit entspricht
einem in Medienberichten über Menschenhandel
verwendetem Klischee, wonach Betroffene von
Menschenhandel stereotypisierend beschrieben
werden als Personen, die “hinter dunklen, abgeschlossenen Türen und versteckten Korridoren
gefunden werden. Die Opfer leiden unter Entzug
von Nahrung, sie werden mit Elektrokabeln, Eisenstangen und Lederriemen geschlagen, sie weisen
Brandwunden von Zigaretten auf, sie werden in
versteckten Räumen oder Dachböden brutal vergewaltigt. Und wenn man Zugang erhält, indet
man Frauen und Kinder in Käigen“ (Minority views,
zitiert in Chapkis 2003: 929).
Diese für die sexuelle Ausbeutung vorherrschende und auf die Arbeitsausbeutung übertragene
Annahme einer ’völligen Abhängigkeit’ impliziert,
dass Opfer von Menschenhandel nicht mehr hand-
lungsfähig sind und durch Kontrollbehörden aus
ihrer ausweglosen Lage befreit werden müssen
(so auch Aronowitz 2009b). Tatsächlich spricht sich
das US-Außenministerium vehement für Maßnahmen zur proaktiven Identiizierung der Opfer von
Menschenhandel durch Behörden aus. Denn man
„sollte von den Opfern nicht erwarten, dass sie sich
selbst identiizieren. Sie fürchten typischerweise,
sich an Behörden zu wenden und als Kriminelle,
irreguläre Migranten oder den Behörden ausgelieferte Personen angesehen zu werden. Formale
Überprüfungen sollten daher über die Prüfung der
Dokumente hinausgehen. Es sollten einige systematische Verfahren der Identiikation der Opfer
eingeführt werden, um Gesetzeshüter und andere
staatliche und nicht staatliche Stellen in diesem
Feld anzuleiten.“ (US State Department 2008: 30).
Diese Position wird in der politischen und auch
wissenschaftlichen Diskussion teilweise heftig kritisiert (für Deutschland Pates & Schmidt 2008).
Die Maßnahmen zur Bekämpfung von Menschenhandel und der in diesem Zusammenhang angebotene Opferschutz seien Strategien zur Rechtfertigung von Kontrollmaßnahmen, die vor allem
der Migrationskontrolle dienen (Karakayali 2008:
227-250). Nach dieser Auffassung kann die Ausbeutung von MigrantInnen nicht allein mit Verweis
auf fehlende Handlungsfähigkeit und kriminelle
Energie von ‚Menschenhändlern’ erklärt werden,
sondern stellt eine Begleiterscheinung großer ökonomischer Diskrepanzen zwischen reichen und
armen Ländern, restriktiver Einwanderungspolitik und Kriminalisierung unerwünschter Zuwanderung dar. Opferschutz sei nur ein Deckmantel,
um Kriminalitätsbekämpfung zu forcieren und in
Wirklichkeit nichts weiter als ein „Zeugengewinnungsprogamm“ (Thiée 2005). Erst unter dem
Einluss einer „Rettungsindustrie“ (Agustin 2006,
2007) aus Strafverfolgungsbehörden und Fachberatungsstellen würden die von der Polizei aufgegriffenen Betroffenen ihr Arbeitsverhältnis in eine
Situation der Zwangsarbeit oder Zwangsprostitution umdeuten, um von angebotenen Vorteilen
proitieren zu können. Betont wird die aktive Rolle
einer „Rettungsindustrie“ bei der Konstruktion von
Menschenhandelsfällen: „Wer Opfer sucht, der
indet sie auch dann, wenn sie sich selbst keineswegs als Opfer im strafrechtlichen Sinne empin-
29
den“ (Thiée 2006). Die Betroffenen würden für die
Kriminalitätsbekämpfung instrumentalisiert und
anschließend abgeschoben. Beim größten Teil der
als Menschenhandel eingestuften Fälle handele
es sich in Wirklichkeit um freiwillig eingegangene
Migrationsprojekte oder unangemeldete Beschäftigungsverhältnisse. Empfohlen wird hier die Beendigung diskriminierender und kontraproduktiver Kontrollen, die sich in Wirklichkeit nur gegen
unerwünschte Migration richten würden. Arbeitsmarktkontrollen sollten sich auf die Einhaltung der
arbeits-, sozial- und steuerrechtlichen Vorschriften
beschränken und keine Überprüfung des Aufenthaltsstatus beinhalten.
Aus einer dritten Perspektive wird betont, dass
die Vorstellungen des ‚hillosen Opfers’ und des
‚autonomen Migranten’ gleichermaßen nur einen
kleinen Ausschnitt der empirischen Wirklichkeit selektiv und einseitig abbilden. In der Diskussion über
die Bekämpfung des Menschenhandels würden
zur Begründung der jeweiligen Position Einzelfälle
unzulässig verallgemeinert und nur statisch aufgefasst (Anderson 2008). Dagegen wird betont, dass
es sich bei Migration und Beschäftigung um dynamische Verhältnisse handelt, die zwischen den beteiligten Akteuren ausgehandelt werden und sehr
unterschiedliche Formen und Grade der Fairness
oder Ausbeutung aufweisen. Dabei bilden faire
und ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse
keine eindeutig unterschiedenen und getrennten
Zustände, sondern ein Kontinuum (Andrees 2008,
Cyrus 2006).
Das erhöhte Risiko der Ausbeutung von Migrantinnen und Migranten innerhalb und außerhalb
der Sexindustrie wird erkannt, der Straftatbestand
des Menschenhandels und seine Umsetzung in der
aktuelle Fassung aber nicht für geeignet gehalten,
um Situationen extremer Ausbeutung nachhaltig
zu verhindern. In dieser Perspektive wird kritisiert,
dass „die Wahrnehmung von Menschenhandel
allein als Resultat organisierter Kriminalität und
illegaler Migration zu kurz greift“ (Follmar-Otto
2009: 23). Mit der Betonung von Grenzkontrollen
als Instrument zur Verhütung von Menschenhandel geraten alle diejenigen Fälle aus dem Blick,
in denen die Betroffenen legal einreisen oder der
Menschenhandel innerhalb eines Landes stattindet. So wird Menschenhandel primär als Unterfall
von irregulärer Migration und Schleusung betrachtet und damit „zum Begründungsmuster für eine
restriktive Visa- und Grenzpolitik, obwohl etwa das
Bundeskriminalamt angesichts der überwiegend
legal eingereisten in Deutschland bekannt gewordenen Opfer die Erfolgsaussichten grenzpolizeilicher Maßnahmen bezweifelt.“ (Follmar-Otto 2009:
25).
Weiterhin wird kritisiert, dass Schutzmaßnahmen
und Rechte für Betroffene nicht auf die rechtliche
Stellung als Migrantin oder Arbeiterin bezogen
sind, sondern allein auf die rechtliche Stellung als
Opfer von Menschenhandel beschränkt bleiben
(Davies 2009). Mit Blick auf die Situation in den
USA wird die Auffassung vertreten, dass „das
Gesetz zum Schutz der Opfer von Menschenhandel (Traficking Victims’ Protection Act) wenig zur
Stärkung der Rechte der meisten Wanderarbeiten
in der Sexindustrie und außerhalb tut” (Chapkis
2003: 934, Loppicolo 2009).
Aus dieser Perspektive wird vorgeschlagen, zur
Prävention von Menschenhandel verstärkt Maßnahmen und Mindeststandards zum Schutz von
Beschäftigten, auch in der informellen Wirtschaft
einzuführen. Die Rechte von ArbeitnehmerInnen
müssen gestärkt und effektive Instrumente zu ihrer
Durchsetzung unabhängig vom Aufenthaltsstatus
eingeführt werden. Die Stärkung von Rechtssicherheit und Konliktfähigkeit würde die Anreize zur Organisierung extrem ausbeuterischer Beschäftigung
verringern, das Risiko der Aufdeckung erhöhen
und damit einen Beitrag zur Geltung arbeitsrechtlicher Standards für alle ArbeitnehmerInnen leisten
(Cyrus 2006).
30
Eine aktuelle Auswertung für Australien stellt fest,
dass es aufgrund der begrenzten Anzahl an Berichten nicht möglich ist, ein allgemeines Muster
zu erkennen, wie Strafverfolgungsbehörden und
andere staatliche Stellen Kenntnis von Fällen des
Menschenhandels erhalten. Eine im Jahr 2008
veröffentlichte Auswertung deutet allerdings
darauf hin, dass die Opfer sich in den meisten
Fällen selbst an die Behörden gewandt hatten,
indem sie bei Polizeistellen vorsprachen oder den
Polizeinotruf nutzten, die Auslandsvertretung in
Australien kontaktierten oder indem sie Unterstützung von Freiern in Bordellen suchten. Der
Bericht verweist auf nur zwei Fälle, in denen die
Opfer in Australien infolge einer Kontrolle durch
Polizei oder Einwanderungsbehörden befreit
wurden (Schloenhardt 2008: 10).
In einer im Jahr 2005 veröffentlichten Auswertung
von Gerichtsverfahren wegen Menschenhandel
zur sexuellen Ausbeutung in Deutschland wurde
festgestellt, dass vor dem Hintergrund bedrohter
und wegen ausländergesetzlicher Vorschriften
meist selbst straffälliger Opfer bei den befragten
Experten aus den Strafverfolgungsbehörden die
Meinung vorherrscht, dass die Verfahrensauslösung wegen des Kontrolldelikts Menschenhandel
in erster Linie durch polizeiliche Initiative erfolgt.
In den durchgeführten schriftlichen Befragung
und den Expertengesprächen wurde die proaktive Verdachtsgewinnung in Form von Kontrollen
im Rotlichtmilieu und verdeckten Ermittlungsmethoden von den Expertinnen auch als häuigster
Ermittlungsauslöser eingestuft.
Bei der kriminologischen Auswertung von 49 Gerichtsakten wurde dagegen festgestellt, dass der
mit Abstand größte Teil der Verfahren bei dem
vermeintlichen Kontrolldelikt Menschenhandel nicht durch polizeiliche Initiativermittlungen
oder sonstige polizeiliche Erkenntnisgewinnung,
sondern durch Anzeigen und Hinweise ausgelöst
worden war (67 %; 4 % der Anzeigen wurden im
späteren Prozessverlauf zurückgenommen). Diese
Anzeigen und Hinweise kamen in der Regel vom
Opfer selbst (43 %) oder von Freiern oder Dritten
(22 %), nie aber von (Mit-)Tätern/Teilnehmern
oder von Behörden außerhalb der Strafverfolgung
(n. f. 3 %). Durch polizeiliche Initiativermittlungen
wurden nur 10 % der Verfahren in Gang gesetzt
(davon gezielte Vor- und Strukturermittlungen 6
%; Razzia 2 %; n. f. 2 %; eine Verfahrensauslösung
durch den Einsatz technischer Mittel, Verdeckter
Ermittler oder Vertrauenspersonen konnte nicht
festgestellt werden) und 12 % durch zufällige polizeiliche Erkenntnisgewinnung wie etwa Zufallsfunde (n. f. 10 %).
In der Strafverfolgung schnitten die angezeigten Fälle am erfolgreichsten ab (Erfolgsquote 39
% vs. 7 %), weil die Strafverfolger sich hier eines
tauglichen Personalbeweises versichert sahen
(Herz & Minthe 2005: 135). Diese Vermutung wird
dadurch untermauert, dass die Fälle besonders
erfolgreich waren, in denen die Opfer selbst als
Anzeigenerstatter oder Hinweisgeber auftraten
(40 % erfolgreiche Fälle vs. 17 % bei Anzeigen/
Hinweisen durch Freier oder Dritte). Bei anderen
Verfahrensauslösungen als durch Anzeigen und
Hinweise lag die Erfolgsquote bei etwa 10 % und
darunter.
Die Hinweise aus der empirischen Forschung zu
Menschenhandel wecken somit erhebliche Zweifel
an der Gültigkeit der stereotypen Repräsentation
von Menschenhandelsopfern als handlungsunfähig. Vorliegende Berichte verdeutlichen, dass die
die meisten Betroffenen in einigen oder sogar in
allen Phasen des Ausbeutungsverhältnisses mit
Tätern kooperierten und unter dem Einluss von
Drohungen und Praktiken der Verunsicherung
ihre Zustimmung nicht offen verweigerten, keiner
vollständigen Bewachung unterlagen und zu verschiedenen Momenten die Möglichkeit gehabt
hätten, Verwandte, Freunde oder auch (unbeteiligte) Dritte um Hilfe zu ersuchen.
Als operativer Begriff vermittelt das Menschenhandelskonzept die Vorstellung, dass organisierte Kriminelle über Grenzen hinweg Menschen in
Ausbeutungssituationen bringen, aus denen sie
sich nicht mehr selbst befreien können (Gallagher 2001). In Anlehnung an Welsch (1998: 59f)
kann das Menschenhandelskonzept als ein Verständigungsbegriff aufgefasst werden, der soziale
Wirklichkeit nicht neutral und objektiv abbildet,
sondern vielmehr eine Übereinkunft darüber darstellt, wie die soziale Wirklichkeit abgebildet und
gesehen werden soll. Menschenhandel ist nicht
nur ein bloß beschreibender Begriff, sondern
31
schafft mit der Benennung den Gegenstand, der
beschrieben werden soll (mit anderer Begriflichkeit ebenso Doezema 2005).
Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass
nicht nur „genauer erforscht werden muss, wie
der Menschenhandel stattindet, wer ihn betreibt,
wer warum zum Opfer wird und wie der Nachfrage entgegengewirkt werden kann“ (Europäisches
Parlament 2010), sondern auch relektiert werden
muss, dass eine kritiklose Verwendung des ‚Verständigungsbegriffs’ Menschenhandel die soziale
Wirklichkeit nicht neutral und objektiv abbildet,
sondern eine tendenziell stereotypisierende Verengung des Blicks auf hillose Opfer erzeugt und
damit die vorstellbaren Handlungsoptionen auf
kriminalitätsbekämpfende, strafrechtliche Ansätze
mit angebundenem Opferschutz reduziert.
32
33
3.
Zu der Situation in Europa und
der Bundesrepublik Deutschland
In diesem Kapitel wird der Straftatbestand Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung und die Umsetzung im
Europäischen Rechtsraum und der Bundesrepublik Deutschland dargestellt.
3.1
Europäische Entwicklung
Auch im europäischen Rechtsraum werden Maßnahmen zur Bekämpfung von Menschenhandel intensiv verhandelt (dazu Krieg 2009, Obakata 2006).
Die Europäische Gemeinschaft hat das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität gezeichnet
und die Umsetzung in europäischen Rechtsakten
vorgenommen.14 Einen Überblick über den Stand
der Diskussion und Maßnahmen im Rahmen der
europäischen Union bietet z. B. die Website des
Europäischen Parlaments.15 In einer aktuelle Mitteilung geht die Europäische Kommission davon
aus, dass „Hunderttausende von Personen durch
34
Menschenhandel in die EU verbracht oder innerhalb der EU verschleppt werden“ (Kommission
der Europäischen Gemeinschaften 2009: 2). Dabei
wird Menschenhandel von den Institutionen der
Europäischen Union im Rahmen der gemeinsamen Sicherheitspolitik gegenwärtig vorrangig als
eine Erscheinungsform grenzüberschreitender
Kriminalität konzeptionalisiert, die von den EUMitgliedsstaaten in gemeinsamer Anstrengung zu
bekämpfen ist. Zur Unterbindung des Menschenhandels sollen die Kontrolle der EU-Außengrenzen
und die europäische Koordinierung der nationalen
Polizeiarbeit verstärkt werden. Diese kontrollpolitische Präferenz wurde jüngst vom Europäischen
Parlament in einer Entschließung vom 10. Februar
2010 bestätigt und um konsequentere Beachtung
des Opfer- und Menschenrechtsschutzes ergänzt.
Das Dokument bietet mit einer umfassenden Aufzählung der relevanten internationalen Dokumente zur Bekämpfung des Menschenhandels einen
ersten Überblick über den Stand der internationalen und europäischen Debatte (Europäisches
Parlament 2010). In der Entschließung werden
der Rat und die Mitgliedsstaaten aufgefordert,
einen ‚ganzheitlichen Ansatz’ zu entwickeln, der
die Menschenrechte in den Mittelpunkt stellt und
auf die Bekämpfung des Menschenhandels, seine
Verhütung und Opferschutz ausgerichtet ist. Unter
anderem wird gefordert, dass die Unterstützung
für Opfer an keinerlei Bedingungen geknüpft sein
soll, dass die Zustimmung eines Opfers zur Ausbeutung stets irrelevant sein soll und dass ein Anspruch auf Unterstützung nicht mehr wie bisher
von der Bedingung abhängig gemacht wird, in
einem Strafverfahren zu kooperieren. Die Europäische Grenzschutzagentur FRONTEX und die einzelstaatlichen Grenzschutzbehörden werden aufgefordert, im Verlauf ihrer Tätigkeit gemeinsame
Praktiken festzulegen, um ihre Mitarbeiter stärker
für das Problem des Menschenhandels zu sensibilisieren, die Opfer des Menschenhandels zu identiizieren und ihren Schutz zu gewährleisten (Euro-
päisches Parlament 2010).
Das Europäische Parlament greift mit dieser Position Empfehlungen auf, die bereits im Jahr 2003 von
einer von der Europäischen Kommission eingesetzten ‚Sachverständigengruppe Menschenhandel’ vorgelegt worden waren. In dem Bericht der
Sachverständigengruppe wurde zur Bekämpfung
des Menschenhandels ein ‚ganzheitlicher Ansatz’
empfohlen, der im Wesentlichen eine intensiveren
Zusammenarbeit von Kontroll- und Strafverfolgungsbehörden in Kooperation mit Opferschutzeinrichtungen vorsieht, um die Befreiung der Opfer
von Menschenhandel und die Bestrafung der
Täter zu optimieren (Experts Group on Traficking
in Human Beings 2004). Zurzeit erarbeitet eine
weitere von der Europäischen Union eingesetzte
‚Sachverständigengruppe Menschenhandel’ eine
Konzeption für den politischen Umgang mit Menschenhandel.
Die empfohlene vorrangige Verfolgung strafrechtlicher Ansätze wird in den europäischen Rechtsakten, die rechtsverbindliche Vorgaben für Mitgliedsstaaten setzen, umgesetzt. An erster Stelle
ist auf den Rahmenbeschluss zur Bekämpfung des
Menschenhandels vom 19. Juli 2002 hinzuweisen,
der alle EU-Mitgliedsstaaten zu Maßnahmen zur
Bekämpfung gegen Menschenhandel verplichtete
und vor allem auf eine Annäherung der Strafrechtsvorschriften und der zu verhängenden Strafen abzielte. Da jedoch eine Reihe von Bestimmungen
des Rahmenbeschlusses Ausnahmeregelungen
oder Vorbehalte ermöglichten und der Rahmenbeschluss ausschließlich Strafrechtsbestimmungen
enthielt, blieb die Umsetzung einer umfassenden
Politik zur Bekämpfung des Menschenhandels in
den Mitgliedstaaten nach Auffassung der Kommission unzureichend (Europäische Kommission 2009:
4). In der Folgezeit wurden mehrere Mitteilungen, Entschließungen, Ratsbeschlüsse und Richtlinien verabschiedet, so die Richtlinie 2004/81/
14 Im März 2009 hatten 23 EU-Mitgliedsstaaten das Protokoll ratiiziert, die restlichen 4 Mitgliedsstaaten hatten es unterzeichnet.
Die Europäische Gemeinschaft hat das Protokoll unterzeichnet und genehmigt (Kommission der Europäischen Gemeinschaften
2009:3)
15 http://www.europarl.europa.eu/comparl/libe/elsj/zoom_in/41_en.htm : zuletzt besucht am 30.08.2010
35
EG vom 29. April 2003, die eine Unterstützung
von Drittstaatsangehörigen und die Erteilung von
Aufenthaltstiteln für Opfer von Menschenhandel
vorsieht. Im Juni 2009 hat die Europäische Kommission einen weiteren Vorschlag für einen neuen
Rahmenbeschluss vorgelegt (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2009). In diesem Vorschlag wird in Anknüpfung an den bestehenden
Stand der rechtlichen und institutionellen Umsetzung des Menschenhandelskonzepts vor allem
die Strafbarkeit, Strafverfolgung und Bestrafung
von Tätern sowie der Umgang mit Opfern detaillierter gefasst. Eine Person ist nach dem Vorschlag
der Kommission als Opfer einzustufen, sobald den
zuständigen Behörden Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie von Menschenhandel betroffen sein
könnte (Art. 10, Abs. 2). Jedes Mitgliedsland soll die
Möglichkeit vorsehen, Opfer von Menschenhandel
nicht strafrechtlich zu verfolgen, wenn sie illegalen
Maßnahmen ausgesetzt waren und sich deshalb
an rechtswidrigen Handlungen beteiligt haben
(Art. 6). Unter der Überschrift Prävention wird ausgeführt, dass jeder Mitgliedsstaat Anstrengungen
unternehmen soll, um der Nachfrage, die jegliche
Form von Ausbeutung begünstigt, entgegenzuwirken (Art. 12, Nr. 1). Was genau damit gemeint sein
könnte, wird nicht weiter erläutert. Weiterhin sollen
Schulungen für Beamte gefördert werden, um sie
in die Lage zu versetzen, potenzielle Opfer zu identiizieren. Die vorgeschlagenen Maßnahmen zur
Unterstützung der Opfer (Artikel 10) bleiben nach
diesem Vorschlag weiterhin mit Strafverfahren verkoppelt.
Im Zusammenhang mit Maßnahmen zur Verhinderung der Arbeitsausbeutung von Migrantinnen und
Migranten ist weiterhin die Richtlinie 2009/52/EG
vom 18.6.2009 über „Mindeststandards für Sanktionen und Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die
Drittstaatsangehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen“ (ABl. L 168 vom 30.6.2009) rele-
vant. Die Mitgliedsstaaten sind nach dieser Richtlinie, die im Juni 2009 in Kraft getreten ist, unter
anderem verplichtet, Maßnahmen zu ergreifen,
damit Arbeitgeber den von ihnen unangemeldet
beschäftigten Drittstaatsangehörigen ausstehende Vergütungen für geleistete Arbeit zahlen sowie
fällige Steuern und Sozialversicherungsbeiträge
entrichten. Wenn die Höhe der Vergütungen nicht
festgestellt werden kann, dann soll zumindest von
einem Lohn in der Höhe ausgegangen, die in den
geltenden Rechtsvorschriften über den Mindestlohn, in den Tarifvereinbarungen oder gemäß den
Geplogenheiten in den entsprechenden Beschäftigungsbranchen vorgesehen ist. Die Mitgliedsstaaten sollten weiterhin dafür sorgen, dass Drittstaatsangehörige ihre Ansprüche geltend machen
oder geltend machen können, und Mechanismen
einrichten, die gewährleisten, dass die Drittstaatsangehörigen die ihnen zustehenden Vergütungen
erhalten können. Die Mitgliedstaaten sollten eine
Rechtsvermutung für ein Arbeitsverhältnis von
mindestens dreimonatiger Dauer vorsehen, so
dass der Arbeitgeber die Beweislast für das Vorliegen eines anderen Zeitraums trägt.
Den zurzeit weitestgehenden Standard beim Opferschutz bietet die im Mai 2005 nach zähem
Ringen vom Europarat verabschiedete Konvention gegen Menschenhandel (Nr. 197), die am 1.
Februar 2008 in Kraft getreten ist.16 Bisher haben
24 Staaten das Abkommen ratiiziert (Stand
7.5.2009). Bis März 2009 ist es von 12 EU-Mitgliedstaaten ratiiziert worden; 13 EU-Mitgliedstaaten
hatten es unterzeichnet und befanden sich im Ratiizierungsprozess. Deutschland hat angekündigt,
die Ratiizierung der Konvention vorzubereiten.17
Ein ausdrückliches Ziel der Konvention besteht
darin, den im internationalen Recht vorgesehenen
Opferschutz zu verstärken und die vorgeschlagenen Standards fortzuentwickeln (Artikel 39). Die
Konvention beinhaltet u. a. verplichtende Schutz-
16 http://www.coe.int/t/dg2/traficing/campaign/Sourse/PDF_Conv_197_Traficking_German.pdf :
zuletzt besucht am 30.08.2010
17 Den aktuellen Stand der Ratiizierung indet man in der vollständigen Liste der Verträge des Europarates unter Nr. 197.
http://www.conventions.coe.int/Treaty/Commun/QueVoulezVous.asp?NT=197&CM=8&DF=02/03/2010&CL=GER :
zuletzt besucht am 30.08.2010
36
maßnahmen wie eine Erholungs- und Bedenkzeit
von mindestens 30 Tagen und bestimmt, dass die
Schutzmaßnahmen für Opfer von Menschenhandel
unabhängig von der Bereitschaft zur Beteiligung
an Ermittlungs- und Gerichtsverfahren als Zeuge
zu gewähren sind. Damit geht die Europaratskonvention beim Opferschutz über die von der Europäischen Union bis dahin formulierten Standards
hinaus.
Deutlich wird aber, dass trotz der Betonung der
menschenrechtlichen Dimension die Schutzmaßnahmen bisher nur für Opfer vorgesehen waren,
die für strafrechtliche Ermittlungen als Zeuginnen
benötigt werden. Mit der Umsetzung der Europaratskonvention werden Schutzmaßnahmen für
Opfer von Menschenhandel unabhängig von einer
Beteiligung als Zeuge oder Zeugin in Ermittlungsund Strafverfahren verplichtend. Die Schutzmaßnahmen werden aber nur gewährt, wenn Behörden
einer Person den Status eines Opfers von Menschenhandel zuerkennen. Eine konsequente menschenrechtlich orientierte Strategie zur Bekämpfung des Menschenhandels müsste dagegen nicht
nur die Rechte von Personen in ihrer Eigenschaft
als Opfer stärken, sondern auch in ihrer Eigenschaft
als ArbeitnehmerIn und MigrantIn.
3.2
Der Straftatbestand § 233
StGB
Die Umsetzung der Europäischen Rahmenrichtlinie und der UN-Konvention gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität wurden in der
Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen18
mit der 37. Strafrechtsänderungsreform vom 19.
Februar 2005 umgesetzt. Dabei wird der Straftatbestand ‚Menschenhandel’ im Abschnitt „Straftaten gegen die persönliche Freiheit“ in § 232 StGB
(Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung) und
in § 233 StGB (Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung) behandelt. Strafbar ist auch die
Förderung des Menschenhandels (§ 233 a StGB)19,
wobei darunter Handlungen wie die Anwerbung,
Beförderung, Beherbergung, Transport, die in den
internationalen Abkommen als Tathandlungen des
Menschenhandels deiniert sind, unter Strafe gestellt werden, wenn damit der Ausbeutung Vorschub geleistet wird. Der genaue Wortlauf der
Strafbestimmungen ist in Kasten 3 dokumentiert.
Mit dieser Fassung des Tatbestands Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft ist
im deutschen Strafrecht kein Bezug mehr auf organisierte Kriminalität oder die Überschreitung von
Grenzen verbunden. Menschenhandel kann daher
nicht nur Drittstaatler betreffen, sondern auch EUBürgerinnen und deutsche Staatsangehörige. Der
Straftatbestand ist als Erfolgsdelikt formuliert und
nur vollendet, wenn die Arbeitskraft des Opfers
ausgebeutet worden ist (Renzikowski 2005, Schröder 2005).20
18 Die Vorgaben zum Organhandel wurden im Transplantationsgesetz umgesetzt.
19 In dieser Arbeit gehen wir auf den § 233a StGB nicht weiter ein. Zur juristischen Einordnung dieses Auffangtatbestands siehe
Rudolphi & Wolter (2005), Renzikowski (2005).
20 Der relativ hohe Anteil an deutschen Staatsangehörigen, die in den Bereichen des BKA als Opfer von Menschenhandel zur
sexuellen Ausbeutung ausgewiesen sind, verweist darauf, dass eine Verstärkung von Grenzkontrollen das Delikt Menschenhandel
nur zum Teil abdeckt.
37
Kasten 3:
§ 233 StGB: Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft
(1) Wer eine andere Person unter Ausnutzung einer Zwangslage oder der Hillosigkeit, die mit ihrem
Aufenthalt in einem fremden Land verbunden ist, in Sklaverei, Leibeigenschaft oder Schuldknechtschaft oder zur Aufnahme oder Fortsetzung einer Beschäftigung bei ihm oder einem Dritten zu
Arbeitsbedingungen, die in einem auffälligen Missverhältnis zu den Arbeitsbedingungen anderer
Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer stehen, welche die gleiche oder eine vergleichbare Tätigkeit ausüben, bringt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft.
Ebenso wird bestraft, wer eine Person unter einundzwanzig Jahren in Sklaverei, Leibeigenschaft
oder Schuldknechtschaft oder zur Aufnahme oder Fortsetzung einer in Satz 1 bezeichneten Beschäftigung bringt.
(2) Der Versuch ist strafbar.
(3) § 232 Abs. 3 bis 5 gilt entsprechend.
§ 233 a StGB: Förderung des Menschenhandels
(1) Wer einem Menschenhandel nach § 232 oder § 233 Vorschub leistet, indem er eine andere
Person anwirbt, befördert, weitergibt, beherbergt oder aufnimmt, wird mit Freiheitsstrafe von drei
Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
(2) Auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren ist zu erkennen, wenn
1. das Opfer der Tat ein Kind (§ 176 Abs. 1) ist,
2. der Täter das Opfer bei der Tat körperlich schwer misshandelt oder durch die Tat in die Gefahr
des Todes bringt oder
3. der Täter die Tat mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empindlichen Übel oder gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Taten verbunden hat, begeht.
(3) Der Versuch ist strafbar.
Der Tatbestand Menschenhandel zum Zweck der
Arbeitsausbeutung ist nach deutschem Recht
erfüllt, wenn eine Person durch Anwendung verbotener Mittel – genannt wird die Ausnutzung einer
Zwangslage oder der auslandspeziischen Hillosigkeit – gegen ihren Willen in eine Ausbeutungssituation gebracht wird (Renzikowski 2005).
•
Die Tathandlung besteht darin, eine andere
Person in Arbeitsausbeutung zu ‚bringen‘. Es
trägt allerdings nicht gerade zum Verständnis
bei, dass der Begriff ‚Arbeitsausbeutung’ nur
in der Überschrift des Paragraphen 233 StGB
verwendet wird. Im Text selbst ist die strafbare Handlung beschrieben als Bringen einer
•
Person in vier ausdrücklich bezeichnete Ausbeutungsverhältnisse, nämlich (1) Sklaverei, (2)
Leibeigenschaft, (3) Schuldknechtschaft oder
(4) Beschäftigung zu Arbeitsbedingungen,
die in einem auffälligen Missverhältnis zu den
Arbeitsbedingungen vergleichbarer Arbeitnehmer stehen (dazu Renzikowski 2005: 884).
Auch die Tatsache, dass ‚Bringen‘ im Deutschen
sowohl im Sinne von ‚transportieren, zuführen‘
als auch im Sinne von ‚ein Resultat herbeiführen‘ benutzt wird, macht die Tathandlungsformulierung auslegungsbedürftig.
Als Tatmittel werden die Ausnutzung einer
Zwangslage oder auslandsspeziischen Hillosigkeit genannt, wobei ebenfalls auslegungs-
38
•
bedürftig ist, was darunter zu verstehen ist,
Die Tatabsicht muss gegeben sein, d.h. die
Handlungen müssen eine Arbeitsausbeutung
bezwecken.
Diese Tatbestandselemente müssen kumulativ
vorliegen, damit Strafbarkeit einsetzt. Das Menschenhandelskonzept im deutschen Strafrecht ist
damit komplex und stellt hohe Anforderungen
an die Nachweisbarkeit, die insbesondere im Zusammenhang mit der Ermittlung der Ausnutzung
einer Zwangslage oder einer auslandspeziischen
Hillosigkeit auf die Aussagen der Betroffenen angewiesen ist. Auch bei der Hauptverhandlung ist
die Zeugenaussage der Betroffenen erforderlich
(Hellmann 2007: 57). In der rechtswissenschaftlichen Diskussion wird die Abgrenzung zum Lohnwucher (§ 291 StGB), der ebenfalls die Ausbeutung
der Arbeitskraft unter Strafe stellt, kritisch diskutiert. Hingewiesen wird darauf, dass im Vergleich
zu § 291 StGB aus der erheblich höheren Strafandrohung bei § 233 StGB (Menschenhandel zur
Arbeitsausbeutung), den übrigen im Tatbestand
beschriebenen Abhängigkeitsverhältnissen und
dem Merkmal der Ausbeutung in der gesetzlichen
Überschrift zu folgern ist, dass „das Beschäftigungsverhältnis einerseits von längerer Dauer und
andererseits „sklavereiähnlich“ (BT-Drs. 15/3045: 9)
sein muss“ (Rudolphi & Wolter 2005: § 233: 2).
Allerdings ist besonders zu betonen, dass
§ 233 StGB nicht dazu dient, vor Ausbeutung zu
schützen. Er schützt die Freiheit der Person, über
den Einsatz und die Verwertung der eigenen Arbeitskraft zu verfügen. Damit wird im Grundsatz die Freiheit geschützt, auch in Arbeits- und
Lohnbedingungen einzuwilligen, die in einem
deutlichen Missverhältnis zu ortsüblichen oder
tarilichen Standards stehen. In einer aktuellen
Entscheidung hat der Bundesgerichtshof mit Beschluss (3 StR 507/09) vom 13. Januar 2010 in einer
Strafsache wegen Menschenhandels diese Rechtsauffassung u. a. mit folgenden Hinweis für eine auf
Revisionsantrag zugelassene neue Hauptverhandlung erläutert: Menschenhandel im Sinne des § 233
Abs. 1 StGB begeht der Täter nicht bereits dann,
wenn er eine sich in einer Zwangslage oder in
einem Zustand auslandsspeziischen Hillosigkeit
beindliche Person in ein als ausbeuterisch zu beurteilendes Beschäftigungsverhältnis übernimmt.
Die Vorschrift setzt vielmehr voraus, dass der Täter
die Person unter Ausnutzung der Zwangslage
oder Hillosigkeit zur Aufnahme oder Fortsetzung
bringt (Bundesgerichtshof 2010: 5). Der Bundesgerichtshof führt weiter aus, dass der Begriff des
„Dazu-Bringens“ weder eine Einlussnahme von
gesteigerter Intensität wie das „Einwirken“ noch
eine Willensbeeinlussung im Wege der Kommunikation wie das ‚Dazu-Bestimmen’ verlangt: Ist
das Merkmal des Ausnutzens erfüllt, genügt jede
ursächliche Herbeiführung des Erfolges, gleichgültig auf welche Art und Weise, sei es auch nur
durch das Schaffen einer günstigen Gelegenheit
oder durch schlichtes Angebot. (…) Indes beschützt
§ 233 StGB die Freiheit der Person, über den Einsatz
und die Verwertung ihrer Arbeitskraft zu verfügen.
Tatbestandsmäßig ist deshalb nur ein Handeln, das
gerichtet ist auf das Ziel, den Willen des – bereits
in der Freiheit der Willensentschließung beeinträchtigten – Opfers zu beeinlussen und so den
in der Aufnahme oder in der Fortsetzung der ausbeuterischen Beschäftigung bestehenden Erfolg
herbeizuführen. Der Täter muss einen bislang nicht
vorhandenen Entschluss des Opfers, ein solches
Beschäftigungsverhältnis einzugehen, hervorrufen
oder das Opfer von seinem Entschluss, die Beschäftigung aufzugeben, abbringen. Hieran fehlt es,
wenn für den Erfolg eine vom Opfer unabhängig
von seiner Lage getroffene eigenverantwortliche
Entscheidung maßgeblich war (Bundesgerichtshof
2010: 5f).
Die Auslegung des Bundesgerichtshofes legt unmissverständlich fest, dass die Bestimmung des
§ 233 StGB als das geschützte Rechtsgut die persönliche Freiheit bestimmt, über seine eigene Arbeitskraft zu verfügen. Geschützt wird nicht vor
Arbeitsausbeutung, sondern die Freiheit, selbst
zu entscheiden, ob man sich ausbeuten lassen
will oder eben nicht. Damit macht der BGH die
Erfüllung des Straftatbestands Menschenhandel
letztlich von subjektiven Aspekten abhängig: Der
Tatbestand Menschenhandel ist nach deutschem
Recht nur erfüllt, wenn sich eine Person durch
Anwendung rechtswidriger Mittel subjektiv dazu
gezwungen sieht, ein ausbeuterisches Beschäfti-
39
gungsverhältnis aufzunehmen oder fortzusetzen.
Wenn die Anwendung rechtswidriger Mittel auf die
Entscheidung der betroffenen Person keinen Einluss hatte und diese nicht verändert haben, kann
zwar Ausbeutung bzw. Lohnwucher vorliegen, aber
kein Menschenhandel. Damit muss nach der maßgeblichen Meinung des Bundesgerichtshofs nicht
nur das Vorliegen von Tathandlung, Tatmitteln
und Täterabsicht geprüft werden, sondern auch
die Diskrepanz zwischen einem beabsichtigten
und einem dann tatsächlich vollzogenem Verhalten einer extrem ausgebeuteten, in einer Zwangslage beindlichen und eventuell auslandsbedingt
hillosen Person. Nur wenn Anhaltspunkte dafür
vorliegen, dass eine Person unter Verletzung ihrer
Entscheidungsfreiheit in ein ausbeuterisches Arbeitsverhältnis gebracht oder gehalten wurde, ist
ein Anfangstatverdacht gegeben, der besondere
Schutzangebote für Betroffene ermöglicht.
Die Umsetzung der Verplichtungen zum Opferschutz wurden durch mehrere Veränderungen im
Aufenthaltsrecht vorgenommen: Der durch das am
28. August 2007 in Kraft getretene Richtlinienumsetzungsgesetz eingefügte § 25 Abs. 4a AufenthG
ermöglicht die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für einen vorübergehenden Aufenthalt an einen
Ausländer, der Opfer von Menschenhandel wurde,
auch wenn er vollziehbar ausreiseplichtig ist.21
Die Aufenthaltserlaubnis darf dabei nur erteilt
werden, wenn die Anwesenheit des Ausländers
im Bundesgebiet als sachgerecht für das Strafverfahren erachtet wird, er jede Verbindung zu den
beschuldigten Personen abgebrochen hat und er
seine Bereitschaft erklärt hat, im Strafverfahren als
Zeuge auszusagen. Bis zum 31. Dezember 2008
wurde an 22 Personen eine Aufenthaltserlaubnis
nach § 25 Abs. 4a AufenthG erteilt. 21 dieser Aufenthaltserlaubnisse erhielten Frauen. 9 Personen,
die eine entsprechende Aufenthaltserlaubnis erhielten, sind im Jahr 2008 eingereist22 (BAMF 2010:
137). Die aufenthaltsrechtliche Absicherung der
Bedenkzeit kann zudem auch über die Erteilung
einer Duldung erfolgen. Eine genaue Aufstellung
der Anzahl der für die Inanspruchnahme der Bedenkzeit erteilten Duldungen und Aufenthaltserlaubnisse liegt nicht vor. Vorbereitet wird von der
Bundesregierung zurzeit auch die Ratiizierung
der Europaratskonvention (Bundesregierung 2008:
109), die – wie schon dargestellt – weitere Verplichtungen beim Opferschutz beinhaltet.23Mit der vom
BGH bestätigten engen Auslegung des § 233 StGB
als Straftat gegen die persönliche Freiheit und den
hohen Anforderungen an die Anwendung laufen
die insbesondere von Strafverteidigern im Vorfeld
der 37. Strafrechtsreform geäußerten Bedenken ins
Leere. Die Reform des Menschenhandelsparagraphen war sehr kontrovers diskutiert worden, wobei
sich die Diskussion vorrangig auf den Bereich des
Menschenhandels zur sexuellen Ausbeutung konzentriert hatte. Insbesondere von Strafverteidigern
und Juristen wurden dabei Bedenken vorgetragen,
dass die Neufassung des Menschenhandelsparagraphen zu Lasten der Rechte von Angeklagten in
Strafverfahren ginge und mit den Opferschutzregelungen Anreize gesetzt würden, sich unberechtigt als Opfer von Menschenhandel zu präsentieren, um einer Strafverfolgung oder Abschiebung
zu entgehen (Frommel & Schaar 2005, Schröder
2005, Thiée 2005). Die bisher vorliegenden und im
nächsten Abschnitt vorgestellten Erfahrungen verweisen eher darauf, dass der Straftatbestand nicht
praktikabel ist.
21 Der eigefügte Absatz dient der Umsetzung der opferschutzrechtlinie (Richtlinie 2004/81/EG vom 29. April 2004) über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen
Einwanderung geleistet wurde und die mit den zuständigen Behörden kooperieren.
22 Nach Angaben des Bundeskriminalamtes (BKA) wurden im Jahr 2007 689 Opfer des Menschenhandels zum Zweck der
sexuellen Ausbeutung ermittelt, was einem Rückgang von 11 % im Vergleich zum Vorjahr entspricht. Darunter befanden sich 505
Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit.
95 % der Opfer von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung waren Frauen. Zusätzlich wurden 101 Opfer des
Menschenhandels zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft registriert (+ 22 % im Vergleich zum Vorjahr), zwei Drittel davon
waren Frauen (vgl. dazu Bundeskriminalamt 2008: Menschenhandel - Bundeslagebild 2007).
23 http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/Themen/Menschenrechte/Menschenhandel.html : zuletzt besucht
am 30.08.2010
40
3.3
Informationen zu MH/A
in der Bundesrepublik
Deutschland
Für die Bundesrepublik Deutschland informierte
das Bundeskriminalamt erstmals für das Jahr 2006
auch über das Delikt Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung. Während bei MH/S, die Auswertung
durchgängig auf Meldungen der LKAs beruht,
wurden für MH/A nur Angaben der PKS verwertet.
(Das Ergebnis dieser Erfassung zeigt Tabelle 2.)
Bei der statistischen Darstellung fällt auf, dass
bei einem starken Rückgang der ermittelten Verdachtsfälle die Zahl der in Ermittlungsverfahren als
Opfer identiizierten Personen nicht im gleichen
Maße zurückgegangen, sondern relativ stabil geblieben ist. Hier können aber einzelne Fälle mit
einer großen Anzahl an Betroffenen, zum Beispiel
bei einem Ermittlungsverfahren in der Landwirtschaft, einen großen Einluss haben.
Das BKA merkte im Bundeslagebild für das Jahr
2008 an, dass eine abschließende Bewertung
des Deliktbereichs in Anbetracht der wenigen in
der PKS registrierten Fälle des Menschenhandels
zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft nur
bedingt möglich ist. Für das BKA zeigt sich allerdings, dass die aufgedeckten Delikte nach §§ 233,
233a StGB schwerpunktmäßig im Gaststättengewerbe zum Nachteil sich illegal in der Bundesrepublik aufhaltender Ausländer verübt werden oder
die Opfer als Haushaltskräfte ausgebeutet werden
(Bundeskriminalamt 2009a).
Weitere Hinweise auf betroffene Branchen, die für
extreme Arbeitsausbeutung anfällig sind, bietet
eine im Jahr 2005 veröffentlichte ILO Studie zu
Deutschland. Darin heißt es, dass in allen Branchen mit nicht angemeldeter Beschäftigung von
Ausländern auch ein gewisser Anteil an Zwangsarbeit vorkommen kann. In der Studie werden
Falldarstellungen gegeben für die Sex-Industrie,
Haushaltsdienstleistungen einschließlich Au-Pair,
Landwirtschaft und Fleischverarbeitung, Restaurants und Gastronomie, Produktionsarbeiten in
„sweat shops“, Jahrmärkte, Baugewerbe, Speditionen (Transport) und Verteilung von Werbebro-
41
schüren. Betont wird, dass die Wahrscheinlichkeit
der Aufdeckung von erzwungener Arbeit in diesen
Bereichen höher war, weil Lobbygruppen wie Gewerkschaften, NGOs oder Kontrollbehörden sich
auf diese Bereiche konzentriert haben. Insgesamt
würde nur einer von mehreren tausend Fällen
nicht angemeldeter Beschäftigung aufgedeckt (zu
einer aktuellen kritischen Bestandsaufnahme der
Arbeitsmarktkontrollen siehe Bundesrechnungshof 2008). Die sichtbare Präsenz von Ausländern
erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Kontrolle. In
Branchen, in denen der Einluss der Gewerkschaften hoch ist und die Lohnhöhe kontrolliert wird
(Baugewerbe, Fleischverarbeitung, Speditionen),
kann ein Trend zum Outsourcing und zur Vergabe
von Unteraufträgen beobachtet werden. In solchen
Branchen versteckt sich die Zwangsarbeit hinter
der legalen Fassade von Werkvertragsarbeit, um
die Verantwortlichkeit für die Zwangsarbeit an
Subunternehmen weiterzureichen (Cyrus 2006).
Die verfügbaren Daten der Verurteilungsstatistiken weisen zum Straftatbestand Menschenhandel
zur Arbeitsausbeutung (§ 233 StGB) eine niedrige Zahl an Aburteilungen24 aus. Auffällig ist, dass
auch Jugendliche (z. T. unter 16 Jahren) als Täter
verurteilt wurden. Im Jahr 2006 wurden insgesamt 18 Angeklagte abgeurteilt, darunter 8 nach
Jugendstrafrecht und 12 nach allgemeinem Strafrecht. In 7 Fällen erfolgte eine Verurteilung wegen
Menschenhandels zur Arbeitsausbeutung. Dabei
wurden 5 Freiheitsstrafen und 2 Geldstrafen verhängt. Die Freiheitsstrafen blieben in 3 Fällen unter
sechs Monaten, in einem Fall im Bereich 1-2 Jahre
und in einem Fall bei 3-5 Jahre (Statistisches Bun-
Tabelle 2: Informationen aus dem Bundeslagebild Menschenhandel 2006-2009
2006
2007
2008
2009
Fälle § 233 a
3
3
3
7
Fälle § 233
78
92
27
24
Tatverdächtige
101
71
k.A.
k.A.
Davon männlich
36
40
k.A.
k.A.
Davon weiblich
65
31
k.A.
k.A.
Anteil
nichtdeutscher
Tatverdächtiger
55 %
(14, ukrainische,
13 russische,
5 türkische)
59 % (ohne
Schwerpunkt)
k.A.
k.A.
Anzahl der Opfer
83
101
96
k.A
Davon männlich
61
39
55
k.A
Davon weiblich
22
62
41
k.A
Ausdrücklich
er- Gaststättengewerbe, Gaststättengewerbe, Gaststättengewerbe,
k.A.
wähnte Branchen
Private Haushalte
Private Haushalte
Private Haushalte
Quelle: BKA: 2007, 2008, 2009
24 Die Zahlen der Abgeurteilten, d.h. der Personen, gegen die Stafverfahren nach Eröffnung einer Hauptverhandlung rechtskräftig
abgeschlossen worden sind, setzt sich aus den Verurteilten und den Personen zusammen, gegen die andere Entscheidungen getroffen wurden Andere Entscheidungen sind u.a. Verwarnung mit Strafvorbehalt, Anordnung einer Maßregel der Besserung und
Sicherung, Absehen von Strafe, Einstellung des Verfahrens und Freispruch.
42
desamt 2009).
Im Jahr 2007 wurden insgesamt 13 Angeklagte abgeurteilt, darunter 2 nach Jugendstrafrecht und elf
nach allgemeinem Strafrecht. In 6 Fällen erfolgte
eine Verurteilung wegen Menschenhandels zur
Arbeitsausbeutung. Dabei wurden 3 Freiheitsstrafen und 3 Geldstrafen verhängt. Die Freiheitsstrafen blieben in 2 Fällen im Bereich sechs bis neun
Monate und in 1 Fall im Bereich 1-2 Jahre.
Im Jahr 2008 wurden insgesamt 25 Angeklagte abgeurteilt, darunter 8 nach Jugendstrafrecht und 17
nach allgemeinem Strafrecht. In 9 Fällen erfolgte
eine Verurteilung wegen Menschenhandels zur
Arbeitsausbeutung. Dabei wurden 6 Freiheitsstrafen und 3 Geldstrafen verhängt. Die Freiheitsstrafen blieben in einem Fall im Bereich neun bis 12
Monate, in vier Fällen im Bereich 1-2 Jahre und in
einem Fall bei 3-5 Jahre (Statistisches Bundesamt
2009: lfd. Reihe).
Die verfügbaren Daten zur Strafverfolgung in
Deutschland (Statistisches Bundesamt 2009) fügen
sich in das weltweite Bild, wonach einem vermuteten großen Dunkelfeld ein sehr kleines Hellfeld eröffneter Ermittlungsverfahren und durchgeführter
Gerichtsverfahren gegenüber steht. In Anbetracht
der unterstellten Schwere der Tat und der besonderen Aufmerksamkeit ist es bemerkenswert, dass
bei den wenigen Verurteilungen zudem die verhängten Strafhöhen niedrig sind. Es ist aber nicht
ausgeschlossen, dass Fälle der Sanktionierung
der extremen Arbeitsausbeutung unter anderen
Straftatbeständen (Schleusung, Lohnwucher) abgeurteilt werden. Eine Klärung könnte hier eine kriminologische Untersuchung bringen.
Besonders hinzuweisen ist auf den Anteil an Jugendlichen und Heranwachsenden unter den
wegen Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung
Abgeurteilten. Es bietet Anlass zur Sorge, dass bei
der Anwendung eines Straftatbestands, der zur Bekämpfung grenzüberschreitender organisierter Kriminalität eingeführt wurde, am Ende Jugendliche
und Heranwachsende als Täter verurteilt werden.
Hier sind weitere Informationen erforderlich, um
den Sachverhalt aufzuklären.
In einer Gesamtwürdigung lässt sich festhalten,
dass Straftatbestand des MH/A in der Bundesrepublik Deutschland faktisch kaum zur Anwendung
kommt.
3.4 Deinition der Begriffe
Arbeit, Arbeitsausbeutung
und MH/A
Für unseren Untersuchungszusammenhang soll
Arbeit jede Beschäftigung zur Einkommenserzielung (auch in geringem Umfang) oder Wohlstandsmehrung für sich und andere einschließen,
auch z.B. Haushaltstätigkeiten, Betteln, Sexarbeit
oder strafbare Handlungen wie Ladendiebstahl
oder Rauschgiftproduktion. Wir haben allerdings
Zwangsprostitution, sexuelle Ausbeutung und
strafbare Handlungen im Auftrag anderer im empirischen Teil dieser Untersuchung nicht gezielt
recherchiert und Sexarbeit bei der Erörterung der
Schätzmöglichkeiten ausgeschlossen.
Bei der Deinition von Ausbeutung gehen wir über
in der rechtswissenschaftlichen Literatur vertretene
Meinungen hinaus, die Ausbeutung als Verhalten
bestimmen, das zu einer spürbaren Verschlechterung der Vermögenssituation des Opfers führt
oder durch welches der Täter zu Lasten des Opfers
übermäßige Vermögensvorteile erlangt (Steen
2007: 667; Eydner 2006: 12). Bei dieser Deinition
würde eine Person, die zu deutlich ungünstigeren
Bedingungen als in Deutschland üblich beschäftigt wird, dabei aber die eigene wirtschaftliche
Situation verbessern kann, weil die Bedingungen
im Herkunftsland noch ungünstiger sind oder das
Geld überwiegend in einem Herkunftsland mit
einer höheren Kaufkraft verwendet wird, keine Verschlechterung erleiden und insofern auch nicht als
ausgebeutet gelten.
Dagegen nehmen wir als Bezugsrahmen die Situation in Deutschland und wollen unter Arbeitsausbeutung eine Situation verstehen, die sich deutlich
von üblichen Zwängen und Beschäftigungsstandards im kompetitiven deutschen Arbeitsmarkt zu
Ungunsten der Beschäftigten abhebt. Damit folgen
wir § 233 StGB, der neben Sklaverei u. ä. auch die
43
Beschäftigung zu Bedingungen, die in einem auffälligen Missverhältnis zu denen vergleichbarer ArbeitnehmerInnen in Deutschland stehen, unter der
Überschrift Arbeitsausbeutung aufführt.
Die Deinition eines ‚auffälligen Missverhältnisses’ wird im deutschen Recht sehr weit gefasst.
Sie umfasst neben der Verletzung gesetzlich verbindlicher Mindeststandards (Arbeitszeitregelung,
Arbeitsbedingungen oder sozialrechtliche Absicherung und Bestimmungen für die Unterbringung von WanderarbeiterInnen) auch sittenwidrige Entgeltleistungen, die von der Rechtsprechung
bei einer Entlohnung von weniger als zwei Drittel
des tarilich vorgeschriebenen oder ortsüblichen
Lohnes angesetzt wird. Da in der Bundesrepublik
Deutschland bisher kein gesetzlicher Mindestlohn
eingeführt wurde, erweist sich die Bestimmung
eines ‚auffälligen Missverhältnisses’ in Branchen mit
geringer Tarifbindung als ausgesprochen schwierig, da ersatzweise zuerst das Niveau ortsüblicher
Entgeltzahlung als Maßstab ermittelt werden muss,
was aufwendig ist und im Ergebnis umstritten sein
kann. Ein allgemein verbindlicher Mindestlohn,
der eine klare Orientierung auch für prekär und
ausbeuterisch Beschäftigte bieten würde, besteht
in Berlin und Brandenburg im Augenblick nur in
acht Branchen.25 Im Rahmen dieser Untersuchung
wird die Zahlung eines sittenwidrigen Lohnes von
weniger als zwei Drittel des tarilichen Lohnes bzw.
eines extrem niedrigen Lohnes (vgl. dazu konkret
Kapitel 3.4) als ein Indikator für ein auffälliges
Missverhältnis herangezogen (vgl. Kapitel 4.1).
Auffassung die Begriffe ‚Betroffen von MH/A’ und
‚Zwangsarbeitende’ synonym verwenden.
Zwangsarbeit ist nur dann gegeben, wenn zu einer
Situation der Arbeitsausbeutung das Element
der Unfreiwilligkeit hinzukommt, das durch eine
andere Person herbeigeführt wird. ArbeitgeberInnen oder VermittlerInnen müssen psychologischen
oder gewaltsamen Druck ausgeübt oder manipuliert Informationen gegeben haben und dabei
davon ausgegangen sein, dass sich die Person
wegen einer Zwangslage oder Hillosigkeit nicht
dagegen wehren kann. Für die Bewertung der Umstände ist daher die Täterperspektive relevant und
nicht ein späteres tatsächliches Verhalten der Betroffenen. Die Argumentation, dass eine Zwangslage oder Hillosigkeit nicht vorliegt, wenn eine
Person sich aus einer Abhängigkeit lösen konnte,
ist nicht überzeugend. Wenn jemand gegen seinen
Willen gefesselt war, wird auch dann von Freiheitsberaubung ausgegangen, wenn es der gefesselten
Person irgendwann gelingt, die Fesseln abzustreifen. Eine andere Frage ist jedoch, wie die Täterperspektive im Einzelfall festgestellt werden kann.
Wie dieses Verständnis für unsere Untersuchung
operationalisiert wird, erläutert das folgende
Kapitel (4.1).
Des Weiteren gehen wir davon aus, dass der im
deutschen Recht festgelegte Straftatbestand des
Menschenhandels zum Zweck der Arbeitsausbeutung im Wesentlichen Konstellationen erfasst, die
in der Terminologie der ILO als „Zwangsarbeit“
bezeichnet wird. Insofern lassen sich nach unserer
25 http://www.berlin.de/imperia/md/content/ses-arbeit/tarifregister/mindestlohn_tv_tabelle.pdf?start&ts=1282036199&ile=mi
ndestlohn_tv_tabelle.pdf : zuletzt besucht am 30.08.2010
44
Empi
rische
Bestandsaufnahme der
Situa
tion
45
4.
Empirische Bestandsaufnahme der
Situation in Berlin und Brandenburg
4.1
Untersuchungsmethode
und Forschungsfeld
Um einen ersten Eindruck vom Stand der öffentlichen Wahrnehmung von MH/A in Berlin und
Brandenburg zu erhalten, wurden die Archive regionaler Tageszeitungen auswertet (Ergebnisse in
Kapitel 4.2). Die zentrale Methode zur Datenerhebung war die Expertenbefragung. Als ExpertIn kam
in Frage, „wer in irgendeiner Weise Verantwortung
trägt für den Entwurf, die Implementierung oder
die Kontrolle einer Problemlösung oder wer über
einen privilegierten Zugang zu Informationen über
Personengruppen oder Entscheidungsprozesse
verfügt“ (Meuser & Nagel 2005: 73). Aufgrund
der kurzen Zeit und der beschränkten Ressourcen
konnte die Recherche nur explorativ durchgeführt
werden. Nicht systematisch angesprochen wurden
z.B. VertreterInnen der Organisationen von EinwanderInnen. Zur Ermittlung relevanter ExpertInnen wurden Hinweise der Mitgliedsorganisationen
des ‚Berliner Bündnisses gegen Menschenhandel
zum Zweck der Arbeitsausbeutung’
46
aufgegriffen und die genannten ExpertInnen bei
Gewerkschaften, Beratungsstellen und Behörden
kontaktiert. Zur Ermittlung weiterer relevanter ExpertInnen wurden dann nach der Methode des
Schneeballsampling (Lee 1993) weitere Hinweise
der Befragten aufgenommen.
In einer telefonischen Anfrage wurde jeweils
geklärt, ob die angesprochenen ExpertInnen aus
ihrer Tätigkeit Kenntnisse über Fälle der Arbeitsausbeutung von ArbeitsmigrantInnen schildern
können. Insgesamt wurden etwa 60 telefonische
Vorgespräche geführt. In rund zwei Dritteln der
Fälle erschien ein Interview nicht sinnvoll, weil die
GesprächspartnerInnen nach eigenen Angaben
keine Erfahrungen zu diesem Thema beitragen
konnten. Etwa ein Drittel der auf diesem Weg identiizierten MitarbeiterInnen von Beratungsstellen
erbat sich vor der endgültigen Zu- oder Absage
des Interviewtermins eine schriftliche Darstellung
des Anliegens (per Email), um Rücksprache mit
KollegInnen oder Vorgesetzten zu halten. In vier
Fällen wurden den Personen auf ihren Wunsch hin
das Bestätigungsschreiben der Berliner Senatsverwaltung, sowie die Leitfragen des Interviews vorab
zur Verfügung gestellt.
Auf diesem Weg wurden im Zeitraum 9. November
2009 bis 8. Januar 2010 insgesamt 16 Interviews
mit MitarbeiterInnen von Beratungsstellen für MigrantInnen in Berlin und Brandenburg vereinbart.
Weitere vier Interviews wurden telefonisch durchgeführt. Zusätzlich wurden jeweils ein persönliches
Interview mit der zuständigen Dezernatsleiterin
der Berliner Kriminalpolizei und dem Beauftragten für Menschenhandel bei der Berliner Staatsanwaltschaft geführt. Zusätzlich konnten nach der
Vorlage eines ersten Berichtsentwurfes weitere Gespräche mit MitarbeiterInnen der Finanzkontrolle
Schwarzarbeit (FKS) in Berlin sowie Brandenburg
und dem zuständigen Berliner Oberstaatsanwalt im
April und Mai realisiert und für die Endfassung des
Berichtes berücksichtigt werden. Somit bilden Informationen aus insgesamt 24 problemzentrierten
Interviews das Datenmaterial. (Eine Aulistung mit
Name des Interview-Partners, Institution/Funktion,
Datum des Gesprächs und Bundesland, in dem das
Gespräch durchgeführt wurde ist in Anhang 2 do-
kumentiert).
Die Durchführung der Interviews erfolgte in Anlehnung an die Regeln des problemzentrierten
Interviews (Witzel 2000) auf der Grundlage von
Leitfragen, um neben der Sammlung von Fallschilderungen auch subjektive Sichtweisen und Deutungsmuster der Sachverhalte und Prozesse zu
erhalten. Alle Experteninterviews wurden zur Dokumentation elektronisch aufgezeichnet. Von den
Gesprächen wurden ausführliche Inhaltsprotokolle angefertigt, die den InterviewpartnerInnen zur
kommunikativen Validierung vorgelegt und von
diesen ergänzt und autorisiert wurden. Es wurde
zugesichert, dass die Protokolle als Primärdaten
nur zu Forschungszwecken verwendet und nicht
weiter gegeben werden. Damit wurde auf Bedenken eingegangen, dass sensible Informationen in
unberechtigte Hände geraten könnten. Die Aussagen zu MH/A wurden für die Einschätzung des
Diskussions- und Wissenstandes der Situation in
Berlin und Brandenburg systematisch ausgewertet.
Die Vorrecherchen zeigten, dass der in den juristischen und politischen Diskussionen verwendete
starke Begriff ‚Menschenhandel’ von vielen angefragten ExpertInnen, die mit der juristischen
Diskussion nicht vertraut waren, sehr eng – im
Sinne sklavereiähnlicher Verhältnisse – verstanden wurde. Die angefragten öffentlichen Stellen
LKA und Staatsanwaltschaften in Berlin waren mit
dem Begriff vertraut und zu einem Interview mit
dem einschränkenden Hinweis bereit, dass den
Behörden aufgrund fehlender Verfahren keine belastbaren Erkenntnisse vorliegen. Mit Verweis auf
die Polizeiliche Kriminalstatistik wurde mitgeteilt,
dass vor allem ‚normale‘ Arbeitsmarktdelikte aufgedeckt werden, Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung in Berlin aber nicht nachgewiesen werden
kann. Skeptisch ielen auch die Reaktionen auf
Anfragen bei Beratungsstellen von Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und MigrantInnenorganisationen aus: Es seien zwar zahlreiche Fälle rechtswidriger Ausbeutung oder prekärer Beschäftigung
aus der Beratungstätigkeit bekannt, diese würden
aber nicht als Menschenhandel angesehen. Daher
wurde im Bereich der Beratungsstellen überwiegend bezweifelt, aus der eigenen Arbeit einen konstruktiven Beitrag zur Untersuchung der Erscheinungsformen von MH/A leisten zu können. Nur
47
drei ExpertInnen, die in einem Arbeitszusammenhang mit Fachberatungsstellen für Opfer von Menschenhandel standen und mit dem Straftatbestand
MH/A vertraut waren, reagierten nicht ablehnend,
sondern verwendeten den Begriff ‚Menschenhandel’ explizit auch zur Beschreibung extremer
Ausbeutungsfälle, die sie betreut hatten.26 Somit
ergaben die Vorrecherchen, dass das strafrechtliche Menschenhandelskonzept in Berlin und Brandenburg in der Beratungsarbeit praktisch gar
nicht und in der Kriminalitätsbekämpfung nicht
erfolgreich angewandt wird. Um unserem Auftrag
gerecht zu werden, ggf. nicht erkannte Formen von
MH/A aufzuspüren, musste ein breiterer Ansatz
gewählt werden.
In den ersten Kontaktgesprächen wurden daher
zunächst bewusst auf die Einführung des Begriffs
Menschenhandel verzichtet und stattdessen die
Ziele der Studie wie folgt benannt: Die Erhebung
der Erscheinungsformen von Arbeitsausbeutung
von Migranten und die Umstände, unter denen
diese Erfahrung von den Betroffenen selbst zur
Sprache gebracht werden. Zur Annäherung an das
Feld wurde somit, wie auch in anderen Studien zu
diesem Thema, die Anfrage mit dem Thema der
ausbeuterischen Beschäftigung eingeleitet. Denn
MH/A beinhaltet, dass Arbeitnehmer gegen ihren
Willen in eine Situation der Arbeitsausbeutung
gebracht werden. Die Überlegung war daher, im
ersten Schritt Fallkonstellationen von Arbeitsausbeutung zu identiizieren und dann die Fallschilderungen daraufhin zu betrachten, inwiefern Anzeichen für MH/A vorliegen. Bei der Recherche wurde
nach konkreten Fällen von Arbeitsausbeutung
gefragt, die als besonders auffällig eingeschätzt
wurden. Die inhaltliche Füllung, was unter besonderer Ausbeutung zu verstehen ist, überließen wir
unseren Gesprächspartnern, um so zu eruieren,
welche Konzeptionalisierung diese ihrer Arbeit zugrunde legen. Erst nach dieser Einführung wurde
mit der Erläuterung des Hintergrunds der Studie
und der Auftraggeber auch der Begriff Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung eingeführt.
Diese Strategie der Einführung in das Feld führte
zu folgendem Ergebnis: (1) Handelte es sich bei
dem Gesprächspartner um eine Person, die selbst
regelmäßigen Umgang mit MigrantInnen hat, die
von (extremer) Arbeitsausbeutung betroffen sind,
erklärte sie sich, mit einer Ausnahme, immer dazu
bereit, über ihre Erfahrungen im Umgang mit Betroffenen zu berichten. (2) Handelte es sich bei
dem/der GesprächspartnerIn um eine Person, die
selbst keinen regelmäßigen Umgang mit Betroffenen hat, so konnte sie in allen Fällen Hinweise zu
anderen Gesprächspartnern geben. Mit Ausnahme derer, die in erster Linie zu arbeitsrechtlichen
Fragen beraten, wiesen dann allerdings alle angesprochenen Personen darauf hin, dass die Problematik der Arbeitsausbeutung nicht im Zentrum
ihrer Arbeit stehe: „Wir beschäftigen uns eigentlich
mit..., Davon erfahren wir nur am Rande“. Dennoch
verfügten alle Interviewten über konkrete Erfahrungen und konnten einen unmittelbaren Bezug
zum Thema der ‚(extremen) Arbeitsausbeutung
von Migranten’ herstellen.
Die im Rahmen dieser Studie beschriebenen Fälle
basieren fast vollständig auf den Berichten von BeraterInnen und SeelsorgerInnen. Es gibt zwei Ausnahmen: Über die Arbeitsbedingungen chinesischer Spezialitätenköche berichtete uns ein Anwalt,
an den die Betroffenen sich direkt gewandt hatten.
Der Fall einer lateinamerikanischen Schmuckverkäuferin wurde nach Rücksprache mit der Beraterin
von der Betroffenen selbst in einem telefonischen
Interview ergänzt. Die Fallsammlung ist nicht repräsentativ. Durch die Auswahl der ExpertInnen
sollte sichergestellt werden, dass zumindest alle
typischen Fallkonstellationen, die in professionellen Beratungs- und Kontrollstrukturen aulaufen,
erfasst werden. Wir gehen davon aus, dass durch
zusätzliche Interviews keine weiteren Fallkonstellationen in diesen Feldern ermittelt worden wären.
Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass
bei Einbeziehung zusätzlicher Felder (z.B. ehrenamtlich Aktive in MigrantInnenorganisationen,
gewerkschaftskritische Initiativen oder RechtsanwältInnen mit anderen nationalen Schwerpunkten)
Hinweise auf weitere Erscheinungsformen der Arbeitsausbeutung ermittelt worden wären.
26 Siehe auch: http://www.ban-ying.de/modernesklaverei/ : zuletzt besucht am 30.08.2010
48
Ausreichend detaillierte Fallschilderungen in Gesprächen wurden in eine Falltabelle übertragen
(siehe Anhang 3). Dies sollte dazu dienen, erstens
einen Überblick zu gewinnen und zweitens zu
prüfen, ob sich für Schätzansätze relevante Informationen mit dieser Methode gewinnen lassen
(vgl. Abschnitt 5.) Zu jedem Fall wurden individuelle Merkmale notiert (Alter, Geschlecht, Herkunftsland oder -region, Aufenthaltsstatus). In Bezug auf
das nach Einschätzung der GesprächspartnerInnen ausbeuterische Arbeitsverhältnis wurden der
Tätigkeitsbereich bzw. die Branche, die Dauer des
Arbeitsverhältnisses und das Jahr der Beendigung
vermerkt. Sechs Indikatoren wurden gebildet, um
Art und Form der Ausbeutung der Ausübung von
Zwang zu erfassen:
1. Wurde Gewalt angewendet oder angedroht,
um die Person zur (Weiter-)Arbeit zu zwingen?
2. Wurde die Person eingesperrt, bewacht oder
auf andere Weise in ihrer Bewegungsfreiheit
eingeschränkt?
3. War der einvernehmlich vereinbarte Lohn
extrem niedrig (2 Euro pro Stunde und weniger,
25 Euro pro Tag und weniger, 500 Euro pro
Monat in Vollzeitbeschäftigung und weniger)?
4. Wurde der vereinbarte Lohn durch intransparente Abzüge für Miete, Schulden, Lebensunterhalt und ähnliches reduziert oder durch unvereinbart eingeforderte Überstunden auf ein
extrem niedriges Niveau gesenkt?
5. Wurde der vereinbarte Lohn nicht oder nur in
kleinen Vorschüssen ausgezahlt?
6. Wurde der Arbeitsschutz in stark gesundheitsgefährdender Form missachtet (z.B. Rund-UmDie-Uhr-Beschäftigung,
lebensgefährdende
Vernachlässigung von Sicherheitsvorschriften)?
Die erhobenen Fallbeschreibungen differieren stark
hinsichtlich der enthaltenen Details. In den Interviews wurden insgesamt 47 Fälle in 15 verschiedenen Branchen geschildert. Davon lassen sich
36 Fälle als Arbeitsausbeutung im Sinne unserer
Konzeptionalisierung in 3.4 beschreiben, das heißt
die Arbeitsbedingungen wiesen mindestens ein erhebliches Missverhältnis zu anderen vergleichbaren Beschäftigungsverhältnissen auf. Die anderen
elf geschilderten Fälle betrafen Diskriminierung
am Arbeitsplatz, Probleme mit Behörden und ähnliche Aspekte. Zur weiteren Bearbeitung des Materials wurde eine Sammlung der dargestellten Fällen
angelegt, die zur Auswertung der Merkmale und
Charakteristika in speziischen Branchen diente.
Die Übersicht der Fallschilderung und die Zuordnung nach Branchen bietet die Fallübersicht im
Anhang 3.
4.2
Öffentliche
Aufmerksamkeit für MH/A
Berlin, mehr noch als Brandenburg, ist durch episodische Berichte als Tatort für MH/A bekannt
geworden. Dennoch ist die öffentliche Thematisierung und das Bewusstsein für das Thema „Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung“
in Berlin und Brandenburg jenseits eines kleinen
Kreises von Institutionen, die sich aufgrund ihrer
Zuständigkeit damit befassen, eher gering. Diese
Einschätzung wird durch die Auswertung von Presseberichten über Menschenhandel in Berlin bestätigt. Dabei zeigt sich, dass der Begriff Menschenhandel seit 2005 in der Presse auch für Tatbestände
verwendet wird, die nicht sexuelle Ausbeutung
(Zwangsprostitution, Zuhälterei) betreffen. Hier
hat es eine Veränderung zur früheren Verwendung
des Begriffs Menschenhandel gegeben. Allerdings
ist auch festzustellen, dass der Begriff Menschenhandel in der Presse nicht im Sinne der strafrechtlichen Bedeutung nur für Fälle der sexuellen und
Arbeitsausbeutung verwendet werden, sondern
auch als Synonym für irreguläre Migration oder
Menschenschmuggel (Schleusungsdelikte). (Beispiel im Kasten 4).
Berichte über Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung machen nur einen sehr kleinen
Anteil der Berichterstattung aus und betreffen vereinzelte, aber spektakuläre Fälle. Breite Aufmerksamkeit erhielt der Fall einer äthiopischen Spezialitätenköchin (Die Zeit 2009). Weiterhin ist auf
die als Menschenhandel angeprangerten Fälle der
ausbeuterischen Beschäftigung von Haushaltsangestellten in privaten Haushalten von Botschafts-
49
angehörigen hinzuweisen.27 In beiden Fallkonstellationen hat eine aktive Öffentlichkeitsarbeit von
NGOs zur Berichterstattung und überregionalen
Aufmerksamkeit beigetragen. Der Umfang der
Berichterstattung ist eher als Indikator für eine
erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit von Verbänden
und Behörden zu betrachten denn als Darstellung
der sozialen Realität. Es ist nicht möglich, von der
Wahrnehmung und der Berichterstattung über das
Phänomen auf die empirische Verbreitung von
MH/A zu schließen.
Das geringe öffentliche Interesse am Tatbestand
MH/A lässt sich dadurch erklären, dass es bisher
– anders als bei Menschenhandel zur sexuellen
Ausbeutung und bei Schleusung – kaum öffentlichkeitswirksame erfolgreiche Ermittlungs- und
Gerichtsverfahren gegeben hat. Hinzu kommt,
dass sich auch zuständige Behörden noch nicht
systematisch mit MH/A befassen.
Kasten 4:
Das Stichwort „Menschenhandel“ in der Berliner Presse
Unter dem Stichwort „Menschenhandel“ veröffentlichte die Berliner Morgenpost am 24. September 2009 einen Artikel mit der Überschrift: „Schlag gegen Vietnamesische Schlepperbande.“ Weiter
heißt es: „Die Bundespolizei hat in Berlin eine Gruppe vietnamesischer Schlepper ausgehoben. Pro
Menschenschmuggel kassierte die Bande rund 25 000 Euro. Erst am Mittwoch war ihnen ein Schlag
gegen einen internationalen Schleuserring gelungen.“ Im Text wird informiert, dass der Vorwurf auf
gewerbs- und bandenmäßiges Einschleusen von Ausländer lautet.
Auch der Tagesspiegel veröffentliche am 23. September 2009 unter dem Stichwort „Menschenhandel“ einen Artikel mit der Überschrift: „Internationaler Schleuserring ausgehoben“, in dem es um die
Aufdeckung einer Gruppe von Menschenschmugglern ging.
Am 21. April 2009 veröffentlichte der Tagesspiegel unter dem Stichwort „Prozess“ einen Artikel unter
der Überschrift: „Menschenhandel: Vietnamesin gesteht.“ In dem Artikel wird dann deutlich, dass es
sich bei der Anklage um den Vorwurf der bandenmäßigen Schleusung handelt.
Diese Beispiele zeigen, dass in der öffentlichen Darstellung und Wahrnehmung der Begriff „Menschenhandel“ auch zur Bezeichnung von Menschenschmuggel verwendet indet. Die rechtlich getrennten Sachverhalte irreguläre Migration, Schleusung und Menschenhandel werden in der Presse
vermengt und das Bild erzeugt, dass irreguläre Migration und Schleusung letztlich nur Varianten
oder Vorstufen des Menschenhandels darstellen – und als solche entschieden bekämpft werden
müssten.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht möglich, Medienberichte über Verdachtsfälle von Menschenhandel ohne genauere Informationen als Hinweise auf das Vorliegen von Menschenhandel im Sinne
des Gesetzes zu deuten.
27 Prasad 2003; Schwab 2008; Repinski 2008; Kohl 2008; Meixner 2001; Aden & Börnhof 2007; Emmerich 2008
50
4.3
Darstellung der
Erkenntnisse von Behörden
In diesem Kapitel werden wir die Erkenntnisse relevanter Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden darstellen. Wegen der begrenzten zeitlichen
und personellen Ressourcen haben wir uns bei
der Recherche auf das Berliner Landeskriminalamt
und die Berliner Staatsanwaltschaft sowie die Finanzkontrolle Schwarzarbeit für Berlin und Brandenburg beschränkt. Wir haben darauf verzichtet,
das Landeskriminalamt und die Staatsanwaltschaft
in Brandenburg zu befragen, da die Polizeiliche
Kriminalstatistik für das Land Brandenburg für die
Jahre 2006-2009 nur für das Jahr 2006 zwei Ermittlungsfälle wegen des Verdachts auf MH/A auswies.
Für die Polizei in Brandenburg spielt MH/A faktisch
keine Rolle.
Ein deutlich anderer Eindruck ergab sich für die
Berliner Kriminalpolizei, bei der sich auch ein operatives und organisatorisches Interesse an der Bearbeitung der Straftatbestände des Menschenhandels feststellen ließ. Menschenhandel zur sexuellen
Ausbeutung wird im Rahmen des Dezernats 42
Organisierte Kriminalität ermittelt. Im Rahmen des
Dezernats 25 Gewerbekriminalität ist das Kommissariat 256 schwerpunktmäßig mit Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung befasst. Es wurde somit
ein Sonderkommissariat eingerichtet. In dem Interview erklärte die zuständige Dezernatsleiterin, dass
MH/A vom Ansatz her ein wichtiges Delikt darstellt.
Wenn Verdachtsfälle aufträten, würden alle Kapazitäten darauf verwendet. Die praktische Bedeutung
des Delikts Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung sei für die aktuelle Polizeiarbeit aber gering.
In Berlin wurden zwischen 2005 und 2009 insgesamt 98 Ermittlungsverfahren wegen MH/A eröffnet, wobei es allerdings bisher nur in einem einzigen Fall zur Aburteilung durch ein Gericht kam.
Deutlich wird aus den Angaben der polizeilichen
Kriminalstatistik ein kontinuierlicher Rückgang der
eröffneten Ermittlungsverfahren (siehe Tabelle 3).
Die verfügbaren Angaben zeigen zunächst einmal,
dass das Delikt in der Berliner PKS nicht systematisch ausgewiesen wird. Auch wenn die geringe
Fallzahl keine seriöse statistische Auswertung
zulässt, so wollen wir doch einige Beobachtungen
festhalten. Auffällig ist im ersten Jahr der statistischen Erfassung eine – im Vergleich für die gesamte
Bundesrepublik (78) – sehr hohe Zahl von 54 eingeleiteten Ermittlungsverfahren. Damit führte
das Berliner LKA im Jahr 2006 mehr als 2/3 aller
bekannt gewordenen Ermittlungsverfahren wg.
§ 233 StGB in Deutschland. Weiterhin ist auffällig,
dass die Zahl in den folgenden Jahren stark zurückging, obwohl die Ermittlungsverfahren bundesweit
im Jahr 2007 um 18 Prozent auf 92 angestiegen
waren. Offensichtlich gab es in den Anfangsjahren
nach der Einführung des Straftatbestandes Unterschiede in der Herangehensweise der Landeskriminalämter. Die Aufklärungsquote, also das Verhältnis der Fälle, in denen ein Tatverdächtiger ermittelt
werden konnte zu allen der Polizei bekannt gewordenen Verdachtsfällen, war anfänglich sehr hoch
und ging im Jahr 2008 dramatisch von 100 auf
42,9 Prozent zurück und betrug 2009 wieder 100
Prozent. Welche Gründe jeweils vorliegen, ist nicht
bekannt. Allerdings ist zu betonen, dass bei einer
kleinen Fallzahl Einzelfälle die Quoten nachhaltig
beeinlussen und daher keine generalisierenden
Aussagen gemacht werden können. 2006 weist die
Statistik mit 74% einen hohen Anteil weiblicher Tatverdächtiger aus – dies sollte über Vorstellungen
bezüglich der Tätermerkmale nachdenken lassen
(Aronowitz 2009, UNODC 2009).
Die Entwicklung der Zahlen deutet darauf hin,
dass der § 233 StGB beim LKA Berlin recht früh
besondere Aufmerksamkeit erhielt, dann aber die
Eröffnung von Ermittlungsverfahren stark zurückgeführt wurde. Im Gespräch mit der zuständigen
Dezernatsleiterin wurden mögliche Ursachen für
diese Entwicklungen angesprochen. Ein möglicher
Hintergrund für den Rückgang der Eröffnung von
Ermittlungsverfahren wurde darin gesehen, dass
im entsprechenden Zeitraum die Finanzkontrolle
Schwarzarbeit mit ihren polizeiähnlichen Kompetenzen alle verdachtsunabhängigen Außenprü-
51
Tabelle 3:
Informationen aus der Berliner PKS zu Menschenhandel 2006-2009
2006
2007
2008
2009
Fälle § 233 a
2
7
4
1
Davon wg. Arbeitsausbeutung
k.A.
1
0
0
Fälle § 233
54
34
7
3
Davon 233 Abs. 1
54
31
7
3
Gewerbs- und bandenmäßiger
Menschenhandel zum Zweck
der Ausbeutung der Arbeitskraft k.A.
gemäß § 233 Abs. 3 mit Verweis
auf § 232 Abs. 3 Nr. 3 StGB
3
k.A.
3
Aufklärungsquote
100 %
42,9 %
100 %
98,1 %
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik Berlin 2006-2009
fungen übernommen hat, während die zuvor zuständige Arbeitsmarktinspektion der Agentur für
Arbeit bei Straftaten die Polizei zur Unterstützung
holen musste. Weiterhin wurde argumentiert, dass
die MitarbeiterInnen der Polizei hinreichend sensibilisiert und geschult seien, um bei Hinweisen
auf Arbeitsausbeutung und Menschenhandel das
spezialisierte Kommissariat zu kontaktieren und
sich beraten zu lassen. Es sei allerdings so, dass
die Hinweise in der Regel nicht ausreichen, um
einen Anfangstatverdacht zu erhärten. Ein Grundproblem bestehe darin, dass die Betroffenen keine
bzw. keine beweissicheren Angaben über die Umstände der Beschäftigung machen würden. Wenn
Hinweise auf einen Anfangstatverdacht wegen
MH/A vorliegen, bleibe das Problem der Nachweisbarkeit. Nur in einem einzigen Fall sei in Berlin
ein Strafbefehl wegen MH/A erreicht worden. Mit
Verweis auf die fehlenden Verurteilungen wurde
die Vermutung geäußert, dass zumindest in Berlin
Fälle der Arbeitsausbeutung, die den Tatbestand
des § 233 StGB nachweisbar erfüllen, so gut wie
gar nicht vorkommen. Einerseits bewirke eine
hohe Kontrolldichte in Verbindung mit einer hohen
Strafandrohung eine abschreckende Wirkung. Da
es in Berlin zudem eine große Anzahl von WanderarbeiterInnen und Arbeitslosen gebe, die auch
freiwillig zu deutlich ungünstigeren Bedingungen
arbeiten, sei die Ausübung von Zwang und Gewalt
zur Durchsetzung ausbeuterischer Beschäftigung
nicht erforderlich. Der Bereich der Beschäftigung
in privaten Haushalten, die einen besonders geschützten Bereich bilden und nicht einfach kontrolliert werden dürfen, sei unter Umständen ein
Bereich, in dem entsprechende Arbeitsverhältnisse
vorstellbar wären. Allerdings wurde betont, dass
die Polizei durch Hinweise davon erfahren müsste,
wenn es sie geben würde. Betont wurde, dass man
jedem Verdacht auf MH/A Vorrang geben und intensiv ‚anermitteln’ würde. Insgesamt wurde auf
Seiten der zuständigen Polizeimitarbeiterin aber
eine starke Skepsis deutlich, dass die mit dem
§ 233 StGB deinierten Tathandlungen in Berlin und
Brandenburg überhaupt auftreten.
Die für Arbeitsmarktkontrollen zuständige Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) veröffentlicht keine
Angaben zu Erkenntnissen zum Straftatbestand
MH/A. Im Interview mit MitarbeiterInnen der FKS
in Berlin und Brandenburg wurde
52
betont, dass die Dienstvorschrift vorsieht, dass
einem Verdacht auf MH/A vorrangig nachgegangen werden muss. Allerdings ist es so, dass der
Auftrag der FKS bei Arbeitsmarktkontrollen in der
Aufdeckung anderer Delikte, insbesondere Beitrags- und Steuerhinterziehung sowie Mindestlohnverstöße, besteht. Der Straftatbestand MH/A
wird im Informationsverarbeitungssystem PROBIS
auch nicht als eigener Schlüssel, sondern nur unter
der Restkategorie ‚Sonstiges’ aufgenommen und
kann daher auch nicht dargestellt werden. Die insgesamt vier bei dem Gespräch anwesenden FKSMitarbeiterInnen erklärten aber deutlich, dass die
Kontrollen in Berlin und Brandenburg prinzipiell
keine Verdachtsfälle auf MH/A ergeben. In Fällen,
die Anhaltspunkte für das Vorliegen von MH/A
aufwiesen, konnte kein hinreichender Anfangsverdacht begründet werden, da die Betroffenen
keine Angaben machten. Die quantitativ häuigs-
ten Delikte würden Schwarzarbeit, Leistungsbetrug
und Beitragshinterziehung (§ 266a StGB) ausmachen. Dagegen würden Ermittlungsverfahren mit
einem aufenthaltsrechtlichen Bezug, der eventuell
durch das Merkmal der auslandsspeziischen Hilflosigkeit einen Anknüpfungspunkt für § 233 StGB
bietet, gerade einmal 1-2 Prozent aller Ermittlungsfälle in Berlin und Brandenburg betreffen. Durch
Brandenburg, so wurde argumentiert, würden
ausländische ArbeitnehmerInnen nur durchreisen.
Denn es gäbe genügend Einheimische, die als arbeitslos Gemeldete bei laufendem Leistungsbezug
eine sehr niedrig entlohnte Beschäftigung unangemeldet ausüben. In der Landwirtschaft wären
die angebotenen Arbeits- und Lohnbedingungen
für die beschäftigten Saisonarbeitskräfte gut. Die
Großbaustelle in Berlin und Brandenburg würde
so gut kontrolliert, dass Subunternehmen, die
Vorschriften unterlaufen würden, keine Angebo-
53
te einreichen. Auch für Berlin wurde betont, dass
der Tatbestand MH/A bei Kontrollen nicht aufgedeckt werden kann. Es wurde allerdings betont,
dass die MitarbeiterInnen sensibilisiert seien, wie
die Ausarbeitung und Anwendung eines Zusatzfragebogens bei der Überprüfung in Restaurants
belege. Mit dem Zusatzfragebogen wird im Verdachtsfall u. a. dokumentiert, wo der Pass aufbewahrt wurde, wo und zu welchen Bedingungen
die Unterbringung erfolgte; wie die Beschäftigten
reagierten. Die MitarbeiterInnen der FKS zeigten
sich aufgeschlossen gegenüber der Zusammenarbeit mit Fachberatungsstellen und erklärten, dass
Beschäftigte in Einzelfällen auch auf Beratungsstellen hingewiesen werden. Auch die Bereitschaft
zur Beteiligung an Fortbildungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen wurde erklärt. Allerdings wurde
auch eine große Skepsis deutlich, dass damit Ermittlungserfolge im Bereich MH/A erzielt werden
könnten. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass
sich ein Anfangsverdacht nicht erhärten lässt, weil
die Beschäftigten keine Aussagen machen. Dazu
wurden exemplarisch Beispiele angeführt. In einem
Fall war bei einer Kontrolle aufgedeckt worden,
dass zwei indische Spezialitätenköche zu deutlich
ungünstigeren Beschäftigungs- und Lohnbedingungen gearbeitet hatten. Im Laufe der Ermittlung
gaben sie allerdings nachträglich zu Protokoll, dass
sie um eine Arbeitszeitreduzierung gebeten hätten
und der Stundensatz daher der vorgeschriebenen
Lohnhöhe entspreche. Daraufhin mussten die Ermittlungen zum Nachweis einer Ausbeutung der
Spezialitätenköche und der Beitragshinterziehung
eingestellt werden. Auch für Brandenburg wurde
von einem Ermittlungsverfahren berichtet, in dem
wegen des Verdachts auf Menschenhandel zur
Arbeitsausbeutung in der Prostitution ermittelt
wurde. Die vernommenen Frauen hätten jedoch
erklärt, dass sie nicht ausgebeutet werden und
wollten zur Wiederaufnahme der Beschäftigung
in das Bordell zurückkehren. Insgesamt ergab sich
der Eindruck, dass der Tatbestand des MH/A von
FKS-MitarbeiterInnen – unter dem Eindruck der
von außen kommenden Anfragen – durchaus beachtet wird, aber in der praktischen Arbeit keine
Relevanz hat. Es wurde betont, dass bei Hinweisen
auf MH/A die Staatsanwaltschaft informiert würde,
die dann über das weitere Verfahren entscheide.
Die Staatsanwaltschaft wurde sowohl von den MitarbeiterInnen der Polizei als auch der FKS als die
entscheidende Instanz benannt, die über die Einleitung von Ermittlungsverfahren und Erhebung
einer Anklage wegen § 233 StGB entscheidet. Der
für Arbeitsmarktdelikte zuständige Berliner Oberstaatsanwalt erklärte, dass eine Verfolgung des
§ 233 StGB grundsätzlich anderen Straftatbeständen (wie Lohnwucher) vorgehe. Allerdings komme
dem Straftatbestand praktisch nahezu keine Bedeutung zu und sei zur strafrechtlichen Sanktionierung von Arbeitsmarktdelikten auch nicht erforderlich. Strafwürdige Handlungen werden auch
von anderen Straftatbeständen wie Lohnwucher
(§ 291 StGB) und Vorenthalten und Veruntreuen
von Arbeitsentgelt (§ 266a) mit einer angemessenen Strafe bedroht, wobei die Situation der betroffenen ArbeitnehmerInnen bei der Strafzumessung
berücksichtigt wird.
Um Anklage wegen MH/A erheben zu können,
muss der konkrete Tatverdacht bestehen, dass
eine Zwangslage oder auslandsspeziische Hillosigkeit ausgenutzt wird. Dabei sei ein Ausländer,
der hier in unzureichenden Arbeitsbedingungen
arbeitet, aber schon eine Weile hier wohnt – sei
es legal oder illegal – und sich relativ gut verständigen kann, nicht mehr in diesem Sinne als
hillos anzusehen. Auch wenn jemand unter Vortäuschung falscher Rahmenbedingungen nach
Deutschland gelockt worden sei, komme es auf
die Umstände im Einzelfall an: Welche Möglichkeiten hat die Person, sich aus der Beschäftigung zu
lösen? Zum Nachweis der Zwangslage oder Hilflosigkeit müsse man ziemlich weit gehende Motivforschung betreiben. Man könne aber nicht in
die Köpfe geschädigter Personen hineinschauen.
Diese müssten auch bereit und in der Lage sein,
sehr umfassend Auskunft zu geben und die ganzen
Umstände zu schildern. Und dann müsse geprüft
werden, ob die Angaben glaubwürdig sind und
zur Realität passen. Im Einzelfall kann fälschlicherweise der Eindruck eines Missverhältnisses zu den
Bedingungen anderer ArbeitnehmerInnen bestehen, weil die gewährte freie Kost und Logis nicht
ausreichend beachtet wurde. Vor Erhebung einer
Anklage müsse sehr genau geprüft werden, da
ein Verfahren wegen Menschenhandel zum Zweck
54
der Arbeitsausbeutung erhebliche Folgen für den
Angezeigten haben kann. Diese Rechtsauffassung
war auch gegenüber dem Berliner Landeskriminalamt verdeutlicht worden, das nach Einführung des
Straftatbestands eine Sonderzuständigkeit eingerichtet hatte und den Straftatbestand breit anwenden wollte. Die Staatsanwaltschaft sei damals
bei der rechtlichen Beurteilung der vorgetragenen
Sachverhalte den Weg der Polizei nicht mitgegangen, den § 233 StGB tatbestandsmäßig häuiger als
erfüllt anzusehen.
Im Gespräch mit dem Beauftragten für Menschenhandel bei der Berliner Staatsanwaltschaft wurden
als Grundprobleme der Strafverfolgung des MH/A
die Komplexität des Straftatbestands und die hohe
Anforderung an die Nachweisbarkeit genannt. Insbesondere der Nachweis der Ausnutzung einer
Zwangslage oder auslandsspeziischen Hillosigkeit sei oftmals nur möglich, wenn die Betroffenen selber Aussagen machen und als Zeugen zur
Verfügung stehen. Dies sei nur in sehr wenigen
Ermittlungsverfahren gegeben. Dabei ergäbe sich
aber das nachfolgende Problem, dass die Zeugenaussagen vor Gericht nicht immer Bestand haben.
Es könne sein, dass Betroffene unzutreffende Aussagen machen, um sich selbst vor Strafverfolgung
zu schützen. Es könne auch vorkommen, dass
ZeugInnen mit ihren Aussagen nicht vollkommen
überzeugend seien. In Verfahren ohne objektive
Beweismittel komme es aber darauf an, dass die
Aussagen der ZeugInnen als „subjektives Beweismittel“ vollkommen überzeugend sind. Wenn auch
nur ein geringer Zweifel besteht, wird das Gericht
für den Angeklagten entscheiden. StrafverteidigerInnen versuchten daher in Menschenhandelsverfahren gezielt, die Glaubwürdigkeit der ZeugInnen
zu erschüttern. Angesichts der hohen Ansprüche
an die Nachweisbarkeit und der Komplexität des
Straftatbestands sei es aus prozessökonomischen
Erwägungen daher geboten, in diesen Fällen
Straftatbestände wie Schleusung (§ 96 AufenthG),
Lohnwucher (§ 291 StGB) oder Vorenthalten und
Veruntreuen von Arbeitsentgelt (§ 266a StGB) anzuklagen, die mit höherer Wahrscheinlichkeit zu
einer Verurteilung führen.
Die behördlichen Informationen verdeutlichen die
Schwierigkeiten, den § 233 StGB zur Anwendung
zu bringen. Es ist bemerkenswert, dass die Berliner
Kriminalpolizei zeitnah zur Einführung des Straftatbestands Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung ein spezialisiertes Kommissariat
einrichtete und beim Vorliegen von Anhaltspunk-
55
ten ein Ermittlungsverfahren wegen § 233 StGB
anstrebte. Von der Staatsanwaltschaft wurde diese
Linie jedoch nicht mitgetragen, sondern eine Fokussierung auf andere, weniger aufwändig nachzuweisende Straftatbestände im Zusammenhang
mit illegaler Beschäftigung beibehalten. Auch die
Senatsverwaltung für Arbeit und die für Arbeitsmarktkontrollen primär zuständige Finanzkontrolle
Schwarzarbeit konzentrierten sich auf die Bekämpfung illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit.
Wenn sich dabei Hinweise auf die Straftatbestände MH/A und Lohnwucher ergäben, würden diese
vorrangig verfolgt. Sowohl von den Mitarbeiterinnen der Polizei als auch der FKS wurde eine Bereitschaft erklärt, bei Vorliegen von Anhaltspunkten Ermittlungen wegen MH/A einzuleiten und mit
Opferschutzorganisationen zusammen zu arbeiten.
In der Praxis lässt sich aber auch bei Vorliegen von
Anhaltspunkten kein hinreichender Anfangstatverdacht begründen, weil die dafür erforderlichen
Aussagen geschädigter ArbeitnehmerInnen nicht
gewonnen werden können. Betont wurde die Erfahrung, dass Betroffene in ungünstigere Beschäftigungs- und Lohnverhältnisse eingewilligt hätten.
Insgesamt bestand bei den Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden eine große Skepsis, ob es
überhaupt in nennenswertem Umfang Fälle gibt, in
denen die Entscheidungsfreiheit, über die eigene
Arbeitskraft zu verfügen, durch Ausnutzung einer
Zwangslage oder auslandsspeziischen Hillosigkeit verletzt würde. Weiterhin wurde unter Hinweis
auf die besonderen Anforderungen, die mit der
Nachweisführung von MH/A und Lohnwucher verbunden sind, auf die arbeitsökonomisch gebotene
Anwendung weniger anspruchvoller Straftatbestände hingewiesen, durch die eine angemessene
Strafzumessung erreicht wird. Somit lässt sich festhalten, dass die Ergebnisse der Ermittlungs- und
Strafverfolgungsbehörden vor allem die Orientie-
rung der Behörden auf Anwendung effektiver zu
handhabender Straftatbestände dokumentieren,
aber keine Rückschlüsse auf Ausmaß und Erscheinungsformen ausbeuterischer Beschäftigung in
Berlin und Brandenburg zulassen.
Die hier dargestellten Erkenntnisse der Strafverfolgungs- und Kontrollbehörden bieten der zuständigen Senatsverwaltung für Arbeit bisher
keine hinreichende Begründung, das Thema MH/A
schwerpunktmäßig aufzugreifen. Im Wirtschaftsund Arbeitsmarktbericht28 des Berliner Senats
(2009) wird ausschließlich über die ergriffenen
Maßnahmen und Ergebnisse der Bekämpfung illegaler Beschäftigung berichtet. In der Darstellung
der operativen Maßnahmen zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung wird auf Menschenhandel zur
Arbeitsausbeutung nicht eingegangen29 und ggf.
mögliche Schutzmaßnahmen werden nicht erwähnt
(Senatsverwaltung für Wirtschaft Technologie und
Frauen & Senatsverwaltung für Integration Arbeit
und Soziales 2009). In der aktuellen Ausgabe30 des
Wirtschafts- und Arbeitsmarktbericht (Senatsverwaltung für Wirtschaft Technologie und Frauen &
Senatsverwaltung für Integration Arbeit und Soziales 2010) wird im Kapitel über Informationen zur
Bekämpfung illegaler Beschäftigung auch auf den
Start des “Berliner Bündnisses gegen Menschenhandel zwecks Arbeitsausbeutung“ (BBGM) im
Sommer 2009 hingewiesen.
Nicht eingegangen wird in diesem Zusammenhang
auf die bereits bestehenden Erfahrungen und Initiativen, die bei Berliner Behörden im Bereich der
Maßnahmen zur Bekämpfung des Menschenhandels zur sexuellen Ausbeutung und zum Schutz
der Opfer von sexueller Ausbeutung bestehen.
Hier werden bereits eine Reihe von Maßnahmen
durchgeführt und inanziert,31 die inzwischen auch
28 http://www.berlin.de/imperia/md/content/sen-wirtschaft/publikationen/berichte/wab2009.pfd?start&ts=1279279682&ile=w
ab2009.pdf : zuletzt besucht am 30.08.2010
29 Der Begriff Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung wird nur einmal in einer Graik ohne weitere Erläuterung verwendet.
30 http://www.berlin.de/imperia/md/content/sen-wirtschaft/publikationen/berichte/wab2010.pfd?start&ts=1279279682&ile=w
ab2009.pdf : zuletzt besucht am 30.08.2010
31 http://www.berlin.de/sen/frauen/gewalt/frauenhandel.html : zuletzt besucht am 30.08.2010
56
Opfer von Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung ansatzweise einbeziehen, sich
dabei aber vor allem an Migrantinnen richten, die
Opfer von Arbeitsausbeutung werden. Nach den
Erfahrungen mit einem Verdachtsfall wurden Absprachen zwischen Behörden und Fachberatungsstellen für Opfer von Menschenhandel getroffen,
dass die Polizei bei Verdacht auf MH/A die zuständigen Stellen der Sozialbehörden und die gewerkschaftliche Beratungsstelle informieren, die
für das Opfer von MH/A eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4a AufenthG sowie Sozialleistungen beantragen. Es gibt bisher für den Bereich
MH/A keine Gesamtstrategie, die dem Vorgehen
im Bereich MH/S entsprechen würde (Follmar-Otto
& Rabe 2009: 61).
Tatsächlich präferiert die Senatsverwaltung für
Arbeit einen breiteren Ansatz, der nicht auf extreme
Ausbeutung beschränkt bleibt, sondern prekäre
und ungünstigere Beschäftigungsverhältnisse in
allen Erscheinungsformen erfasst. Die Senatsverwaltung für Arbeit vertritt unter Hinweis auf die
bisher vorliegenden Erkenntnisse von Strafverfolgungsbehörden und zivilgesellschaftlicher Stellen
die Position, dass Ausbeutungsverhältnisse, die
sich u. U. unter § 233 StGB subsumieren lassen, für
Berlin im größeren Umfang nicht feststellbar sind.
Die Tatbestände des Menschenhandels zum Zweck
der Arbeitsausbeutung werden als eine (extreme)
Form prekärer Beschäftigungsverhältnissen angesehen, durch die geltende Standards verletzt
und eine Abwärtsspirale des Lohndumpings in
Gang gehalten wird, die zu einer nicht akzeptablen Erosion und Abwärtsspirale der allgemeinen
sozialen Standards in der Beschäftigung insgesamt
führt. Um einer solchen Dynamik des Lohndumpings entgegenzuwirken, setze die Senatsverwaltung für Arbeit auf Aufklärung über geltende
Rechte und Ansprüche für Beschäftigte.
Im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit kläre die
Berliner Senatsverwaltung auf ihrer Website auch
über den Tatbestand MH/A auf,32 habe darüber
hinaus aber noch keine gezielten Aktivitäten durch-
geführt. Arbeitsverhältnisse, die den Tatbestand
MH/A erfüllen, seien aber in den Aktivitäten zur
Förderung fairer Arbeitsbedingungen mit einbezogen. Auf ihren Websites bietet die Senatsverwaltung ausführliche Informationen für Beschäftigten
an, die auch für die Identiizierung und Selbstidentiizierung möglicher Opfern von Menschenhandel
zum Zweck der Arbeitsausbeutung grundlegend
sind. Die angebotenen Informationen über gesetzliche Mindestbedingungen bei der Beschäftigung
(Arbeitsschutz, Urlaubsanspruch, Arbeitszeitbestimmungen etc.) und bestehende Mindestlohnregelungen, die tatsächlich die Voraussetzung
zur Feststellung ein auffälligen Missverhältnisses
bilden, werden als elementarer Beitrag zur Bekämpfung auch des MH/A betrachtet. Betont wird
die Möglichkeit, Verdachtsfälle auf elektronischem
Wege auch anonym melden zu können.
Inzwischen wird aber auch erkannt, dass ein ‚Anbieten’ von Informationen über Rechte und Ansprüche von Beschäftigten durch eine Website allein
nicht Ziel führend ist. Die angebotenen Informationen sind für Laien nicht leicht nachvollziehbar.
Daher werden aktuell Konzepte zur Initiierung und
Aktivierung von Netzwerken angedacht, die eine
alltagsnahe Verbreitung und Vermittlung der Information über bestehende Rechte und die Möglichkeiten der Durchsetzung ermöglichen. Mit der Initiierung von alltagsnahen und niedrigschwelligen
Informations- und Beratungsangeboten würden
auch potentielle Opfer von Menschenhandel in die
Unterstützung einbezogen.
Die Senatsverwaltung für Arbeit erkennt die Notwendigkeit, Beratung und Unterstützung auch für
ausländische WanderarbeitnehmerInnen zu gewährleisten und in eine - auch im Zusammenhang
mit der Umsetzung der Arbeitgebersanktionenrichtlinie zwingend weiter zu entwickelnde - systematische Gesamtstrategie einzubauen.33
Insgesamt präferiert die Senatsverwaltung einen
breiteren Ansatz, der auf Information aller von Ar-
32 http://www.berlin.de/sen/arbeit/schwarzarbeit/menschenhandel/index.html : zuletzt besucht am 30.08.2010
33 In Zusammenhang mit der Umsetzung der Arbeitgebersanktionenrichtlinie werden die Mitgliedsstaaten verplichtet, für
unangemeldet beschäftigte Arbeitnehmer aus Drittstaaten Informationen und Rechtsschutz zu gewährleisten.
57
beitsausbeutung betroffenen Beschäftigten abzielt
und auf Einbeziehung intermediärer Akteure im
Arbeitsmarkt und in der Beratung setzt. Dabei wird
das bestehende Spannungsfeld zwischen der Unterstützung der Opfer von Ausbeutung und der
Strafandrohung für Personen, die unangemeldet
beschäftigt werden oder sich ohne erforderliche Erlaubnisse in Deutschland aufhalten, als Herausforderung für die Konzeptentwicklung gesehen. Die
Ausrichtung des Runden Tisches zur Bekämpfung
des Menschenhandels zum Zweck der Arbeitsausbeutung wird als eine Möglichkeit erachtet, eine
Strategie der Stärkung von Rechtssicherheit und
Konliktfähigkeit aller Beschäftigten zu entwickeln
und breiter zu verankern. Ausdrücklich erwünscht
seien innovative Vorschläge für die Umsetzung
breiter gefasster Ansätze zur Verhütung prekärer
und ausbeuterischer Beschäftigung.
Die im folgenden Abschnitt dargestellten Erfahrungen mit den seit den 1990er Jahren in Berlin
durchgeführten Initiativen zur Stärkung der Rechtssicherheit und Konliktfähigkeit von zugewanderten ArbeitnehmerInnen sowie weitere bestehende
Vorschläge zur Optimierung eines unterstützenden
Ansatzes (z.B. Vogel 2006) bieten für die Konzeptentwicklung Anregungen und Orientierungen.
34 Vgl. dazu Bundestagsdrucksache 17/2282 vom 24.06.2010
4.4
Informationen aus
der Beratungsarbeit
Im vorhergehenden Kapitel wurde deutlich, dass
bisher Maßnahmen zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung und Verfolgung unangemeldet Beschäftigter wegen Schwarzarbeit oder Beitragshinterziehung im Vordergrund standen. Mit der
Einführung von Mindestentgeltbestimmungen
wird für die betreffenden Branchen inzwischen auch
routinemäßig die Einhaltung der Mindestlohnzahlung überprüft. Unregelmäßigkeiten werden im
Fall der Aufdeckung als Verstoß der Arbeitgeber
gegen das Arbeitnehmer-Entsendegesetz geahndet.34 Auch mit dieser Erweiterung des Kontrollauftrages legen die Ermittlungsbehörden den
Schwerpunkt der Arbeitsmarktkontrollen auf Verfolgung illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit,
wobei ArbeitgeberInnen als HaupttäterInnen und
Beschäftigte als MittäterInnen behandelt werden.
Die von uns befragten BeraterInnen stellen dagegen
die Situation der Beschäftigten in den Mittelpunkt
und thematisieren ihre Benachteiligung und Ausbeutung. Aufgrund ihrer Vertrauensstellung erhielten sie Informationen von Betroffenen, die
den Kontroll- und Strafverfolgungsbehörden nicht
mitgeteilt werden. Zur Beschreibung der Situation
ausbeuterischer Beschäftigung sind die Einsichten
und Erkenntnisse aus den Beratungseinrichtungen
daher eine wichtige Quelle, um die Erfahrungen
der Beschäftigten – die von den Behörden nur in
einem geringen Umfang oder nur als Vermutung
ermittelt werden – angemessen berücksichtigen zu
können.
58
4.4.1
Hintergrund der
Beratungsstellenangebote
Die Erkenntnisse der Behörden bieten vielfache
Hinweise, dass ausländische Beschäftigte in Berlin
und Brandenburg aktuell und in der Vergangenheit zu ungünstigeren Bedingungen eingesetzt
werden. Im gesellschaftlichen Umgang mit diesen
unerwünschten Verhältnissen wurden in Berlin
nicht nur repressive Ansätze der Kontrolle und
Strafverfolgung umgesetzt, sondern von verschiedenen Akteuren seit den frühen 1990er Jahren
unterstützende Ansätze zur Stärkung der Rechtssicherheit und Konliktfähigkeit von unangemeldet oder ungünstiger Beschäftigten entwickelt.
Angestrebt war die Verringerung der Verletzlichkeit und die Verhinderung einer Dynamik der Ersetzung abgesicherter durch ungeschützter und
prekärer Beschäftigung. Dabei haben neben den
Gewerkschaften auch einige informelle Initiativen
konkrete Angebote entwickelt und umgesetzt. So
hatte die IG BAU in den 1990er Jahren Initiativen
zur Ansprache ausländischer Wanderarbeiter auf
Großbaustellen und in der Landwirtschaft durchgeführt. Seit 2004 bietet auch der von der IG BAU
initiierte ‚Europäische Verband der Wanderarbeiter’ Unterstützung an.35 Auch die in Berlin ansässige DGB-Beratungsstelle bietet Informationen und
Unterstützung für ausländische ArbeitnehmerInnen.36 Diese gewerkschaftlichen Angebote richten
sich vor allem an ausländische ArbeitnehmerInnen,
die in Deutschland leben oder hier vorübergehend
ofiziell beschäftigt sind. Diese gewerkschaftlichen
Angebote arbeiten teilweise sehr eng mit Kontroll-
behörden bei der Bekämpfung illegaler Beschäftigung zusammen. Einige ‚kritische‘ GewerkschafterInnen und NGOs, die diese Zusammenarbeit
scharf kritisieren, haben alternative Beratungs- und
Unterstützungsangebote für WanderarbeiterInnen
entwickelt. So besteht unter dem Dach des Berliner Landesverbandes der Gewerkschaft ver.di seit
2009 ein Beratungsangebot für „Papierlose“. Nach
dem Vorbild der in Hamburg von ver.di aufgebauten gewerkschaftlichen Beratungsstelle MigrAr37
wird undokumentiert Beschäftigten Beratung und
Unterstützung angeboten, wobei in Berlin allerdings nur an zwei Terminen im Monat Beratungszeiten angeboten werden.38 Diese Beratungsstelle
knüpft ausdrücklich an die Erfahrungen früherer
in Berlin durchgeführter Unterstützungsangebote
wie ZAPO, RESPECT oder ELIXIR-A an. Ein frühes
Angebot, das ausdrücklich Unterstützung für
WanderarbeiterInnen ohne Aufenthaltsstatus einschloss, war das von 1996-2001 bestehende Projekt
ZAPO, eine vom polnischen Sozialrat e.V. getragene und der Berliner Senatsverwaltung für Soziales
unterstützte Maßnahme, die prekär beschäftigten
ArbeitnehmerInnen aus Mittel- und Osteuropa
über arbeitsrechtliche Ansprüche informierte und
Unterstützung bei der Durchsetzung anbot.39 Bei
der ebenfalls nicht mehr aktiven Initiative ELIXIRA40 handelte es sich um ein informelles Netzwerk,
das in Zusammenarbeit mit einer Selbstorganisation von AsylbewerberInnen, der Brandenburger
Flüchtlingsinitiative, Aktionen und Demonstrationen zu Gunsten von Flüchtlingen organisierte, um
die Auszahlung vorenthaltener Löhne für unangemeldete Beschäftigung durchzusetzen. Das informelle Netzwerk RESPECT41 setzt sich auch durch
35 http://www.emwu.org/ : zuletzt besucht am 30.08.2010
36 http://www.berlin-brandenburg.dgb.de/article/archive/97/ : zuletzt besucht am 30.08.2010
37 http://www.besondere-dienste.hamburg.verdi.de/themen/migrar/themen/anlaufstelle2 :
zuletzt besucht am 30.08.2010
38 http://www.besondere-dienste.bb.verdi.de/lbzfg_sonstige_dienstleistungen/verdi_ak_undokumentietre_arbeit/verdi_ak_undokumentierte_arbeit : zuletzt besucht am 30.08.2010
39 http://www.labournet.de/diskussion/wipo/migration/zapo.html : zuletzt besucht am 30.08.2010
40 http://www.issuu.com/bar_m/docs/lohnraub : zuletzt besucht am 30.08.2010
41 http://www.respect-netz.de/pages/frame.htm : zuletzt besucht am 30.08.2010
59
praktische Unterstützung dafür ein, dass informell
Beschäftigte den Lohn für die geleistete Arbeit erhalten.
Besonders hervorzuheben ist die Arbeit der Fachberatungsstelle Ban Ying, die durch Öffentlichkeitsarbeit, advokatorische Aktivitäten und konkrete
Unterstützungsangebote auch Opfern von Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung
beisteht. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Frauen,
die im Gaststättenbereich, in Privathaushalten oder
bei Botschaftsangehörigen von Arbeitsausbeutung
betroffen sind. Ban Ying hat die Behörden sehr früh
auf das Problem hingewiesen und unter dem Titel
„Moderne Sklaverei“ eine Website mit Informationen zum Menschenhandel gestaltet.42
Schließlich ist in diesem Zusammenhang auch auf
das Projekt „Zwangsarbeit“ des Deutschen Instituts für Menschenrechte hinzuweisen, das Impulse
setzen will, um die Verfolgung arbeitsrechtlicher
Schritte zu ermöglichen und zu etablieren.43
Weiterhin sind in Einzelfällen auch MitarbeiterIn-
nen der Beratungsangebote der Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Selbstorganisationen in Berlin
und Brandenburg im Rahmen ihrer Tätigkeit in
Kontakt mit ausbeuterisch beschäftigten MigrantInnen und bieten – oft ohne ein ausdrückliches
Mandat – Rat und Unterstützung an.
Der Überblick über Aktivitäten und Angebote von
Nichtregierungsorganisationen zeigt, dass Initiativen zur Unterstützung von WanderarbeiterInnen
bereits seit Mitte der 1990er von verschiedenen
Akteuren angeboten werden. In solchen niedrigschwelligen, an den Bedürfnissen der Rat- und
Hilfesuchenden orientierten Angebote können BeraterInnen oft das Vertrauen der Ratsuchenden gewinnen und Einblick in die Beschäftigungssituation
erhalten. Im Folgenden sollen die in Expertenbefragungen erhobenen Erfahrungen dieser Stellen
vorgestellt werden.
42 http://www.ban-ying.de/modernesklaverei/ : zuletzt besucht am 30.08.2010
42 http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/de/projekt-zwangsarbeit-heute.html : zuletzt besucht am 30.08.2010
60
4.4.2
Fallsammlung nach Branchen
Die von den Mitarbeiterinnen gewerkschaftlicher
und sozialpädagogischer Beratungsstellen im
Rahmen ihrer Tätigkeit erhobenen Beispiele extremer Arbeitsausbeutung von MigrantInnen werden
in diesem Kapitel vorgestellt und ausgewertet. Da
die Untersuchung einen Schwerpunkt auf branchenspeziische Erscheinungsformen extremer
Arbeitsausbeutung und MH/A legt, sollen für ausgewählte Branchen zunächst besonders markante
Fallschilderungen zusammenfassend dargestellt
werden.
Die Darstellung verwendet auschließlich Informationen aus Interviews mit BeraterInnen von
Wohlfahrtsverbänden und gewerkschaftlichen Anlaufstellen in Berlin und Brandenburg, die diese
im Rahmen ihrer Unterstützungsarbeit von den
Betroffenen erhalten haben. Es kann dabei nicht
ausgeschlossen werden, dass Informationen unvollständig sind, nicht immer nachweisbar und
manchmal auch einseitig und nicht zutreffend sein
können (aus Unwissenheit oder falscher Einschätzung), was hingenommen werden muss, weil es in
einem sensiblen und wenig erforschten Feld wie
diesem keine Alternative dazu gibt, so dass diese
Methode auch in anderen Studien angewandt
wurde (Cyrus 2006, Dettmeijer-Vermeulen 2007).
44 Bei den Zitaten in der Fallschilderung handelt es sich um
Aussacgen der ExpertInnen, die den Fall geschildert haben.
Babysitting,
Babysitting,
Gaststätten, Prostitution
Gaststätten, Prostitution
Bei Frau B. handelt es sich um eine junge Frau
Bei
B. osteuropäischen
handelt es sich um
eine junge Frau
ausFrau
einem
EU-Mitgliedsstaat.
aus
osteuropäischen
EU-Mitgliedsstaat.
Sie einem
ist Angehörige
einer türkischsprachigen
Sie
ist Angehörige
einer
türkischsprachigen
Minderheit
und wurde
in ihrer
Heimat angeMinderheit
und
wurde
in
ihrer
angeworben mit dem Versprechen, inHeimat
Deutschland
worben
mit
dem
Versprechen,
in
Deutschland
heiraten zu können. Tatsächlich kam sie dann
heiraten
zu können.
Tatsächlich
kamund
sie lebte
dann
im Frühjahr
2009 nach
Deutschland
im
Frühjahr
2009etwa
nach drei
Deutschland
hier
insgesamt
Monate und
lang lebte
mit
hier
insgesamt
etwa
drei
Monate
lang
mit
einem Mann zusammen: „Sie wohnt mit ihm,
einem
Mann
zusammen:
„Sie
wohnt
mit
ihm,
sie sorgt für ihn, mit allem was dazu gehört
sie
sorgt fürkochen,
ihn, mitBett.“44
allem was
dazu
gehört
– putzen,
Nach
kurzer
Zeit–
putzen,
kurzer
Zeit muss
muss siekochen,
auch inBett.“44
einem Nach
kleinen
türkischen
Resie
auch
in
einem
kleinen
türkischen
Restaurant
staurant arbeiten, das Freunden des Mannes
arbeiten,
daskassiert
Freunden
Mannes
gehört.
gehört. „Er
das des
Geld,
sie bekommt
„Er
kassiert
das Geld,
sie bekommt
nichts.“
nichts.“
Zwischen
ihrer Ankunft
in Berlin
und
Zwischen
ihrer
Ankunft
in
Berlin
und
ihrer
ihrer Vermittlung in die genannten Stellen
Vermittlung
in eine
die genannten
Stellen
lagvernur
lag nur knapp
Woche. Wenig
später
knapp
eine
Woche.
Wenig
später
vermittelt
er
mittelt er ihr Jobs als Babysitterin, auch dafür
ihr
Jobssiealskeinen
Babysitterin,
auch
erhält sie
erhält
Lohn. Erst
alsdafür
er gewalttätig
keinen
Lohn.
er gewalttätig
wird, will,
und
wird, und
sieErst
zuralsProstitution
zwingen
sie
zursie.
Prostitution
zwingen
lieht sie.
Frau
lieht
Frau B. wandte
sichwill,
zunächst
an eine
B.Beratungsstelle.
wandte sich zunächst
an
eine
BeratungsstelDann entschied sie sich dafür,
le.
entschied
sie sich dafür,
versuchte
dieDann
versuchte
Vermittlung
in diedie
Prostitution
Vermittlung
Prostitution
zur Anzeige
zu
zur Anzeige in
zu die
bringen,
und machte
dazu eine
bringen,
und machte
eineDie
erste
Aussage
erste Aussage
bei derdazu
Polizei.
Arbeitsausbei
der
Polizei.
Die
Arbeitsausbeutung
warzuim
beutung war im Rahmen dieser Anzeige
Rahmen
dieser
nur vorrangig
am Rande
nächst nur
amAnzeige
Rande zunächst
das Thema,
das
ging sie
es um
Versuch,
gingThema,
es umvorrangig
den Versuch,
zur den
Prostitution
sie
Prostitution zu zwingen.
zu zur
zwingen.
Die
Beraterin
nicht ausschließen,
ausschließen, dass
dass
Die Beraterin will
will aber
aber nicht
sie
hätte entscheiden
entscheiden können,
können,
sie sich
sich auch
auch dazu
dazu hätte
die
„Das
hathat
sie
dieArbeitsausbeutung
Arbeitsausbeutunganzuzeigen:
anzuzeigen:
„Das
erstmal
in denin‚Beziehungszusammenhang‘
gesie erstmal
den ‚Beziehungszusammenbracht.
Das
ist
natürlich
sehr
schwierig,
da
muss
hang‘ gebracht. Das ist natürlich sehr schwieman
mitmuss
den Leuten
länger
Die Berarig, da
man mit
denarbeiten.“
Leuten länger
arterin
hatte
sich
zunächst
sehr
gefreut,
dass
die
beiten.“ Die Beraterin hatte sich zunächst sehr
Frau
sich für
eine
entschieden
Zum
gefreut,
dass
dieAnzeige
Frau sich
für eine hat.
Anzeige
nächsten
Termin,
den
sie
bei
der
Polizei
hatten,
entschieden hat. Zum nächsten Termin, den
erschien
Frau
B. aber
nichterschien
mehr. Aktuell
hat
die
sie bei der
Polizei
hatten,
Frau B.
aber
Beraterin
keinen
Kontakt
zu ihr.
Sie nimmt
an,
nicht mehr.
Aktuell
hat die
Beraterin
keinen
dass
FrauzuB.ihr.
verschwunden
ist,dass
weilFrau
sie „wahnKontakt
Sie nimmt an,
B. versinnigen
Druck
hat,
Geld
zu
verdienen.
Sie
hat
schwunden ist, weil sie „wahnsinnigen Druck
zu
Hause
Kinder.“ Sie hat zu Hause drei
hat,
Gelddrei
zu verdienen.
Kinder.“
61
Plege im Privathaushalt
Frau K. war nach Berlin gekommen, um dort
eine bettlägerige Frau zu plegen. In ihrem
Heimatland bekommt man für etwa 1.000 €
einen Pass und die Fahrt nach Deutschland mit
einem LKW oder PKW. Die von uns interviewte Expertin kommentiert: „Dann lohnt es sich
hierher zu kommen, und die haben schon ein
Netzwerk glaube ich, wo sie eingestellt werden,
in Familien, wo sich sie sich um alte Frauen
kümmern. (...) (Die Frauen) wohnen oft in dieser
Familie und die Arbeit ist rund um die Uhr, Wochenende inklusive.“ Frau K. war bereits zum
zweiten Mal in Deutschland, beim ersten Mal
war sie nach vier Jahren verhaftet und abgeschoben worden. Da sie in ihrer Heimat weder
eine Arbeit fand, noch einen Anspruch auf eine
Rente hat, kam sie dennoch zurück, um keine
„Last für ihre Töchter“ zu sein. Auch dieses Mal
lebte und arbeitete sie insgesamt rund vier
Jahre lang in Berlin. Frau K. hatte geplant, noch
einige Jahre hier zu bleiben und ein wenig Geld
zu sparen, dann wollte sie wieder in ihre Heimat
gehen.
„400 € pro Monat hat sie bekommen. Und sie
war am Wochenende und Tag und Nacht immer
bei dieser alten Frau.“ Frau K. sprach die gleiche
Sprache wie die Frau, die sie plegte. Da diese
bettlägerig war, musste Frau K. das Haus regelmäßig verlassen, um Erledigungen zu machen,
immer „mit Angst, weil sie keine Papiere hatte,
sie war illegal hier.“ Tatsächlich wurde sie 2008
bei einer solchen Gelegenheit von der Polizei
in Berlin nach ihren Papieren gefragt und verhaftet. In der Abschiebehaft erzählte sie der
Seelsorgerin, sie habe in ihrem Heimatland
Kinder und Enkelkinder. „Und das Sozialsystem
ist dort natürlich sehr schwach.“ So habe sich
Frau K. zwar darüber „beschwert, dass sie so
wenig verdient hatte“, dies sei aber immer noch
besser „als (in der Heimat) nichts zu tun.“ Laut
der Seelsorgerin ist dieser Fall insofern typisch,
als dass sie in der Abschiebehaft regelmäßig
Frauen trifft, die in der Vergangenheit bereits
einmal oder mehrmals abgeschoben wurden
und dann nach Deutschland zurückkehrten. Die
Seelsorgerin vermutet, dass Frau K. ebenfalls
über die genannten Netzwerke nach Deutschland gekommen ist, erklärt dazu aber: „Sie hat
natürlich zu viel Angst, darüber zu reden und ich
frage auch nicht so gerne nach, obwohl es mich
natürlich interessiert, sie fühlt sich schon so benachteiligt, wenn man nicht nachfragt. Dann ist
es noch schlimmer.“ Frau K. wurde nach kurzem
Aufenthalt in der Haft abgeschoben.
62
Gaststättengewerbe
Äthiopische Spezialitätenköchin:
Frau D. hatte als Köchin in Addis Abeba in
einem Restaurant gearbeitet, das dem Bruder
ihres späteren Arbeitgebers gehörte. Bei
einem Besuch dort hatte dieser ihr eine gut
bezahlte Arbeit in Berlin in Aussicht gestellt.
Frau D. reiste 2004 legal als äthiopische Spezialitätenköchin ein. Als sie ihr Arbeitsverhältnis aufnahm, eröffnete man ihr, sie müsse ein
Jahr lang kostenlos arbeiten, um ihre Einreisekosten abzuarbeiten, danach würde sie Geld
verdienen. Sie arbeitete bis zu 19 Stunden
am Tag an sieben Tagen die Woche. Nach
einem Jahr wurde sie krank und musste ins
Krankenhaus. Dass sie krankenversichert war,
wusste sie nicht. Nach ihrer Entlassung teilte
der Arbeitgeber ihr mit, sie müsse die Krankenhausrechnung abarbeiten. „Und das war
der Punkt, als sie gemerkt hat, sie wird hier nie
schuldenfrei.“ Mit der Hilfe eines Stammgastes gelang ihr schließlich die Flucht. Insgesamt
hatte sie 1,5 Jahre in dem Restaurant gearbeitet und dafür insgesamt knapp 500 € Lohn
erhalten. Eine Vertreterin der Fachkommission
Frauenhandel, die angesprochen worden war,
kontaktierte darauf hin eine Fachberatungsstelle und teilte ihren Verdacht mit, bei Frau
D. handele es sich um ein Opfer von Men-
schenhandel. Nach einem Gespräch mit einer
Anwältin wurde die Polizei eingeschaltet, die
mit der Fachberatungsstelle einen Kooperationsvertrag vereinbart hat. Obgleich der Kooperationsvertrag zu diesem Zeitpunkt nur für
sexuelle Ausbeutung galt, habe „niemand hat
angezweifelt, dass es eins zu eins umgesetzt
wird.“ Auch das Landesamt für Gesundheit
und Soziales kooperierte. Für Frau D. wurde
in kürzester Zeit ein Platz in einer Zuluchtswohnung organisiert. In diesem Fall gab es
insgesamt zwei Verfahren. Im Rahmen eines
ersten arbeitsgerichtlichen Verfahrens, wurde
ihr eine höhere Summe Geld zugesprochen.
Der genaue Betrag soll nicht veröffentlicht
werden. Darüber hinaus musste der ehemalige Arbeitgeber Geld für die Sozialversicherung nachzahlen.
Wegen ihres Rufes in der Community, war es
Frau D. aber „sehr, sehr wichtig“, dass der Täter
auch wegen Menschenhandels angeklagt
wird. Im Rahmen eines Strafbefehls wegen
Menschenhandels zum Zwecke der Arbeitsausbeutung nach § 233 StGB wurde er schließlich zu sechs Monaten Haft für drei Jahre auf
Bewährung verurteilt. Die befragte Expertin.
erläutert, am Fall von Frau D. könne man exemplarisch zeigen, dass „die Berliner Strukturen wirklich funktionieren.“
63
Gaststättengewerbe
Chinesische Spezialitätenköche:
Herr H. wurde in China als Spezialitätenkoch für
ein Restaurant in Deutschland angeworben. Für
Spezialitätenköche gelten gesonderte Einreiseabkommen. Dabei indet die Anwerbung und
das Auswahlverfahren auf chinesischer Seite
durch die China International Contractors Association (CHINCA) statt, auf deutscher Seite ist
die Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV /
ZIHOGA) zuständig. Vor der Einreise hatte Herr
H. eine Vermittlungsgebühr in bar an den Vermittler in China gezahlt, für deren Höhe je nach
Vereinbarung 7.000 bis 10.000 € angenommen
werden kann.
Die Ausländerbehörde stimmt den Visa-Anträgen nur zu, wenn die Verträge einen angemessenen Lohn festlegen. Laut Arbeitsvertrag
standen Herrn H. monatlich 1.433,00 € brutto
inklusive einer angemessenen Unterkunft und
Verplegung zu. Weiterhin wurde eine Probezeit
von sechs Monaten festgelegt. Herr H. reiste
Anfang 2007 nach Deutschland ein und nahm
sein Arbeitsverhältnis am darauf folgenden Tag
auf. Der Arbeitgeber meldete ihn jedoch erst
drei Monate später an.
Im Restaurant arbeitete Herr H. durchgehend,
an sieben Tagen in der Woche von 10.30 Uhr
bis 23 Uhr. Um 15 Uhr und um 22 Uhr durfte er
zwar eine Kleinigkeit essen, musste auf Zuruf
aber arbeiten. Sobald Herr H. eine richtige Pause
haben wollte, wurde er vom Arbeitgeber ärgerlich zurecht gewiesen. Mitte 2007 wurde Herr H.
krank. Er litt tagelang unter starken Schmerzen
im linken Unterbauch und wurde schließlich in
ein Krankenhaus eingewiesen. Der Arbeitgeber holte ihn gegen seinen Willen wieder aus
dem Krankenhaus heraus und forderte von den
Ärzten außerdem die Herausgabe des Entlassungsberichts. Dieser wurde ihm ausgehändigt.
Herr H. erfuhr trotz Nachfrage nichts von seiner
Diagnose. Der Arbeitgeber erklärte ihm, er sei
gesund und habe nichts. Überprüfen konnte
Herr H. diese Aussage nicht, da er selbst nur
Chinesisch spricht. Der Arbeitgeber brachte ihn
zurück in das Restaurant. Dort musste er weiter
arbeiten. Die Schmerzen verschlimmerten sich,
was Herr H. seinem Chef mitteilte. Dieser kündigte ihm daraufhin fristlos und teilte ihm mit,
er solle sofort mit sämtlichen Sachen das Restaurant verlassen und nicht wieder zur Arbeit
erscheinen.
Herr H. wandte sich daraufhin an Anwalt B.
Dieser reichte lediglich eine Kündigungsschutzklage und verständigte sich mit dem
Arbeitgeber darauf, dass das Arbeitsverhältnis noch einige Tage länger dauert, verzichtete aber darauf, Lohnforderungen zu stellen.
Laut gerichtlichem Vergleich, den Anwalt B.
vereinbart hatte, endete das Arbeitsverhältnis
zwischen Herrn H. und seinem Arbeitgeber
außerordentlich aufgrund betriebsbedingter
Kündigung. Herr H. mandatierte einige Monate
später Anwalt W., mit dem wir dieses Interview
durchführten. Da der Lohnverzicht im ersten
Verfahren nicht wirksam erklärt worden war,
konnte Anwalt W. in einem zweiten Verfahren
den gesamten ausstehenden Lohn einklagen.
Die Lohnabrechnungen von Herrn H. dokumentieren, dass lediglich für die ersten drei Monate,
also der Dauer des Visumsverfahrens, der vereinbarte Lohn in Höhe von 1.433,00 € brutto
abgerechnet wurde. Dieser Betrag wurde Herrn
H. jedoch nicht in voller Höhe ausgezahlt. Alle
nachfolgenden Abrechnungen weisen deutlich
niedrigere Beträge auf. So weist eine Lohnabrechnung von Herrn H. einen Nettoverdienst
rund 550 Euro auf, von der Abzüge für Kost und
Unterkunft gemacht wurden, so dass ihm nur
etwas mehr als 300 Euro ausgezahlt wurden. Im
den letzten beiden Beschäftigungsmonaten erfolgte überhaupt keine Zahlung.
Die Forderungen, die Anwalt W. im Rahmen der
Zahlungsklage geltend macht, ergeben sich in
diesem Fall aus dem vertraglich vereinbarten
Lohn. Da Herr H. durch die zunächst erfolgte
Mandatierung des Anwalts B. bereits inanzielle
Verluste erleiden musste, verzichtete man auf
eine Klage zur Zahlung des Lohns für die geleisteten Überstunden, um zeitliche Verzögerungen und zusätzliche Kosten zu vermeiden.
Herr H. hatte nach seinem Ausscheiden aus dem
Betrieb einen neuen Arbeitsplatz in Deutschland gefunden. Die Klage ist noch anhängig.
64
Gaststättengewerbe
Griechisches Lokal:
Herr F. wurde über eine Zeitungsannonce in
Griechenland angeworben. Er kam zusammen
mit seiner Frau nach Deutschland. Gemeinsam arbeiteten sie in einer griechischen Gaststätte im Raum Brandenburg als Küchen- und
Putzhilfen. Der Arbeitgeber hatte ihnen eine
Unterkunft zur Verfügung gestellt. Für dieses
Ein-Zimmer-Appartement im Haus des Arbeitgebers zahlten sie 200 €. Die Qualität der Unterkunft war nicht sonderlich gut, aber angesichts
des in Aussicht gestellten Monatslohns und der
Tatsache, dass die beiden hin und wieder auch
im Restaurant essen durften, empfanden die
beiden das Angebot als „vollkommen akzeptabel.“ Dem Mann hatte man 1.200 € im Monat
für 40 Wochenstunden in Aussicht gestellt (abzüglich der Miete), hinzu kämen rund 400 € für
die Frau.
Fünf Monate lang arbeiteten beide, „alles war
wunderbar und prima.“ Der Arbeitgeber zahlte
den versprochenen Lohn in bar. Im sechsten Monat wurde der Mann krank. „In dem
Moment ing die Problematik an.“ Der Arbeitgeber weigerte sich zunächst, die Lohnfortzahlung zu leisten. Er stritt sich mit dem Paar
und kündigte beiden mit sofortiger Wirkung.
Mit der Kündigung mussten die beiden auch
das Appartement aufgeben. Bekannte in Berlin
nahmen die beiden auf und gingen gemeinsam
mit dem Mann zu der Beratungsstelle. Während
der Beratung stellte die Beraterin fest, dass der
Mann lediglich im Rahmen der so genannten
Gleitzone angemeldet war. Laut Abrechnung
verdiente er monatlich ca. 600 €. Der Arbeit-
geber hatte diesem Betrag entsprechend auch
die Kranken- und Rentenversicherung gezahlt,
allerdings nicht für alle Monate. Herr F. berichtete, täglich rund 16 Stunden gearbeitet zu
haben, also doppelt so viel, wie ursprünglich
vereinbart worden war. Darüber hinaus hatte
er nicht nur von Montag bis Freitag gearbeitet, sondern meist auch an den Wochenenden:
„Wenn jemand am gleichen Ort wohnt und arbeitet (steht er) dem Arbeitgeber ja zur Verfügung. Er konnte nicht sagen: Ich arbeite nicht.“
Umgerechnet auf den Monatslohn von rund
1.200 € entsprach sein Stundenlohn somit nicht
mehr rund 7,50 € sondern betrug nur noch ca.
3 €. Hinzu kam, dass sein angemeldeter Status
bei den Behörden und der Krankenkasse nicht
seinem tatsächlichen Arbeitsverhältnis entsprach.
Weder der Mann noch seine Frau hatten für
die Dauer des Arbeitsverhältnisses jedoch den
Eindruck, ausgebeutet zu werden. „Bis zu seiner
Erkrankung waren er und seine Frau vollkommen zufrieden.“ Die Beraterin sprach zunächst
mit dem ehemaligen Arbeitgeber. Dieser war
daraufhin bereit, die fehlenden Lohnabrechnungen auszustellen und einige der geleisteten
Überstunden zu zahlen. Herr F. bestand jedoch
auf Zahlung aller geleisteten Überstunden und
brachte den Fall vor das Arbeitsgericht. Dort
gab man ihm Recht und verurteilte den Arbeitgeber zur Zahlung der noch ausstehenden Differenzbeträge. Laut Frau S. war er vor Gericht
trotz der fehlenden Lohnabrechnungen glaubhaft, „weil er seine Arbeitszeiten immer selbst
dokumentiert hatte.“ Dies gelinge aber nicht
immer, „viele verlieren ihre Ansprüche.“
65
Baugewerbe
Eine Gruppe junger Männer wurde in Griechenland angesprochen: „Jemand sagte ihnen,
er kenne jemanden im Baubereich, wenn ihr
Arbeit braucht, (...) dann könnt ihr nach Berlin
kommen.“ Da sie arbeitslos waren, gingen die
insgesamt acht Männer auf das Angebot ein
und „wurden von einer Organisation hierher
geschickt“.
Kurz nach ihrer Ankunft in Berlin, nahmen die
Männer ihre Arbeit auf einer Baustelle auf.
Einen Vertrag hatte keiner unterzeichnet. Nach
einer Woche bekamen sie ihren ersten Lohn,
jeder erhielt 300€. „Die Arbeitgeber waren also
glaubwürdig. Man sagte den Männern: Irgendwann, am Ende des Monats bekommt ihr die
restliche Summe.“ Die Männer gingen täglich
zusammen zu der Baustelle und arbeiteten
dort. Betreut wurden Sie von einem Mann, der
ihre Sprache beherrschte. Dieser Mann war für
sie eine Art Aufseher, ein Mittler, der ihnen ihre
Aufgaben als Bauhelfer erläuterte. Sie arbeiteten täglich rund 10 Stunden lang, an insgesamt
20 Arbeitstagen. Wo sie während dieser Zeit
wohnten, ist nicht bekannt.
Als sie eines Tages wieder zur Baustelle kamen,
war „kein Mensch mehr dort.“ Sie gingen noch
an einem zweiten und dritten Tag hin. Vermutlich war die Arbeit abgeschlossen worden.
Sieben Männer, die ohne Familie gekommen
waren, kehrten nach Griechenland zurück.
Herr G. war zusammen mit seiner Frau und
seinen drei kleinen Kindern. Herr G. spricht
kein Deutsch, aber sowohl Griechisch als auch
Türkisch. Er sah keine andere Möglichkeit als
in Berlin zu bleiben. Nach einem Telefonat mit
seinem Vater, konnte die Familie bei Bekannten
in Berlin unterkommen. An Frau S. wandte sich
Herr G. um zu erfahren „was er jetzt machen
kann. Nicht unbedingt wegen der Arbeit auf
der Baustelle, da er wusste, der Arbeitgeber
war nicht da, bzw. der Mittler (...). Er sagte, er
brauche Geld und eine Wohnung und fragte,
ob er Leistungsanspruch hat.“ In der Beratung
sagte man ihm, wenn er nachweisen könne, dass
er hier als Arbeitnehmer tätig war, werde man
seinen Anspruch beim Jobcenter durchsetzen.
Herr G. konnte jedoch weder den Namen des
Arbeitgebers noch den genauen Ort der Baustelle angeben. Frau S. beriet ihn ausführlich
zu den Möglichkeiten, die ihm offen standen.
Ohne Angabe von Gründen erschien er dann
nicht mehr bei der Beratung.
66
Handel
Frau F. lebt seit Anfang der 1990er Jahre
in Deutschland. 2006 wurde ihr Asylantrag endgültig abgelehnt. Aktuell hat sie
eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, nach § 25 Abs. 4 AufenthG.
Um diesen Titel zu festigen, muss sie
arbeiten und eigenständig den Lebensunterhalt ihrer Familie sichern. Frau F. ist
allein erziehend und hat zwei Kinder, die
im Raum Brandenburg zur Schule gehen.
2009 machte ihr ein Mann das Angebot,
in Berlin Schmuck zu verkaufen. Frau F.
wusste, dass der Mann in ihrer ethnischen
Community einen schlechten Ruf hatte.
Man erzählte, dass er hauptsächlich Personen ohne Aufenthaltstitel oder Arbeitserlaubnis einstellt und sie um ihren Lohn
betrügt. Da Frau F. legal in Deutschland arbeiten darf und man ihr einen schriftlichen
Vertrag zusicherte, ging sie dennoch auf
das Angebot ein. Der Vertrag, den sie unterzeichnete, legte einen Stundenlohn von
nur 6 € fest, versprochen worden waren zunächst 8 € Stundenlohn. Sie unterzeichnete trotzdem. Frau F. gab sich große Mühe,
arbeitete täglich und war parallel auch auf
Handel
Wohnungssuche, in der Hoffnung, bald ihre
Frau F. lebt seit Anfang der 1990er Jahre in
Kinder nach Berlin nachholen zu können. Als
Deutschland. 2006 wurde ihr Asylantrag endgüldas erste Gehalt nicht wie erwartet am 1. des
tig abgelehnt. Aktuell hat sie eine AufenthaltserFolgemonats auf ihrem Konto war, sagte ihr
laubnis aus humanitären Gründen, nach § 25 Abs.
Chef, in Berlin sei es üblich das Geld erst zum
4 AufenthG. Um diesen Titel zu festigen, muss
15. zu überweisen. Als es am 20. noch immer
sie arbeiten und eigenständig den Lebensunnicht auf ihrem Konto war, ging sie erneut zu
terhalt ihrer Familie sichern. Frau F. ist allein erihm. Er sagte, das Geld würde schon kommen.
ziehend und hat zwei Kinder, die im Raum BranAm Ende des Monats, nach insgesamt acht
denburg zur Schule gehen. 2009 machte ihr ein
Wochen Arbeit ohne Lohn, kündigte Frau F.
Mann das Angebot, in Berlin Schmuck zu verkauund suchte eine Beratungsstelle für Migranfen. Frau F. wusste, dass der Mann in ihrer ethten ihrer Sprachgruppe auf. Dort verwies man
nischen Community einen schlechten Ruf hatte.
sie an einen Anwalt, der muttersprachliche
Man erzählte, dass er hauptsächlich Personen
Rechtsberatung anbietet. Sie klagte mit seiner
ohne Aufenthaltstitel oder Arbeitserlaubnis einUnterstützung auf die Zahlung des ausstestellt und sie um ihren Lohn betrügt. Da Frau F.
henden Lohns. Das Geld hat sie bislang noch
legal in Deutschland arbeiten darf und man ihr
nicht bekommen. Frau F. erklärte, sie mache
einen schriftlichen Vertrag zusicherte, ging sie
sich diesbezüglich keine großen Hoffnundennoch auf das Angebot ein. Der Vertrag, den
gen, sei aber dennoch froh geklagt zu haben.
sie unterzeichnete, legte einen Stundenlohn von
Andere Migranten, die von dem gleichen
nur 6 € fest, versprochen worden waren zunächst
Mann betrogen wurden, sich wegen fehlender
8 € Stundenlohn. Sie unterzeichnete trotzdem.
Aufenthaltspapiere aber nicht wehren wollten,
Frau F. gab sich große Mühe, arbeitete täglich
hatten sie in ihrem Vorhaben unterstützt. Jetzt
und war parallel auch auf Wohnungssuche, in
wisse zumindest jeder, auch das Gericht, das
der Hoffnung, bald ihre Kinder nach Berlin nachder Mann „ein Verbrecher“ sei.
holen zu können. Als das erste Gehalt nicht wie
erwartet am 1. des Folgemonats auf ihrem Konto
war, sagte ihr Chef, in Berlin sei es üblich das Geld
erst zum 15. zu überweisen. Als es am 20. noch
immer nicht auf ihrem Konto war, ging sie erneut
zu ihm. Er sagte, das Geld würde schon kommen.
Am Ende des Monats, nach insgesamt acht
Wochen Arbeit ohne Lohn, kündigte Frau F. und
suchte eine Beratungsstelle für Migranten ihrer
Sprachgruppe auf. Dort verwies man sie an einen
Anwalt, der muttersprachliche Rechtsberatung
anbietet. Sie klagte mit seiner Unterstützung auf
die Zahlung des ausstehenden Lohns. Das Geld
hat sie bislang noch nicht bekommen. Frau F. erklärte, sie mache sich diesbezüglich keine großen
Hoffnungen, sei aber dennoch froh geklagt zu
haben. Andere Migranten, die von dem gleichen
Mann betrogen wurden, sich wegen fehlender
Aufenthaltspapiere aber nicht wehren wollten,
hatten sie in ihrem Vorhaben unterstützt. Jetzt
wisse zumindest jeder, auch das Gericht, das der
Mann „ein Verbrecher“ sei.
67
Hotelreinigung
Frau P. kam 1996 als ca. 6jährige mit ihrer
Familie aus Serbien nach Deutschland und
lebte ohne Aufenthaltstitel in Berlin. Seit 2009
hat die heute 19jährige Roma eine Aufenthaltsgenehmigung aus humanitären Gründen. Sie
wohnt mit ihrer Mutter zusammen. Der Vater
wurde zwischenzeitlich abgeschoben. Obwohl
sie in Berlin groß wurde, durfte sie nie zu einer
Schule gehen. Sie spricht sehr gut Deutsch, ist
aber Analphabetin.
Frau P. kann über die Härtefallregelung einen
Aufenthaltstitel erlangen. Voraussetzung dafür
ist, dass sie ihren Lebensunterhalt aus eigener
Arbeit inanzieren kann.
Die junge Frau hatte sich an das Jobcenter
gewandt, um zu erfahren, wo sie sich als Analphabetin bewerben könne und ob sie Hilfe
bekäme. Man teilte ihr mit, dass im Flur ein
Ständer mit Broschüren zu inden sei. Von dort
nahm sie dann vermutlich die Broschüre einer
Firma mit, die Reinigungskräfte an Hotels vermittelt. Sie bewarb sich dort und konnte wenig
später einen Vertrag unterzeichnen. Laut Auskunft der Interviewpartnerin kam Frau P. danach
„glücksstrahlend“ zu ihr. Sie freute sich zunächst mit der Frau, bis sie den Arbeitsvertrag
begutachtet hatte: Für die Reinigung in einem
bekannten Berliner Hotel erhält Frau P. laut
Vertrag pro gereinigtes Zimmer 2,25 € brutto.
Der Beraterin gegenüber sagte die junge Frau,
sie brauche für ein Zimmer mindestens eine
halbe Stunde, häuig aber auch eine dreiviertel
Stunde. Für die Reinigung eines Appartements
erhält sie 3,25 € brutto. Die Beraterin errechnete, dass der Stundenlohn von Frau P. in etwa
3,05 € bis 3,07 € netto beträgt. Der von der
Ausländerbehörde festgelegte Plichtunterhalt
liegt bei rund 850,00 €. Um diesen Betrag zu
verdienen, muss sie somit zwischen 67 und 70
Stunden pro Woche arbeiten. Der Vertrag ist
stets befristet. Verlängerungen erhält sie entsprechend der Verlängerung ihres Aufenthaltstitels. Die Beraterin bestätigt, dass Frau P. die
Stelle als Glücksfall empfunden habe. Ihre Kritik
am Arbeitsvertrag habe sie „entsetzt“.
Das erste Gehalt, das man Frau P. auszahlte,
betrug 725 €. Für diesen Betrag arbeitete sie
einen Monat lang rund 60 Stunden pro Woche.
Die Beraterin berichtete, dass Frau P. sehr gerne
eine Schule besuchen wollte, um Lesen und
Schreiben zu lernen. Dies wurde von der Ausländerbehörde jedoch abgelehnt: Sie müsse
zunächst ihren Lebensunterhalt verdienen. Es
stehe Frau P. jedoch frei, tagsüber arbeiten zu
gehen und eine Abendschule zu besuchen. Die
Beraterin erklärte, dass sie dies durchaus von
einigen Personen, die sie betreut, erwartet,
„aber nicht bei so einem Job“.
Die Vermittlerirma mit der Frau P. den Vertrag
abgeschlossen hat, ist der Beraterin bereits
bekannt. Ihres Wissens arbeiten dort viele Personen, die sich in einer ähnlichen Situation
wie Frau P. beinden. So liegt ihr ein nahezu
identischen Vertrag für ein Berliner Luxushotel
vor. In der Hotelreinigungsbranche liefe alles
über Vermittlerirmen. Die Verträge werden
demnach nicht direkt zwischen dem Hotel
und den Reinigungskräften geschlossen. „Es
ist also durchaus möglich, dass das Hotel der
Vermittlerirma 15 € die Stunde bezahlt. Aber
ich verlange von so einem Hotelbetrieb, dass
sie sich erkundigen: Was sind das für Firmen?
Was kriegen meine Angestellten?“ Trotz der geringen Löhne seien die betreffenden Personen
stets „heilfroh“ über ihre Arbeitsverträge.
68
Dienstleistungsgewerbe: Wäscherei
In der ehemaligen DDR hatte Frau O. als Vertragsarbeiterin gearbeitet und wurde, wie viele
ihrer Landsleute, nach der Wende entlassen.
Frau O. kehrte damals in ihre Heimat zurück.
Dort fand sie keine Basis für ein Leben mehr.
Zudem fühlte sie sich Deutschland durch ihren
jahrelangen Aufenthalt dort sehr verbunden.
Sie reiste 1998 ein und stellte einen Asylantrag,
der abgelehnt wurde. Aufgrund einer Erkrankung wurde ihr jedoch ein Abschiebeschutz
gewährt, aktuell hat sie einen Duldungsstatus.
Frau O. „hängt in der Luft“ und versucht ökonomisch unabhängig zu werden. Sie verfügt
aktuell über eine Arbeitserlaubnis, dennoch
sieht sich „diese Frau unter dem Druck, jede
nur erdenkliche Arbeit anzunehmen.“ Dies war
den Arbeitgebern bekannt. Im Jahr 2008 arbeitete sie einige Monate lang in einer Wäscherei. Diese Beschäftigung stellte zwar ein legales
Arbeitsverhältnis dar – so war sie ordnungsgemäß angemeldet und ihr Arbeitgeber zahlte die
entsprechenden Beiträge – trotzdem wurde sie
dort „ausgebeutet, bis auf die Knochen.“: Ihr
Bruttoverdienst betrug laut Vertrag rund 4,50
€. Sie arbeitete zwischen 50 und 60 Stunden
pro Woche und musste „auf Abruf“ bereitstehen. Sie hatte „maximal einen freien Tag in
der Woche, wenn überhaupt.“ Dieser wird nur
gegeben, „wenn es den Arbeitgebern passend
erscheint.“
Der Frau wurde somit verwehrt, eine „weitergehende Planung für ihr Leben zu machen.“ In
den Gesprächen machte sie auf die Beraterin
einen völlig erschöpften Eindruck. Sie ist „bei
der Beratung fast eingeschlafen (und hat es)
körperlich ja auch kaum noch durchgehalten.“
Als sie nach einem kleinen Arbeitsunfall für
ein oder zwei Tage lang nicht arbeiten konnte,
wurde sie von ihrem Arbeitgeber sofort entlassen. Im Grund genommen, so die Beraterin,
„arbeitete sie als Sklavin in diesem Betrieb.“
Haushaltsangestellte bei Botschaftsangehörigen
Bei Frau N. handelt es sich um eine philippinische Frau, die ein gutes Jahr als Hausangestellte eines Diplomaten in Berlin arbeitete. In
Manila arbeitete sie für einen Bekannten ihres
späteren Arbeitgebers und wurde über ihn angeworben. Im Februar 2008 unterschrieb sie in
ihrer Heimat einen Arbeitsvertrag, der einen
Monatslohn in Höhe von 750 € festlegte, was
dem vereinbarten Mindestlohn für Hausangestellte von Diplomaten entspricht. Dieser war
die Basis für die Erteilung des Visums. Drei
Monate später legte die Botschaft Frau N.
einen anderen Arbeitsvertrag zur Unterschrift
vor. Dieser setzte einen Lohn in Höhe von 500
US $ fest. Im Juni 2008 reiste Frau N. ein.
In Berlin angekommen arbeitete sie fast rund
um die Uhr im Haushalt des Diplomaten. In
der Regel stand sie morgens um halb acht auf
und ging nachts um ein Uhr zu Bett. Im ersten
dreiviertel Jahr durfte sie das Haus nicht verlassen. Frau N. bekam Hautprobleme, weil man
ihr keine Hygieneartikel zur Verfügung stellte.
Sie wusch sich daher mit Waschpulver. Zudem
war ihr auf der Hinreise der Koffer abhanden
gekommen, da aber ohnehin nicht „vorgesehen war, dass sie rausgeht (hat er ihr lediglich)
Hauskleidung gekauft. (...) Wir haben uns getroffen an einem total regnerischen Tag. (...)
Und sie stand da in einem T-Shirt und Sandalen
und schlotterte.“
Da der Sohn des Diplomaten übergewichtig wurde, wies man sie an, regelmäßig mit
ihm zum Spielplatz gehen. Frau N. hatte ein
Handy, aber kein Guthaben auf ihrer Karte. Sie
war somit ständig erreichbar, konnte selbst
aber nicht telefonieren. Auf dem Spielplatz
bat sie andere Mütter mehrfach um Hilfe, eine
davon stellte schließlich den Kontakt zu der
Beratungsstelle her. Bis die Frauen auf dem
Spielplatz tatsächlich handelten, brauchte es
69
„acht oder neun Anläufe (...), weil die anfangs
dachten, die spinnt. (...) Ich denke, da hat auch
eine ordentliche Portion Rassismus eine Rolle
gespielt. Sie müssen sich vorstellen, da ist
eine philippinische Frau - sie hatte eine sehr
schlechte Haut (...) sprach nicht so gut Englisch
und fragte dann im edlen Charlottenburg am
Spielplatz eine Frau: Können sie mir bitte die
Adresse des Auswärtigen Amtes geben? (...) In
der Logik der Frau war das vollkommen richtig,
weil das Auswärtige Amt zuständig ist für Hausangestellte von Diplomaten. Und sie hatte die
Vorstellung, wenn sie die Adresse hat, kann sie
dahin fahren. Gott sei Dank hat ihr niemand die
Adresse gegeben, denn die Enttäuschung wäre
groß gewesen – Sie wäre am Pförtner geendet.“
Mit Unterstützung der Beratungsstelle gelang
ihr im Mai 2009 schließlich die Flucht. Von
Seiten des Arbeitgebers versuchte man mehrfach, Frau N. über das Handy zu erreichen und
bedrohte sie per SMS. Die Lohnzahlungen
des Arbeitgebers waren unregelmäßig erfolgt,
summierten sich auf 2.054,00 € für die gesamte
Zeit.
Ein ordentliches gerichtliches Verfahren gab es
nicht. Die Beratungsstelle wandte sich mit den
Lohnforderungen für Frau N. direkt, da entsprechende Vereinbarungen bestehen, an das Auswärtige Amt. Da es schwierig gewesen wäre,
die Überstunden nachzuweisen, bestand man
darauf, zumindest die Wochenenden in Rechnung zu stellen. Die Beratungsstelle konnte
nachweisen, dass sie auch an Wochenenden
mit dem Kind auf dem Spielplatz war. Mit Erfolg:
Zusätzlich zu den 750 € für jeden Monat erhielt
Frau N. weitere 72 € pro Wochenende abzüglich der vom Arbeitgeber bereits geleisteten
Zahlungen. „Natürlich hatte die Gegenseite
eine ganz andere Sicht der Dinge“, nachdem
man mit der Veröffentlichung des Falles drohte,
lenkte die betreffende Botschaft aber ein. „Das
ist der einzige Druck, den wir haben.“
Ein anderer Fall betrifft Frau H., eine Indone-
sierin. Sie wurde über eine Agentur angeworben. Für die Arbeit in einem Diplomatenhaushalt stellte man ihr einen Monatslohn von 150
US$ in Aussicht. Frau H. arbeitete zwei Jahre in
Ägypten und zweieinhalb Jahre lang in Deutschland als Hausangestellte eines Kulturattachés.
In Berlin war sie die gesamte Zeit lang in einer
Wohnung am Potsdamer Platz eingesperrt. Das
Haus durfte sie nur unter Aufsicht verlassen, ihr
Essen wurde rationiert, für ihre Arbeit erhielt
sie keinen Lohn. „Ihr Glück war, das muss man
wirklich – so makaber es ist – sagen, dass sie
offene TBC bekommen hat.“ Erst sechs Monate
nach Ausbruch der Krankheit, als sie bereits
vollkommen abgemagert und geschwächt war,
brachte ihr Arbeitgeber sie ins Krankenhaus.
Die Ärzte dort waren angesichts ihres Zustandes „erschüttert“. Der Arbeitgeber von Frau
H. machte den Ärzten gegenüber „sehr deutlich“, dass er Diplomat ist und drängte auf ihre
Entlassung. Die Ärzte verwiesen auf die hohe
Ansteckungsgefahr und gaben dem Drängen
nicht nach. Aufgrund ihres Krankheitsbildes
und seines Verhaltens baten die Ärzte zunächst
die indonesische Botschaft um Hilfe. Vertreter
der Botschaft kamen in das Krankenhaus, sprachen mit Frau H. und sagten dann „(...) es ist
alles in Ordnung, das regeln wir intern.“ Der
Sozialdienst recherchierte daraufhin im Internet und fand die Kontaktdaten einer Fachberatungsstelle. Eine Kollegin der Expertin fuhr zusammen mit einer Sprachmittlerin in die Klinik
„... und dann war sowieso völlig klar, die Frau
geht auf keinen Fall zurück zu diesem Arbeitgeber.“
Der Arbeitgeber von Frau H. ging „komplett
straffrei“ aus. So bekam sie zwar rückwirkend
den Lohn für die zweieinhalb Jahre in Berlin ausgezahlt, aber nicht vom Arbeitgeber, sondern
von der Botschaft. „Der Arbeitgeber hat ganz
normal seine fünf oder sechs Jahre in Deutschland zu Ende gearbeitet und ist, glaube ich,
letztes Jahr im Herbst – oder wann auch immer
die fünf Jahre zu Ende waren – ganz normal
weiter gezogen. Wer weiß wohin.“
70
Garten – und Landschaftsbau
Herr D. befand sich in der Bleiberechtsregelung, die langjährig Geduldeten bei Erfüllung
bestimmter Bedingungen wie Straffreiheit und
Lebensunterhalt aus eigener Beschäftigung
einen sicheren Aufenthaltsstatus eröffnet.45
Dem entsprechend stand Herr D. somit unter
großem Druck und wollte unbedingt eine Arbeitsstelle inden. Er hat eine Familie mit drei
Kindern, seine Frau war wieder schwanger. Herr
D. hatte in Deutschland bis dahin nur über eine
Arbeitsgelegenheit des Sozialamtes arbeiten
können und war dabei mit Hausmeistertätigkeiten, Gärtnerarbeiten und Reinigung betraut.
Gegenüber den Beratern der Anlaufstelle eines
Wohlfahrtsverbandes, die Herrn D. bei seiner
Arbeitssuche unterstützen, erklärte er daher,
er wolle gern eine Arbeit als Hausmeister
oder Gartenhelfer inden. „Er war sehr motiviert (...) hat viele Bewerbungen geschrieben.“
Von einer Stelle gab es schnell eine Rückmeldung. In der Stellenanzeige hieß es: „Im Vorfeld
wird ein dreiwöchiges Praktikum bei unserem
Kunden absolviert. Im Auftrag unseres Kunden
suchen wir im Rahmen der Personalvermittlung mehrere MitarbeiterInnen zur Grünanlagenplege im Gartenbereich.“ Oftmals wird bei
Personen, die keine einschlägige Qualiizierung
in einem bestimmten Bereich haben, eine Trainingsmaßnahme vorgeschaltet. Die betreffenden Personen erhalten für die Dauer dieser
Maßnahme weiterhin Sozialeistungen. Der Ar-
beitgeber hat den Arbeitnehmer für diese Zeit
„frei Haus.“ Die BeraterInnen wiesen darauf hin,
dass eine solche Maßnahme in der Regel aber
erst dann zur Anwendung käme, wenn man
den Lebenslauf eines potentiellen Arbeitnehmers gesehen hat und sie für notwendig erachtet. Drei Wochen seien überdies eine sehr
lange Zeit, üblich sind ein bis zwei Wochen.
Die Beraterin besprach dies mit ihrem Klienten,
er wollte dennoch auf das Angebot eingehen
und erhielt in kürzester Zeit die Rückmeldung,
er könne mit dem Praktikum beginnen. Er arbeitete als Grünanlagenpleger an zahlreichen
unterschiedlichen Orten in Berlin und musste
während des Arbeitstages häuig von einem
Ort zum anderen wechseln. Herr D. berichtete,
dass Arbeitskollegen von vielen Personen sprachen, die dort schon seit drei Monaten ohne
Vertrag arbeiten und keinen Lohn bekommen.
„Er war sich total unsicher, wollte aber weiter
machen.“ Während der Trainingsmaßnahme
gab es sehr viele Praktikanten. Die Fluktuation
war hoch. Neue Personen nahmen die Arbeit
auf und beendeten sich schnell wieder, weil sie
körperlich zu schwer war. Herr D. berichtete,
dass er rund 50 Kilo schwere Säcke in Container hieven musste. Fast am Ende der Maßnahme hatte Herr D. einen Arbeitsunfall. Gemeinsam mit einer Kollegin hatte er einen schweren
Sack in einen Container gehoben, dabei knickte
seine Hand um und das Gelenk brach. Der Arbeitnehmer übernahm ihn nicht, weil er „die
Trainingsmaßnahme nicht bestanden“ hatte.
45 Mehr Informationen unter:
http://www.berlin.de/lb/intmig/themen/luechtlinge/bridge.html : zuletzt besucht am 30.08.2010
71
Illegaler Zigarettenhandel
Frau M. wurde in Vietnam angesprochen. Man
versprach ihr Arbeit in Deutschland. Frau M. ist
Witwe mit einem kleinen Kind und muss ihre
Familie unterstützen. Sie willigte ein. Um die
geforderte Vermittlungsgebühr in Höhe von
10 000 € aufbringen zu können, verkaufte
Frau Ms. Familie ihr Grundstück. Frau M. war
bewusst, dass sie sich illegal in Deutschland
aufhalten würde. Man versprach ihr einen Monatsverdienst in Höhe von etwa 500 €. Dieses
Geld sollte sie durch den Verkauf von Zigaretten verdienen. In Deutschland angekommen,
brachte man sie nach Berlin. Dort lebte sie in
einer Art Wohngemeinschaft zusammen mit
den „Schleppern“ und anderen VerkäuferInnen.
Insgesamt teilten sich etwa zehn Personen die
kleine Wohnung.
Frau M. zahlte monatlich einen Betrag von
200 € für ihren Lebensunterhalt und Miete für
ihr Bett in einem Vierbettzimmer. Hinzu kamen
100 € monatlich, die ihr für den Platz, an dem
sie die Zigaretten verkaufte, in Rechnung gestellt wurden. Man rechnete ihr vor, dass sie pro
Tag fünf Stangen verkaufen müsste. Der Lohn
dafür betrug 20 €. Da ihr Platz am Tag besetzt
war, musste sie am Abend oder in der Nacht arbeiten. Erreichte sie das vorgegebene Ziel von
fünf Stangen pro Tag, verdiente sie zwischen
500 € und maximal 600 € pro Monat. Abzüglich
der Kosten für den Lebensunterhalt und der
Miete für den Verkaufsplatz blieben ihr monatlich zwischen 200 € und 300 €.
Davon schickte sie den größten Teil, meist rund
200 €, nach Hause, um ihrer Familie zu helfen.
Knapp ein Jahr lang lebte und arbeitete sie in
Berlin, bevor sie von der Polizei beim Verkauf
von Zigaretten verhaftet wurde. In der Abschiebehaft lernt Frau M, die Seelsorgerin kennen.
Mit Hilfe anderer vietnamesischen Frauen, die
sich die Zelle mit Frau M, teilten, und einem
weiteren Seelsorger, der vietnamesisch spricht,
erzählte sie der Seelsorgerin ihre Geschichte
und vertraute ihr an, dass sie schwanger ist. Der
Vater ist ebenfalls Vietnamese, lebte auch in
der WG und war bereits verheiratet. Aus Angst
vor der bevorstehenden Abschiebung und aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage
ihrer Familie in Vietnam wollte sie das Kind abtreiben lassen.
Die Seelsorgerin und ihre MitarbeiterInnen
schalteten daraufhin die für Rückkehrberatung
zuständige Mitarbeiterin einer Beratungsstelle ein. Gemeinsam sorgten dafür, dass Frau M.
einen Mikrokredit erhielt, mit dem sie sich nach
der Abschiebung eine eigene Existenz in ihrem
Dorf in Vietnam aufbauen konnte. Nachdem
man ihr diese Perspektive eröffnet hatte, entschied sich Frau M. dafür, das Kind zu behalten.
72
4.4.3
Analytische Darstellung von
Ausbeutungssituationen
Die erhobenen Fallschilderungen werden zunächst
unter Berücksichtigung der zwei Dimensionen der
Einwilligung (Freiwilligkeit) und des Zeitverlaufs
ausgewertet. Bei der Betrachtung der Dimension der (mehr oder weniger freiwilligen) Einwilligung der Beschäftigten in ungünstigere Beschäftigungsbedingungen wird aus der Perspektive der
Beschäftigten unterschieden zwischen (1) einem
einvernehmlich hingenommenen Ausbeutungsverhältnis, (2) einem nachträglich aufgenötigtem
Ausbeutungsverhältnis, (3) einem verschleierten
Ausbeutungsverhältnis und (4) einem offen erzwungenem Ausbeutungsverhältnis. Zusätzlich
werden die analytisch nach dem Grad der Einwilligung unterschiedenen Beschäftigungsverhältnisse
in einer Verlaufsdimension als dynamische Beziehungen betrachtet, die im Zeitverlauf ineinander
übergehen oder sich ablösen können. Mit diesem
dynamischen Konzept von Arbeitsausbeutung als
prozessualem Beziehungsverhältnis soll die weit
verbreitete und implizite Unterstellung vermieden
werden, wonach beim Menschenhandel ein von
Anfang an absichtsvoller Täter ein ahnungsloses
Opfer verleitet. Die empirischen Berichte zeigen
ein komplexeres und dynamischeres Bild ausbeuterischer Beschäftigungsverhältnisse.
Offen einvernehmliche
Ausbeutungsverhältnisse
Das Konzept der Ausbeutung ist umstritten. Insbesondere die Frage, ob man von Ausbeutung
sprechen kann, wenn Betroffene in die angebotenen Arbeits- und Lohnbedingungen einwilligen, wird kontrovers diskutiert (Munro 2009). Im
Sample gibt es Darstellungen von offen und einvernehmlich vereinbarten Lohnabsprachen mit
extrem geringem Lohn für Vollzeitstellen, die den
Tatbestand der Sittenwidrigkeit erfüllen und daher
von uns auch bei bestehender Einvernehmlichkeit
als Arbeitsausbeutung eingestuft wurden (vgl. Abschnitt 3.4 und 4.2). Dabei wurden zwei Muster beschrieben: (1) Zur Aufnahme einer Beschäftigung
neu eingereiste Personen willigen in ungünstigere
Beschäftigungsbedingungen ein, weil der angebo-
tene Lohn vor dem Hintergrund der Lebens- und
Verdienstmöglichkeiten des eigenen Landes attraktiv erscheint. So stimmte Frau K. für eine Tätigkeit in der Plege „Rund-um-die-Uhr“ einem
Monatslohn von 400 € zu. Frau A. erhielt für die
Betreuung der älteren Dame nur den einfachen
Plegesatz in Höhe von rund 200 € monatlich.
Die Beschreibungen deuten darauf hin, dass eine
Lohnhierarchie besteht, bei der – wie eine Beraterin es auf den Punkt brachte – „nach Nationalität
bezahlt“ wird. Die Übereinkommen werden ihrer
Ansicht nach dadurch begünstigt, dass VermittlerInnen häuig aus dem gleichen Land kommen
und die jeweilige Kaufkraftunterschiede zwischen
westlichen Währungen (Dollar, Euro) und der Landeswährung kennen. (2) Das zweite Muster extrem
geringer Lohnvereinbarungen betraf Personen, die
auf den Nachweis einer angemeldeten Beschäftigung angewiesen waren, weil sie so hofften, z.B. im
Rahmen der Bleiberechtsregelung einen unsicheren Aufenthaltsstatus verfestigen zu können. Diese
Personen akzeptieren extrem niedrige Monatslöhne für Vollzeitbeschäftigung. In einem Fall arbeitete
die geduldete Frau N. für 400 € monatlich Montag
bis Freitag von 9 bis 18 Uhr und am Samstag von
9 bis 13 Uhr in einem Nagelstudio. Dies entspricht
umgerechnet einem Stundenlohn von etwa 2 €.
Wenn die Beschäftigung ofiziell angemeldet war,
wurde mit doppelten Verträgen operiert. Die Beschäftigten unterzeichneten vor der Einreise bzw.
vor der Arbeitsaufnahme einen Vertrag, der den
Behörden vorgelegt wird. In einem zweiten Vertrag
wurden dann deutlich niedrigere Lohnzahlungen
vereinbart. In diesen Fällen beteiligen die Beschäftigten sich wissentlich an dem Versuch, die tatsächlichen Arbeits- und Lohnbedingungen vor den
Behörden zu verschleiern.
Nachträglich aufgenötigte
Ausbeutungsverhältnisse
Viele der geschilderten Arbeitsverhältnisse lassen
sich als nachträglich aufgenötigt bezeichnen. Darunter fassen wir Ausbeutungsverhältnisse, bei
denen getroffene Vereinbarungen von Seiten der
ArbeitgeberInnen nach Aufnahme der Beschäftigung einseitig ‚neu interpretiert’ und systematisch
unterlaufen werden. Dabei werden Beschäftigte
73
dazu gebracht, die deutlich schlechteren Bedingungen nachträglich zu akzeptieren.
Charakteristisch für dieses Ausbeutungsverhältnis
ist die Methode, nicht vereinbarte oder rechtswidrige Abzüge und Lohnkürzungen nachträglich einzuführen und zu rechtfertigen, um die Kooperation
der Beschäftigten zu erhalten. Dabei werden zwei
Ziele verfolgt: Zum einen soll die Akzeptanz der
Praktiken der Lohnminderung durch die Beschäftigten erhöht und diese an ihren Arbeitsplatz gebunden werden. Zum anderen soll die Aufdeckung
der Ausbeutungssituation durch Dritte erschwert
werden. Die Praktiken der Rechtfertigung kommen
daher insbesondere in ofiziell angemeldeten Beschäftigungsverhältnissen zur Anwendung. In
dieser Kategorie wurde über intransparente und
nicht vereinbarte Abzüge sowie die Erhöhung der
geforderten Arbeitsleistung bei gleich bleibender
Bezahlung als Instrumente zur Durchsetzung ungünstigerer Beschäftigungsbedingungen berichtet.
Nicht transparente Abzüge für Kost und Logis
wurden im Fall des chinesischen Spezialitätenkoches berichtet. Auch die Praktiken, die im Fall
der äthiopischen Köchin Frau D. zur Anwendung
kamen, lassen sich hier einordnen: Die Weigerung
der Lohnauszahlung wurde ihr gegenüber zunächst
mit den Einreisekosten, dann mit den Kosten für
einen Krankenhausaufenthalt gerechtfertigt.
Die Erhöhung der geforderten Arbeitsleistung bei
gleicher Bezahlung ist eine in der Gebäude- und
Hotelreinigungsbranche offenkundig sehr verbreitete Praxis. Zur Umgehung von Mindestlöhnen oder
Lohnerhöhungen wird die Anforderung an die Arbeitsleistung erhöht. So berichtet Frau S. über eine
Klientin, die in dieser Branche schon lange tätig ist
und darüber klagte, dass die Arbeitsstunden verringert und zugleich die Reinigungsläche vergrößert wurden, so dass bei gleicher Entlohnung die
doppelte Arbeitsleistung erbringen mussten.
Die Betroffenen in den hier erwähnten Fällen
hatten durchaus das Bewusstsein ungerechter und
rechtswidriger Behandlung. Sie willigten aber – aus
Mangel an Alternativen oder Hoffnung auf Besserung – ein, die Beschäftigung zu den veränderten,
schlechteren Bedingungen fortzusetzen.
Verschleierte Ausbeutungsverhältnisse
Bei diesem Muster verschleiern ArbeitgeberInnen die Absicht einer rechtswidrigen Ausbeutung
nicht nur gegenüber Behörden, sondern auch gegenüber den Beschäftigten. Bei der verdeckt täuschenden Ausbeutung arbeiten die Beschäftigten
in der Erwartung, dass getroffene Vereinbarungen
– seien es einvernehmlich vereinbarte oder nachträglich aufgenötigte Absprachen - eingehalten
werden. Durch kleinere Anzahlungen werden die
ArbeitnehmerInnen im Glauben gelassen, dass sie
nach Erfüllung des Arbeitsvertrags den vereinbarten Lohn in voller Höhe ausgezahlt bekommen.
Es liegen mehrere Schilderungen zu dieser Konstellation vor. Der Fall der griechischen Bauarbeiter
kann exemplarisch für ein verdeckt täuschendes
Ausbeutungsverhältnis stehen. Mit einer ersten
kleinen Anzahlung erwarb der Mittler das Vertrauen der Männer und stellte somit sicher, dass
sie bis zum Monatsende die vereinbarte Arbeitsleistung erbrachten und keine weiteren Forderungen erhoben. Die ArbeitnehmerInnen können
auch über die ordnungsgemäße Anmeldung bei
den Behörden getäuscht werden. Der Anwalt, der
bundesweit chinesische Köche vertritt, erklärte, er
habe „von 100 Fällen nicht einen gehabt, bei dem
vom ersten Tag an die Anmeldung erfolgte.“ Viele
werden von dem Arbeitgeber nie angemeldet und
erfahren dies erst, wenn bei einer Arbeitsmarktkontrolle die Dokumente überprüft werden oder nach
Einleitung arbeitsgerichtlicher Schritte oder Ermittlungsverfahren. Herr F. erfuhr erst nach seiner Erkrankung von der Krankenkasse, dass er und seine
Frau nicht zu jedem Zeitpunkt ordnungsgemäß angemeldet und versichert waren.
Diese Konstellation kann aber nur eine vorübergehende Phase darstellen, da Beschäftigte mit zunehmender Zeit erkennen, dass Absprachen nicht
eingehalten werden. Dann wird die betroffene
Person mit dem Arbeitgeber verhandeln wollen.
In der Folge kann die Person eventuell die vereinbarten Leistungen zumindest teilweise (eventuell
mit Hilfe Dritter) durchsetzen, oder aber die Beschäftigung ohne Erhalt des vereinbarten Lohnes
aufgeben oder durch Androhung und Anwendung
von Zwang in ein nachträglich aufgenötigtes oder
offen erzwungenes Ausbeutungsverhältnis gebracht werden.
74
Offen erzwungenes Ausbeutungsverhältnis
Schließlich kann ein Ausbeutungsverhältnis auch
durch Anwendung oder Androhung von Gewalt
und Ausübung von Zwang durchgesetzt werden.
Aus den vorliegenden Fallschilderungen ergibt
sich, dass in insgesamt fünf Fällen die Anwendung oder Androhung physischer und psychischer
Gewalt und die Isolation der Betroffenen von der
Außenwelt dargestellt wurde. In einem Fall kam es
zu einer Anzeige und Verurteilung nach § 233 StGB.
Insgesamt ist auffällig, dass in dem von uns erhobenen Fallsample vor allem Frauen von einer
offen erzwungenen Ausbeutung betroffen waren,
die im Haushalt eines Arbeitgebers arbeiteten und
wohnten. Neben den Hausangestellten von Botschaftsangehörigen wurde ein Fall berichtet, in
dem Frau B. mit der Aussicht auf eine Eheschließung einreiste, von dem Mann aber missbraucht
und ausgenutzt wurde. Den diesbezüglich extremsten Fall stellt sicherlich die geschilderte Geschichte von Frau H. dar, die von ihrem Arbeitgeber
eingesperrt, eingeschüchtert und mit rationiertem
Essen unterversorgt wurde.
4.4.4
Zusammenfassende Einschätzung
mit Blick auf § 233 StGB
Mit Blick auf die im Rahmen der Recherche geschilderten Fälle bildeten die extremen Formen des
Zwangs die Ausnahme. Auch nach den Erkenntnissen der Berliner Polizei spielte bei den eröffneten
Ermittlungsverfahren wegen § 233 StGB die offene
Gewaltanwendung eine geringe Rolle. Häuiger
wurden subtilere Formen des Zwangs beschrieben,
derer sich die ArbeitgeberInnen bedienten. Sie sind
eher charakteristisch für Arbeitsverhältnisse, die
von uns als einvernehmlich, nachträglich aufgenötigt oder verschleiert bezeichnet werden. Ob in
solchen Konstellationen die Tatbestandsmerkmale
des § 233 StGB erfüllt sind, ist – wie der zuständige
Berliner Oberstaatsanwalt betonte – für jeden Einzelfall durch die Bewertung der Täterabsichten und
der eventuell bestehenden auslandsspeziischen
Hillosigkeit oder Zwangslange zu prüfen.
Zumindest in den von uns aufgenommenen Fällen
des von Anfang an einvernehmlichen Ausbeutungsverhältnisses ist aufgrund der niedrigen Löhne von
weniger als zwei Drittel des tarilichen oder ortsüblichen Lohnes die Schwelle zur Sittenwidrigkeit
überschritten, was wir als Ausbeutungsverhältnis
ansehen. Wenn eine sittenwidrig niedrige Entlohnung über einen längeren Zeitraum erfolgt, wäre
aber durchaus zu überlegen, ob dies nicht auf die
bewusste Ausnutzung einer Zwangslage oder auslandsspeziischen Hillosigkeit hinweist.
Bei einem verschleierten Ausbeutungsverhältnis
liegen die gleichen Voraussetzungen bzgl. Arbeitsausbeutung und zusätzlich der Arbeitgebermotivation vor. Außerdem kann für diese Konstellation argumentiert werden, dass sich ArbeitnehmerInnen
nur durch das verschleiernde Arbeitgeberverhalten
zur Fortsetzung der Beschäftigung entschlossen
haben. Zumindest in den Fällen, in denen für die
letzten Monate kein Lohn gezahlt wurde, kann man
davon ausgehen, dass sie das Arbeitsverhältnis
nicht fortgesetzt hätten, wenn sie nicht getäuscht
worden wären. Damit sind die im UN-Protokoll
Menschenhandel genannten Merkmale gegeben.
Bei dem nachträglich aufgenötigten Ausbeutungs-
75
verhältnis lässt sich nicht ohne weiteres schlussfolgern, wie eine Person sich entschieden hätte, wenn
sie von Anfang über die nachträglich angebotenen, schlechter gestalteten Arbeits- und Lohnbedingungen informiert gewesen wäre. In einigen
Fällen kann auch die ungünstigere Vertragsgestaltung durchaus noch Arbeits- und Lohnbedingungen darstellen, die gegenüber der Beschäftigung
im Herkunftsland für die betroffene Person eine
Verbesserung darstellt. Auch hier kommt es auf die
Würdigung der Umstände im Einzelfall an: Kann
sich die Person z. B. aufgrund einer eingegangen
Verschuldung, um die Kosten für die Einreise zu
inanzieren, nicht mehr aus dem Abhängigkeitsverhältnis von ArbeitgeberInnen oder -vermittlerInnen lösen?
Als Konsequenz aus dem Beschluss des BGH wäre
allerdings zusätzlich nach der noch geltenden
Rechtslage zur Erhebung einer Anklage wegen
§ 233 StGB in jedem Fall zwingend zu zeigen,
dass die Entscheidung der Beschäftigten für das
Eingehen oder Fortführen des ausbeuterischen
Arbeitsverhältnisses durch das Handeln der ArbeitgeberInnen herbeigeführt wurde. Dies kann
nur gelingen, wenn die betroffenen Beschäftigten
einen überzeugenden Einblick in ihre Gedanken
und Gefühle, die mit der Entscheidung der Aufnahme oder Fortsetzung einer ungünstigeren Beschäftigung verbunden waren, gewähren – oder
die TäterInnen ein Geständnis ablegen.
Die Darstellung zeigt, dass auch in Berlin und
Brandenburg Fälle bekannt werden, die Hinweise
auf einen Anfangstatverdacht wegen MH/A bieten.
Aber erst nach eingehender Prüfung und Beweisaufnahme, die auf Aussagen und Angaben der
Geschädigten und der Beschuldigten angewiesen
sind, ließe sich rekonstruieren, wie die Situation
der Arbeitsausbeutung zustande gekommen ist. Es
müsste geprüft werden, inwiefern die einvernehmliche oder durch nachträglich aufgenötigte Einwilligung der Beschäftigten durch Ausübung subtiler
oder offener Formen des Zwangs und der Gewalt
herbeigeführt wurde und ob die betroffene Person
dadurch tatsächlich in ihrer Entscheidungsfreiheit
eingeschränkt wurde.
4.5
Risikofaktoren
Im Vorschlag für einen neuen Rahmenbeschluss
vertritt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften die Auffassung, dass die Verletzlichkeit
der Opfer „wohl die Hauptursache des Menschenhandels“ ist (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2009: 2). In der Literatur indet sich
eine Vielzahl von Bestimmungen für diesen Begriff.
Zumeist wird auf die immer noch als grundlegend geltende Deinition von Chambers (1989: 1)
Bezug genommen: Verletzlichkeit bezeichnet eine
Situation, in der eine Person Unwägbarkeiten und
Stress ausgesetzt ist und Schwierigkeiten hat, diese
zu bewältigen. Verletzlichkeit hat zwei Seiten: Die
externe Seite der Risiken, der Schock- und Stresssituationen, der eine Person oder ein Haushalt ausgesetzt ist; und die interne Seite der Wehrlosigkeit,
also dem fehlenden Vermögen zu reagieren ohne
Schaden zu erleiden (Steinbrink 2009: 56).
Im Anschluss an diese Deinition haben Bohle und
Watts (1993: 3) drei grundlegende Dimensionen
der Verletzlichkeit abgeleitet. (1.) Das Risiko, einer
Stresssituation bzw. Krise ausgesetzt zu werden
(potenzielle Krisengefährdung/„exposure“); (2.) das
Risiko, einem Stressereignis keine geeigneten Bewältigungsstrategien entgegensetzen zu können
(„coping capacities“); (3.) das Risiko schwerwiegender negativer Folgen und das Risiko, dass sich die
betroffenen Gruppen nur langsam oder gar nicht
von Krisenereignissen erholen („recovery capabilities“). Nach diesem Verständnis sind diejenigen
Gruppen besonders verletzlich, die dem größten
Krisenrisiko ausgesetzt sind, die wenigsten Möglichkeiten haben, auftretende Krisen zu bewältigen
und unter den Folgen einer Krise am stärksten zu
leiden haben sowie die längste Zeit benötigen, um
sich von den Krisenereignissen zu erholen. Exposition, Bewältigungskapazität sowie Folgeschäden
und Erholung stellen die Eckpfeiler des Modells der
Verwundbarkeit dar (Steinbrink 2009: 56).
In einer empirischen Untersuchung zum Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung, bei der in vier
europäischen Ländern (Irland, UK, Portugal, Tsche-
76
chische Republik) Interviews mit ExpertInnen und
direkt betroffenen WanderarbeiterInnen durchgeführt werden konnten, wurden in Anlehnung an
das Konzept der Verletzlichkeit vier Faktorenbündel identiiziert, die das Risiko der Entstehung von
Situationen extremer Ausbeutung erhöhen (AntiSlavery International 2006): (1) die individuelle Verletzlichkeit des Arbeitnehmers, (2) die Komplexität
aufenthalts- und arbeitsrechtlichen Bestimmungen des Ziellandes, (3) verunsichernde oder einschüchternde Verhaltensweisen von Arbeitgebern
und (4) starker Kosten- und Wettbewerbsdruck in
bestimmten Branchen des Ziellandes. Betont wird
insbesondere
•
•
•
•
•
dass die individuelle Verletzlichkeit mit der
Mehrfachabhängigkeit von einer einzigen Personengruppe zunimmt,
dass die Unübersichtlichkeit rechtlicher Regelungen des Ziellandes eine informierte Entscheidung über die eigenen Handlungsmöglichkeiten erschwert,
dass die Bindung des Aufenthaltsstatus an
einem bestimmten Arbeitgeber diesem Ausbeutungsoptionen eröffnet,
dass kursierende Erzählungen über die gewalttätige Durchsetzung von Arbeitsausbeutung
dazu führen, dass in vielen anderen Fällen ein
Zwang durch die Androhung oder auch nur
Andeutung von Gewalt ausgeübt werden kann
(Verunsicherungspraktiken von Arbeitgebern),
dass eine Kombinationen von starkem Kostendruck in bestimmten Bereichen des Arbeitsmarktes des Ziellandes mit starkem
Existenzdruck in Herkunftsländern Ausbeutungssituationen begünstigen.
In Anlehnung an diese Konzeptionalisierung wollen
wir die Fallschilderungen nach Risikobündeln der
Verletzlichkeit auswerten. Dabei wollen wir nach
Faktoren unterscheiden, die einerseits mit den Betroffenen verbunden sind und Bewältigungskapazitäten betreffen sowie andererseits solchen, die
eher mit branchentypischen Beschäftigungsbedin-
gungen oder der Migrationssituation verbunden
sind und Krisengefährdungen betreffen.
4.5.1
Individuelle Risikofaktoren
Eine aktuelle Veröffentlichung von EUROPOL hat
eine schematische Darstellung der „at risk group“
Opfer von Menschenhandel veröffentlicht. Danach
wird das Risiko, Opfer von Menschenhandel zu
werden, etwa durch niedrige Bildung oder durch
Geburt in ländlicher Region etc. erhöht.46 Auch das
in Wien angesiedelte Forschungsinstitut ICMPD hat
in einer aktuellen Studie Risikofaktoren für potentielle Opfer von Menschenhandel formuliert (ICMPD
2010). In beiden Ausarbeitungen sind die vorgeschlagenen Faktoren aber sehr allgemein gehalten
sind und die Bestimmung der ‚Risikofaktoren’ oder
‚Risikogruppen’ weisen eine so starke Überdehnung auf, dass das angestrebte prognostizistische
Ziel nicht erreicht wird. Die Betrachtung der individuellen Merkmale der von Arbeitsausbeutung betroffenen Personen weist auch in unserem Sample
eine so breite Streuung auf, dass letztlich nur wenig
konkrete Hinweise auf besonders risikoträchtige
Merkmale oder Gruppen identiiziert werden, die
unmittelbar mit der ‚individuellen’ Seite verbunden
sind.
Geschlecht: Von Arbeitsausbeutung betroffen
sind sowohl Männer als auch Frauen, wobei eine
deutliche geschlechtsspeziische Verteilung nach
Branchen deutlich wird. Offen- erzwungene Arbeitsausbeutung wurde im Rahmen der Interviews
nur für abgeschottete Beschäftigungsbereiche wie
Gaststätten und Privathaushalte berichtet, wobei in
unserem Sample nur Frauen betroffen waren.
Alter: Im Falle der Arbeitsausbeutung fällt auf, dass
im Vergleich zur sexuellen Ausbeutung, bei der nur
ein geringer Anteil der Betroffenen älter als 25 Jahre
alt ist, eine große Altersspanne zwischen 19 und 55
Jahre besteht. Betrafen die Fälle ausbeuterischer
Arbeitsverhältnisse Männer, die älter als 40 Jahre
46 EUROPOL, http://www.europol.eu/publications/Serious_Crime_Overviews/Traficking%20in%20Human%20Beings%20
June%202009.pdf : zuletzt besucht am 30.08.2010
77
alt sind, so handelte es sich dabei überwiegend um
Familienväter, deren Frauen und Kinder ebenfalls in
Deutschland leben. Frauen in dieser Altersgruppe
lebten und arbeiteten hier deutlich häuiger allein,
typischerweise in Privathaushalten und arbeiteten
als Reinigungskraft oder in der Plege. Alter an sich
scheint kein besonderer Risikofaktor zu sein.
Bildung: Die verfügbaren Informationen zu Bildungsniveau und berulicher Qualiikation ergeben
ebenfalls ein gemischtes Bild. Neben Personen mit
niedriger Bildung und geringer Qualiikation, die
vor allem bei neu eingereisten Betroffenen von
Arbeitsausbeutung vertreten waren, gab es insbesondere bei Asylbewerbern und Personen mit
Duldung Höhergebildete.
Sprachkenntnisse: Mit Bezug auf die Sprachkenntnisse lässt sich festhalten, dass sich die Gruppe
derer, die über keine oder nur sehr geringe (Fremd)
Sprachkenntnisse verfügt, vor allem aus Personen
zusammensetzt, die zu Arbeitszwecken neu einreisten. Es handelte sich dabei um Personen, die
unabhängig davon, ob sie legal oder illegal einreisten, nur einen temporären Arbeitsaufenthalt
beabsichtigten. Auffällig ist, dass ausbeuterische
Arbeitsverhältnisse, denen eine legale Einreise zur
Aufnahme einer Beschäftigung vorangegangen
war, immer mit mangelnden Sprachkenntnissen
einher gingen. Es ist aber auch bemerkenswert,
dass etwa die Hälfte der im Sample erfassten Personen gute bis sehr gute Kenntnisse der deutschen
oder einer anderen europäischen Fremdsprache
aufwiesen. Dabei handelte es sich überwiegend
um AsylbewerberInnen und langjährig Geduldete
sowie Personen, die sehr lange illegal in Deutschland leben. Bis auf eine Frau, die bereits 1987 mit
einem Touristenvisum einreiste und fast 22 Jahre
lang als Hausangestellte in Botschaften und Privathaushalten arbeitete, setzt sich diese Gruppe somit
fast ausschließlich aus Personen zusammen, die
nicht zu Arbeitszwecken eingereist waren, sondern
in fast allen Fällen gemeinsam mit mehreren Familienangehörigen ihre Heimat aus unterschiedlichen
Gründen verlassen mussten.
78
4.5.2
Soziale und rechtliche Risikofaktoren
Neben dem Aufenthaltsstatus und individuellen,
den einzelnen ArbeitsmigrantInnen eigenen individuellen Merkmale wie Alter, Bildung, Geschlecht,
Sprachkenntnisse lassen sich auch soziale und
rechtliche Risikofaktoren identiizieren. Hierzu
zählen die mit einer Migrationssituation und branchentypischen Praktiken der Ausgestaltung von
Beschäftigungsverhältnissen verbundenen Risiken
der Mehrfachabhängigkeit.
Aufenthaltsstatus: In dem Sample ergaben sich
Hinweise, dass nicht nur ein fehlender, sondern
auch ein unsicherer Aufenthaltsstatus einen Risikofaktor bilden. Drei Viertel der uns von den angefragten Experten geschilderten Fälle extremer
Arbeitsausbeutung betrafen Personen, die legal
einreisten und hier arbeiteten oder Personen, die
durch Ausübung einer angemeldeten Beschäftigung eine Verstetigung ihres Aufenthaltstitels
erreichen wollten. Diese Gewichtung ist auf die
Zielgruppenspezialisierung der Beratungsstellen
zurückzuführen: Fünf Interviews wurden mit MitarbeiterInnen von Beratungsstellen für Migranten
durchgeführt, die sich auf Fragen der Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen und Geduldeten
konzentrieren. Die geschilderten Fälle von Migranten, die in Deutschland Opfer extremer Arbeitsausbeutung wurden, lassen sich vier Gruppen zuordnen.
(1) Bleiberecht durch Arbeit. Zu dieser Gruppe
gehören diejenigen, die sich in der Bleiberechtsregelung beinden oder einen ungesicherten Aufenthalt haben. Mehrere Faktoren tragen zu ihrer
Verletzlichkeit bei: Sie unterlagen meistens eines
mehrjährigen Aufenthalts einem Arbeitsverbot. Im
Ausland erworbene Qualiikationen wurden nicht
anerkannt oder haben ihren Wert verloren, so
dass sich Beschäftigungsmöglichkeiten vor allem
im Niedriglohnsektor bieten. In ihren Augen ist
die Beschäftigung zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen häuig der Preis, den sie für den Erhalt
eines gesicherten Aufenthaltes zu zahlen haben. Je
größer die Angst vor einer Abschiebung ist, desto
höher ist auch die Bereitschaft, auffällig ungünstige Arbeitsbedingungen hinzunehmen. Zudem
betreffen alle geschilderten Fälle in dieser Gruppe
Personen, die mit ihrer Familie eingereist sind bzw.
Kinder haben, die in Deutschland geboren sind.
Personen, die sich dieser Gruppe zuordnen lassen,
arbeiten überwiegend in der Hotelreinigung, dem
Dienstleistungssektor, der Produktion und in der
Gastronomie.
(2) Einreise als EU-Bürger: Bei den geschilderten
Fällen extremer Arbeitsausbeutung von EU-Bürgern lassen sich wenig Gemeinsamkeiten benennen. Auffällig ist vor allem, dass sich viele erst in
Deutschland auf die Suche nach Arbeit begeben
haben. BeraterInnen berichten immer wieder über
Menschen, die ohne konkreten Plan zu Bekannten oder entfernten Verwandten nach Deutschland kommen, die ihnen bei der Suche nach Arbeit
helfen sollen. Wenn sie eine unangemeldete Beschäftigung aufnehmen, können sie wegen fehlender Sprachkenntnisse, mangelnder Bildung oder
mangelndem Zutrauen in ihre Rechtsansprüche in
vergleichbar problematische Situationen wie Drittstaatler geraten. Den Berichten lassen sich Hinweise entnehmen, dass diese Personen vor allem im
Baugewerbe, der Gebäude- und Hotelreinigung,
sowie der Gastronomie beschäftigt werden.
(3) Einreise mit Beschäftigungsvisum: Insgesamt
sechs Fälle betreffen Drittstaatler, die ofiziell registriert mit dem Ziel einreisten, für einen bestimmten
Zeitraum hier zu arbeiten. An die Vergabe von Visa
für Spezialitätenköche und Hausangestellten von
Diplomaten sind jeweils bestimmte Bedingungen
geknüpft. Der Aufenthalt von Spezialitätenköchen
ist an ihre Tätigkeit geknüpft, der von Botschaftshausangestellten ist an den Arbeitgeber persönlich
gebunden. Das daraus resultierende Abhängigkeitsverhältnis ist also ungleich höher. Anders als
Spezialitätenköche können diese Hausangestellten sich keine vergleichbare Tätigkeit bei einem
anderen Arbeitgeber in Deutschland suchen,
sollten sie entlassen werden. Der Aufenthalt ist
grundsätzlich zeitlich befristet. Mit Ausnahme der
äthiopischen Köchin wurden die Betroffenen dieser
Gruppe im Heimatland meist gezielt über Zeitungsannoncen angeworben und die Vermittlung
79
lief über professionelle Agenturen. Angesichts der
eher geringen Anzahl von Arbeitsvisa, die jährlich
genehmigt werden, sind Betroffene dieser Kategorie im Sample auffällig häuig vertreten.
(4) Irreguläre Einreise und Aufenthalt: Ein Viertel der
im Sample erfassten Personen, die sich in extrem
ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen befanden
oder noch immer beinden, war illegal eingereist.
Bei allen handelt es sich um Frauen. Hinsichtlich
ihrer Strategien gibt es auffällige Parallelen: 1) Sie
wählten ihre Arbeitsverhältnisse bereits im Vorfeld
gezielt aus und setzten sich konkrete Ziele, die sie –
häuig innerhalb eines bestimmten Zeitraums – mit
Hilfe der Arbeit verwirklichen wollten. Frau E. wollte
mit dem Geld die Ausbildung ihrer Kinder sichern,
nachdem ihr Mann arbeitslos geworden war. Die
Tochter von Frau C. wünschte sich ein Musikinstrument – sie rechnete daher genau aus, wie lange sie
arbeiten müsste, um ihr diesen Wunsch zu erfüllen.
Frau L. ist allein stehend, hat keine Familie, die sie
im Alter unterstützen könnte. Sie wollte so lange in
Deutschland arbeiten, bis sie genug für ihre Altersvorsorge gespart hätte. 2) Sie planten, zurück in
ihre Heimat zu gehen, sobald sie die selbst gesetzten Ziele erreicht hätten. 3) Sie suchten und fanden
die Arbeit über ihre eigene Community. Die Frauen
arbeiteten überwiegend in Privathaushalten sowie
in der Gastronomie.
Die Auswertung des Samples zeigt, dass Betroffene von Arbeitsausbeutung eine sehr heterogene
Gruppe darstellen. Obgleich es zahlreiche Hinweise auf extrem ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse von Asylbewerbern ohne Arbeitserlaubnis gab, konnte keiner dieser Fälle in das Sample
aufgenommen werden. Aus Angst vor den Konsequenzen vertrauen die Betroffenen sich den BeraterInnen nur selten an und geben keine detaillierten Informationen die Gestaltung und Bezahlung
des Arbeitsverhältnisses betreffend preis.
Unterbringung: In 14 Fällen wurden die Betroffenen von ArbeitgeberInnen oder -vermittlerInnen
untergebracht und standen unter Beobachtung
oder zumindest unter deren enger Aufsicht. Es fällt
dabei auf, dass alle Beschäftigten, die dergestalt
untergebracht waren, kein Deutsch sprachen. Die
enge Aufsicht wurde in zwei branchenspeziisch
unterschiedlichen Formen umgesetzt. Im Baugewerbe organisiert der Arbeitgeber die Unterkunft, holt die Betroffenen morgens ab und bringt
sie abends wieder zurück. Bei der Beschäftigung
in Gaststätten und im privaten Haushaltsbereich
werden die Betroffenen direkt am Arbeitsplatz untergebracht. In sechs Fällen hielten die Betroffenen
sich unerlaubt in Deutschland auf. In diesen Fällen
wurde die mit der Unterbringung durch die ArbeitgeberIn verbundene Isolation von der Außenwelt
von den Betroffenen zunächst als Schutz empfunden. So war es Frau A., die in Berlin eine alte Frau
plegte, zu Beginn gar nicht bewusst, dass man
sie kontrolliert, denn „sie konnte kein Deutsch, sie
hatte diese scheinbare Freiheit“ und der Sohn der
alten Frau ging für sie einkaufen. Anfänglich habe
sie gar nicht das Bedürfnis gehabt, allein rauszugehen. Sie hatte Angst und war „auch psychisch
(...) in sich selbst gefangen.“ In den verbleibenden
acht Fällen waren die Personen(gruppen) ofiziell
eingereist und befanden sich in einem angemeldeten Arbeitsverhältnis bzw. gingen davon aus, sich
in einem zu beinden. Aufgrund der permanenten
Verfügbarkeit für ArbeitgeberInnen klagten die
Betroffenen übereinstimmend darüber, „Tag und
Nacht“ arbeiten zu müssen, in der Regel an sieben
Tagen die Woche. Echte Ruhephasen gibt es nicht.
Selbst Pausen wurden, wie in dem geschilderten
Fall des chinesischen Kochs, bei Bedarf jederzeit
unterbrochen und wären somit als „Bereitschaftszeiten“ zu bewerten. Bei einer Unterbringung am
Arbeitsplatz ist es leichter, die Ausnutzung von
Ruhezeiten als Arbeits- und Bereitschaftszeiten zu
verschleiern und so vorher einvernehmlich ausgehandelte Bedingungen zu unterlaufen.
Verschuldung: Ein hohes Risiko bildet die Verschuldung, um Gebühren für legale oder illegale Vermittlungsagenturen oder Darlehen für Reisekosten
zu bezahlen. Die Verschuldung, um Vermittlungsgebühren aufbringen zu können, steht im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme der Dienste
von Vermittlungsagenturen oder Privatpersonen,
die entweder vom Ausland aus die Einreise und
Vermittlung eines Arbeitsplatzes organisieren
oder aber vom im Inland einen Arbeitsplatz vermitteln. In sechs Fällen ist bekannt, dass eine Ver-
80
mittlungsgebühr bezahlt wurde. Fünf dieser Fälle
liefen über Agenturen im jeweiligen Heimatland.
Sie vermittelten die Betroffenen in ofiziell angemeldete Arbeitsverhältnisse nach Deutschland.
Im Fall von Frau Frau H. geschah die Vermittlung
in das Arbeitsverhältnis über eine professionelle
Agentur. Laut der Beraterin handelt es sich dabei
um eine „übliche Praxis.“ Etwa fünf Millionen IndonesierInnen „verlassen das Land jährlich, und
alle diese Indonesier müssen über eine Rekrutierungsagentur hierhin.“ Die Agenturen garantieren
zwar einen Arbeitsplatz sowie einen reibungslosen Ablauf der Visa- und Einreiseprozeduren, sie
tragen mitunter aber erheblich zur Ausbeutung
der Betroffenen bei. So waren die von der Agentur
verlangten Gebühren meist extrem hoch. Wenn
die Betroffenen Auskunft über die Höhe gaben, so
lag diese je nach Vertrag bei 7 000 oder 10 000 €.
Die Betroffenen kommen somit bereits verschuldet
in Deutschland an und sind auf den Arbeitsplatz
und ein regelmäßiges Einkommen angewiesen.
Wird die Gebühr nicht schon vor Einreise fällig,
pfänden die Agenturen häuig die ersten Monatsgehälter, um die geforderte Summe zu erhalten.
Frau H. hatte sich sehr schnell Hilfe suchend an die
Agentur gewandt. Da sie in deren Augen aber noch
verschuldet war, verweigerte man ihr jede Unterstützung. Dies sei „bei Indonesierinnen und Philippinas, die über Rekrutierungsagenturen gehen, ein
echtes Problem. Weil diese Agenturen sagen, erst
die Gebühr und dann die Hilfe.“ Eine Finanzierung
der Gebühren wurde durch Verschuldung im Familienkreis oder durch den Verkauf von Familienbesitz (Grundstück) aufgebracht. Die Forderung einer
hohen Vermittlungsgebühr führt in jedem Fall zu
hohen Verletzlichkeit. Die Angst, die Beschäftigung
zu verlieren und verschuldet nach Hause zurück zu
kehren, wird von den ArbeitgeberInnen vorsätzlich geschürt. Da die Agenturen ihren Sitz stets im
Ausland hatten und es über geleistete Zahlungen
keine Nachweise gab, wäre es in keinem der geschilderten Fälle möglich gewesen, die Agenturen auf Rückzahlung der überteuerten (und damit
nach Auffassung der Beraterin illegalen) Gebühren
zu verklagen. Auffällig ist zudem, dass alle Betroffenen, die über Agenturen in das Land kamen, über
keine Fremdsprachenkenntnisse verfügen und in
Arbeitsverhältnisse vermittelt wurden, in denen sie
unter enger Aufsicht ihrer ArbeitgeberInnen lebten
und arbeiteten. Weder bei den Spezialitätenköchen und -köchinnen, noch bei den Hausangestellten der Diplomaten gab es daher eine erkennbare
Trennung zwischen Arbeits- und Freizeit.
Anstellung über Subunternehmen oder Vermittlungsagenturen im Inland: Der Einsatz von Subunternehmen und die daraus resultierenden Abhängigkeiten sind vor allem aus der Baubranche
bekannt und betrafen fast ausschließlich Männer.
Auffällig ist, dass Vermittler der Subunternehmen
stets gezielt Arbeitnehmer aus EU-Ländern mit
einem deutlich niedrigeren Lohnniveau ansprachen. Die so angeworbenen Arbeitnehmer können
legal einreisen, es ist zu vermuten, dass auch sie,
wie bereits geschildert, „nach Nationalität“ bezahlt
werden. Die Betroffenen sprachen in der Regel kein
Deutsch und waren auf einen Mittler angewiesen,
der sie betreute und die Arbeitsanweisungen gab.
Die Männer lebten und arbeiteten unter enger
Aufsicht: Eine Unterkunft wurde organisiert, man
holte sie morgens zur Arbeit ab und brachte sie
abends wieder zurück.
Das daraus resultierende Abhängigkeitsverhältnis
weist starke Ähnlichkeiten zu jenem auf, in dem sich
die Angestellten von Vermittlungsagenturen beinden. Die Funktion und Arbeitsweise dieser Agenturen ist vor allem aus Berichten zur Reinigungsbranche bekannt: Sie fungieren gewissermaßen
als ‚gate-keeper’ für Stellen in der Gebäudereinigung, vor allem aber der Hotelreinigungsbranche.
Den großen Hotels garantiert man niedrige Personalkosten, dafür stellen diese ihr Personal lediglich über solche Agenturen ein. Wer eine Stelle
in dieser Branche sucht, kommt an den Vermittlungsagenturen nicht vorbei und diese nutzen
ihre Torwächterfunktion aus, um ungünstige Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Alle Personen,
die in der Hotelreinigung arbeiteten, hatten einen
legalen Aufenthaltstitel und eine Arbeitserlaubnis
für Deutschland. Betroffen waren sowohl Personen, die sich in der Bleiberechtsregelung befanden
oder den Behörden aus einem anderen Grund eine
geregelte Tätigkeit nachweisen mussten, um ihren
Aufenthaltstitel zu verstetigen, als auch Bürger aus
EU-Mitgliedsstaaten. Es gibt hier offensichtlich inzwischen ein großes Angebot an Arbeitsplätzen,
81
sodass selbst Personen ohne jegliche Deutschkenntnisse sofort eine Stelle erhielten. Während
der Recherche wurde sehr deutlich, dass die extrem
niedrigen Löhne und die schlechten Arbeitsbedingungen die Hotelreinigungsbranche bereits so in
Verruf gebracht haben, dass Menschen sich auf
diese Arbeit nur noch einlassen, wenn sie gar keine
Alternative sehen. Die BeraterInnen berichten,
dies ginge soweit, dass Klienten bereits einleitend
sagen: „Sie machen alles, jede Arbeit, außer Hotelreinigung.“ Auch andere Projekte, die auf die Arbeitsmarktintegration von Migranten spezialisiert
sind, vermitteln an diese Agenturen nur im „absoluten Notfall“. Nicht nur Frauen, auch Männer arbeiten als so genannte room-boys für diese Firmen
in Hotels. Die Probleme, die aus einem Anstellungsverhältnis bei einem Subunternehmen oder
einer Vermittlungsagentur resultieren, werden
zumeist erst nach Beendigung desselbigen deutlich. In vielen Fällen war es den Betroffenen selbst
mit Unterstützung der BeraterInnen nur unter erheblichen Schwierigkeiten möglich, einen Verantwortlichen ausindig zu machen, von dem man
Entlassungspapiere, Lohnbescheide oder ähnliche
wichtige Dokumente und Unterlagen einfordern
konnte. „Hierher kamen Leute, die hatten nur eine
Handynummer und einen Vornamen, die meisten
wissen doch meist gar nicht mehr, wer der Arbeitgeber ist.“ Für die Dauer ihres Arbeitsverhältnisses
hatten die Betroffenen meist lediglich regelmäßigen persönlichen oder telefonischen Kontakt zu
den bereits erwähnten Mittlern.
Rekrutierung über engen Bekannten- oder Verwandtenkreis: Wer eine Beschäftigung in Deutschland sucht, aber keine Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis besitzt, ist häuig auf die Vermittlung
über private, informelle Netzwerke angewiesen.
In diesem Sample wurde diese Konstellation insbesondere für die Vermittlung von Frauen in Privathaushalte geschildert. Wenn bekannt ist, dass
dafür Gebühren gezahlt wurden, so waren diese
verhältnismäßig gering (1 000 - 1 500 €). Entscheidend für die erfolgreiche Vermittlung in einen
Haushalt scheint weniger die gleiche Nationalität,
als vielmehr die gleiche Sprache zu sein. (Sprachminderheiten, Raum Russland). Da die Frauen sich
unerlaubt in Deutschland aufhielten und große
Angst davor hatten, verhaftet und abgeschoben
zu werden, wurde die Isolation von der Außenwelt
zugleich als Schutz empfunden. Die Frauen waren
somit in mehrfacher Hinsicht auf ihre ArbeitgeberIn angewiesen. Bei einem länger andauernden
Arbeitsverhältnis bauten viele eine enge persönliche Bindung zur ArbeitgeberIn auf und sahen sich
nicht in der Lage, gegen sie vorzugehen. Bevor die
Betroffenen sich dafür entschieden, ihr Arbeitsverhältnis zu beenden und Hilfe bei einer Beratungsstelle zu suchen, vergingen meist mehrere Monate.
Manche beendeten ihr Arbeitsverhältnis nicht aus
eigenem Antrieb, sondern wurden entlassen oder
von der Polizei verhaftet und in Abschiebegewahrsam gebracht. In den hier geschilderten Fällen
kannten die VermittlerInnen häuig den engsten
Familien- oder Freundeskreis der Betroffenen. Entsprechend groß war die Scheu dieser Personen
vor einer Anzeige. Dazu konnte sich auch Frau A.
nicht durchringen, die in einem Privathaushalt acht
Monate lang als Plegehelferin gearbeitet hatte.
Obgleich die Beraterin sie auf die Möglichkeit
einer Anzeige hinwies, wollte sie dies nicht, „weil
es Bekannte waren (...) das macht man nicht.“ Die
Beraterin erläutert, über diese Möglichkeit spreche
sie mit allen Betroffenen, zu einer Anzeige könnten
sich aber die wenigsten durchringen. Zum einen
gäbe es die Angst vor Rache, „weil der Kreis zu
klein ist“. Zum anderen müssten die Betreffenden
dann den Kontakt zu den Bekannten oder sogar
der Familie abbrechen – dies käme für die wenigsten in Frage. Die Vermischung von persönlichen
Beziehungen mit einem Beschäftigungsverhältnis
kann dazu beitragen, dass extreme Ausbeutung in
persönlichen Beziehungen seltener vorkommt als
in rein geschäftlichen Beziehungen. Wenn sie allerdings vorkommt – und nur solche Fälle wurden
in dieser Untersuchung aufgegriffen – dann ist es
für die Betroffenen umso schwerer, sich zu wehren.
82
4.5.3
Zwischenfazit
Die Betrachtung der Risikofaktoren zeigt erneut,
wie facettenreich die von den BeraterInnen geschilderten ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse sind.
Die Betroffenen von Ausbeutungsverhältnissen
waren Männer und Frauen innerhalb einer großen
Altersspanne. Mangelnde Sprachkenntnisse waren
ein Risikofaktor, entscheidender erschienen aber
ein fehlender oder prekärer Aufenthaltsstatus und
fehlende soziale Einbindung, die eine Abhängigkeit von ArbeitgeberInnen oder -vermittlerInnen
zur Folge hat. Die erhobenen Fallschilderungen
bestätigen die Beobachtung, dass mit einer Mehrfachabhängigkeit von einem Personenkreis die
Verletzlichkeit höher wird und damit das Risiko,
Opfer von Arbeitsausbeutung und Menschenhandel zu werden (Anti-Slavery International 2006,
Dettmeijer-Vermeulen 2007).
Aus den Darstellungen und Beobachtungen der
BeraterInnen wird deutlich, dass einige Branchen
für ausbeuterische Praktiken besonders anfällig
sind. Für Personen ohne Aufenthaltserlaubnis ist
hier vor allem die Beschäftigung in privaten Haushalten, oft bei Landsleuten, zu nennen. Darüber
hinaus sind insbesondere Branchen betroffen, in
denen die Verantwortung für die Einhaltung der
gesetzlichen Bestimmungen auf Subunternehmen
verlagert werden kann. Hier sind die Baubranche
und das Hotelgewerbe zu erwähnen. Weiterhin
besteht dort die Gefahr der Durchsetzung ausbeuterischer Beschäftigung, wenn die Beschäftigten
eine arbeitserlaubnisrechtliche oder aufenthaltsrechtliche Abhängigkeit von ArbeitgeberIn oder
ArbeitsvermittlerIn sehen.
83
4.6
Bekanntwerden,
Kontaktaufnahme und
Anzeigenbereitschaft
Zur Erarbeitung von Strategien zur Vermeidung
ausbeuterischer Beschäftigungsverhältnisse bei
MigrantInnen sind Kenntnisse erforderlich, unter
welchen Umständen die Ausbeutungsverhältnisse bekannt werde; wie die Betroffenen den Weg
zu einer unterstützenden Einrichtung inden, und
wovon die Anzeigenbereitschaft abhängt.
4.6.1
Bekanntwerden ausbeuterischer
Arbeitssituationen
Sehr oft wurden Informationen über ausbeuterische Beschäftigung bei der Gelegenheit aufenthaltsrechtlicher Beratungsgespräche gegeben.
Da es sich häuig um unangemeldete oder falsch
deklarierte Beschäftigungsverhältnisse handelte,
wurden diese von den Ratsuchenden in Beratungsgesprächen zu aufenthaltsrechtlichen Fragen oft
nur beiläuig erwähnt. Über die ausbeuterischen
Beschäftigungsverhältnisse wurde in der Regel
erst auf Nachfragen und Bitten von BeraterInnen
ausführlicher berichtet. Wenn die Betroffenen im
Zusammenhang mit Beschäftigungsverhältnissen
einen Hilfebedarf äußerten, dann ging es in der
Regel nicht um arbeitsrechtliche Ansprüche und
Möglichkeiten der Durchsetzung, sondern um Rat
und Unterstützung bei der Suche nach einer neuen
Beschäftigung.
Daneben gab es aber auch Betroffene, die ganz
gezielt eine Beratung und Hilfe im Zusammenhang
mit einer ausbeuterischen Beschäftigungssituation
suchten, wenn sie sie zu der Einsicht kamen, dass
sie den versprochenen Lohn nie erhalten würden
und die Hoffnung auf Verbesserung der Situation
aufgegeben wurde. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte von Frau D., die die Entscheidung zum
Verlassen des Arbeitsplatzes erst trifft, nachdem
man ihr eröffnet, dass sie nun auch die Krankenhausrechnung abarbeiten müsse. Sie erkennt,
dass sie dort „nie schuldenfrei“ werden wird. Ein
weiterer Grund dafür, den Arbeitsplatz zu verlassen und Hilfe zu suchen, war die körperliche Erschöpfung der Betroffenen. So wandte sich Frau A.
erst an eine Beratungsstelle, nachdem sie „nervlich
am Ende“ war – als Konsequenz aus der harten
Arbeit, dem ständigen Schlafentzug und einer Erkrankung. Wieder andere lohen, wenn sie eine
baldige Verschlimmerung ihrer Situation befürchten mussten, wie Frau B., die in die Prostitution vermittelt werden sollte. Hinsichtlich der Motivation
dieser Personen, Kontakt zu einer Beratungsstelle
aufzunehmen, muss betont werden, dass keine der
Betroffenen diesen Schritt mit bestimmten Forderungen verband. Eine Beraterin berichtete, dass die
unmittelbaren Erstbedürfnisse von Frauen nach
der Aufgabe des Beschäftigungsverhältnisses zur
sexuellen wie auch zur Arbeitsausbeutung darin
besteht, zu schlafen, zu essen, zum Arzt gehen und
zur Ruhe zu kommen. Lediglich die chinesischen
Spezialitätenköche wandten sich direkt an einen
Anwalt, nachdem sie in einer chinesisch-sprachigen Zeitung von den Erfolgen des Anwaltes in
ähnlich gelagerten Fällen gelesen hatten.
Die erfolgreiche Durchsetzung einer Lohnforderung in beträchtlicher Höhe hatte einen überaus
motivierenden und überzeugenden Effekt. Ziel der
Konsultation war daher primär, Lohnforderungen
durchzusetzen.
Schließlich erhielten auch SeelsorgerInnen in Abschiebehaft bei Gesprächen mit Inhaftierten Hinweise auf ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse. Dabei wollen Männer und Frauen aber nur
in Ausnahmefällen über ihre Arbeitserfahrungen
sprechen, da sie sich selbst im Unrecht fühlen. Insofern sie sich den SeelsorgerInnen dennoch anvertrauen, so geschah dies nie in Verbindung mit
einer bestimmten Forderung. Einzig erkennbare
Motivation sei der Wunsch sich mitzuteilen, „weil
es sie persönlich so bedrückt. (...) Nicht um jemanden anzuklagen, oder um Recht zu bekommen..“
84
4.6.2
Kontaktaufnahme mit
Beratungsstellen
Weiterhin ist interessant, wie die Betroffene den
Weg zu einer Beratungsstelle gefunden haben.
Dabei kann einerseits auf Personen hingewiesen
werden, die bereits in Deutschland leben und Beratungsstellen bereits wegen sozial- oder aufenthaltsrechtlicher Fragen konsultieren. Die BeraterInnen in diesem Feld beobachten mit Sorge, wie sehr
sich ihre Klienten in den Arbeitsverhältnissen ausbeuten lassen, da sie auf eine Verfestigung ihres
Aufenthaltsstatus durch Nachweis einer Beschäftigung hoffen. Sie können ihnen aber kaum Alternativen anbieten oder Auswege aufzeigen. Viele
berichteten, ihre KlientInnen wollen aus Angst
vor den möglichen Auswirkungen auf ihren Aufenthaltstitel ein ausbeuterisches Arbeitsverhältnis
grundsätzlich nur dann aufgeben, wenn sie direkt
in ein neues Beschäftigungsverhältnis wechseln
können. Viele KlientInnen verstoßen mit ihrer Beschäftigung selbst gegen arbeitserlaubnisrechtliche Bestimmungen. Unter diesen Umständen wird
unabhängig von den Erfolgsaussichten sowohl
bei strafrechtlich relevanten Sachverhalten keine
Anzeige erstattet als auch auf Einleitung zivilrechtlicher Schritte verzichtet.
Bei der Fallkonstellation der Personen, die zur
Aufnahme einer befristeten Beschäftigung neu
einreisten, kam der Kontakt mit Beratungsstellen auf unterschiedlichem Wege zustande. (1) In
der überwiegenden Anzahl von Fällen nahmen
die Betroffenen zunächst Kontakt zu FreundInnen oder Bekannten im In- und Ausland auf. Sie
berichteten ihnen teilweise telefonisch von ihrer
Lage und baten sie um Hilfe. Die Kontaktpersonen
suchten dann gezielt nach einer Beratungsstelle in der Nähe, die Beratungen in der jeweiligen
Sprache anbietet. Häuig waren die Stellen und die
jeweiligen BeraterInnen innerhalb der Community
bereits als vertrauenswürdig bekannt. Im Interview
betonte eine Beraterin daher die Bedeutung von
Vernetzung unter den Beschäftigten. „Wir können
nur helfen, wenn jemand zu uns kommt.“ Sie bestätigt, dass die Personen, die Beratung suchen,
häuig von Verwandten oder Bekannten an die
Beratungsstelle verwiesen werden. Nicht selten
haben diese Personen selbst einmal Hilfe gesucht
und empfehlen die Stelle aufgrund der guten Erfahrungen, die sie dort gemacht haben, weiter. So
gäbe es Familien, in denen die Beraterin Mitglieder
der ersten, zweiten und dritten Generation betreut,
mitunter erhalte sie auch Anrufe aus dem Ausland,
denn „Beratungsstellen wie unsere existieren dort
nicht.“ (2) Einige Fälle von extremer Arbeitsaubeutung wurden allein deshalb bekannt, weil sich die
Betroffenen in der Abschiebehaft den SeelsorgerInnen anvertrauten – meist erst nach mehrfachen
Besuchen. Die Personen in Abschiebehaft wurden
häuig wegen „Lappalien“ festgenommen. In den
geschilderten Fällen zogen die Festgenommenen
durch einen Zufall die Aufmerksamkeit der Polizei
auf sich: Entweder sie wurden bei Kontrollen auf
der Straße verhaftet – zumeist, weil sie versuchten
zu liehen – oder die Polizei traf sie in Wohnungen an, in denen sie eigentlich jemand anderen
verhaften wollten. (3) In zwei Fällen waren die
Betroffenen auf die Unterstützung und Aufmerksamkeit von Dritten, ihnen unbekannten Personen,
angewiesen: Frau N, die als Haushaltsarbeiterin
bei einem Diplomaten beschäftigt war, versuchte
einem Spielplatz mehrfach andere Personen auf
ihre Situation aufmerksam zu machen und Hilfe
zu leisten und schließlich Erfolg hatte. Und ohne
das geistesgegenwärtige Verhalten der Ärzte wäre
Frau H., die mit TBC in das Krankenhaus eingeliefert worden war, von ihrem ‚Arbeitgeber’ wieder
abgeholt worden.
4.6.3
Einleitung zivilrechtlicher Schritte
und Strafanzeigen
Selbst wenn die Betroffenen legal eingereist sind
und nicht befürchten müssen, abgeschoben zu
werden, fällt die Entscheidung schwer, Anzeige zu
erstatten: Eine Beraterin erklärt, den Frauen, die
sie betreut, sei bewusst, dass sich rechtliche Auseinandersetzungen über Jahre hinziehen können.
Die Betroffenen aber leben im „hier und jetzt“ und
haben keine Zeit, auf Geld zu warten. Angesichts
der Tatsache, dass der Aufenthalt und die Arbeit
in Deutschland zumeist der Verwirklichung eines
konkreten Ziels dienen sollten, wird genau abge-
85
wogen, welche Vor- und welche Nachteile mit einer
Anzeige verbunden sind.
In den hier geschilderten Fällen war der Druck,
in kurzer Zeit möglichst viel Geld verdienen zu
müssen, meist zu groß, als dass die Betroffenen
den langen und mühsamen Rechtsweg gehen
wollten. Bei Personen ohne geregelten Aufenthalt,
die Unterstützung in der Beratung suchten, iel
diese Kosten-Nutzen-Rechnung stets gegen die
Entscheidung aus, Anzeige zu erstatten: Nach der
Beratung suchten und fanden die Betroffenen – in
den hier geschilderten Fällen ausschließlich Frauen
– in kurzer Zeit neue Arbeitsverhältnisse über ihre
Netzwerke.
Nach unseren Recherchen zeigen BeraterInnen
zwar nicht in Erstgesprächen, in denen die Betroffenen nicht aufnahmefähig sind, aber in Folgegesprächen den Betroffenen gezielt Handlungsoptionen auf. Eine Beraterin berichtet: „Bei den
Lohnforderungen ist es tatsächlich so, dass manche
Frauen das anfangs nicht unbedingt wollen. Weil
es ihnen peinlich wäre. Weil sie nicht möchten,
dass man denkt, sie sagen diese Sachen nur, damit
sie an Geld kommen. Das ist für die Frauen ganz
beleidigend. Da ist es mittlerweile aber schon so,
dass wir sehr darauf achten, zu sagen: Doch, der
Lohn steht Ihnen zu. Und dass wir die Frauen sehr
darin stärken, das zu fordern.“
Eine Beraterin erklärte, sie spreche mit allen Betroffenen über die Möglichkeit einer Strafanzeige.
Dazu könnten sich aber die allerwenigsten durchringen. Mit Blick auf die im Rahmen der Recherche
geschilderten Fälle lässt sich jedoch ein deutlicher
Unterschied zwischen den Entscheidungen feststellen, die Personen mit und ohne legalen Aufenthaltstitel treffen. Eine Reihe von Fällen konnte
deshalb im Rahmen der Studie erhoben werden,
weil sich die legal mit einem Arbeitsvisum eingereisten Beschäftigten aufgrund der Beratung dazu
entschlossen hatten, Lohnforderungen zu erheben.
Nur im Fall der äthiopischen Spezialitätenköchin
Frau D. kam es zu einer Strafanzeige und Verurteilung des Arbeitgebers nach §233 StGB. In diesem
Fall beteiligte sich die Betroffene deshalb an der
Aufklärung und Strafverfolgung, um ihren persönlichen Ruf in der Community wiederherzustellen.
4.7
Zusammenfassende
Beobachtungen
Die Informationen der MitarbeiterInnen von Beratungsstellen und RechtsanwältInnen verdeutlichen,
dass ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse
unterschiedlichen nichtstaatlichen Stellen bekannt
werden, die mit einem niedrigschwelligen Angebot
das Vertrauen der Klienten gewinnen, wenn sie
keine Schritte ohne Zustimmung der Betroffenen
durchführen. Allerdings zeigt sich, dass die Beratungsstellen unter den gegebenen rechtlichen
und institutionellen Rahmenbedingungen kaum
Ansatzpunkte sehen, um ausbeuterische Beschäftigung oder Verdachtsfälle auf MH/A zur Anzeige
zu bringen. Aufgrund der Strafandrohung wegen
illegalem Aufenthalt oder Schwarzarbeit für den
Fall, dass sich der Verdacht auf MH/A nicht erhärten lässt, können die Betroffenen in der Regel
nicht dazu motiviert werden, eine Strafanzeige zu
stellen und Ermittlungsarbeiten zu unterstützen.
Aus diesen Gründen sind die Betroffenen häuig
auch nicht dazu bereit, zivilrechtliche Schritte einzuleiten. Diesbezüglich kommt erschwerend hinzu,
dass die Betroffenen oft keine hinreichenden Informationen und Nachweise über die Arbeits- und
Lohnbedingungen der Beschäftigung erbringen
können.
86
87
5.
Möglichkeiten zur Schätzung
der Größenordnung von MH/A
Wie aus den bisher dargestellten Befunden deutlich wurde, ist eine Schätzung der Größenordnung
schon aus begriflichen Gründen mit erheblichen
Schwierigkeiten verbunden. Ziel dieses Abschnitts
ist es zu untersuchen, inwiefern dennoch Aussagen
zur Größenordnung möglich sein könnten. Da für
Deutschland bisher keine Schätzungen vorliegen,
wird in einem ersten Abschnitt auf internationaler
Ebene die ILO-Schätzung zur Zwangsarbeit in der
Privatwirtschaft als ungefähres Äquivalent identiiziert, bevor in einem zweiten Abschnitt der Untersuchungsgegenstand näher eingegrenzt wird.
Es werden Überlegungen zu den methodischen
Grundlagen möglicher Schätzungen vorgestellt.
Auf dieser Basis wird gesichtet, inwiefern das
im empirischen Teil zusammengestellte Material
bereits Ansatzpunkte für eine Schätzung bietet
und wie solche Ansatzpunkte geschaffen werden
könnten. Da das erhobene Material nicht genügend Anhaltspunkte für eine Schätzung bietet
und allenfalls die vorsichtige Plausibilitätseinschätzung hindeutet, dass besonders schwere
Fälle von Zwangsarbeit nur selten vorkommen,
werden Vorschläge zur Verbesserung der quantitativen Lageeinschätzung vorgeschlagen.
88
5.1
Stand der Diskussion über
Schätzungen zu MH/A
„Zahlen sind nicht so wichtig – jeder Betroffene ist
einer zu viel“ – so wird oft argumentiert, wenn nach
Dunkelziffern gefragt wird. Das ist sicherlich richtig,
wenn es um ein grundsätzliches moralisches Urteil
geht. Allerdings beraten und entscheiden Politiker
und Politikerinnen sowie auch Praktiker und Praktikerinnen immer auch vor dem Hintergrund vorgestellter Größenordnungen, ob nun explizite Zahlen
genannt werden oder nicht. Stark überschätzte und
unterschätzte Phänomene können zu politischen
Fehlentscheidungen führen (Tyldum, Brunovskis
2005, S. 19).
Im ‚Berliner Bündnis gegen Menschenhandel
zum Zweck der Arbeitsausbeutung’ wird von der
Annahme ausgegangen, dass es so wenige ofiziell
identiizierte Fälle gibt, weil Menschenhandel zum
Zweck der Arbeitsausbeutung nicht wahrgenommen wird und weil die Betroffenen sich bislang nur
auf unzureichende Hilfe stützen können. Damit ist
angedeutet, dass von einer erheblichen Dunkelziffer ausgegangen wird. Letztlich ist es das Ziel des
Projekts, effektivere Hilfe- und Beratungsstrukturen aufzubauen, damit Betroffene Auswege aus
extrem ausbeuterischen Situationen inden und
ihre Rechte einfordern können. Was adäquate
Hilfe- und Beratungsstrukturen sind, hängt von
vielen Faktoren ab, darunter auch vom Umfang
des Phänomens. Vor diesem Hintergrund sind
Überlegungen zur Möglichkeit der Schätzung von
Dunkelziffern sinnvoll und sollen hier vorgestellt
werden.
Zu Ausmaß und Erscheinungsformen des Menschenhandels liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor. Bereits früh wurden die in den jährlich
veröffentlichten Menschenhandelsberichten des
Auswärtigen Amtes der USA (US Department of
State, 2002, 2003, 2004) genannten globalen Gesamtzahlen der Opfer des Menschenhandels als
überhöht kritisiert. Die Herausgeber des TIP-Berichts korrigierten daraufhin zwischen 2001 und
2005 die Schätzungen kontinuierlich nach unten:
Nach einer anfänglichen Schätzung von 0,7 bis 4
Millionen Menschenhandelsopfern wurde die Zahl
auf 600-800 000 Opfer reduziert (Kelly 2005: 239f).
Die umfassendste und auch am besten dokumentierte Schätzung zum weltweiten Umfang von
Zwangsarbeit und Menschenhandel hat die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) vorgelegt.
Sie beruht auf einer umfassenden Informationssammlung über einen Zeitraum von zehn Jahren
und wurde 2005 veröffentlicht. Darin wird Zwangsarbeit (forced labour) und Menschenhandel (traficking) unterschieden. Zwangsarbeit wird deiniert
als Arbeit, die unter Bedrohung durch psychologischen oder gewalttätigen Zwang unfreiwillig
aufgenommen wurde (vgl. Kasten 2, Kapitel 2.1),
während Menschenhandel die Rekrutierung und
den Transport in die Zwangsarbeit bezeichnet (für
Details zum Begriffsverständnis siehe Belser, Cock
und Mehran 2005: 7-9). Zwangsarbeit wird weiter
danach unterschieden, ob sie durch den Staat oder
Privatpersonen durchgesetzt wird. Privat erzwungene Arbeit wird weiter danach unterschieden,
ob sie im Zusammenhang mit der Sexindustrie
steht oder ob nicht-sexuelle Arbeiten erzwungen
werden.
Hier sei noch einmal daran erinnert, dass die im
deutschen Recht gewählte Speziizierung von
‚Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der
Arbeitskraft‘ in §233 im Wesentlichen dem entspricht (vgl. Abschnitt 3.4), was die ILO als Zwangsarbeit zur ökonomischen Ausbeutung bezeichnet,
so dass sich MH/A-Betroffene und Zwangsarbeitende im Wesentlichen synonym verwenden lässt.
Die im deutschen Recht als ‚Förderung des Menschenhandels‘ in § 233 a StGB unter Strafe gestellten Tätigkeiten entsprechen im Wesentlichen dem,
was in der ILO-Abgrenzung als Menschenhandel
bezeichnet wird. Das muss berücksichtigt werden,
wenn man die Zahlen interpretiert.
89
Tabelle 4:
Mindestschätzung der ILO zur weltweiten Verbreitung von Zwangsarbeit
(2005) in Tausend
Durch den
Staat
erzwungen
Kommerzieller sexueller
Missbrauch
Ökonomische MischAusbeutung
formen
Darunter
Opfer von
Insgesamt
Menschenhandel
Industrieländer
19
200
84
58
360
270
Übergangsländer
1
98
10
103
210
200
902
5 964
434
9 490
1 360
115
994
3
1 320
250
Asien und
2 186
paziischer
Raum
Lateinamerika und 205
Kaibik
Subsaharisches Afrika
70
50
531
13
660
130
Mittlerer
Osten und
Nordafrika
7
25
229
-
260
230
Welt
2 490
1 390
7 810
610
12 300
2 450
Quelle: Belser, Cock und Mehran (2005:2)
Es wird geschätzt, dass weltweit mindestens 12,3
Millionen Menschen Zwangsarbeit leisten müssten,
die meisten davon in Asien. Für die Industrieländer wird eine Zahl von mindestens 360 000 Menschen geschätzt, die Opfer von sexueller oder Arbeitsausbeutung sind47 Die Zahl der Personen, die
von Arbeitsausbeutung betroffen sind, wird auf
84 000 geschätzt. Während kommerzielle sexuelle
Ausbeutung weltweit nur 11 Prozent der Schätzergebnisse ausmacht, sind es in den Industrieländern 56 Prozent. Es wird geschätzt, dass weltweit
etwa 20 Prozent aller Zwangsarbeitenden durch
Menschenhandel in diese Situation gebracht
wurden, während der Anteil in Industrieländern auf
75 Prozent geschätzt wird, was mit dem höheren
Anteil an sexueller Ausbeutung zusammenhängt.
Die für die Industrieländer geschätzte Mindestzahl
von 84 000 zwangsweise ökonomisch Ausgebeuteten ist die Zahl, die sich am ehesten als Vergleichszahl zum Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft im Sinne des deutschen
Rechts (MH/A § 233 StGB) eignet. Schätzungen
zu einzelnen Ländern wurden nicht veröffentlicht.
Wären die geschätzten Zwangsarbeitenden in der
Privatwirtschaft gleichmäßig nach der Bevölkerung
in der Ländergruppe der Industrieländer verteilt,
könnte man für Deutschland eine Mindestzahl
von ca. 7 000 und für Berlin und Brandenburg eine
47 Die Berechnung für „Industrieländer“ in der ILO-Schätzung stützt sich auf das „Regional breakdown according to ILO‘s KILM
(Key Indicators of Labour Market)“. Eine Aulistung der als „Industrieländer“ zusammengefassten Staaten bietet Belser, Cock und
Mehran (2005:38f)
90
Mindestzahl von 500 erwarten. Es sei noch einmal
betont, dass dies keine Schätzung ist. Es wurde
nur eine Berechnung durchgeführt, die zeigen soll,
welche Erwartungen weltweit genannte Zahlen für
die Situation in Deutschland wecken könnten.
Es gibt keine methodisch fundierten Schätzungen
zum Umfang von Menschenhandel zum Zweck der
Arbeitsausbeutung für Deutschland oder einzelne
Bundesländer.
5.2
Eingrenzung des Untersuchungsfeldes
Je genauer eine Straftat im Gesetz speziiziert ist
und je stärker das Alltagsverständnis der Begriffe mit den Gesetzestatbeständen übereinstimmt,
desto leichter fällt es, zum Beispiel in Umfragen
und Expertengesprächen auch Informationen zu
ermitteln, die zur Dunkelzifferschätzung verwendet
werden können. Wenn zum Beispiel Dunkelziffern
zum Ladendiebstahl bei Jugendlichen geschätzt
werden sollen, kann man relativ sicher davon ausgehen, dass Forschende und Jugendliche eine ähnliche Vorstellung von Diebstahl haben und ‚nur‘
noch das Problem zu lösen ist, dass aus Scham zu
wenig oder aus Angeberei zu viel angegeben wird.
Beim Thema Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung liegt – wie oben gezeigt wurde
– kein übereinstimmendes Verständnis vor, an das
empirische Analysen anknüpfen könnten. Unser
grundlegendes Verständnis der Begriffe Arbeit, Arbeitsausbeutung und Menschenhandel zum Zweck
der Arbeitsausbeutung (Zwangsarbeit) wurden
bereits in Abschnitt 3.4 dargelegt. Hier wird hier
also nach Möglichkeiten zur Schätzung der Zahl
der Personen in erzwungener Arbeit oder synonym
Zwangsarbeit gesucht. Da das ‚Bringen in‘ eine Situation der Arbeitsausbeutung nicht zwingend
eine Zuführung durch Dritte impliziert, sondern
auch durch den Arbeitgeber selbst geschehen
kann, wird bei den Überlegungen zur Schätzung
nicht weiter verfolgt, durch welche Beförderungsund Rekrutierungswege jemand in eine Situation der Zwangsarbeit geraten ist. Der Bereich der
Ausbeutung in der Sexarbeit wird hier ausgeklammert. Dabei ist uns bewusst, dass es auch dort zu
Arbeitsausbeutung im Sinne unserer Deinition
kommen kann, wenn nicht die Prostitution an sich
gegen den Willen der Betroffenen erzwungen wird,
sondern ‚nur’ die Ausübung oder Weiterführung
zu ausbeuterischen Bedingungen.
Wenn einzelne Fälle als Zwangsarbeitsfälle identiiziert werden sollen, werden typischerweise Indikatoren verwendet (vgl. Abschnitt 2.5). Die Prüfung
komplexer Anforderungen, die Motivation der Ar-
91
beitgeber und Sinneswandel bei den Beschäftigten einschließen, sind schon in Gerichtsverfahren
kaum zu bewältigen und können nicht als Ansatzpunkt für eine Schätzung genommen werden. Um
in der Falldokumentation, die auf der Basis von
ExpertInnengesprächen zusammengestellt wurde,
Personen zu identiizieren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit von Zwangsarbeit betroffen waren,
wurden vorab zwei Logiken festgelegt:
1. Ein Fall wird als Verdachtsfall von MH/A
eingeordnet, wenn die Arbeit unter Anwendung oder Androhung von Gewalt gefordert
wurde oder wenn die Person eingesperrt oder
bewacht wurde, so dass sie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt war. In der Diskussion dürfte ein hoher Grad an Einverständnis erzielt werden können, dass hier Zwang
und Befreiungsbedarf vorliegt, auch wenn
Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung gerichtlich nicht immer im Einzelfall
nachgewiesen werden kann.
2. Ein Fall wird als Verdachtsfall von MH/A eingeordnet, wenn jemand über einen längeren
Zeitraum extreme Arbeitsausbeutung hingenommen hat. Eine Eingrenzung auf extreme
Situationen soll sicherstellen, dass einleuchtend argumentiert werden kann, dass informierte Arbeitende sie nicht freiwillig eingegangen wären, und dass Arbeitgeber sich
dessen bewusst sein müssen. Eine gewisse
Dauer soll vorausgesetzt werden, um plausibel
zu argumentieren, dass sich die Arbeitenden
nicht ohne weiteres aus der Situation befreien
konnten. Dies wird von uns für diese Untersuchung folgendermaßen operationalisiert:
•
•
Es liegt ein Arbeitsverhältnis von mindestens 3 monatiger Dauer vor.
Es liegt mindestens einer der vier Indikatoren für extreme Arbeitsausbeutung, die
in der Falldokumentation aufgenommen
wurden, vor (extrem niedriger vereinbarter
Lohn, drastische intransparente Lohnkürzung, Nicht-Auszahlung von Löhnen, krasse
Missachtung des Arbeitsschutzes, vgl. Abschnitt 4.1)
Die Angabe für die Dauer mit 3 Monaten wurde
gewählt, weil eine Beschäftigte spätestens dann
gemerkt haben müsste, dass eine ArbeitgeberIn
sich nicht an vorher vereinbarte Bedingungen hält.
Der extrem niedrige Lohn wurde in Anlehnung an
Pressemitteilungen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit gewählt, in der entsprechende Löhne als Beispiele für extreme Niedriglöhne zitiert werden.
Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass auch
andere Fälle in der Dokumentation den Tatbestand des § 233 StGB erfüllen könnten, insbesondere auch kürzerfristige Fälle, in denen aus dem
Ausland eingereiste Menschen um ihren Lohn betrogen worden sind. Zugleich könnte die nähere
rechtliche Prüfung der indizierten Fälle möglicherweise zu dem Ergebnis kommen, dass es sich
nicht um MH/A im Sinne des deutschen Rechts
gehandelt hat. Anhand der Falltabelle (Anhang 3)
könnten auch andere Merkmalskombinationen als
verdachtsindizierend gewertet werden.
5.3
Methodische Grundlagen
Es ist schwierig, die Größe einer Bevölkerungsgruppe zu schätzen, die für direkte Umfragen nicht zugänglich ist. In einem Zielland wie Deutschland erscheint es wenig aussichtsreich, eine größere Zahl
von Migranten direkt nach Erfahrungen zu fragen,
die auf Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung hindeuten, weil die unbekannte Gesamtzahl im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung
auf jeden Fall klein ist, und die Kriminalisierung
und Stigmatisierung in Deutschland hoch sind, so
dass sich mit einer Umfrage keine statistisch verwertbaren Ergebnisse erzielen lassen (International
Labour Organisation 2009, S. 13).
Die Schätzung der ILO zu Zwangsarbeit und Menschenhandel ist die einzige Schätzung, bei der die
Methoden und zugrunde liegenden Annahmen
umfassend dargestellt und erläutert wurden. Die
eigentliche Schätzmethode der ILO für Zwangsarbeit lässt sich wie folgt beschreiben: Sie geht
davon aus, dass ein Teil der tatsächlichen Fälle von
Zwangsarbeit in Medienberichten und Veröffentlichungen von Organisationen auftauchen, dass es
92
aber im Weltmaßstab unmöglich ist, alle diese Veröffentlichungen zu inden. Nun haben zwei Teams
unabhängig voneinander mit identischen Kriterien
nach Veröffentlichungen für den Zeitraum 1995 bis
2004 gesucht und daraus Fallzahlen extrahiert. Mit
Hilfe der Relation von neuen zu bereits von Team 1
erfassten Fällen in der Stichprobe von Team 2 lässt
sich die Gesamtzahl der bekannt gewordenen Fälle
schätzen (Capture-Recapture-Methode).
Brunovskis zu dem Schluss, dass statistische Schätzungen in diesem Feld zwar prinzipiell möglich
sind, aber immer selten bleiben werden, weil sie
mit hohen Risiken und Kosten verbunden sind.
Eine systematische Sammlung und Analyse vorhandener Informationen unter Berücksichtigung
und Dokumentierung ihrer Verzerrungen würde
aber unser Verständnis schon deutlich verbessern
(Tyldum, Brunovskis 2005, S. 31).
Durch Multiplikation der Zahl der Fälle mit ihrer
Dauer wird die Schätzung der in einem Zeitraum
berichteten Fälle in eine Stichtagsschätzung umgewandelt. Schwierig ist die Beurteilung, wie hoch die
Zahl und Dauer der nicht berichteten Fälle ist. Je
kürzer ein Zwangsarbeitsverhältnis gedauert hat,
desto unwahrscheinlicher ist sein Bekanntwerden,
so die Annahme der ILO. Lang andauernde Zwangsarbeitsverhältnisse sind also in der Stichprobe der
bekannt gewordenen Fälle überrepräsentiert. Laut
ILO kann angenommen werden, dass der Effekt aus
der Überrepräsentierung lang und Unterrepräsentierung kurz andauernder Verhältnisse gleich ist,
so dass die Zahl der bekannt gewordenen Fälle
der Gesamtzahl der Fälle entspricht (Belser et al.
2005, S. 23). Damit wird also eine Dunkelziffer von
0 angenommen, und eine differenzierte Dunkelzifferschätzung durch diese Annahme ersetzt. Die
Schätzung wird als Mindestschätzung klassiiziert.
Einen solchen Ansatz haben Vogel und Aßner
(2009a, 2009b) entwickelt, um den Umfang der Bevölkerung ohne Aufenthaltsstatus in Hamburg zu
schätzen. Dieser Logicom-Ansatz zur Schätzung
versteckter Bevölkerungsgruppen wird auch hier als
Rahmenmethode verwendet. Dabei werden statistische Datenspuren und quantitative Experteneinschätzungen systematisch gesammelt und Oberund Untergrenzen aus unterschiedlichen Quellen
geschätzt. Im Rahmen dieser Studie werden Vorarbeiten durchgeführt, dann wird geprüft, ob sich auf
der Basis der Datenerhebung der Kooperationspartner bereits Schätzungen durchführen lassen.
Möglichkeiten zu weiterführenden Datenerhebungen und Schätzungen werden erörtert.
Die ILO-Schätzungen wie auch andere Schätzungen der Zahl der Betroffenen in Aufnahmeländern
beruhen entweder auf Veröffentlichungen über
Fälle von Menschenhandel oder auf Polizeidaten.
Eine geplante Studie der Universität Göttingen
wird ebenfalls im Wesentlichen ein neues Verfahren zum internationalen Vergleich von Fall- und
Polizeidaten entwickeln. Nach einer Pressemitteilung geht es darum, bereits vorhandene Datenbanken wie zum Beispiel die des United Nations
Ofice on Drugs and Crime (UNODC) auszuwerten
und daraus einen „Composite Index of Traficking
in Europe (CITE)“ zu erarbeiten.48In ihrem Methodenüberblick über Möglichkeiten zur Schätzung
von Menschenhandelsopfern kommen Tyldum und
5.3.1
Dunkelziffern aus
Falldokumentationen
Die ausführlichen ILO-Überlegungen zum Zusammenhang von beobachtbaren und unbeobachteten Größen (Belser 2005, S. 21–24) bilden hier
den Ausgangspunkt für veranschaulichende und
weiterführende Überlegungen, wobei jedoch z. T.
andere Ergebnisse erzielt werden.
Zunächst muss man konstatieren, dass es sich bei
Beobachtungen in der Regel um Fälle handelt, die
in einem bestimmten Zeitraum der Polizei oder
einer Beratungsorganisation zur Kenntnis gelangen. Wenn man die Zahl der Menschen schätzen
möchte, die zu einem bestimmten Zeitpunkt von
Zwangsarbeit betroffen sind, ist es nötig, auch
die Dauer der Verhältnisse vor Bekanntwerden zu
kennen.
47 http://www.uni-goettingen.de/de/3240.html?cid=3460 : zuletzt besucht am 30.08.2010
93
Unter der Annahme gleichmäßiger Verteilung ergibt sich folgende Formel:
Schätzung Zeitpunkt =
Zahl der berichteten Fälle im Zeitraum * durchschnittliche Dauer der berichteten Fälle =
Gesamtdauer der berichteten Fälle
mit S Schätzung zu einem Zeitpunkt,
B Gesamtzahl der berichteten Fälle,
db durchschnittliche Dauer der berichteten Fälle
Db Dauer eines Einzelfalls sowie
j für den betreffenden Zeitraum, z.B. ein Jahr.
Was das konkret bedeutet, soll an idealisierten Beispielen veranschaulicht werden. Nehmen wir an, in
einer Beratungsstelle werden in den Jahren 2007 und 2008 jeweils 8 Fälle beraten, von denen vier Fälle
drei Monate dauern und die andere Hälfte zwei Jahre. Wir stellen uns vor, dass die Fälle jeweils zum Ende
eines Quartals beraten worden sind. In Abbildung 1 ist die Dauer der einzelnen Fälle auf einem Zeitstrahl
abgetragen. Dabei wird deutlich, dass bei den 3-Monatsfällen zu jedem einzelnen Zeitpunkt nur eine
Person in einer Zwangsarbeitssituation steckt. Die Zwei-Jahresfälle gehören aber zu den unaufgedeckten
Fällen des Vorjahres.
Die Gesamtzahl der Personen, die sich zu jedem einzelnen Zeitpunkt in Zwangsarbeit beinden, lässt sich
dann durch die Gesamtdauer der Zwangsarbeitszeiten approximieren.
Das heißt in diesem Fall: Die bekannt gewordenen Fälle lassen darauf schließen, dass zu jedem Zeitpunkt
im Zeitraum 2007 und 2008 neun Personen von Zwangsarbeit betroffen waren. Alternativ ausgedrückt:
Aus der Zahl der Fälle lässt sich mit einem Multiplikator von 1,125, der der durchschnittlichen Dauer eines
Zwangsarbeitsverhältnisses entspricht, die Gesamtzahl zu einem Zeitpunkt errechnen.
Wir können die Informationen zusätzlich nutzen, um einen Multiplikator für eine Mindestdunkelziffer
für Fälle in einem Zeitraum zu erhalten. Wir wissen, dass 2007 8 Fälle beraten worden sind. Wir wissen
darüber hinaus aus den Beratungen von 2008, dass in 4 Fällen schon 2007 Zwangsarbeit vorlag, aber nicht
beraten wurde. Diese 4 Fälle sind die Mindestdunkelziffer für 2007, so dass die Gesamtzahl mit einem
Multiplikator von 1,5 auf die 2007 beratenen Fälle errechnet werden kann.
94
Man bräuchte Angaben zur Dauer aller bekannt
gewordenen Fälle in mindestens 2 Zeiträumen, um
einen Multiplikator zu errechnen, mit der sich die
Mindestgesamtzahl eines Jahres errechnen lässt.
Für jeden Fall im späteren Jahr müsste bestimmt
werden, ob die Person schon im Vorjahr betroffen
war, d.h. von der Gesamtdauer müsste die Dauer
der Zeit im Berichtsjahr abgezogen werden.
Mindestdunkelziffer für Bj
wobei B* nur die im Jahr j+1 berichteten Fälle
anzeigt, die auch schon im Jahr Bj bestanden.
Das ist eine recht robuste Mindestdunkelziffer, da
durch die Zahlen des Folgejahres bekannt ist, dass
die Fälle schon im Vorjahr existierten. Die in der
ILO-Schätzung getroffene Annahme einer Mindestdunkelziffer von 0 erscheint nach dieser Überlegung zu niedrig.
Der genaue Zeitpunkt der Aufdeckung wird sich in
Statistiken und Erhebungen nicht immer feststellen
lassen, so dass dann ein Näherungswert gefunden
werden muss, wie viele Fälle schon im Vorjahr bestanden. Dazu könnte man die Verteilung der Fälle
mit 0 bis 12monatiger Dauer betrachten und den
Medianwert errechnen, also den Wert, bei dem
genau die Hälfte der Fälle darüber und darunter
ist. Alle Fälle, deren Gesamtdauer kleiner ist als
der Medianwert, werden nicht zur Dunkelziffer des
Vorjahres gezählt.
Nun wurde bisher davon ausgegangen, dass Fälle
identisch sind mit Personen. Es können aber auch
in einem Fall mehrere Personen betroffen sein, die
eine je unterschiedliche und nicht ermittelbare
Dauer in einem Zwangsarbeitsverhältnis gearbeitet haben. Das Verhältnis von Fallzahl zu Personen
spielt bei der ILO-Schätzung eine große Rolle, da
es sich besonders bei Berichten aus Asien oft um
größere Zahlen von Menschen dreht, die in einem
einzigen Betrieb zur Arbeit gezwungen werden und
95
bei denen nicht für Einzelne die Dauer ermittelt
werden kann. Für Deutschland ist im empirischen
Teil die Vermutung zu prüfen, dass es sich hier
eher um einzelne Personen oder kleine Gruppen
handelt, so dass eine Umrechnung auf Personen
mit je eigener Dauer möglich ist.
Die Dunkelzifferschätzung ist als Mindestdunkelzifferschätzung einzustufen, weil sie auf der Zahl der
Personen beruht, die irgendwann einmal bekannt
werden. Es gibt aber auch Fälle, die nie bekannt
werden, weil die Personen sich selbst befreien oder
von Privatpersonen befreit werden, ohne jemals
mit Organisationen oder Personen in Kontakt zu
kommen, die die Fälle für eine Schätzungsdokumentation zugänglich machen könnten. Annahmen
zur Zahl der niemals beobachteten Fälle scheinen
mir auf der Basis beobachteter Fälle nicht plausibel zu begründen, so dass ich die ILO-Annahme
nicht nachvollziehen kann, warum wir unterstellen
sollen, dass es der Quotient aus Dauer und Aufdeckungswahrscheinlichkeit genau 1 ergeben soll
geben soll. Außerdem wird durch diese Annahme
eine prinzipiell erhebbare Information (die Dauer
aufgedeckter Fälle) nicht für die Schätzung genutzt.
5.3.2
Mindest- und Maximalschätzungen
mit Multiplikatoren
Für maximale Dunkelzifferschätzungen müssten
andere Wege beschritten werden. So könnten
Branchen oder beobachtbare Arbeitssituationen
identiiziert werden, in denen nach den beobachteten Fällen Zwangsarbeitsverhältnisse vorkommen. Dann stellt die Gesamtzahl der so identiizierten Verhältnisse eine absolute Obergrenze für
Zwangsarbeitsverhältnisse in diesem Bereich dar.
Zum Beispiel kann die Zahl der von Botschaftsangehörigen in Zwangsarbeit gehaltenen Haushaltshilfen nicht höher sein als die Gesamtzahl
der Haushaltshilfen von Botschaftsangehörigen
zu einem Zeitpunkt. Nun müsste nach geeigneten Mitteln gesucht werden, um den Anteil der mit
hoher Wahrscheinlichkeit erzwungenen bzw. nicht
erzwungenen Verhältnisse festzustellen, z.B. über
Experteneinschätzungen oder auch über Kontrollen durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, sofern
es sich um Branchen handelt, die solchen Kontrollen zugänglich sind.
Es werden also Minimal- und Maximalschätzungen
mit Multiplikatoren angestrebt. Dabei wird von der
Annahme ausgegangen, dass es für bestimmte
Phänomene nur verzerrte Daten gibt, dass sich aber
die Art und Richtung der Verzerrung oft feststellen
lässt. Für Ober- oder Untergrenzenschätzungen
werden Datengrundlagen benötigt, bei denen das
interessierende Phänomen mit hoher Wahrscheinlichkeit entweder über- oder unterrepräsentiert ist.
Ober- und Untergrenzenschätzungen nach diesem
Prinzip sind möglich, weil (nicht obwohl) Daten eine
schlechte Zufallstichprobe darstellen. Zu solchen
verzerrten Datenquellen zählen z.B. Statistiken der
Polizei und anderer Behörden sowie von Hilfs- und
Beratungsorganisationen, aber auch quantiizierende Aussagen von Experten, wenn sie auf identiizierbarer empirischer Erfahrung beruhen.
Beim Multiplikatorprinzip muss also unterstellt
werden können, dass die interessierende Größe
in einem Mindest- oder Maximalverhältnis zu
einer gemessenen Größe steht. In einer Stichprobe müssen die interessierenden Fälle identiizierbar sein, aber zugleich muss auch mindestens eine
gemessene Größe identiizierbar sein, deren Gesamtumfang aufgrund anderer Daten relativ sicher
feststellbar ist. Mit den Daten der Teilgesamtheit
lässt sich ein Multiplikator errechnen, der auf die
gemessene Gesamtheit angewendet wird und
so zu einer Schätzung führt. Mathematisch sind
solche Berechnungen relativ einfach und kommen
mit einer Dreisatzlogik aus (Vogel, Aßner 2009b, S.
45–48). Aufwändig sind die Prüfung der Datenqualität, der Voraussetzungen und Implikationen.
Analyse der erhobenen Informationen als Anhaltspunkte für eine Schätzung.
96
5.4
Analyse der erhobenen
Informationen als Anhaltspunkte für eine Schätzung
Die Kooperationspartner Katrin de Boer und
Norbert Cyrus haben hauptsächlich Expertengespräche geführt und in diesem Rahmen auch
– wenn möglich – Statistiken gesammelt und
Abläufe und Verknüpfungen ermittelt, die für eine
Schätzung relevant sein können. Die Interviewprotokolle sowie einige weitere Materialien wurden für
die Analyse zur Verfügung gestellt. Sie werden nun
im Folgenden daraufhin analysiert, inwiefern sie
schon Ansatzpunkte für Schätzungen enthalten.
Abbildung 2
Quelle: eigene Darstellung
5.4.1
Überblick über Akteure und
ihre Verbindungen
Nach den Recherchen lassen sich fünf Typen von
Organisationen identiizieren, die direkt mit Fällen
von Zwangsarbeitenden und Extremausgebeuteten in Kontakt kommen (s. Abb. 2).
Die Interviews vermitteln den Eindruck, dass es
recht wenige Überlappungen zwischen den Fällen
gibt, die bei den unterschiedlichen Organisationen
bekannt werden. Nur in einem geschilderten Fall
einer Fachberatungsstelle wurde auch die Polizei
eingeschaltet. Von der FKS an die Polizei übergebene Fälle wurden nicht berichtet. Der interviewte Anwalt ist auf chinesische Spezialitätenköche
spezialisiert, die in keinem der anderen Interviews
97
auftauchen. Gewerkschafter berichten in den betreuten Branchen von Fällen, die nicht zum Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen geworden sind.
Medien sind nicht als eigenständige Informationsquelle aufgeführt. Zwar ist es denkbar, dass
Zeitungen oder Magazine von Fällen berichten,
die weder im Beratungs- noch im Kontrollkontext
bekannt geworden sind. In der Medienrecherche
der Partner sind aber nur Berichte aufgetaucht, die
Informationen aus dem Beratungs- oder Kontrollkontext aufgreifen und widergeben. Daher sind
Medien hier nicht als eigenständige Sekundärquellen aufgeführt. Eine Medienrecherche führt in
der Regel zu Informationen aus dritter Hand, kann
jedoch nützlich sein, um geeignete Sekundärinformanten zu lokalisieren.
5.4.2
Polizei
Die Polizeien der Länder oder die Bundespolizei
kann im Rahmen von Ermittlungen gegen Arbeitgeber oder Vermittler auf Verdachtsfälle stoßen.
Dass sich Betroffene direkt an die Polizei wenden,
ist nicht bekannt. Ein Teil der Informationen der
Polizei wird in der Polizeilichen Kriminalstatistik
veröffentlicht. In die Polizeiliche Kriminalstatistik
(PKS) gehen Fälle in dem Moment ein, in dem sie
an die Staatsanwaltschaft weitergeben werden. In
die Strafverfolgungsstatistik gehen Fälle ein, wenn
vor Gericht Entscheidungen getroffen worden sind.
Die Statistiken wurden bereits in Abschnitt 3.3 ausführlich dargestellt. Mit den derzeit öffentlich vorliegenden Daten können keine Dunkelzifferschätzungen durchgeführt werden.
In den Jahren unmittelbar nach der Einführung
eines neuen Straftatbestandes (oder nach einem
richtungsweisenden Gerichtsurteil) entwickelt sich
der praktische Umgang in der Interaktion verschiedener Beteiligter, hier insbesondere der Polizei, der
Staatsanwaltschaft, der Gerichte, Beratungsstellen
und Rechtsanwälte. Die Auslegung des Straftatbestandes im Rechtssystem stabilisiert sich, die Beteiligten machen ihre Erfahrungen und reagieren
darauf. In diesem Fall bestehen die Erfahrungen
darin, dass der Nachweis schwierig zu führen ist,
auch weil der Tatbestand in der Rechtsprechung
eng ausgelegt wird. Es spricht vieles dafür, dass die
Entwicklung der Zahlen durch einführungsbedingte Anpassungsbewegungen stärker beeinlusst
sein ist als durch zugrundeliegende Straftatenentwicklungen, insbesondere in Berlin.
Da in mehreren Interviews darauf hingewiesen
wurde, dass möglicherweise andere, leichter nachweisbare Straftaten angeklagt werden, könnten
interne Polizeistatistiken auf Hinweise geprüft
werden. Da ab 2009 alle Länder über Einzeldatensätze verfügen und diese auch für die PKS an das
BKA weiterleiten, könnten hier im Gespräch mit
der Polizei weitergehende Auswertungsmöglichkeiten geprüft werden. Nach dem, was in der PKS
erfasst wird, sind dadurch aber eher Rahmendaten zur Plausibilitätsprüfung anderweitig gewonnener Schätzungen als eigenständige Schätzungen zu erwarten. Eine Überlegung wäre z.B., die
Angaben zur Opfer-Täter-Beziehung bei Delikten
gegen die persönliche Freiheit näher zu prüfen.
Bei rund 223 000 Ermittlungsfällen wegen Straftaten gegen die persönliche Freiheit wurde in 0,7
Prozent erfasst, das Täter und Opfer aus demselben Land stammen (Bundeskriminalamt 2009b:
61). Diese rund 1.600 Fälle könnten näher auf das
Vorliegen weiterer Delikte, die auf Arbeitsausbeutung hindeuten, betrachtet werden, weil hier möglicherweise eine Ausnutzung auslandsspeziischer
Unwissenheit vorliegen könnte.
5.4.3
Finanzkontrolle Schwarzarbeit
Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit kann verdachtsunabhängig Arbeitsorte betreten und Prüfungen vornehmen, um illegale Beschäftigung
aufzudecken. Sie geht im Rahmen von Außenkontrollen Hinweisen nach, prüft aber auch im Rahmen
von Schwerpunktkontrollen umfassend ganze
Bereiche. Sie hat 2008 rund 46 000 Arbeitgeber
geprüft, dabei an Arbeitsplätzen rund 480 000
Personen befragt und über 100 000 Strafverfahren eingeleitet (Bundesregierung 2009b: 14). Diese
gehen in der Regel nicht in die PKS ein, was auch
die Aussagekraft der PKS für arbeitsmarktrelevante
Straftaten stark einschränkt.
Der Prüfauftrag, die Prüfkompetenzen und der
98
Umfang der Tätigkeit sprechen dafür, dass sich mit
Daten der FKS systematische Mindest- und Maximalschätzungen durchführen lassen müssten, wie
sie z.B. für illegalen Aufenthalt und illegale Ausländerbeschäftigung grob kalkuliert wurden (Vogel &
Aßner 2009c: 85-92). Dabei konnte auf Auswertungen des Bundesrechnungshofes zurückgegriffen
werden (Bundesrechnungshof 2008).
Generell ist aber die öffentliche Dokumentation
der Tätigkeit der Finanzkontrolle Schwarzarbeit im
Vergleich zu Polizei und im Vergleich zu ähnlichen
Organisationen (z.B. in den Niederlanden) ausgesprochen mager. Auch in diesem Projekt waren interessante und offene Expertengespräche mit Mitarbeitern der Finanzkontrolle Schwarzarbeit nach
langem Vorlauf möglich (vgl. Abschnitt 4.3), die
jedoch nicht zu in quantitativer Hinsicht relevanten
Informationsweitergaben führten.
Eine Schätzung in Kooperation mit der FKS wäre
denkbar und könnte zu branchenspeziischen
Minimal- und Maximalschätzungen führen, die
nicht nur für Deutschland interessant, sondern
auch m.W. im Weltmaßstab innovativ wären. Solche
Schätzungen wären jedoch aufwändig und sind im
Rahmen dieses Projekts nicht möglich. Es könnte
auch geprüft werden, ob Informationen aus einem
in Berlin und Brandenburg erarbeiteter Zusatzfragebogen für den Restaurantbereich zur Auswertung zur Verfügung gestellt werden könnte und
Ansatzpunkte für eine Schätzung liefern könnte.
Zur Veranschaulichung stellen wir uns eine Schwerpunktprüfung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit
(FKS) in einer bestimmten Branche vor, bei der die
Kontrollierenden in einem Zusatzfragebogen zu
den üblichen Formularen auch ihre Beobachtungen zu Indikatoren für extreme Arbeitsausbeutung dokumentieren. Nehmen wir an, dass die
FKS in dieser Schwerpunktkontrolle hauptsächlich
Arbeitsstätten auswählt, in denen sie Verstöße
erwartet. Nehmen wir weiter an, dass insgesamt
1 000 Personen überprüft wurden, darunter 800
sozialversicherungsplichtig Beschäftigte. Bei 10
Personen werden durch den Zusatzfragebogen
deutliche Anhaltspunkte für das Vorliegen auf
Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeu-
tung gefunden. In der Branche arbeiten insgesamt
80 000 sozialversicherungsplichtig Beschäftigte.
Dann kann man davon ausgehen, dass in der gesamten Branche höchstens so viel Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung vorliegt wie
in der Stichprobe. Das Verhältnis von Fällen mit
MH/A-Indikation zu sozialversicherungsplichtig
Beschäftigten in der Stichprobe (10/800) lässt sich
als Maximalmultiplikator interpretieren, der auf die
Gesamtzahl der sozialversicherungsplichtigen Beschäftigten in einem Bereich angewendet wird, so
dass man für diese iktive Branche auf eine Maximalzahl von 1 000 Zwangsarbeitsfällen kommt. Je
nach Auswahlprinzipien der Schwerpunktprüfung
und Gestaltung eines Zusatzfragebogens könnten
nach dieser Grundidee solide Minimal- und Maximalschätzungen für unterschiedliche Verstöße
gegen Straf- und Arbeitsgesetze errechnet werden.
5.4.4
Quantiizierende Aussagen in
Expertengesprächen
ExpertInnen im Beratungs- und Kontrollkontext
machen Erfahrungen. Von sich aus oder auf Rückfrage machen sie manchmal auch quantiizierende Schätzungen, indem sie eigene Erfahrungen
auf größere Zusammenhänge extrapolieren. Sie
machen also einfache Multiplikatorschätzungen,
wobei oft nicht klar ist, welche Zusammenhänge
sie ihren Schätzungen zugrunde legen und ob sie
sich bewusst machen, dass sie selbst durch ihre
professionelle Eingebundenheit einen verzerrten
Ausschnitt der Grundgesamtheit wahrnehmen.
Daher müssen diese Angaben immer mit großer
Vorsicht interpretiert werden. Manchmal ist jedoch
erkennbar, worauf die Einschätzungen beruhen,
so dass sie als Hinweise herangezogen werden
können. Zugleich zeigen sie, in welchem Rahmen
Größenordnungen vorgestellt werden, so dass
abgeschätzt werden kann, ob Schätzungen auf
anderer Grundlage als überraschend wahrgenommen werden.
Die in dieser Studie angesprochenen ExpertInnen
(zur Auswahl siehe Abschnitt 4.1) gaben häuig an,
dass Bedingungen extremer Arbeitsausbeutung
bei ihren KlientInnen oder in bestimmten Branchen
99
weit verbreitet sind. Dabei wird nicht immer genau
deutlich, was sie bei ihren quantiizierenden Aussagen genau darunter verstehen. Allerdings gibt
es eine Reihe von Fallbeschreibungen, die unter
die oben getroffene Deinition von extremer Arbeitsausbeutung fallen, wenn zum Beispiel Löhne
durch Überstunden und überzogene Arbeitsanforderungen auf ein Niveau von höchstens 2 Euro pro
Stunde gedrückt werden. In einer Beratungsstelle
wird davon gesprochen, dass von rund 700 im Jahr
2008 Beratenen etwa die Hälfte Jobs ausübten, die
gering bis gar nicht bezahlt werden.
Besonders auffallend ist, dass insbesondere reguläre Zuwanderer mit einer schwachen Rechtsstellung
als Opfer genannt werden, also zum Beispiel Geduldete, die ein Bleiberecht durch Beschäftigung
anstreben, Asylbewerber, Hausangestellte von Botschaftsangehörigen und Spezialitätenköche. Dies
deutet darauf hin, dass Gesamtzahlen von diesen
Gruppen ggf. als Bezugsgrößen für Maximalschätzungen geeignet sein könnten.
Direkt auf Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung angesprochen, gehen fast alle
Gesprächspartner von sehr kleinen Zahlen aus. Aus
dem Kontext geht z. T. hervor, dass hier die Rekrutierung und der Verkauf an einen Arbeitgeber
sowie extreme Zwangsmaßnahmen wie Gewalt und
Einsperren durch den Arbeitgeber als Tatbestandsmerkmale für Menschenhandel gesehen werden.
Hier ist die Einschätzung übereinstimmend, dass
es sich nur um sehr kleine Zahlen handeln könne.
Aus der eigenen Beratungspraxis werden z.B. von
einer Fachberatungsstelle Zahlen wie 3 bis 5 pro
Jahr genannt.
Typisch scheinen Situationen zu sein, in denen
eine legale und moralische Rechtfertigungsfassade durch die Arbeitgeber aufgebaut wird, so
dass Betroffene auch nach einer Beratung geringe
Aussichten sehen, gerichtlich oder außergerichtlich Ansprüche gegen Arbeitgeber durchzusetzen.
Wenn sich dies ändert, kommen auch mehr Fälle
zutage, wie das Interview mit dem Anwalt zeigt, der
chinesische Spezialitätenköche vertritt. Er schätzt
auf der Basis seiner Erfahrung mit mehr als 100
Klienten, dass nahezu alle in der entsprechenden
Visumkategorie eingereisten Köche als Menschenhandelsopfer betrachtet werden können. Auch
wenn hier Vorsicht geboten ist, weil der Blickwinkel
des Anwalts leicht zu einer Überschätzung führen
kann, sollte diese Visumkategorie doch als anfällig
für Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung identiiziert werden, so dass Gesamtvisazahlen für Berlin und Brandenburg als Bezugsgröße
für eine Obergrenzenschätzung dienen könnten.
Bundesweit wurden 2008 2 677 Arbeitserlaubnisse an Spezialitätenköche vergeben, darunter 1802
an chinesische Staatangehörige (Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge 2010). Hier könnten Bestandsdaten ermittelt werden und Gespräche zu
den wichtigsten anderen Herkunftsländern (Indien,
Thailand) geführt werden.
5.4.5
Falldokumentationen aus dem
Beratungskontext
Die Falldokumentationen auf der Basis aller Interviews machen deutlich, dass es schwierig ist, Informationen zusammenzustellen, die auch für eine
Quantiizierung geeignet sind. Teilweise fehlt eine
Zuordnung der Fälle zu Kalenderjahren, teilweise
werden keine Angaben zur Dauer der Beschäftigungsverhältnisse gemacht, teilweise geht aus
den Beschreibungen nicht hervor, wie hoch der
Lohn oder wie deutlich Lohnabzüge für vermeintliche Kosten waren, teilweise werden schon lange
zurückliegende Fälle genannt, weil sie besonders
eindrücklich waren.
Im Folgenden werden nur die Fälle näher betrachtet, für die in den Jahren 2005 bis 2009 ausreichende Angaben vorlagen. Bei 9 Fallschilderungen
liegen Gewalt- oder Freiheitsberaubungsindikatoren vor (Gewalt, Gewaltandrohung, Einsperren, Bewachen). Zusätzlich gab es 4 Fälle, in denen Gewalt
oder Isolierung nicht dokumentiert sind, in denen
aber aufgrund einer längerfristigen Hinnahm extremer Arbeitsausbeutung die Annahme naheliegt,
dass ArbeitgeberInnen bewusst eine Zwangslage
oder auslandsspeziische Hillosigkeit ausgenutzt
hat.
Betroffen waren Privathaushalte und das Gaststättengewerbe. Es ging jeweils um Einzelpersonen.
100
Berichte von Fällen, die eine größere Zahl von Personen betrafen, waren entweder nicht ausreichend
dokumentiert oder die Betroffenen haben sich
nach Lohnbetrug nach relativ kurzer Zeit selbst aus
einem Arbeitsverhältnis gelöst.
Mit diesen Fallschilderungen wurden einige Beispielrechnungen durchgeführt, die allerdings nicht
als Dunkelzifferschätzungen betrachtet werden
sollen. Sie sollen exemplarisch zeigen, wie solche
Berechnungen bei einer systematischen Erhebung
durchgeführt werden könnten. Nur in einem der
13 Fälle wurde auch von der Polizei wegen MH/A
ermittelt.
Die Verhältnisse dauerten zwischen 3 Monaten
und 22 Jahren mit einem Durchschnitt von etwa 4
Jahren. Wenn die Verhältnisse in diesen Falldokumentationen typisch wären und man alle beratenen Extremfälle erfasst hätte, würde dies bedeuten, dass zu jedem Zeitpunkt etwa viermal mehr
Menschen betroffen sind, als in einem Jahr beraten
werden. Von den acht für die Jahre 2008 und 2009
berichteten Fällen waren 5 schon im Jahr 2007
betroffen, gehörten also in diesem Jahr zur Dunkelziffer. Für eine echte Dunkelzifferschätzung mit
Falldokumentationen müsste eine Vollerhebung
für zwei vollständige Jahre durchgeführt werden.
Legt man allerdings die Schwierigkeiten zugrunde, in dieser Studie überhaupt Gesprächspartner
zu diesem Thema zu inden, so ist zu erwarten,
dass zumindest für längerfristige und gewaltbelastete Verhältnisse nur eine geringe Zahl von Fällen
erhoben werden könnte. Würden 20 Beratungsorganisationen jeweils einen solchen Fall pro Jahr
beraten, so käme man bei einer Dunkelziffer von 4
auf rund 80 Fälle.
Insgesamt würde eine Dunkelzifferschätzung auf
der Basis von Falldokumentationen am ehesten
Sinn machen, wenn sie sich auf die besonders
harten Fälle von längerfristiger Zwangsarbeit beschränkt, in denen sich eine Person nicht ohne
Hilfe von Institutionen der Aufnahmegesellschaft
befreien kann.
Nach eigener Auskunft können Beratungsorganisationen Betroffenen von Arbeitsausbeutung
wenig Hilfe und Alternativen bieten. Dies macht
es unwahrscheinlich, dass sie mit vielen Fällen in
Kontakt kommen, in denen Zwangsarbeit nur kurzfristig hingenommen wurde und in denen die Betroffenen in der Lage sind, sich selbständig eine
neue Perspektive aufzubauen oder ins Herkunftsland zurückzukehren.
5.4.6
Zusammenfassende Würdigung
Insgesamt sind die erhobenen Daten nicht ausreichend, um eine echte Dunkelzifferschätzung
durchzuführen. Der Umfang der Polizeiermittlungen, wie er sich in der PKS widerspiegelt, ist gering
und noch stark durch die erst herausbildende
Rechtspraxis geprägt, so dass sie als Grundlage
für eine Dunkelzifferschätzung nicht geeignet sind.
Von der Finanzkontrolle Schwarzarbeit, deren Arbeitsergebnisse aufgrund ihres Arbeitsauftrages
für Fälle außerhalb von privaten Haushalten gute
Anhaltspunkte liefern könnten, lagen keine auswertbaren Daten im Rahmen dieser Studie vor.
Für den Beratungskontext sind auch die Erfahrungen bei der Suche nach Gesprächspartnern relevant:
Bei Vorrecherchen ließen sich nur wenige Personen
inden, die überhaupt zu diesem Themenkomplex
Auskunft geben konnten. Besonders bei einer Eingrenzung auf Fälle, in denen sich Menschen nicht
ohne Hilfe selbst aus der Zwangsarbeitssituation
lösen können, wurde ein hoher Anteil möglicher
Ansprechpartner tatsächlich befragt. Unter der Voraussetzung, dass Professionelle im Beratungskontext oft voneinander wissen und auf andere verweisen konnten, kann man davon ausgehen, dass
dies bei einer angemessenen Untersuchungsdauer
auch einigermaßen gelingen kann. Es ist nicht auszuschließen, dass eine nach Herkunftsländern differenzierte Recherche noch weitere Rechtsanwälte
zutage fördern könnte, die für bestimmte Staatsangehörigkeiten gezielt Fälle im Bereich Arbeitsmarktausbeutung betreut und in diesem Kontext
Hinweise haben könnte, die auch auf Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung hindeuten, aber nicht zur Anzeige gebracht werden.
Die Befragten aus dem Beratungskontext berichten überwiegend von sehr kleinen Zahlen, in denen
101
ein Befreiungsbedarf unterstellt werden kann, weil
eine physische Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch Gewalt, Gewaltandrohung, Bewachung
oder Einsperren gegeben ist. Hier sind jedoch zum
Teil erhebliche Zeiträume berichtet worden. Weil
jeder beobachtete Fall für die Dauer bis zum Bekanntwerden in einem Beratungskontext ein unbeobachteter Fall ist, kann mithilfe der Dauer eine
Mindestzahl errechnet werden. Wären die Fälle mit
ausreichenden Informationen in der Falldokumentation typisch, wovon wir nicht unbedingt ausgehen können, beträgt das tatsächliche Volumen der
Arbeitsausbeutung mindestens das Vierfache der
beratenen Fälle.
Beim jetzigen Kenntnisstand erscheint es plausibel,
dass die Gesamtzahl der Zwangsarbeitsverhältnisse mit physischer Einschränkung den zweistelligen
Bereich nicht übersteigt. Eine echte Dunkelzifferschätzung ist auf der Basis der vorhandenen Informationen nicht möglich.
Bei einer weniger engen Interpretation von Indikatoren wird die Informationslage noch schwieriger.
Die befragten BeraterInnen können aufgrund ihrer
Aufgabenstellung und ihren Hilfsmöglichkeiten nur
einen kleinen Bereich dieses Spektrums wahrnehmen. Einige Einschätzungen von Beratern deuten
darauf hin, dass sich bestimmte legale Konstellationen (Visa für Spezialitätenköche; Geduldete,
die sich um einen Aufenthaltsstatus durch Arbeit
bemühen) besonders anfällig sind. Hier könnten
Visa- oder Beschäftigungszahlen als Ansatzpunkte
für Maximalschätzungen dienen.
5.5
Vorschläge zur Schätzung
Nach den bisherigen Ergebnissen werden drei
Ansätze vorgeschlagen, um zu genaueren Schätzungen zu gelangen.
Für den Bereich der privaten Haushalte wurde zunächst überlegt, eine telefonische Befragung aller
Beratungsstellen, die nach den Vorrecherchen möglicherweise Kontakt mit Fällen haben könnten, vorzuschlagen. Bei einer solchen Umfrage sollte eine
kleine Zahl von gezielten Fragen gestellt werden, in
denen Fälle mit konkreten Indikatoren für extreme
und andauernde Arbeitsausbeutung in privaten
Haushalten in den vergangenen beiden Jahren
erfragt werden, ohne dass die Begriffe Menschenhandel oder Arbeitsausbeutung genannt werden.
Nach Erfahrungen einer schriftlichen Umfrage mit
erforderlichen telefonischem Nacherhebungen
unter Fachberatungsstellen für Menschenhandel,
die inzwischen im Rahmen eines anderen Projekts durchgeführt worden ist, erscheint es jedoch
fraglich, ob angemessene Antwortquoten erreicht
werden können.
Für den Bereich der Privatwirtschaft, insbesondere
Gaststätten könnten zunächst Berichte über bisherige Schwerpunktkontrollen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit im Gaststättenbereich analysiert
und auf etwaige Multiplikatorschätzungsmöglichkeiten geprüft werden. Im Sommer 2009 wurde
z.B. in einigen Bundesländern – aber nicht in Berlin
und Brandenburg – eine Schwerpunktkontrolle in
chinesischen Restaurants durchgeführt, von der
in der Presse berichtet wurde. Ob sich ex post für
eine Abschätzung wichtigen Faktoren ermitteln
lassen, ist nach den inzwischen durchgeführten
Gesprächen mit der Finanzkontrolle Schwarzarbeit
skeptisch zu bewerten. Möglicherweise könnte ein
schon von der FKS verwendeter Zusatzfragebogen
für Restaurantprüfungen Anhaltspunkte liefern.
Branchenspeziische Schätzungen sollten zur Validierung mit Branchenexperten aus Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und mit spezialisierten
Rechtsanwälten diskutiert werden.
Ideal wäre die wissenschaftliche Begleitung einer
Schwerpunktkontrolle der FKS von der Planung
über die Durchführung bis zur abschließenden
Auswertung, am besten noch unter Einbeziehung
der Nachverfolgung der daraus resultierenden
Strafverfahren. Bei der Planung wäre z.B. wichtig
zu dokumentieren, bei welchem Teil der Betriebe Verdachtsmomente eine Kontrolle auch außerhalb einer Schwerpunktkontrolle wahrscheinlich gemacht hätten und welcher Teil nach dem
Vollständigkeits- oder Zufallsprinzip ausgewählt
wurde. Eine solche Auswertung wäre aufwändiger und würde umfangreiche Vorbereitungen
und einen ausgeprägten Kooperationswillen der
Behörde voraussetzen, so dass sie wahrscheinlich
nur möglich wäre, wenn sie breiter angelegt wäre
102
und auch den Umfang anderer Tatbestände wissenschaftlich abschätzen würde.
Darüber hinaus könnte es lohnend sein, branchenübergreifende Obergrenzenschätzungen für
Arbeitsausbeutung in bestimmten aufenthaltsrechtlichen Konstellationen anzustreben. Insbesondere Visazahlen für Spezialitätenköche und Arbeitsgenehmigungen für Geduldete könnten hier
Anhaltspunkte bieten. Branchenspeziische Obergrenzenschätzungen könnten an der Produktion
in bestimmten Branchen ansetzen, also z.B. für die
Hotelreinigungsbranche mit einer Kombination
aus Expertengesprächen und Datenanfragen bei
verschiedenen Stellen (Verbände, Bundesagentur für Arbeit, Statistik Übernachtungszahlen) das
Potenzial für Niedriglohnbeschäftigung, die eine
Ausnutzung einer Zwangslage nahe legt, eingrenzen. Hier würde es eher um eine weiter gefasste
Operationalisierung gehen.
103
104
105
6.
Schlussfolgerungen
6.1
Einordnung von Berlin
und Brandenburg
Abschließend sollen die Faktoren, die Arbeitsausbeutung von MigrantInnen begünstigen, für
Berlin und Brandenburg diskutiert werden. Im
Bericht der niederländischen Beauftragten für
Menschenhandelsfragen wird auf der Grundlage von Befragungen festgehalten, dass Arbeitsausbeutung in den Niederlanden vor allem in
den großen Städten und ihrem Umland sowie in
Grenzgebieten lokalisiert wird (Dettmeijer-Vermeulen 2007). Für Deutschland liegen keine vergleichbaren Erkenntnisse vor. Es gibt aber keine
Anhaltspunkte dafür, dass die Aussage nicht auch
auf Deutschland übertragbar ist. Die Nachfrage
nach billigen und lexiblen Arbeitskräften konzentriert sich in den Agglomerationen, denn große
Städte bieten vielfältige Arbeitsmöglichkeiten im
formellen und informellen Sektor. Im Bereich der
privaten Haushalte, der als besonders anfällig für
Arbeitsausbeutung gilt, besteht aufgrund der demographischen Struktur in Berlin und auch in
106
Brandenburg ein Bedarf an Arbeitskräften, der
oftmals informell gedeckt wird, auch weil in Privathaushalten keine verdachtsunabhängigen Kontrollen durchgeführt werden dürfen.
Weiterhin bietet ein hoher Anteil der Bevölkerung
mit Migrationshintergrund in großen Städten auch
neu einreisenden ArbeitsmigrantInnen vermehrte Chancen, über ethnische Netzwerke auch ohne
ofizielle Erlaubnis Zugang zu Unterkunft oder
Beschäftigung zu bekommen. Zudem gibt es in
Berlin als Hauptstadt die Risikogruppe der Haushaltsangestellten von Botschaftsangehörigen. Für
Brandenburg ergibt sich dagegen durch die im
Zuge der Wohnortzuweisung und Residenzplicht
von AsylberwerberInnen und Flüchtlingen erfolgte
Ansiedlung von ZuwanderInnen ein Faktor für die
Anwesenheit von Risikogruppen. Mit der Anwesenheit dieser Risikogruppen verletzlicher ArbeitnehmerInnen steigt auch das Risiko der Zwangsarbeit und MH/A.
Auf der anderen Seite lässt sich argumentieren,
dass Berlin und Brandenburg eine im Bundesvergleich überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit
aufweisen. Unter diesen Umständen gibt es ein
hohes Potential an Personen, die aus Mangel an Al-
ternativen ungünstigere Arbeits- und Lohnbedingungen akzeptieren, um ein (zusätzliches) Einkommen zu erzielen. Zudem wurde argumentiert, dass
die Kontrolldichte in Berlin zumindest in einigen
Wirtschaftsbereichen sehr hoch und die Strafandrohung wegen MH/A so drakonisch ist, dass von
einer weit gehenden abschreckenden Wirkung
zumindest für Beschäftigungsverhältnisse, die in
öffentlich einsichtigen oder zugänglichen Bereichen (Bau, Gaststätten) angesiedelt sind, ausgegangen wird. Allerdings ist schwer einzuschätzen,
ob die Strafandrohungen auch bei den Adressaten
bekannt sind und tatsächlich abschreckend wirken.
Zudem ergaben sich Hinweise, dass illegale Beschäftigung zu ungünstigeren Bedingungen hinter
legalen Fassaden (Werkvertrag, falsch deklarierte
Selbstständigkeit) organisiert wurde.
Ob und in welcher Weise die genannten Faktoren wirken und zusammenspielen, ist eine offene
Frage, die sich im Rahmen und mit den Methoden
dieser Untersuchung nicht beantworten lässt. Empfehlenswert ist auf jeden Fall eine systematische
Evaluation der zur Verhütung von Menschenhandel, zum Schutz der Opfer von Menschenhandel
und zur Bekämpfung von illegaler Beschäftigung
durchgeführten Maßnahmen.
107
6.2
Die Pyramide der
Arbeitsausbeutung
Die Betrachtung der 36 erhobenen Fallschilderungen ergab in 13 Fällen Anhaltspunkte auf einen
dringenden Verdacht für Menschenhandel zum
Zweck der Arbeitsausbeutung, wobei in 9 Fällen
dieser Verdacht durch Arbeitsausbeutung im Zusammenhang mit Gewalt, Gewaltandrohung, Einsperren oder aktiver Kontrolle und Isolierung
durch die Arbeitgeber begründet wird und in vier
weiteren Fällen extrem ausbeuterische Bedingungen über einen längeren Zeitraum vorlagen, was
auf die wissentliche Ausnutzung einer Zwangslage oder auslandspeziischer Hillosigkeit hindeutet. Es ging jeweils um Einzelpersonen. Die erhobenen Fälle zeigen, dass extrem ausbeuterische
Arbeitsverhältnisse auch in ofiziell angemeldeten
und registrierten Beschäftigungsverhältnissen vorkommen. Vor allem bei Spezialitätenköchen und
der Beschäftigung durch Subunternehmen wurden
auffällig ungünstigere Bedingungen hinter legalen
Fassaden versteckt. Die schwerwiegendsten Fälle
betrafen in Privathaushalten oder in der Gastronomie beschäftigte Frauen.
Bei der Beschäftigung in privaten Haushalten war
auffällig, dass Arbeitgeber die gleiche Nationalität wie die von Arbeitsausbeutung Betroffenen
aufwiesen oder diplomatische Immunität genossen. Dieses Ergebnis unserer Recherche deckt sich
mit dem im ersten Teil vorgestellten Hinweisen
anderer empirischer Untersuchungen und Quellen
(Bundeskriminalamt 2009a, Dettmeijer-Vermeulen 2007). Tatsächlich ist der Bereich der privaten
Haushalte, der auch vom Berliner Landeskriminalamt als risikoträchtig und zugleich vor Kontrollen ausgenommen erwähnt wurde, hier auffällig.
Unsere Recherchen zeigen aber, dass Beratungsstellen auch in diesem Bereich ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse bekannt werden – diese
aber nicht zur Anzeige bringen. Auf die geschilderten Fälle waren die Beratungsstellen in der Regel
durch Vermittlung Dritter, Krankenhausmitarbeiterinnen oder sogar Zufallsbekanntschaften, die um
Hilfe gebeten wurden, aufmerksam geworden.
Auffällig sind auch die Fallschilderungen zum
Gaststättengewerbe, die Hinweise auf einen Anfangstatverdacht für extreme Arbeitsausbeutung
boten. Eine Ursache dafür ist die Aufnahme von
drei Fallschilderungen zur Beschäftigungssituation chinesischer Spezialitätenköche aus dem Gespräch mit einem Anwalt. Dass diese Fälle bekannt
wurden, ist maßgeblich dem Umstand zu verdanken, dass ein engagierter Rechtsanwalt eine gezielte muttersprachlich unterstützte Rechtsvertretung anbot und durch eine erfolgreiche Vertretung
weitere chinesische Spezialitätenköche motivierte,
ihre Ansprüche zivilrechtlich geltend zu machen.
Die beiden anderen Fälle betrafen eine äthiopische Spezialitätenköchin und eine Frau aus einem
neuen EU-Mitgliedsland.
Die Fallschilderungen zu Beschäftigungsverhältnissen in öffentlich zugänglichen Branchen und
bei sichtbaren Tätigkeiten wie dem Baugewerbe
oder Hausmeistertätigkeit deuten darauf hin, dass
es auch in den für Kontrollen prinzipiell zugänglichen Bereichen Arbeitsausbeutung gibt und es
grundsätzlich zu Fällen von MH/A kommen kann.
Die Annahme der Polizei, dass in öffentlich sichtbaren und den Kontrollbehörden zugänglichen
Arbeitsplätzen eine hohe Strafandrohung in Verbindung mit einer hohen Kontrolldichte abschreckend wirken, lässt sich daher nicht bestätigen.
Vielmehr fanden sich Hinweise, dass ungünstigere
Beschäftigungsverhältnisse durch legale Fassaden
versteckt oder Arbeitnehmer durch Strategien der
Verunsicherung zur Kooperation gebracht werden
sollen.
In den meisten hier erhobenen Fallschilderungen
wurden die Betroffenen nicht durch proaktive Polizeiaktionen befreit, sondern fanden durch Vermittlung Dritter den Weg zu einer Beratungsstelle oder
erhielten im Krankenhaus Hilfe – und erstatteten
nur in einem der geschilderten Fälle Strafanzeige.
Die Fallschilderung des illegalen Zigarettenhandels
bildet eine Besonderheit, weil hier Hinweise auf
einen direkten Zusammenhang zu Formen organisierter Kriminalität bestand, die Betroffene von
der Polizei aufgegriffen worden war, aber nicht als
Betroffene von MH/A identiiziert wurde, da sie
gegenüber der Polizei keine Aussage machte. In
108
den Gesprächen mit Polizei und Staatsanwaltschaft
wurde hervorgehoben, dass die Behörden auf Hinweise und Zeugenaussagen der Betroffenen angewiesen sind, um Fälle von MH/A aufzudecken.
Insgesamt verdeutlichen die Fallschilderungen
die Schwierigkeiten, aufgrund des dynamischen
Verlaufs der Auferlegung extrem ausbeuterischer
Beschäftigung Verdachtsfälle zu identiizieren. Die
in Berlin und Brandenburg erhobenen Fallschilderungen extremer Ausbeutung wiesen die vier Risikofaktoren der individuellen Verletzlichkeit, der
rechtlichen Unsicherheit, der Anwendung von Strategien der Verletzlichkeit und dem Vorliegen struktureller Unsicherheit auf.
Die individuelle Verletzlichkeit ergab sich in allen
Fällen durch ökonomische Armut, fehlendes
Wissen über Rechte und Ansprüche, fehlende
Sprachkenntnisse, sowie Mehrfachabhängigkeiten
von Personen(gruppen).
Ein fehlender oder unsicherer Aufenthaltsstatus
verschärfte die individuelle Verletzlichkeit. Die
rechtliche Situation war für die Betroffenen nicht
durchschaubar und ungünstig. Sie sahen keine
andere Möglichkeit des Zugangs zum Arbeitsmarkt,
als unangemeldet zu arbeiten oder aber bei einer
angemeldeten Beschäftigung vorschriftswidrig ungünstige Bedingungen hinzunehmen. Die rechtliche Verunsicherung wurde dadurch verschärft,
dass sie mit ihrer Beteiligung an unangemeldeter
oder falsch angemeldeter Beschäftigung selbst
vordergründig gegen die Bestimmungen von Aufenthalts-, Arbeitserlaubnis- und Arbeitsrecht verstoßen. Den Betroffenen ist – ebenso wie den Beraterinnen – die Möglichkeit der Strafbefreiung für
Opfer von MH/A nicht bekannt. Sie könnten auch
nicht einschätzen, wann die Schwelle zur Zuschreibung eines Opferstatus erreicht sein könnte – und
ob sie bei einer Anzeige auch als Opfer von MH/A
anerkannt würden.
Schließlich wurden auch Fallschilderungen erhoben,
die Anwendungen von Strategien der Verunsicherung beinhalteten. In den Fällen extremer Ausbeutung wurden die Betroffenen unter Angaben, die
später nicht eingehalten wurden, angeworben;
durch Vorenthalten oder Vermittlung falscher Informationen manipuliert; durch Androhung von
Konsequenzen wie Lohnabzügen, Verschlechterung der Arbeitsbedingungen oder Entlassung
dazu gebracht, Arbeitsbedingungen hinzunehmen,
die sie nicht freiwillig akzeptiert hätten. Offene Androhung oder Anwendung von Gewalt, um eine
Person in eine Ausbeutungssituation zu bringen
oder zu halten, ist aber äußerst selten.
Die Verletzlichkeit führt dazu, dass Arbeitnehmer
nicht auf Einhaltung geltender Ansprüche bestehen, sondern sich sogar offen einvernehmlich an
der Umsetzung ungünstigerer Beschäftigungsverhältnisse beteiligen. Ein Motiv zur offen-einvernehmlichen Beteiligung ist die Hoffnung, auch bei
einem für deutsche Verhältnisse schlechten Entgelt
ein Einkommen erzielen zu können, das über dem
im Herkunftsland erzielbaren Einkommen liegen
würde. Solange Arbeitgeber ein verschleiertes
Ausbeutungsverhältnis aufrecht erhalten können,
sind zur Durchsetzung auffällig ungünstiger Beschäftigungsbedingungen keine Mittel wie Androhung oder Anwendung von Gewalt oder Nötigung
erforderlich. Die meisten der von uns erhobenen
Fallschilderungen verblieben in einem Rahmen,
der als „normale Arbeitsausbeutung“ angesehen
wurde. So verhielten sich z. B. die griechischen
Bauarbeiter in einem vorgestellten Fall ausgesprochen naiv und glaubten den Versprechungen von
Vermittlern, von denen sie nicht einmal schriftliche
Verträge erhielten oder Angaben über Firmenadresse erhielten. Die Betroffenen wurden in diesem
Fall getäuscht, es kam aber nicht zur Androhung
oder Anwendung von Nötigung oder Gewalt. Hier
stellt sich die Frage, wie das Verhältnis sich entwickelt hätte, wenn die Betroffenen vor Abschluss
ihrer angewiesenen Bautätigkeiten auf Auszahlung
zumindest eines Teils des vereinbarten Lohnes bestanden hätten.
Wenn man die Dynamik ausbeuterischer Beschäftigungsverhältnisse (von einvernehmlich vereinbarten ungünstigen Beschäftigungsverhältnissen
ohne strafrechtliche Relevanz bis hin zu erzwungenen Arbeitsverhältnissen, die den Tatbestand des
MH/A erfüllen) mit der mutmaßlichen Häuigkeit
verbindet, ergibt sich das Bild einer Pyramide. Die
Basis bilden die Fälle der offen einvernehmlicher
Beschäftigung, in denen Menschen die in einem
109
oder mehreren Aspekten zu deutlich ungünstigeren Bedingungen als vergleichbare ArbeitnehmerInnen arbeiten, die aber nicht im Sinne des
§ 233 StGB strafrechtlich relevant sind. Mit der graduellen Verschärfung ungünstiger Bedingungen
wird die Zahl der betroffenen Arbeitsverhältnisse
geringer, aber die Schwelle zur Strafbarkeit unter
Umständen beim nachträglich aufgenötigten Ausbeutungsverhältnis überschritten. Die Spitze der
Pyramide bilden die zahlenmäßig wahrscheinlich
geringen Fälle offen erzwungener Ausbeutung, bei
denen Arbeitnehmer im Extremfall mit Gewalt in
ihrer Freiheit eingeschränkt werden.
Das Bild der Pyramide versucht sichtbar zu
machen, dass die Fälle des MH/A nur einen kleinen
Anteil ausbeuterischer Beschäftigungsverhältnisse umfassen. Es sollte auch sichtbar werden, dass
MH/A keine eigene Klasse der Arbeitsausbeutung darstellt, sondern in einem Kontinuum zu
anderen, strafrechtlich weniger schwer wiegenden
Fällen gesehen werden sollte. Es soll auch sichtbar
gemacht werden, dass die Anwendung verbotener
Mittel zur Durchsetzung auffällig schlechter Arbeitsbedingungen graduell und kumulativ erfolgen kann.
Im Menschenhandelskonzept, das dem internationalem Verständnis und dem deutschen Strafgesetz
zu Grunde liegt, wird der in Kapitel 4 dargestellte dynamische und graduell-kumulative Charakter
nicht angemessen berücksichtigt. Dort wird von
einer statischen Vorstellung ausgegangen, dass
ein Täter einen vorab gefassten Plan zum Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung fasst und
umsetzt.49 Eine solche Konzeption mag für die
Strafverfolgung sachdienlich sein, ist aber für eine
strategische Überlegung angemessener Prävention
und Intervention nicht angemessen. In der Realität
werden Wahl und Intensität der zur Durchsetzung
ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse angewandten
Mittel auch durch die Reaktionen der Beschäftigten beeinlusst. Das Beispiel der Haushaltsarbeiterin, die weniger und schließlich gar keinen
Lohn mehr erhielt, nachdem die Arbeitgeber von
ihrem illegalem Aufenthaltsstatus erfahren hatten,
bietet ein besonders anschauliches Beispiel dafür.
In einigen Fällen scheinen Arbeitgeber erst durch
das Erkennen der Verletzlichkeit der Beschäftigten
dazu veranlasst worden zu sein, die Bedingungen
zu verschlechtern.
Abbildung 3: Pyramide ausbeuterischer Beschäftigungsverhältnisse
Spitze: Beschäftigungsverhältnisse nach
MH/A
Durchsetzung ausbeuterischer Verhältnisse
mit
- Anwendung von Gewalt
- Androhung von Gewalt
- Nötigung
- Täuschung
Beschäftigungsverhältnisse mit
strafrechtlich relevanter Ausbeutung
(z.B. Lohnwucher)
Basis: Offen-einvernehmliche ungünstigere
Beschäftigungsverhältnisse
(zivilrechtlich einzuklagende Ansprüche)
Quelle: Eigene Ausarbeitung der Autoren
110
6.3
Die Vexierlogik des
Menschenhandelskonzepts
Die Erfassung und Bekämpfung der vielfältigen
Formen extremer Ausbeutung durch Anwendung
der Menschenhandelskonzepts wird durch die
für die Betroffenen unkalkulierbare Überlappung
der strafrechtlichen Konzepte Menschenhandel,
Menschenschmuggel, irreguläre Migration und
Schwarzarbeit nachhaltig beeinträchtigt.
Exemplarisch sei auf ein aktuelles Dokument der
Europäischen Kommission verwiesen (Europäische Kommission 2009: 2). Dort wird angemerkt,
dass Menschenhandel in der EU oft mit illegaler
Einwanderung und Einschleusung von Migranten
in Zusammenhang steht. Allerdings sei Folgendes
der entscheidende Punkt: Menschenhandel ist eine
Straftat, die einen Verstoß gegen die Grundrechte
des Einzelnen darstellt, während das Einschleusen
von Personen gegen die Rechtsvorschriften zum
Schutz der Grenzen verstößt. Im Falle der durch
Schleuser erleichterten illegalen Einwanderung
gibt es eine Vereinbarung zwischen dem Migranten und dem Schleuser, wobei die Beziehung zwischen beiden endet, sobald der Migrant in das
Gebiet des Aufnahmestaats gelangt ist. Im Falle
des Menschenhandels dagegen werden illegale
Mittel wie Nötigung, Täuschung oder Ausnutzung
besonderer Hillosigkeit angewandt und die Betroffenen an einen anderen Ort der weiteren Ausbeutung gebracht (Europäische Kommission 2009:
2). Die hier eingeführte Unterscheidung kennt nur
zwei Sachverhalte: Die irregulär eingereisten bzw.
eingeschleusten MigrantInnen werden entweder
als aktive TäterInnen gegen aufenthaltsrechtliche
Bestimmungen oder als ohnmächtige Opfer von
MenschenhändlerInnen angesehen.
Die Stereotypisierung der von Menschenhandel
Betroffenen als hillose Opfer führt dazu, dass
ihnen jegliche Handlungsfähigkeit abgesprochen
wird. Daher werden die Mitgliedsstaaten aufgefordert, den proaktiven Ansatz der Identiikation von
Opfern verstärken, insbesondere wenn die Opfer
Kinder sind, und die Politiken verstärken, die auf
eine Handlungsermächtigung (empowerment) von
gehandelten Menschen abzielt, und die sie ermutigen soll, sich zu offenbaren und die Ausbeutung
anzuzeigen (JLS Services 2007). Weil Handlungsunfähigkeit als wesentliches Element der Betroffenheitscharakterisierung dargestellt wird, stellt
sich die Frage, ob Handlungsermächtigung (Empowerment) dazu führt, dass Personen nicht mehr
als unterstützungsbedürftige Opfer, sondern als
TäterInnen wahrgenommen werden.
Die empirische Analyse hat gezeigt, dass von Ausbeutung betroffene MigrantInnen keine Anzeige
erstatten, da sie selber befürchten, wegen illegaler Beschäftigung oder illegaler Einwanderung
belangt zu werden. Ihnen wird aber in Aussicht gestellt, dass sie nicht mehr als TäterInnen behandelt
werden, wenn die Beschäftigung zu Bedingungen
erfolgt, die den Tatbestand des MH/A erfüllen. Um
diesen Perspektivenwechsel vorzunehmen, sind die
Strafverfolgungsbehörden auf Informationen und
Aussagen der Betroffenen angewiesen. Diese sind
allerdings über die Bestimmungen zum Schutz der
Opfer von Menschenhandel nicht informiert. Wenn
sie informiert werden, ist schwer einzuschätzen, ob
die beschriebenen Sachverhalte für den Tatvorwurf
Menschenhandel hinreichend sind. Unsicher ist
auch, ob der Nachweis gerichtsfest möglich ist.
Für die Betroffenen und ihre Beraterinnen ist das
Angebot der Behörden, im Gegenzug zu Aussagen
und Kooperation in Ermittlungs- und Strafverfahren einen Opferstatus und damit Straffreiheit und
Aufnahme in ein Unterstützungsprogramm zu gewähren, nicht kalkulierbar. Sie können allerdings
mit Sicherheit davon ausgehen, dass es zu einer
Verfolgung möglicher aufenthaltsrechtlicher, arbeitserlaubnisrechtlicher, und arbeitsrechtlicher
Vergehen kommt, wenn die Hinweise nicht ausreichen, um einen Opferstatus zuzusprechen.
In der Praxis führt die stereotype Kategorisierung,
die nur Opfer oder Täter kennt, zur Anwendung
der Logik eines Vexierbildes (Kippigur), bei der ein
anfänglicher Eindruck einem ganz anderen Platz
macht, sobald das Bild aus einer anderen Perspektive betrachtet wird: Eine in herrlicher Kleidung
111
abgebildete Figur ist plötzlich nackt zu sehen ist,
sobald das Bild gekippt wird, also die Perspektive
verändert wird. Das Menschenhandelskonzept beinhaltet eine vergleichbare Vexierlogik. Wenn ein
Verdacht auf Menschenhandel nicht nachweisbar
ist, kippt die Wahrnehmung der Figur. Statt einer
in seiner Menschenwürde verletzten Person ist nur
noch eine irregulärer MigrantIn oder – wenn es
nicht um irreguläre Migration geht – eine SchwarzarbeiterIn zu sehen, die für ihr Fehlverhalten sanktioniert werden muss. Für die Betroffenen und auch
für andere Beteiligte ist es dabei in der Regel nicht
einzuschätzen, ob der Eindruck von Menschenhandel auch bei näherer Betrachtung noch erhalten
bleibt oder ob das Bild kippt. Diese Unsicherheit
ergibt sich vor allem aus der komplexen Deinition
des Tatbestands Menschenhandel, die den Nachweis von Absichten und Entscheidungsgründen bei
ArbeitgeberInnen und ArbeitneherInnen erfordert.
weil die Betroffenen keine Anzeige erstatten
wollen, da sie sich damit unter Umständen selbst
der Strafverfolgung wegen illegalem Aufenthalt
oder Schwarzarbeit aussetzen (Anti-Slavery International 2006, Cyrus 2006, Dettmeijer-Vermeulen
2007). Zur Verringerung der Verletzlichkeit kann an
dieser Stelle nur auf Empfehlungen hingewiesen
werden, die Rechtssicherheit und Konliktfähigkeit
von Beschäftigten unabhängig vom sozialrechtlichen und aufenthaltsrechtlichen Status zu stärken
und bei der Arbeitsmarktkontrolle innovative
Ansätze zu erproben, die stärker arbeitgeber- und
abgabenorientiert sind (Vogel 2006: 118f).
Diese „Vexierlogik des Menschenhandelskonzepts“, bei der Betroffene zu TäterInnen werden,
wenn der Opferstatus nicht gewährt wird, ist der
Hauptgrund, warum auch in schweren Fällen von
Arbeitsausbeutung von den Betroffenen und ihren
BeraterInnen keine Anzeige erstattet wird. Selbst
wenn Anzeige erstattet wird, werden auf der ArbeitgeberInnenseite eher andere Straftaten angeklagt, die geringere Anforderungen an die Nachweisbarkeit stellen, z. B. andere Straftaten gegen
die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung sein. Als besonders relevant hat sich
in diesem Sinne § 266 a StGB (Vorenthalten und
Veruntreuen von Arbeitsentgelt) erwiesen – dabei
sind nicht mehr die Beschäftigten, sondern die Sozialversicherungsträger die Geschädigten. Darüber
hinaus können die §§ 96f AufenthG, die das Einschleusen von Ausländern mit Strafe bedrohen,
als Auffangtatbestände greifen (Hellmann 2007:
52). Dann wird aber auch gegen die Beschäftigten
wegen illegaler Einreise und Aufenthalt (§ 96 AufenthG), oder Schwarzarbeit ein Strafverfahren ermittelt, was auch in den anderen Fällen des Ausweichens auf andere Straftatbestände wahrscheinlich
ist. Die hier vorgelegte Untersuchung bestätigt das
Ergebnis anderer Studien, dass extrem ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse bestehen, die den
Strafverfolgungsbehörden nicht bekannt werden,
Abschließend soll auf die in der Einleitung aufgestellten Hypothesen zur Erklärung der Diskrepanz
zwischen dem vermuteten Dunkelfeld und dem
Hellfeld der aufgedeckten Fälle des Menschenhandels zum Zweck der Arbeitsausbeutung eingegangen werden.
6.4
Erörterung der Hypothesen
(1) Die Ergebnisse unserer Recherche zeigen, dass
von den Beratungsstellen auch in Berlin und Brandenburg Fälle beraten wurden, die Anhaltspunkte
auf einen Anfangstatverdacht MH/A bieten, die
aber nicht zur Anzeige gebracht wurden. Daher
lässt sich schlussfolgern, dass es auch in Berlin
und Brandenburg ein Dunkelfeld extrem ausbeuterischer Beschäftigungsverhältnisse gibt, die bei
näherer Prüfung möglicherweise den Tatbestand
des Menschenhandels zum Zweck der Arbeitsausbeutung erfüllen würden. Über das Ausmaß lassen
sich aber mit den zurzeit verfügbaren Informationen keine verlässlichen Aussagen machen. Die im
Abschnitt 5 vorgestellten Überlegungen verdeutlichen, dass durchaus Ansätze entwickelt werden
können, um zu besser gesicherten Einschätzung zu
kommen.
(2) Ist das Hellfeld so klein, weil die Ermittlungsund Strafverfolgungsbehörden das Delikt MH/A
nicht angemessen verfolgen? Die Informationen
112
und Daten der Berliner Polizei und Staatsanwaltschaft zeigen, dass die Polizei dem Delikt große
Aufmerksamkeit und Aufklärungsintensität gewidmet hatte. Beim Berliner Landeskriminalamt ist ein
Kommissariat auf die Bearbeitung von Verdachtsfällen von MH/A spezialisiert. Im ersten Jahr nach
Einführung des Straftatbestandes MH/A wurden 54
Ermittlungsverfahren eingeleitet. Trotz intensiver
und prioritärer Aufklärungsbemühungen konnte
aber bei 98 in den Jahren 2006 bis 2009 eingeleiteten Ermittlungsverfahren nur in einem Fall
ein Strafbefehl erreicht werden. Es ist zumindest
für die Berliner Polizei nicht plausibel, das kleine
Hellfeld auf fehlendes Bewusstsein und Interesse
der Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden
zurückzuführen. Auch die Aussagen von FKS-MitarbeiterInnen verweisen darauf, dass es durchaus
Versuche zur Anwendung des § 233 StGB gab, die
aber scheiterten, weil die Betroffenen keine Aussagen machten.
(3) Die Probleme der Strafverfolgung lassen sich
zu einem erheblichen Teil auf die Komplexität des
Straftatbestandes, die hohen Anforderungen an
die Beweisführung und insbesondere die Bestimmung des schützenden Rechtsgutes als Freiheit,
über seine Arbeitskraft zu verfügen, zurückführen.
Es würde zur Klarheit beitragen, wenn nicht nur
das Bringen in Arbeitsausbeutung strafbar wäre,
sondern Arbeitsausbeutung an sich, wobei ein
abgestuftes System von Straftatbeständen eine je
nach Schwere angemessene Intervention erlauben
müsste.
(4) Personen, die an einer Situation extremer Ausbeutung als Opfer beteiligt sind, ist in der Regel
nicht bekannt, dass der Tatbestand MH/A zu ihren
Gunsten zur strafrechtlichen Bearbeitung Anwendung inden kann. Da die Betroffenen oft noch
über ein gewisses Maß an Handlungsfähigkeit
verfügen, sehen sie sich selbst nicht als Opfer von
Menschenhandel. Da sie selbst an der Verletzung
von Gesetzen mitgewirkt haben bzw. mitwirken,
fürchten sie zu Recht, bei der Einschaltung von
Strafbehörden selbst bestraft zu werden. Sie sind
also nicht hinreichend informiert über einen möglicherweise angebotenen Schutz, der sich aus der
Anerkennung eines Status als Opfer von Arbeits-
ausbeutung ergibt. Selbst wenn sie darüber informiert wären, könnten weder sie selbst noch ihre BeraterInnen vorab realistisch einschätzen, ob ihnen
ein Opferstatus tatsächlich zugesprochen würde
(Vexierlogik des Menschenhandelskonzepts). Vor
diesem Hintergrund wären Maßnahmen unterhalb
der strafrechtlichen Verfolgung ein Weg, um Betroffenen durch Ermöglichung und Unterstützung
bei der zivilrechtlichen und arbeitsgerichtlichen
Durchsetzung von Ansprüchen aus einem Arbeitsverhältnis zu ermutigen, ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse nicht hinzunehmen. Das Beispiel der chinesischen Spezialitätenköche zeigt,
dass auf diesem Wege auch die Bereitschaft für die
Kooperation mit Strafverfolgungsbehörden erhöht
werden kann.
113
114
115
7.
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Anhang 1:
Erkenntnisse zu MH/A in den Niederlanden
Einen differenzierten und anschaulichen Eindruck
der Probleme, die im Zusammenhang mit der Erhebung und (statistischen) Darstellung von MH/A
verbunden sind, vermittelt der Fünfte Bericht der
Beauftragten der Niederländischen Regierung für
Menschenhandelsangelegenheiten
(DettmeijerVermeulen 2007: 169-190). In dem Bericht wird
versucht, Informationen und Erkenntnisse zu
MH/A in den Niederlanden methodisch relektiert
zusammenzufassen. Dabei ist zunächst bemerkenswert, dass es zum Zeitpunkt der Erstellung des
Berichts keine einzige Verurteilung wegen MH/A
in den Niederlanden gegeben hatte. Zur Annäherung an MH/A wurde daher durch schriftliche
Befragung von Kontrollbehörden und Beratungsstellen Fälle extremer Arbeitsausbeutung erhoben.
Im Ergebnis wurde eine Liste mit 119 Fallbeschreibungen erstellt, die ausdrücklich als Informationen
aus zweiter Hand (bzw. vom Hörensagen) benannt
wurden, weil sie ausschließlich auf Berichten der
angefragten Stellen beruhte. Im zweiten Schritt
wurden die Fallschilderungen danach bewertet,
ob die beschriebene Fallkonstellation eine Ausbeutungssituation im Sinne des niederländischen
Menschenhandelsparagraphen
darstellen.
Es
wurde ausdrücklich erläutert, dass es auf Grundlage der erhobenen Fallschilderungen nur möglich
sei einzuschätzen, ob es sich um eine Situation
der Arbeitsausbeutung im Sinne des niederländischen Menschenhandelsparagrafen handelt. Eine
Einstufung als Menschenhandel sei auf Grundlage
der Fallschilderung nicht möglich, da es an Informationen über die subjektiven Absichten der Täter
fehle und auch eine Einschätzung nicht möglich
sei, inwiefern die geschilderten Sachverhalte sich
gerichtlich nachweisen lassen. Es wurde also eine
deutliche Einschränkung gemacht, dass man keine
Fälle von Menschenhandel darstellt, sondern Fälle
von Arbeitsausbeutung im Sinne des niederländischen Menschenhandelsparagraphen, die zumindest vom Sachverhalt den Tatbestand erfüllen (und
bei Vorliegen der subjektiven Tatvoraussetzung der
Absicht den Tatbestand erfüllen würden).
Vorgeführt wird, wie intensiv die AutorInnen sich
um eine transparente Deinition der Bedeutung
des Schlüsselkonzepts der Arbeitsausbeutung im
Sinne des niederländischen Menschenhandelsparagrafen (i.S.n.M.) bemühen. Als Kriterium für das
Vorliegen von Arbeitsausbeutung i.S.n.M wird bestimmt, dass als Grundvoraussetzung (konstanter
Faktor) eine Einschränkung der Freiheit und zusätzlich mindestens ein Element der erzwungenen
Arbeit gegeben sein muss. Die Einschränkung der
Freiheit bildet das feste Element zur Deinition
von Arbeitsausbeutung i.S.n.M. Als variable Elemente erzwungener Arbeit werden genannt (1)
Zwang, einschließlich der Ausübung oder Androhung körperlicher oder sexueller Gewalt, die Androhung der Anzeige eines illegalen Aufenthaltes
oder einer illegalen Beschäftigung, die Ausnutzung
einer Autoritätsposition oder die Ausnutzung einer
verletzlichen Position; oder (2) schlechte Arbeitsbedingungen, einschließlich unverhältnismäßig
langer Arbeitszeiten, niedriger Entlohnung oder
gefährlicher Arbeitsbedingungen unter Missachtung der Schutzbestimmungen; oder (3) mehrfache
Abhängigkeiten, einschließlich der Beschäftigung
zum Abarbeiten von Schulden und die gleichzeitige Abhängigkeit von einer Person bei Beschäftigung und Unterbringung oder Vorenthaltung von
Dokumenten.
„Eine Situation kumuliert dann zu Ausbeutung
(i.S.n.M.), wenn eines dieser Probleme besteht und
die Betroffenen nicht frei sind, diese Situation zu
verlassen oder aber begründet annehmen, dass sie
nicht die Freiheit haben, das Beschäftigungsverhältnis zu beenden. In der Praxis können sich der
konstante und die variablen Faktoren überlappen.
Die Einschränkung der Freiheit kann verknüpft sein
mit extremen Arbeitsbedingungen oder die Ausnutzung einer verletzlichen Lage kann so heftig
sein, dass der Betroffene keine andere Möglichkeit
hat als Ausbeutung zu erleiden. Bei der Einschätzung einer Situation müssen alle Besonderheiten
des Einzelfalls, etwa die Dauer, der Grad der Organisierung oder das Alter der Betroffenen berücksichtigt werden“ (Dettmeijer-Vermeulen 2007: 158).
Nach dieser Deinition wurden schließlich 119 Fallschilderungen als Ausbeutung i.S.n.M. eingestuft.
Weitere erhobene Fallschilderungen wurden als
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„gewöhnliche Ausbeutung“ eingestuft, bei der zivilrechtliche, aber keine strafrechtlichen Bestimmungen verletzt wurden oder sogar als lediglich
schlechte, aber im rechtlichen Sinne nicht ausbeuterische Arbeitsbedingungen.
Die Darstellung der niederländischen Berichterstatterin zeigt anschaulich und nachvollziehbar
mögliche Hintergründe für die Diskrepanz zwischen dem vermuteten und dem schließlich festgestellten Ausmaß an MH/A in den Niederlanden.
Extreme Ausbeutung wird danach erst dann als
MH/A klassiiziert, wenn die Freiheit der betroffenen Person eingeschränkt wird. Bemerkenswert an
dem Bericht ist, dass durch Befragung von Behörden und Beratungsstellen relativ zahlreiche Hinweise auf ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse
in den Niederlanden erhoben werden konnten, die
aber nicht zu Anzeigen geführt hatten.
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Anhang 2
Aulistung aller durchgeführten Interviews
Laufende Institution/Funktion
Nummer
Name
Bundesland
Art
Datum
1
Jesuiten Flüchtlingsdienst
M. Stark
Berlin
telefonisches IV
06.11.09
2
Rechtsanwalt
B. Welke
Brandenburg
persönliches IV
09.11.09
3
DGB Beratungsstelle für
Migranten
V. Siewert
Berlin
persönliches IV
10.11.09
4
Härtefallkommission
T. Vorbrodt
Berlin
persönliches IV
16.11.09
5
Die Unabhängigen (Charité)
Z. Safaei
Berlin
persönliches IV
16.11.09
6
IG Bau
L. Dieckmann,
Berlin
persönliches IV
18.11.09
7
Fachgemeinschaft Bau
Herr A., Herr B.,
H.-J. Rosenwald
Berlin
persönliches IV
24.11.09
8
SeelsorgerInnen im Abschiebegefängnis (ev. Kirche)
K. Frisch
Berlin
persönliches IV
24.11.09
9
Ban Ying
N. Prasad
Berlin
persönliches IV
25.11.09
10
Invia
B. Eritt
Berlin
persönliches IV
26.11.09
11
Kirchenkreis Oranienburg,
Beratung für Flüchtlinge und
Migranten
S. Tetzlaff
Brandenburg
persönliches IV
26.11.09
12
Diakonisches Werk in Cottbus
I. Küchle
Brandenburg
persönliches IV
02.12.09
13
Verein Europäischer Wanderarbeiter
M. Balan
Berlin
telefonisches IV
02.12.09
14
Solwodi
B. Mariotti
Berlin
persönliches IV
03.12.09
15
Bleiberecht durch Arbeit
E.-M. Kulla
Berlin
telefonisches IV
03.12.09
16
Malteser Migranten Medizin
A. Franz
Berlin
persönliches IV
08.12.09
17
Diakonisches Werk in Potsdam
M. Rau, J. Schührer Brandenburg
persönliches IV
09.12.09
18
Diakonisches Werk in
Senftenberg
Herr Jahn, Frau
Herzog
Brandenburg
persönliches IV
16.12.09
19
Wohnungslosenhilfe
R. Thiele
Berlin
persönliches IV
17.12.09
20
(Schmuckverkäuferin)
Frau F.
Berlin
telefonisches IV
11.02.10
21
LKA Berlin
R Lawitzke
Berlin
persönliches IV
08.01.10
22
Staatsanwaltschaft Berlin
F. Heller
Berlin
persönliches IV
18.02.10
23
FKS Berlin Brandenburg
Vier
MitarbeiterInnen
Berlin und
Brandenburg
persönliches IV
26.04.10
24
Staatsanwaltschaft Berlin
Klatt
Berlin
persönliches IV
30.06.10
Quelle: Eigene Aufstellung