G 6892
THEOLOGISCWES
Katholische Monatsschrift
Begründet von Wilhelm Schamoni
Jahrgang 34, Nr. 4/5
April/Mai 2004
Sondernummer: Zum 100. Geburtstag und 20. Todestag Karl Rahners
INHALT
DAVID BERGER
Editorial
David Berger
Editorial: 100. Geburtstag und 20. Todestag Karl Rahners
Leo Kardinal Scheffczyk
Zur Marienlehre Karl Rahners
186
zum 100. Geburtstag und 20. Todestag Karl Rahners
Wer die Lage von Theologie und Kirche im deutschen
Sprachraum kennt, der konnte es auch ohne prophetisches
201 Charisma vorhersehen: Der sich in diesem Jahr zum hundertsten Mal jährende Geburtstag sowie der zwanzigste
Todestag Karl Rahners wird zumindest innerkirchlich zu
207
einer nicht enden wollenden Flut an euphorischen Lobeshymnen führen. Nachdem die „Enkel Rahners" — sozusagen im
215 vorauseilenden Gehorsam — bereits im Vorjahr einen Band zu
231 dem Jubiläum mit ausschließlich unkritischen Rahnerreferaten veröffentlicht haben', hat der Jesuitenorden in Deutsch233 land mit einer umfassenden offiziellen Pressemappe und
einem Sonderheft der Zeitschrift „Stimmen der Zeit" das
„Rahnerjahr"
eröffnet.2
243
191
Leo Elders
Karl Rahner und die nichtchristlichen Religionen
Walter Hoeres
Der veruntreute Thomas — Rahners Fehlstart in Freiburg
Alma von Stockhausen
„Die christliche evolutive Weltkonzeption"
Impressum
Wolfgang B. Lindemann
Karl Rahner und die Evolutionstheorie
Annelle Funke
Der Jesuit Karl Rahner und die Kultur des Christentums
P. Markus Christoph SJM
Kirchenvater der „dritten kirchengeschichtlichen
Epoche"
Heinz-Lothar Barth
Rahners Theorie vom anonymen Christentum (Teil I)
269 Mehr als die Hälfte der in der Pressemappe festgehaltenen
Äußerungen besteht aus begeisterten Lobreden auf Werk und
Hans Kindlimann
Wirken Rahners. So hebt gleich der erste Beitrag von HansAnmerkungen zum Umgang Karl Rahners mit dem Thema
ruedi Kleiber, Vorsitzender der Provinzialkonferenz des
Ablass
279
Jesuitenordens in Zentraleuropa mit folgenden Worten an:
Joseph Overath
„Wie kaum einer sonst hat Karl Rahner die Theologie des
Frühe Kritiker Karl Rahners nach dem Vaticanum II
291 20. Jahrhunderts mitgestaltet und eine ganze Generation von
Theologen und Seelsorgern geprägt. Seine zahlreichen Veröffentlichungen werden auch heute noch mit Gewinn gelesen,
und die Herausgabe seines Gesamtwerkes verspricht Zugang
zu längst vergriffenen Publikationen. Noch immer erscheinen
Dissertationen über Karl Rahner. Die Beschäftigung mit seinem Denken wird nicht so schnell an ein Ende kommen. Sie
weist im Gegenteil darauf hin, welche Lücke seit seinem Verstummen entstanden ist, eine Lücke, die — so scheint es —
kaum geschlossen werden kann. Darauf hat vor zehn Jahren
schon Karl Lehmann aufmerksam gemacht (vgl. Stimmen der
Zeit 212, 1994, 147-150), indem er die bleibende Bedeutung
Rahnerscher Theologie unterstrichen und Karl Rahner als
„echten Lebe- und Lesemeister" bezeichnet hat ... Die
Karl Rahners Anthropologie und Gnadenlehre
245
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Adressenänderungen, Neu- u. Abbestellungen bitte an:
Verlag Franz Schmitt, Postfach 1831, 53708 Siegburg (i. A. des Hrsg.)
— 185 —
1 Andreas
R. Batlogg u. a. (Hrsg.), Der Denkweg Karl Rahners. Quellen — Entwicklungen — Perspektiven, Mainz 2003.
2 Im Internet unter: www.jesuiten.org
— 186 —
Beschäftigung mit Karl Rahner und seinem Werk kann auch
heute noch jeden theologisch Interessierten begeistern ..."
Im gleichen Duktus äußert sich dann auch der Rahnerschüler Kardinal Lehmann in seinem Geleitwort: „Karl Rahners
Werk ist für uns alle wie ein Riesengebirge." Wir müssen ihn
„bei aller Kühnheit und Unabhängigkeit des Denkens als
Mann der Kirche verstehen."
Flankiert werden diese Aussagen durch jene des Jesuiten
Andreas Batlogg, der bereits früher damit hausieren ging,
dass er „rahnersüchtig geworden [sei] wie nur je ein Morphinist nach der ersten Spritze süchtig werden kann", und der
das Objekt seiner Sucht als den „bekanntesten Theologen des
20. Jahrhunderts, einen bedeutsamen Konzilstheologen und
Berater von Bischöfen und Synoden", als „einen Mann des
offenen Wortes in der Kirche" preist. Ganz auf dieser Linie
fährt der Rahnerschüler Albert Raffelt fort, wenn er Rahner
als den „wohl wirkmächtigsten katholischen Theologen des
20. Jahrhunderts" bezeichnet und dann statuiert: „Wer Karl
Rahner nicht liest, schadet seiner theologischen Bildung. Und
wer ihn liest, kann mehr als nur Theologie von ihm lernen."
Ebenfalls ganz in diesem Stil äußert sich endlich der Innsbrucker Fundamentaltheologe und Hüter des Karl-RahnerArchivs, Roman Siebenrock: Unter dem Titel „Karl Rahner
als theologischer Architekt für die dritte kirchengeschichtliche Epoche" macht er den Jesuiten zu dem „bedeutendsten
Theologen der katholischen Kirche im 20. Jahrhundert", zum
„maßgebliche Experten des Zweiten Vatikanischen Konzils,
Überwinder der Schultheologie". Und fährt fort: „Karl Rahner hat am Ende seines Lebens unsere Zeit als Beginn der
dritten kirchengeschichtlichen Epoche bezeichnet. Mit dem
Zweiten Vatikanum sei die römisch-katholische Kirche eine
Kirche geworden, die in vielfältiger Weise real Weltkirche
werde. Karl Rahner ist nicht nur der Brückenbauer in diese
kirchengeschichtliche Epoche hinein, sondern sein Werk
stellt eine maßgebliche theologische Orientierung für diese
dar. Sein Werk entstand als theologische Begleitung einer
Kirche im Aufbruch und formale Grundlegung der Nachfolge
Jesu dar. Es ist heute als theologische Architektur für die
dritte kirchengeschichtliche Epoche neu zu gewinnen. Er
lehrt uns beispielhaft, was theologische Verantwortung in ihr
heißt."
Alle Behauptungen freilich bleiben unbelegt, kritische
Rückfragen unterbleiben: Wie kann einer vorbehaltlos und
ohne Abstriche zu machen als ein „Mann der Kirche", der
„allgemeine Lehrer" der „dritten kirchengeschichtlichen
Epoche" (?) gepriesen werden, der für sich das Recht in
Anspruch nahm, „auch am Lehramt der Kirche vorbei Aussagen zu formulieren", der die Deutsche Bischofskonferenz zur
verhängnisvollen „Königsteiner Erklärung" maßgeblich
motivierte' und dessen scharfe Kirchenkritik in der Zeit nach
dem Zweiten Vatikanischen Konzil zum Vorbild Ungezählter
und damit indirekt zu einer der Ursachen für die schwere Kirchenkrise wurde4? Ist es legitim, Rahner zu einem wichtigen
Konzilstheologen hochzustilisieren, obwohl dazu zuverlässige Forschungen fehlen und jene, die die Sache vorurteilsfrei
angingen, eher gegen einen nachhaltigen Einfluss Rahners
auf die Texte des Konzils sprechen?' Ist es empfehlenswert,
die Schriften Rahners zur Pflichtlektüre zu erheben, obwohl
nachweislich bestimmte dort entwickelte Theorien (etwa die
3 Stimmen
der Zeit, Spezial 1 (2004) 27.
Cf. Michael Schulz, Karl Rahner begegnen, Augsburg 1999, 59.
5 Cf. auch die andersartige Gewichtung von Dr. Heinz-Lothar Barth in seinem
folgenden sehr lesenswerten Beitrag.
4
— 187 —
des „anonymen Christen") nicht nur ein sehr brüchiges philosophisch-theologisches Fundament haben, sondern zudem
fatale Auswirkungen hatten? Ist es angemessen jemandem
zum „Lebemeister" zu erklären, der nachweislich gegen
Papst und Bischöfe in polemischer Weise, bisweilen sogar
mit öffentlichen Beschimpfungen und unter Zuhilfenahme
der „öffentlichen Meinung" agierte, konnte er seine kirchenpolitischen Vorstellungen nicht durchsetzen? Dessen (von der
Pressemappe schamhaft verschwiegenes) Verhältnis zu der
zweifelhaften Schriftstellerin Luise Rinser bis zum heutigen
Tag ungeklärt ist?6
All diese Fragen unterbleiben, stattdessen schaukelt man
sich verbal mit Lobeshymnen immer höher — dazu passte es
dann auch dass es den Machern der genannten offiziellen
Webseite der Jesuiten nicht zu peinlich ist, neben einem Rahnerwein (2002er Riesling Kabinett trocken) und Rahnerpostkarten auch ein Poster zum Verkauf anzubieten, das laut der
Internetseite bei Gottesdiensten aufgehängt werden soll.
Selbst die „Neue Zürcher Zeitung" wundert sich über die
„galligen Bemerkungen gegen Rahner-Kritiker"
So soll sich ganz offensichtlich beim Leser der Eindruck breit
machen, nur völlig Irregeleitete könnten noch daran zweifeln,
dass Rahner der Kirchenlehrer des 20. Jahrhunderts schlechthin ist, vor dem gleichermaßen große wie der Wahrheit des
katholischen Glaubens und dem Heiligen Stuhl treu ergebene
Geister wie Charles Journet, Hans Urs von Balthasar, Garrigou-Lagrange, Leo Scheffczyk u. a. im Dunkel der Bedeutungslosigkeit verschwinden.
Die Einwände werden freilich von der Pressemappe sofort
niedergeschlagen, indem in altbekannter Manier der Rahnerkritik apriori jede Berechtigung abgesprochen und niedere
Bewegmotive unterstellt wird. So bereits bei P. Kleiber:
„Dass der bedeutende Theologe nicht nur Freunde hatte, sondern da und dort massiven Verdächtigungen und Verunglimpfungen ausgesetzt war, ist bedauerlich." Besonders scheinen
Karl Lehmann die Kritiker Rahners zu beschäftigen. — Und
dies obgleich er bei einem Vortrag im Historischen Kaufhaus
am Münsterplatz in Freiburg im Breisgau am 31. Januar 2004
nicht nur die Hörer wissen ließ, diese sich nun besonders
auch im deutschsprachigen Raum zeigende Kritik sei
„beschämend", sondern auch alle aufforderte, diese Kritik
einfach zu ignorieren und so wörtlich „über solche unqualifizierten Äußerungen zur Tagesordnung überzugehen."
Ganz im Kontrast zu der ausgegeben Taktik des Ignorierens sind dann aber mehr als zwei Drittel seines Grußwortes
zur genannten Pressemappe der pauschalen Zurückweisung
der jüngeren Rahnerkritik gewidmet': „In den letzten Jahren
und Jahrzehnten seit seinem Tod gab es immer wieder einzelne Versuche, ihn überwiegend als Kirchenrebellen hinzustellen. In Wirklichkeit jedoch ist Karl Rahner durch und
durch verwurzelt und beheimatet im Raum der Kirche. Dies
wird schon daran deutlich, wie selbstverständlich ihm von
6
7
Ibid., 54-67.
Dies fiel selbst der französischen Nachrichtenagentur Infocatho auf, die am
12. 01. 2004 berichtete: „Alors que le jeune professeur de theologie allemand
David Berger, membre de l'Academie pontificale de SaMt Thomas d'Aquin
au Vatican, affirme que certains enseignements de Rahner peuvent etre consideres comme „heretiques", le cardinal Karl Lehmann, eveque de Mayence et
president de la Confeence des eveques allemands, affirme qu'il n'etait pas un
rebelle au sein de l'Eglise. En realite, souligne-t-il, ce savant est toujours reste
entierement enracine dans le sol de l'Eglise, ecrit le cardinal Lehmann.»
Diese Nachricht wurde auch von der philippinischen und chinesischen katholischen Nachrichtenagentur verbreitet.
— 188 —
seiner ganzen theologischen Ausbildung und dem Studium
her die gründliche Kenntnis der großen Quellen des kirchlichen Glaubens ist, um nur die Kirchenväter und Thomas von
Aquin zu nennen ... Die seelsorgliche Dimension gehörte für
ihn zu den Bausteinen jeder Theologie. Dies zeigen nicht
zuletzt auch seine Gebete." Das einzige freilich, was Kard.
Lehmann zur Rechtfertigung Rahners zu sagen weiß: „Am
meisten widerlegt werden sie [die Vorwürfe der Heterodoxie]
durch das Zeugnis vieler Menschen, ja mehrerer Generationen, die auch heute noch Karl Rahner für all das, was er
geleistet hat, ein herzliches Vergelt's Gott zurufen." — Wie
wenig dieses ad hominem vielleicht beeindruckende Argument überzeugt und wie leicht es zu widerlegen ist, zeigen
die Äußerungen des bekannten Philosophen Dr. Helmut Müller in der „Tagespost" (16. März 2004), in denen er beschreibt, wie sein geistliches Leben durch die Theologie Rahners „regelrecht Schiffbruch erlitten hat". Im weiteren Verlauf der Diskussion haben sich einige Bischöfe deutschsprachiger Länder der pauschalen Apologie der Orthodoxie Rahners durch Lehmann angeschlossen.
Batlogg glaubt dann auch zu wissen, wo die Ursachen für
die Kritik an Rahner liegen: „weil Hintergründe fehlen und
Verständnishorizonte (oft unglaublich mühsam) erst erschlossen werden müssen. Doch die Generation der Enkel muss
andererseits nicht aus dem Schatten des großen Meisters treten, was gelegentlich auch sehr ungeschickt erfolgt ist, weil
einige meinten, ihr eigenes Profil nur durch aggressive Absetzung von ihm zeichnen zu können."
Zu einem verbalen Amoklauf setzt schließlich der Münsteraner Emeritus und langjährige Weggefährte Rahners, Herbert Vorgrimler, kurz nach Veröffentlichung der Ankündigung dieses Sonderheftes in einem Beitrag für das sogenannte „Münsteraner Internetforum für Theologie und Kirche" an8: „Leider" habe sich „seit dem Konzil eine Art Polemik auf Rahner konzentriert, die in ihrer Arroganz und Ignoranz unfassbar" sei. Und er macht dann sogar den Versuch,
diese Kritik in wenigen Worten zusammenzufassen: „Rahner
reduziere die ganze Theologie auf Anthropologie. Bei ihm
finde sich nichts von dem Staunen vor dem Unfasslichen und
Unableitbaren. Das Christentum werde bei ihm auf einen
Humanismus reduziert. Das geschichtliche Christusereignis
fehle bei Rahner ..." Geradezu entlarvend lesen sich die
darauf folgende Sätze: „Solche und ähnliche Beleidigungen
finden sich in Publikationsorganen, die die vom Konzil
geschaffene Meinungsfreiheit ohne jede moralische Hemmung ausnützen, so in ‚THEOLOGISCHES', Una voce Korrespondenz' [sie!] und in anderen. Die Sprache ist oft von pathologischem Hass geprägt. Wo die sektiererischen Kreise, die
hinter diesen Organen stehen, nicht ausdrücklich die Legitimität der Bischöfe bestreiten, da wird diese Legitimität doch
faktisch beiseite geschoben." Nicht nur bezeichnend und
geradezu typisch für Rahnerschüler vom Format Vorgrimlers
ist, dass während man sonst immer wieder die Großartigkeit
des Konzilsgeistes beschwört, diesen nun aber für die Rahnerlcritiker gerne ausgesetzt sehen möchte (wobei wir es uns
hier jetzt ersparen, der Vorgrimlerschen These, dass die Mei
nungs- und Pressefreiheit eine Erfindung des Vaticanum II
sind, nachzugehen). Auch dass man den „Kreisen", die hinter
8
Dieser Stil prägt auch dessen neues Buch über Rahner. Dazu bemerkt die
Neue Zürcher Zeitung (6.03. 2004): Eine der großen Schwächen des Buches
bestehe „ohne Zweifel in der apologetischen Tendenz, die sich in galligen
Bemerkungen gegen Rahner-Kritiker ... entlädt (- so) als hätten diese nicht
auch seriöse Anfragen vorgetragen".
- 189 -
„THEOLOGISCHES" stehen (immerhin gehören zur Fördergemeinschaft der Zeitschrift Männer wie Kardinal Scheffezyk)
Sektierertum vorwirft, lässt die Klage über den „pathologischen Hass" der Rahnerkritiker in einem ganz eigenen Licht
erscheinen. Hierzu passt dann, dass im gleichen Atemzug
auch noch die Autoren von THEOLOGISCHES beleidigt werden: „In den erwähnten Publikationsorganen maßt sich jede
Ignorantin, jeder Ignorant das Urteil darüber an, wann und
bei wem eine Irrlehre vorliege ..."9 .
Mut zu Kritik an Karl Rahners Theorien
So unerfreulich, ja in ihrer polemischen Art auch peinlich
diese abfälligen Äußerungen über die Kritiker Rahners ausfallen, so erfreulich ist es andererseits zu sehen, wie die Rahnerschule aus ihrer offensiven Haltung sich zunehmend in die
Defensive gedrängt sieht. Dies ist auch Müller aufgefallen,
der in dem bereits zitierten Text bemerkt: „In der ökologischen Nische theologischer Fakultäten, wo man Hypothesen
anstatt seiner selbst leben und sterben lassen kann, ist das
eigentliche Biotop für Rahners Theologie und auch da
scheint es eng zu werden."
Seit ihrem Bestehen hat die Zeitschrift THEOLOGISCHES
mutig die Grenzen der „ökologischen Nische" gesprengt, falsche Tabus gebrochen und der sonst im deutschen Sprachraum mit großer Konsequenz unterdrückten Rahnerkritik
immer wieder geistreich Raum gegeben: Bedeutende Rahnerlcritiker, die an diesem Wechsel von der Offensive zur Defensive mitgewirkt haben, taten dies über Artikel, die in THEOLOGISCHES veröffentlicht wurden: Leo Card. Scheffczyk,
Bernhard Lakebrink, Alma von Stockhausen, Alfred Locker,
Walter Hoeres, Georg May, Heinz-Jürgen Vogels, Leo Elders
u. a. — International bekannte und anerkannte Wissenschaftler, die über jeden Verdacht des Ignorantentums unbestreitbar
weit erhaben sind.
Auch dieses Sonderheft versammelt ausschließlich sachlich, auf hohem wissenschaftliche Niveau argumentierende
Stimmen zu Rahner. Allerdings kommt auch hier jene Kritik
zu Worte, der man in der „scientific community" deutscher
Universitätstheologen weithin das Rederecht bestreitet. Keinem der Beiträge geht es darum ein "Zurück hinter Rahner",
vor welchem viele Rahnerverehrer Angst haben'°, zu propagieren, sondern vielmehr über ihn hinaus und in kritischer
Auseinandersetzung mit seinem Denken Wege in die Zukunft
aufzuzeigen, die sich mit Respekt vor der Stimme des Lehramtes konsequent an der Wahrheit des katholischen Glaubens
orientieren und von daher über die Kategorie der neuen theologischen Zeitrechung „vor" oder „nach Rahner" erhoben
sind.
H. Vorgrimler, Karl Rahner - eine theologisch-biographische Skizze, in:
www.muenster.de/angergunkahnergeburtstag.pdf. Vom 11. 02. 2004.
lo Cf. Walter Kasper, Kein Zurück hinter Rahner, in: DT vom 4. März 2004, 19.
9
„In seiner unaufhörlichen linguistischen Akrobatik
gibt Rahner die unwahrscheinlichsten und widersprüchlichsten Definitionen von sich, aber ohne jemals
klar die Lehre der Kirche über die Menschwerdung
Christi oder über die Schöpfung zu geben."
Giuseppe Kardinal Siri
- 190 -
LEO CARD. SCHEFFCZYK
Mariologie und Anthropologie
Zur Marienlehre Karl Rahners
Die Marienlehre ist in den Schriften K. Rahners nicht mit der
gleichen Ausführlichkeit behandelt wie die Themen der Trinitätslehre, der Christologie oder der Gnadenlehre, obgleich
sie keineswegs unbeachtet bleibt'.
Daran ist es wohl auch gelegen, dass der theologische Diskurs um die Mariologie Rahners geringer ausfällt als die Auseinandersetzung mit den anderen theologischen Themen, von
Ausnahmen abgesehen. Zu den Ausnahmen gehört u. a. die
Arbeit von KI. Riesenhuber S. J. über „Maria im theologischen Verständnis von Karl Barth und Karl Rahner"2, in der
der Autor den schwierigen Versuch unternimmt, die Übereinstimmungen und Entsprechungen der beiden Konzepte „im
Grundansatz" (bei verbleibendem „charakteristischem Gepräge") aufzuzeigen. Aber K. Barth lehnt die katholische
Mariologie im ganzen ab, weil sie für ihn (zusammen mit
dem damit verbundenen Anthropozentrismus) „eine Wucherung, eine krankhafte Bildung des theologischen Denkens"
darstellt, die „abgeschnitten werden" muss3. So kann das
Übereinstimmende allenfalls in einer „marianischen Kurzformel" gefunden werden (Gottesmutterschaft und Jungfrauengeburt enthaltend), neben der die anderen marianischen
Wahrheiten als „Explikationen" geringer gewichtet werden.
Auf die „Materialien und Grundlinien" der Rahnerschen
Marienlehre geht sein Schüler K. H. Neufeld in einem kurzen
Beitrag ein5, in dem er es nicht versäumt, die Marienlehre des
Meisters von der traditionellen „Mariologie der Privilegien"
abzuheben, weil diese Maria angeblich in einen „Elfenbeinturm" einschloss6.
Diesen positiven Beurteilungen des Rahnerschen Konzeptes steht die kritische Sicht H.-J. Vogels' gegenüber, der die
Mariologie Rahners im Zusammenhang mit dessen „apriorischer Lehre vom absoluten Heilsbringer [Jesus Christus] und
seiner Durchführung der transzendentalen Christologie"
behandelt. Er weist darauf hin, dass in dem Gesamtentwurf
der Rahnerschen Theologie im „Grundkurs des Glaubens"
die Mutter Jesu, das erste christologische Dogma (Ephesus
431) und der Theotokos-Titel nicht mehr vorkommen und
dass auch die neueren Mariendogmen nur als Ergebnis der
Erlösung Mariens angesehen werden. So wird Maria nur
noch als „Heilsfrucht" betrachtet, was die förmliche Ausschöpfung ihrer Eigenbedeutung verhindert'.
Die zwischen den beiden genannten Polen der Interpretation aufgebaute Spannung lässt es berechtigt erscheinen, den
Grundbestand der Rahnerschen Mariologie nochmals (wenn
auch in Kürze) zu bedenken, um u. a. festzustellen, wohin
sich bei seiner Position zwischen Tradition und Fortschritt
am Ende die Waagschale neigt. Der relativ begrenzte Umfang
des mariologischen Traktates bietet auch die Möglichkeit,
gleichsam an einem verkleinerten Modell das Ganze dieser
Theologie in seiner Eigenart zu studieren und zu beurteilen.
1) Dogmatische Grundlagen in neuer Akzentuierung
Zu den ersten mariologischen Beiträgen Rahners ist der Artikel über „Probleme heutiger Mariologie" aus dem Jahre 1948
zu zählen'. Es handelt sich um eine ausführliche und kritische
Besprechung des damals viel beachteten Werkes von
H. M. Köster über die „Magd des Herrn"9. Dem Pallottinertheologen geht es hier um den Nachweis, dass Maria zwar
nicht „Corredemptrix" im Sinne der moralischen oder physisch-instrumentalen Mitwirkung mit oder unter dem Erlöser
sei, aber dass ihr doch eine einzigartige Stellung in der Heilsgeschichte, aufgrund ihrer Gottesmutterschaft und ihrer Präsenz beim Kreuzesgeschehen, zukomme. Diese damals
moderne These ist, abgesehen von den Zeugnissen der Tradition (von Thomas bis zu Pius XII.), gestützt auf tieflotende
Beweisgründe aus der Geschichte des Bundes, aus der Einheit des Menschgeschlechtes (das in der Vollkommenheit
Marias seine „Spitze" findet), aus den Heilsfunktionen von
Personalität und Polarität zwischen Gott in Jesus Christus
und der Menschheit in der Geschichte des Bundes.
So kommt Köster zu dem Schluss, dass sich in der Gottesmutterschaft wie in der Stellung Mariens unter dem Kreuz
die Selbstdarbietung der Menschheit auf das Angebot Gottes
in Jesus Christus vollzieht, das seitens der erlösungsbedürftigen Menschheit annahmepflichtig ist. Maria setzt demnach in
„gliedhafter Stellvertretung" den Akt der Annahme des Heils.
„Sie ist der Höhepunkt, in dem das personale Gegenüber der
Heilsbegegnung zwischen Gott und Mensch in der Bundesgeschichte kulminiert"10. Im „Mitleiden Marias ist die Welt
empfängniswillig unter den Segen des Kreuzes getreten",
womit sie in der objektiven Erlösung wirksam wird. Dieser
ihrer Rolle entspricht, um gemeinmenschlich relevant zu
sein, ihre Mittlerschaft aller Gnaden im Bereich der subjektiven Erlösung. Es „bleibt die in Mariens Gestalt einmal gültig
vollzogene und immerzu aufrecht grundsätzliche Selbstübergabe der Menschheit der alles umgreifende, tragende Grund,
auf dem sich die Einzelhingabe des konkreten Menschen zu
Christus und die Begegnung mit Ihm vollzieht"12.
Rahner bezeichnet in seiner hochspekulativen Besprechung die These Kösters als „unannehmbar"13. Dabei geht er
freilich auf die diese These unterbauenden Grundelemente
wie Einheit der Menschheit, Bund, Heilsbegegnung, Kontinuität des objektiven Heilshandelns Gottes (Eva — Maria) wie
auf die Stellvertreterrolle Marias nicht ein. Im Hinblick auf
seine später erreichte Reflexionsstufe wird man annehmen
dürfen, dass dieses Gesamtkonzept ihm zu positivistisch, zu
objektivistisch und extrinsezistisch erscheint, dass es Maria
Vgl. dazu Rahner, Karl, S. J., in: Marienlexikon (hrsg. von R. Bäumer und
L. Scheffczyk) V, St. Ottilien 1993,402-403 (R. Schenk). Hier wird die Zahl
von 40 mariologischen Originaltiteln angegeben (bis 1973).
2 Quaest. disp. 60, Freiburg 1973.
3 K. Barth, Die kirchliche Dogmatik 112, Zollikon-Zürich 41948, 153.
4 Kl. Riesenhuber, 116.
5 K. H. Neufeld, Zur Mariologie Karl Rahners. Materialien und Grundlinien,
in: Zeitschr. für Kath. Theologie 109 (1987) 431-439.
6 Ebda., 437.
7 H.-J. Vogels, Rahner im Kreuz-Verhör. Das System Karl Rahners zuendegedacht, Bonn 2002, 18f.
K. Rahner, Probleme heutiger Mariologie, in: Aus der Theologie der Zeit
(hrsg. im Auftrag der Theologischen Fakultät München von G. Söhngen),
Regensburg 1948, 85-113.
9 H. M. Köster, Die Magd des Herrn. Theologische Versuche und Überlegungen, Limburg 1947.
Ebda., 153.
I Ebda., 321 f.
12 Ebda., 329.
13 Probleme, 108.
— 191 —
— 192 —
I
8
eine Spitzenstellung zuerkennt, die sie von der Gesamtmenschheit und von der conditio humana trennt. Auch das
Gegenüber von Christus und menschlichem Gnadenempfänger erscheint ihm nicht angemessen, wo doch die Gnade
(nach späterer Darstellung) den Menschen als „übernatürliches Existential" stets zu eigen ist. Hier klingt auch schon der
später in der Christologie Rahners tragende Gedanke an, dass
der Logos nicht nur von Gott zu uns kommt, sondern dass er
„schon die von der Seite der sündigen Kreatur aufgebrochene
Bewegung der Welt zu Gott"14 ist, die Mariens Stellung in der
objektiven Erlösung unter dem Kreuz irrelevant werden lässt,
abgesehen von ihrer Bedeutung als „Schmerzensmutter".
Rahner hängt aber seine Kritik nicht an diese Fragen der
geschichtlichen Heilsverwirklichung an, sondern knüpft sie
an zwei Tatbestände der metaphysischen Theologie, nämlich,
dass nicht Maria sondern Christus selbst „das alles entscheidende Ja der Menschheit zu Gott" gesprochen habe, dass er
allein auch die Spitze der Menschheit sei und dass die
Annahme der Erlösungsfrucht (durch Maria unter dem
Kreuz) nicht zur objektiven Erlösung gehöre, sondern als
subjektive Erlösung (Gnadenvermittlung) zu verstehen sei.
Die These Kösters gerate einmal in die Nähe des Monophysitismus, zum anderen berühre sie sich mit einem „Hyperplatonismus", wenn sie annehme, dass der Akt Mariens ein Akt
der Gesamtmenschheit sei (was aber Köster so nicht behauptet).
Das Problematische an der Rahnerschen Kritik liegt (hinsichtlich des ersten Vorwurfs) in der Schwierigkeit, dem gottmenschlichen Erlöser selbst ein Jawort zum Empfang der
Erlösung zuzusprechen, der ja nicht zur erlösungsbedürftigen
Menschheit gehört, woraufhin er die Erlösung gar nicht anzunehmen brauchte und sie nicht annehmen konnte. Im Ganzen
nehmen diese kritischen Einwände auch die ekklesiotypische
Grund- und Neustruktur des Kösterschen Konzeptes nicht
ernst, in dem vor allem auch Maria als Urbild der Kirche zur
Geltung kommt. Das Unzureichende an Rahners Kritik liegt
auch in dem Umstand (für den er sich selbst indirekt entschuldigt), dass er in dieser Untersuchung keinen „positiven
Gegenvorschlag" vorlegen kann15.
Aber es gibt zu dieser Zeit schon einen mariologischen
Entwurf, in dem das Eigene des Rahnerschen Konzeptes zur
Geltung kommt. Es gelangt in der Schrift „Maria, Mutter des
Herrn. Theologische Betrachtungen"16 zum Vorschein, die
aus einer im Jahre 1953 gehaltenen Predigtreihe entstanden
ist. Die Herkunft dieser Texte aus der Verkündigung haben
vielfach zu einer Minderbewertung ihrer theologisch-mariologischen Bedeutung Anlass gegeben, obgleich der Autor im
Vorwort vermerkt, dass diese geistlichen Reden „in einer
mehr dogmatischen Lehrhaftigkeit vorgetragen" sind. Sie
enthalten tatsächlich einen Grundriss der Marienlehre, der
sich einerseits in den Bahnen der Tradition bewegt, aber
andererseits auch schon die Besonderheit Rahnerschen Denkens erkennen lässt.
Rahner bietet ein Gesamtbild der Marienlehre wie der
Marienverehrung der Kirche mit den marianischen Dogmen
und der Wahrheit von der Gnadenmittlerschaft Marias. In das
abschließende Mariengebet sind auch die Gedanken von
Maria als der „zweiten Eva", als „Mutter aller Erlösten", als
der Kirche unter dem Kreuz aufgenommen und nicht ohne
theologischen Tiefgang interpretiert. An diesen „theologi-
schen Betrachtungen" im ganzen lässt sich aber auch schon
etwas von der Ausrichtung und Akzentuierung der Marienwahrheiten (von „Geheimnissen" ist wenig die Rede) auf das
Menschsein wie auf das Geschick der Einzelmenschen erkennen. Maria hat durch die „Gottesmutterschaft eine wirkliche
Beziehung zu uns" gewonnen. Wir verstehen, „dass diese
Gottesmutterschaft uns angeht, dass Maria in Wahrheit
unsere Mutter ist"17. Darum gilt in anthropologischer Abzweckung der Seligpreisung Mariens durch Elisabeth: „Selig wir,
weil sie geglaubt hat"18. Auch von der Jungfräulichkeit Mariens, die in allen ihren zeitlichen Dimensionen festgehalten
wird, gilt, dass sie nicht „einmalig" ist und „für uns nicht in
Frage kommt"; denn „jeder Christ muss ... irgendwo in seinem Leben erleben und erleiden, was dieser jungfräulichen
Haltung der seligsten Jungfrau entspricht"19.
Bei der theologischen Erklärung der „Unbefleckten Empfängnis" spricht er so viel vom Menschen, der von Gott auf
den Weg der Freiheit und der Gnade gesetzt ist, dass er sich
am Ende für diese Bedeutungsverlagerung auf den Menschen
entschuldigt: „Möge die heilige Jungfrau verzeihen, wenn
wir scheinbar mehr vom Menschen im allgemeinen als von
ihr allein gesprochen haben. Sie war gemeint"; denn die Tat,
die Christus in der Unbefleckten Empfängnis an Maria vollzogen hat, „greift auf den bloßen Menschen über als Liebe
und Treue, als Gnade, göttliches Leben und ewige Gültigkeit
des Eigen-Seins"20. Und schließlich gilt: „Aber auch wir sind
die Berufenen, die umfasst sind vom Anfang bis zum Ende
durch Gottes Macht, durch seine Liebe, durch seine Treue zu
uns selbst bis ins Eigenste hinein"21. Deutlich erscheint hier
das „in se" der Glaubenswahrheit auf das „pro me" ausgerichtet, auf das sich die Dynamik des theologischen Denkens
hinbewegt.
Allerdings wird man diese Dynamik noch nicht als etwas
Außergewöhnliches ansehen können, wenn man etwa an die
in jenen Jahren noch nachwirkende „Verkündigungstheologie" denkt. Aber man wird auch fragen können, ob das bei
Rahner vertretene Anliegen mit dem damals schon bekannten
kerygmatischen Impetus gleichzusetzen ist. Es scheint von
Beginn an bei Rahner mehr gewollt und angestrebt zu sein als
eine Anwendung und Applikation der Maria-Wahrheit auf
den Menschen, die sich als Folgerung aus der Glaubenswahrheit ergibt. Die Beziehung auf den Menschen erscheint hier
nicht als Konsekutiv der Glaubenswahrheit, die neben ihrem
theologischen Sinn auch noch eine anthropologische Bedeutung hätte. Dieses anthropologische Moment ist vielmehr
wesentlich schon in die theologische Wahrheit eingeschlossen. Es ist mit der Offenbarungswahrheit zuinnerst vereint.
Darüber lässt sich der Autor in den einleitenden Grundaussagen des Buches deutlich aus. Sie haben die Überzeugung
zum Hintergrund, dass die Theologie nicht allein Rede von
Gott ist, sondern auch die Rede vom Menschen. „Es gibt nun
wirklich eine Theologie vom Menschen, eine Glaubensverkündigung und eine Theologie, die Gott rühmen und preisen,
indem sie etwas vom Menschen sagen"22. Wenn man die Aussage ernst nimmt, besagt sie, dass der Mensch in die Theologie als „Rede von Gott" hineingehört. Deshalb „kann man
keine Theologie mehr treiben, ohne auch Anthropologie zu
Maria, 60.
Ebda., 61.
19 Ebda., 71.
29 Ebda., 49 f.
21 Ebda., 50.
22 Ebda., 218.
17
18
Ebda., 96f.
Ebda.
18 Basel 3 1960.
14
18
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menschlicher Spekulation über die marianischen Prärogativen, sondern eine aus dem Blick auf die Heilsgeschichte
gewonnene Schau auf ein differenziertes und doch zusammenhängendes Ganzes, das etwas von dem sinnhaften Plan
Gottes mit Maria erkennen lässt.
Bei Rahner dagegen hat das mariologische Grundprinzip
eine andere Funktion und Aufgabe27. Es ist dabei „nach einer
Grundaussage gefragt, von der aus sich alle die vielen Sätze,
die der katholische Glaube von Maria weiß, wie von selbst
ergeben; es ist nach einer Grundaussage gefragt, zu der man
dann immer wieder zurückkehren kann, wenn man, wie
ermüdet von all den Herrlichkeiten der Mariologie, sich noch
einmal am Ende ganz nüchtern, brauchbar für den Alltag und
seine Herbheit, sagen will, was nun die Summe dessen ist,
was über Maria gesagt wurde und was für unser eigenes
Leben wichtig ist"28. Diese Grundaussage stellt also die
„Summe der Mariologie" dar, die Zusammenfassung alles
Hinzugehörigen, aus der sich dann auch alle Einzelgrößen
ergeben. Sie hat aber vor allem das zu enthalten, „was für
unser Leben wichtig ist"29. Kl. Riesenhuber nennt dieses Fundamentalprinzip auch eine „Kurzforme1"3° der marianischen
Wahrheiten, in welch pragmatischem Sinn die mariologische
Grundidee von der Tradition nicht verstanden wurde. Sie
stellt den „einheitlichen Ansatz" dar, aus dem sich „die zentralen mariologischen Sätze ableiten lasseem, der nach dem
Autor auch in den zentralen Aussagen der Heiligen Schrift
verankert sein muss. Dieser Stammbegriff der marianischen
Wahrheiten hat aber nicht nur material-inhaltliche Bedeutung, er ist zugleich der einheitliche menschliche Verständnishorizont, unter dem die Einzeldaten der Wirklichkeit
Marias begriffen werden können und dem menschlichen
Existenzverständnis dienen können. Deshalb ist das Grund2) Die Frage nach dem mariologischen Grundprinzip
Diese Eigenart der Marienlehre (wie der Theologie über- prinzip (entgegen der Behauptung des Autors) nicht nur biblihaupt) lässt sich noch verdeutlichen beim Eingehen auf die schen Ursprungs, zumal er selbst zugibt, dass durch die HeiFrage nach der „mariologischen Grundidee", die der Autor lige Schrift nicht alle marianischen Wahrheiten ausgewiesen
am Anfang seiner „theologischen Betrachtungen" über Maria und legitimiert sind. Das an die Schrift herangetragene Verauch stellt. Man stößt eigentlich schon bei der Erörterung der ständnisprinzip hat geradezu auch die Aufgabe, die in Schrift
marianischen Einzelwahrheiten durch Rahner auf die Frage, und Tradition nicht aufweisbaren Sätze zu ergänzen und zu
warum der Autor nicht, wie in der Theologie üblich, mit der komplementieren. Es ist so an das existentielle SelbstverErörterung des Grunddogmas von der Gottesmutterschaft ständnis des Menschen zurückgebunden. Schließlich kommt
Marias beginnt, sondern bei der „Unbefleckten Empfängnis" diesem Prinzip auch noch die Funktion zu (die ihr von der
ansetzt. Das hat seinen Grund in der Überzeugung, dass in traditionellen Theologie ebenfalls nicht zuerkannt wurde),
der Gottesmutterschaft (oder ihren Weiterungen, etwa in der dass es selbst den Menschen, der keine explizite Erkenntnis
„bräutlichen Mutterschaft"), gerade nicht das Fundamental- der Mariengestalt besitzt, in eine existentielle Beziehung zu
prinzip der Mariologie gelegen sei, sondern dass diese Maria bringe'.
Dieses marianische Grundprinzip liegt in Maria als der
Grundidee wiederum enger mit dem Menschen verbunden
„vollkommen
Erlösten". „Maria ist die konkrete Verwirklisein müsse, damit er das Ganze zu verstehen vermöge.
chung
des
vollkommenen
Christen". Sie ist „die in vollkomDabei ist vorauszuschicken, dass Rahner die Bedeutung
mener
Weise
Erlöste,
die
schönste Frucht der Erlösungstat
und Aufgabe dieser Grundidee strenger und entschiedener
.
Dieses Prinzip steht offensichtlich
ihres
göttlichen
Sohnes"33
erfasst, als es die traditionelle Mariologie tut. Diese begnügt
in
engster
Verbindung
mit
dem begrifflich zu erfassenden
sich (in der Erkenntnis der Unmöglichkeit, die lebendige
Wesen
des
Christentums.
Dessen
Wesen besteht in der „Tat
Gestalt Mariens und ihre konkrete Geschichte in ein logides
lebendigen
Gottes
an
uns",
in
der er sich „in Erlösung,
sches Prinzip fassen zu können) mit der Auffindung eines
Grundcharakters an der Mariengestalt, dem die aus der
Offenbarung hervortretenden Einzelzüge sich organisch ein
fügen lassen und so eine Zentrierung der Einzelgeheimnisse 27 Eingehend handelt Rahner darüber in dem Beitrag: Le principe fundamentale
de la theologie mariale, in: Recherches de Science Religieuse 42 (1954)
oder der „Privilegien" Marias um eine gewisse Sinnmitte
481-522.
zulassen. Ein solches „Prinzip" ist dann nicht das Ergebnis 28 Maria, 28f.
treiben"23. Für die theologische Wahrheit von Maria hat das
die folgende Konsequenz: „Theologie wird notwendig
Anthropologie und darin Mariologie"24. Wie die Theologie
„Rede von Gott" in untrennbarer Einheit „Rede vom Menschen" ist, so ist auch die Mariologie als „Rede vom Menschen" zu verstehen. Darum kann es heißen: „Wenn wir Maiandacht feiern, so können wir sagen: Wir feiern ein christliches Daseinsverständnis vom Menschen überhaupt ..., wir
feiern ein seliges Verständnis unseres eigenen Daseins"25, ein
Satz, der zuletzt ähnlich anthropozentrisch bei A. Comte
(t 1857) über die Liturgie zu hören war.
Man kann diesen Identitätsaussagen von Theologie,
Anthropologie und Mariologie, die der formalen Logik
eigentlich widersprechen, zugute halten, dass sie emphatisch
und hyperbolisch gemeint sind. Rahner schränkt sie beiläufig
selbst ein, wenn er das Anliegen seiner Mariologie mit dem
„Modewort" „existentialistisch" versieht. Bestehen bleibt,
dass der Autor an scharfen Unterscheidungen weniger interessiert ist. Für die Mariologie besagt dies, dass ihre Wahrheiten, um den Menschen wirklich zu betreffen, nicht nur auf
den Menschen bezogen und ausgerichtet werden müssen,
sondern dass sie auch vom Menschen her entwickelt werden
müssen und an seinem Menschsein gleichsam maßstäblich zu
normieren sind. Die Mariologie muss im theologischen
Selbstverständnis des Menschen angelegt sein, um nicht als
mythologischer Überbau missverstanden zu werden. Ähnlich
wie für die Engellehre gilt auch für die Mariologie der
Grundsatz, dass zuerst nach dem „theologischen Ort im
Selbstverständnis des Menschen"26 gesucht werden muss,
damit man angemessen über diese Wahrheit sprechen kann.
" Ebda., 20.
24 Ebda., 24.
25 Ebda., 25.
26 So in dem Beitrag: Theologie und Anthropologie: Schriften zur Theologie
VIII, Einsiedeln 1967, 46.
Ebda., 29.
Kl. Riesenhuber, 66.
31 Ebda., 68.
32 Vgl. dazu die Aussage Rahners: Das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis Mariens und unsere Frömmigkeit: Schriften zur Theologie III, Einsiedeln
1956, 166f.
B K. Rahner, Maria, 35 f.
— 195 —
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29
30
Rechtfertigung und Mitteilung seiner Herrlichkeit uns gibt"34.
„Vollkommenes Christentum" ist die Selbstgabe Gottes, die
der Mensch „mit allen Kräften seines ganzen Wesens"35
annimmt und umfasst. Insofern das für Maria ausdrücklich
gilt, ist sie als die vollkommen Erlöste „die vollkommene
Christin" und die „repräsentativste Gestalt unter den bloßen
Menschen in der greifbar-sichtbaren Heilsgeschichte"36. Sie
„lebt und repräsentiert das in vollendeter Weise, was wir selber vor Christus sein sollen"37. Deshalb steht sie „ganz auf
unserer Seite", ist mit uns solidarisch verbunden. „Was Maria
hat, das soll in seinem letzten Wesen auch unser sein"35 (man
fragt sich an dieser Stelle unwillkürlich: auch die Gottesmutterschaft?). Bei ihr ist alles auf die „vollkommene" oder die
„vollkommenste Erlösung" abgestellt, durch welche sie aber
nicht aus der gänzlich solidarischen Verbindung mit uns
heraustritt.
Charakteristischerweise wird aber die Stellung Mariens
innerhalb der Zusammengehörigkeit mit den Christen und
Menschen nicht, wie in der Tradition üblich, mit der Kennzeichnung „Vorzüge", „Praerogativen" oder gar „Privilegien"
ausgestattet. Dies geschieht nicht ohne eine gewisse Folgerichtigkeit; denn das Besondere an Maria liegt nach diesem
Konzept nicht in einem persönlichen Vorzug, in einer Begabung oder Auszeichnung der Jungfrau-Mutter, sondern in
einer Tat Gottes an ihr. An ihr offenbart sich die Vollkraft und
der vollendete göttliche Akt der Erlösung. Auch wenn Maria
also als die „vollkommen Erlöste" bezeichnet wird, ist das
weniger als persönliche Auszeichnung verstanden denn als
Anerkennung des Tuns Gottes an Maria.
Trotzdem bleibt Maria für Rahner Subjekt einer besonderen Verehrung, die er mit der Tradition als „cultus hyperduliae" anerkennt. Allerdings spricht er ihr die Verehrung vorzüglich deshalb zu, weil (vgl. Lk 1,48) „der Preis der Tat Gottes an ihr" geschieht und darin „in einzigartiger Weise der
Preis und der Dank für das eine und umfassende Große
geschieht, das Gott an der Menschheit überhaupt getan hat"39.
Im Grunde richtet sich der Preis eben auf das, was „Gott an
der Menschheit überhaupt getan hat". Diese Rühmung weitet
sich aber bezeichnenderweise auf die ganze Menschheit aus,
in der „jeder nicht nur von Gott, sondern auch von den Menschen abhängt, an denen und durch die als seine <Mitarbeiter> (1 Kor 3,9) Gott sein Heil an uns wirkt"40. So legt sich
die Annahme nahe, dass nicht so sehr die Person Marias Subjekt der Verehrung wird, als vielmehr die den Personalcharakter Marias begründende Tat Gottes, an der die ganze
Menschheit auf ihre Weise beteiligt ist. Wiederum bringt sich
hier der Satz wieder in Erinnerung, dass die Menschheit in
der Marienverehrung auch sich selbst feiert.
3) Der Sinn der Einzeldogmen: Minimalisierung oder
Reduktionismus?
Die Grundidee von Maria als dem vollendeten Fall der Erlösung, bietet in ihrer Neuheit eine gewisse Möglichkeit, die
marianischen Einzelwahrheiten mit der den Menschen betreffenden Erlösung in enge Verbindung zu bringen bzw. sie aus
der angenommenen Fundamentalidee abzuleiten. Es stellt
sich aber die Frage, in welcher Weise dies möglich ist und ob
dies für alle Mariendogmen zutrifft. Leicht und überzeugend
erscheint der Nachweis dafür bei der Unbefleckten Empfängnis Marias zu gelingen, die sich an Maria nach ewiger Vorherbestimmung ereignete'''. Die Bewahrung Marias vor der
Erbschuld und im Zusammenhang damit vor der Konkupiszenz und der persönlichen Sünde, kann als Funktion der vollkommenen Erlösung verstanden werden. Rahner nennt die
ursprunghafte Begnadung Mariens „eine selige Wahrheit",
die auch für uns Bedeutung hat, weil „alles, auch der Ungehorsam und die Sünde eingeschlossen ist vom Erbarmen Gottes"42. Zur Bekräftigung der Besonderheit der Unbefleckten
Empfängnis wird aus der Tradition der bekannte Grundsatz
von der einheitlichen Prädestination Christi und Marias
herangezogen. Das anthropologische Gewicht dieser Wahrheit kommt hier besonders nachdrücklich zur Geltung: Wenn
der Sünder an die alles tragende Macht der Gnade glaubt,
dann hat er „ohne es zu wissen, die unbefleckte Jungfrau
geliebt"43.
Abgesehen von dem hier zum Vorschein gelangenden
transzendentalen Ansatz, der einer Hinterfragung wert wäre,
darf hier aber auch rein formal zur Diskussion gestellt werden, ob die persönliche Sündenfreiheit und die Konkupiszenzfreiheit so zwingend auf die „vollkommen Erlöste"
zurückgeführt werden können, insofern auch eine „vollkommene Erlösung" immer noch für andere Modalitäten offen
bleibt. Die Lehre der Kirche ging und geht hier jedenfalls
bedächtiger vor, wenn sie die Freiheit Marias von der persönlichen Sünde als ein besonderes Gnadenprivileg ausgibt, das
selbst aus der Gottesmutterschaft allein nicht förmlich abgeleitet werden kann.
Selbst die Gottesmutterschaft wird aber bei Rahner auf die
Grundidee der vollkommenen Erlösung zurückgeführt. Die
Deigenitrix kann nämlich nach Rahner nicht die fundamentale Wahrheit sein, weil sie auch als individuelles Datum „der
privaten Lebensgeschichte" missverstanden werden könnte.
Das Grundlegende liegt wieder in einem Allgemeineren, in
dem der Gottesmutterschaft vorausgehenden, umfassenderen
Sachverhalt, dass der Mensch die Gabe, „in der Gott sich selber dem Menschen mitteilt", bereitwillig annimme5. Deshalb
ist die „göttliche Mutterschaft" nur „der vollendetste Fall des
Christentums als Empfang Gottes in konkreter Leibhaftigkeit"46. So wird die Gottesmutterschaft, die bezeichnenderweise in die von Rahner angebotenen Kurzformeln nicht eingehe', zu einer von der Gnadentat der Erlösung abhängigen
Funktion, eine notwendige Ableitung aus der Idee der vollkommenen Erlösung. Verständlicherweise fällt dann ein
besonderes Gewicht auf die geistige Mutterschaft Marias im
Glauben, in der sie als vollkommen Erlöste ihr aus der Gnade
kommendes freies Jawort spricht. Diese Hervorhebung des
Glaubens als wesentliches Moment der Gottesmutterschaft
ist natürlich nicht zu beargwöhnen, aber sie beweist in dem
sie umgebenden Kontext, dass das Hauptgewicht auf die
Gnadentat Gottes und die gläubige Annahme durch den Menschen gelegt wird, nicht aber auf das personal-ontologische
Spezifikum des Mysteriums der Gottesmutterschaft. Folgerichtig wird auch die innere Besonderheit und seinshafte
Das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis: Schriften III, 164.
Ebda., 159.
43 Ebda., 166f.
" Maria, 29.
45 Ebda., 32.
46 Ebda., 34.
47 Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg 41984, 430-440.
41
Ebda., 32.
Ebda., 32.
Ebda., 34.
37 Ebda., 36.
38 Ebda., 37.
39 Ebda., 10.
40 Ebda., 11.
34
42
— 197 —
— 198 —
Mächtigkeit der Gottesmutterschaft nicht wie in der Tradition
weiter ausgeführt und Marias über allen Geschöpfen stehende Würde nicht genannt: ihre „Tochterschaft" zum Vater
und ihre Brautschaft zum Heiligen Geist. Es ist offensichtlich, dass die Abstraktheit einer auch auf dem Selbstverständnis des Menschen begründeten Idee von der Erlösung, die
Fülle der konkreten personalen Wirklichkeit auf ein begrenztes Maß reduzieren muss.
Komplizierter scheint sich bei Rahner die Sinnbestimmung der Jungfräulichkeit Mariens zu entwickeln'''. Zunächst
erscheint auch hier die Ableitung aus dem Prinzip der „vollkommen Erlösten" in etwa als konvenient; denn, wenn Maria
in vollkommener Weise (oder „radikal") erlöst ist, dann kann
die Jungfräulichkeit als Ausdruck des vollendeten Empfangs
der Gnade auch als leibliche Wirklichkeit an Maria angesehen werden, obgleich die heutigen Verfechter einer natürlichen Empfängnis Jesu, rein theo-„logisch" argumentierend,
das biologische Moment als überflüssig betrachten. Rahner
hält zunächst an der Ganzheit des Jungfräulichseins Marias
fest und hat keine Schwierigkeit, sie auch auf die „virginitas
in partu" wie auf diejenige „Post partum" anzuwenden49.
Hier aber erfolgt dann eine merkwürdige Digression in
Rahners mariologischem Denken, indem er mit einem Mal,
angesichts der Schwierigkeiten der modernen Exegese und
des modernen Denkens bezüglich der Jungfräulichkeit
Marias „vor der Geburt", diese Glaubenswahrheit dem „individuellen Glaubensbewusstsein" anheimstellt, für das in dieser Frage „eine gewisse Offenheit ... nicht unbedingt auszuschließen" sei. Es sei angeblich nicht klar, ob die Kirche „den
Inhalt der Lehre von der Jungfrauengeburt autoritativ
bestimmt oder nur auf die Schrift zurückweist"50, wobei die
Frage dann von der Exegese entschieden werden müsste, die
das ganze nur als Theologoumenon ansehe. Daran dürfe sich
dann auch das individuelle Glaubensbewusstsein orientieren.
Der Rahnerinterpret Kl. Riesenhuber nennt diese Einlassung
eine „differenziertere" Sicht der Jungfrauengeburtm, H. Riedlinger beurteilt sie zutreffender: „Es ist der Weg der Theologen, die persönlich eher für das überlieferte Verständnis der
Jungfräulichkeit Marias einstehen, aber sich zugleich bis zu
einem gewissen Grade für eine Diskussion über andere Verstehensweisen offenhalten"52. Grundsätzlich wäre daraus zu
schließen, dass der Glaube der Christen nicht allen Glaubenswahrheiten zustimmen muss (auch wenn die Zustimmung in
Ausnahmefällen eine einschlussweise geschehende sein
darf). Das den ganzen Glauben umfassende katholische Glaubensprinzip droht hier der Selektion anheimzufallen. Dieselbe Unentschiedenheit bezeigt Rahner auch in einer späteren Stellungnahme aus Anlass der Kontroverse um die Lehre
von der „virginitas post partum" bei R. Pesch, in der er der
deutschen Glaubenskommission rät, zu der Frage nach der
Jungfrauengeburt keine Stellung zu beziehen, weil eine solche Stellungnahme „die Verunsicherung einerseits nicht
wirklich beseitigen" und „andererseits mehr andere Christen
in die gegenteilige Verunsicherung drängen"53 würde. Nimmt
man die zuvor erschienenen positiven Erwägungen zum Pluralismus der Theologien und der Bekenntnisse hinzu, der
angeblich unüberwindbar ist und nur im konkreten Tun zu
übersteigen istm, dann kann man in dem Zusammenhang dem
Glaubenssatz von der Virginität Marias „vor der Geburt"
keine strenge Verbindlichkeit mehr zusprechen.
Wenn man bedenkt, wie hoch Rahner zunächst die Heilsbedeutung der Jungfräulichkeit Marias qualifiziert (als
Moment der „von oben" kommenden Menschwerdung des
Sohnes), dann wird man den Zweifel an dieser Art des Mutterwerdens Marias nicht anders verstehen können denn als
Versehrung des Christusgeheimnisses selbst. Rein formal
gesehen, liegt darin aber auch eine gewisse Preisgabe des
angenommenen Fundamentalprinzips, insofern aus ihm
offenbar nicht alle Marienwahrheiten abgeleitet werden können. Anthropologisch gefragt, versagt hier aber auch das
Prinzip der transzendentalen Erkenntnis oder Erfahrung, weil
der Mensch offenbar die Disposition zur Erkenntnis dieser
Wahrheit nicht in sich trägt. So meldet sich auch die gefahrvolle Möglichkeit, dass die (fehlende) „transzendentale
Erfahrung" als Ausschlussgrund für die geschichtliche Offenbarung und ihren Gehalt genutzt werden kann.
Der in der Lehre von der Jungfrauengeburt hervortretende
Zug zur Einebnung der Marienwahrheit setzt sich auch in der
Lehre von der „Assumptio Corporalis"55 Mariens fort, die
zunächst in ihrer Zugehörigkeit zur „wirklich Vollendeten"
fraglos angenommen wird. Im Zusammenhang mit den anderen marianischen Eigentümlichkeiten scheint ihr zunächst ein
herausragendes Moment zuzukommen, das aber bei genauerem Hinblick doch nicht als „Prärogative" oder als „Privileg"
zu verstehen ist (was im Grunde schon für alle Maria beigelegten Eigenheiten gilt). Zum Beweis dient die diesmal ohne
Befragung der Exegese unternommene realistische Erklärung
von Mt 27,52, die als menschliche Auferstehung einfacher
Gläubiger (und nicht als apokalyptische Symbolik) verstanden wird (weil Jesus ohne Mitauferstandene „einsam" gewesen wäre)56. So sind die Aufnahme und Verherrlichung
Marias keine Praerogative und kein Privileg für sie, was aber
gerade in der Aussage der Definitionsbulle unter dem Ausdruck vom „besonderen Wohlwollen des Vaters" mitgemeint
ist. Für Rahner dagegen liegt der Sinn des Dogmas in der
„Verdeutlichung der jetzt schon bestehenden Heilssituation"57. Nimmt man noch die von Rahner später übernommene Theorie von der „Auferstehung [aller] im Tode"58
hinzu, dann ergibt sich noch deutlicher, dass Maria nicht die
einzige Assumpta ist. Im Letzten besagt die Assumptio
Marias eine „gemein-christliche Selbstverständlichkeit"59.
Diese zuletzt zitierte Aussage könnte man der Tendenz
und Intention nach über die ganze Rahnersche Marienlehre
stellen. Sie bedeutet zunächst, ganz der Absicht Rahners entsprechend, eine Neufassung des Mariengeheimnisses, seine
Erhebung in ein neues Verständnis des Glaubens, das
zugleich auch als der allgemein menschlichen Erfahrung
vollauf entsprechend erklärt werden kann. Demgegenüber
erscheint die traditionelle Mariologie mit ihrer Erhöhung der
Vgl. dazu: Virginitas in partu. Ein Beitrag zum Problem der Dogmenentwicklung und Überlieferung: Schriften IV, Einsiedeln 1960, 173-205; Dogmatische Bemerkungen zur Jungfrauengeburt: Frank — Kilian — Knock — Lattke
(Hrsg.), Zum Thema Jungfrauengeburt, Stuttgart 1970, 121-158; Jungfräulichkeit Marias: Schriften XIII, Zürich 1978, 361-377.
49 Virginitas in partu, 174.
58 Dogmatische Bemerkungen zur Jungfrauengeburt, 144.
51 KI. Riesenhuber, 99.
52 H. Riedlinger, Zum gegenwärtigen Verständnis der Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria, in: Theologie und Glaube 69 (1979) 33.
53 Jungfräulichkeit Marias: Schriften XIII, 374.
Der Pluralismus in der Theologie und die Einheit des Bekenntnisses in der
Kirche: Schriften IX, Einsiedeln 1970, 26 ff.; 31.
55 Zur Beurteilung dieser Thematik wäre auch die Studie über die Aufnahme
Marias in den Himmel von 1951 heranzuziehen, die unveröffentlicht blieb:
Rahner-Archiv Innsbruck 1959; die Auszüge bei Klaus Riesenhuber, 64 u. Ö.
56 Zum Sinn des Assumpta-Dogmas: Schriften I, Einsiedeln 1954, 244f.
52 Ebda., 252.
58 Über den Zwischenzustand: Schriften XII, Zürich 1975, 460-662.
59 Grundkurs des Glaubens, 375.
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48
54
Mutter Jesu über alle Geschöpfe im Kranz ihrer Auszeichnungen als „Elfenbeinturm"60, der die Menschen von Maria
trennt und sie in eine isolierte Haltung hineinnimmt. Wenn
die traditionelle Theologie Maria wegen ihrer einzigartigen
Christusgemeinschaft als die der Menschheit eingeordnete
und sie doch überragende Spitze glaubte und verehrte, gilt sie
der Sicht Rahners nur als graduell erhobener Ausnahmefall
innerhalb der geschöpflichen Ordnung und ihrer Möglichkeiten. Während die traditionelle Lehre die Überzeugung hegte,
dass Maria gerade als über die Menschheitsgeschichte erhobene Vollendungsgestalt und Heiligkeitspotenz umso größere
Wirkmacht für die Menschen entfalten könne (gemäß dem
heilsgeschichtlichen Gesetz von der größeren Nähe zu Gott
als gleichzeitige innigere Verbundenheit mit den Menschen),
ist hier umgekehrt die Einebnung in das menschlich Allgemeine und das Nivellierende als Grund für die Bedeutung
Mariens ausgegeben. Die Mariologie gewinnt von daher eine
anthropologische Engführung, einen überanstrengten nivellierenden Bezug zum Menschen, welcher vermeint, die Kraft
der Erkenntnis wie der Verehrung nur aus der absoluten Nähe
ableiten zu können und die Distanz nicht beachten zu dürfen.
Der Neigungswinkel dieser Mariologie zum allgemein
Menschlichen ist so stark, dass sich die Mariengestalt in ihrer
Stellung als herausragender Typus des Menschlichen nicht
mehr halten kann. Nicht zufällig dominiert hier immer wieder
die These, dass das Geheimnis das Selbstverständliche sei.
Unter der Dominanz des Selbstverständlichen vermag sich
der Mensch aber nicht mehr zum Geheimnis zu erheben. Das
„Geheimnis" wird dann dem Selbstverständlichen nur wie ein
äußeres Etikett angeheftet.
Dass man sich mit dieser Deutung von Rahner nicht entfernt, zeigt sein Zugeständnis, in welchem er sich als mariologischen „Minimalisten" bezeichnet61. Er legt der Bezeichnung aber keine negative Bedeutung bei, sondern erklärt sie
als mögliche theologische und kirchliche Haltung (wie übrigens auch den „Maximalismus"). Aber kein theologischer
Minimalismus kann der Wahrheit des Glaubens wie dem
Anspruch der Glaubenswissenschaft genügen. Im Hinblick
auf die erkennbaren Sinnverschiebungen im Mariendogma
wird man eher von einer Reduktion sprechen dürfen, die eine
Parallele hat in der allgemeinen Schrumpfung des Christlichen in einer „weltlichen" Welt.
Anschrift des Autors: Leo Card. Scheffczyk
St.-Michael-Str. 87, 81673 München
60 Vgl. Anm. 6.
61 K.
Rahner, Zur konziliaren Mariologie, in: Stimmen der Zeit 174 (1964) 101.
L. J. ELDERS
Karl Rahner und die nicht-christlichen Religionen
In seinen Schriften zur Theologie V, 19683, 136-158 legt Rahner den Versuch einer Lösung des Problems des Pluralismus
der Menschheit auf religiösem Gebiet vor. Er bemüht sich,
einen Weg aufzuzeigen, auf dem die Nichtchristen das von
Jesus Christus gebrachte Heil erreichen können, und zwar
innerhalb der eigenen Religion, und sogar durch die Ausübung dieser Religion. Rahners Theorie hat damals eine weltweite Diskussion ins Leben gerufen, die bis in die heutige
Zeit fortwirkt, wie man aus der Tatsache schließen darf, dass
die vatikanische Glaubenkongregation die Erklärung Dominus Jesus veröffentlicht hat, die z. T. zu der Frage „neuerer
Heilswege" Stellung nimmt, die von einigen Autoren propagiert wurden'. Es handelt sich tatsächlich um eine besonders
wichtige und schwierige Frage, die in der heutigen Welt
angesichts des religiösen Pluralismus, der den Absolutheitsanspruch des Christentums in Frage zu stellen scheint,
äußerst aktuell ist. Rahner legt seine Erklärung in Thesen vor,
deren Hauptgedanken wir gekürzt wiedergeben.
1. These. Das Christentum ist die absolute Religion für
alle Menschen, zu der alle gehören müssen. Aber diese Verpflichtung tritt nach Rahner erst ein, wenn das Evangelium
konkret in einer bestimmten Umgebung gepredigt wurde und
in einer bestimmten Kultur eine reale Größe geworden ist2.
Es ist keineswegs einfach, anzugeben, wann genau dies der
Fall ist. Bereits hier sieht der Leser, dass Rahner den Akzent
von den persönlichen Dispositionen der individuellen Nichtchristen auf die Gesellschaft verschiebt, die vom Christentum
Besonders auch von Jacques Dupuis S. I., Toward a Christian Theology of
Religious Pluralism, New York 1997.
2 A.a.O., S. 141.
I
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berührt werden muss. Eine geschichtliche Begegnung ist notwendig, so schreibt er, damit die Bekehrung zum Christentum verpflichtend wird, um das Heil zu erreichen. Hunderte
Millionen von Menschen sind aber noch derart befangen in
ihren jeweiligen Religionen und Kulturen, dass dieser Zeitpunkt noch in einer fernen Zukunft liegt, wenn er im Laufe
der Geschichte überhaupt erreicht wird.
2. These. Bis zu jenem Zeitpunkt, an dem das Evangelium
wirklich in die geschichtliche Situation bestimmter Gesellschaften eintritt, kann die Praxis der eigenen, traditionellen
Religion als legitim anerkannt werden3. Rahner erklärt diese
Behauptung auf folgende Weise: Der allgemeine Heilswille
Gottes verpflichtet uns anzunehmen, dass die Gnade den Sieg
davontragen muss. Andererseits sind die Menschen durchgängig wie gefangen im Gedankengefüge der eigenen religiösen Kultur, die aber, neben Verirrungen, auch viele wertvolle
Elemente enthält, die von seiten Gottes in sie hineingelegt
wurden. Es kann nicht sein, dass die konkrete Religion in
ihrem objektivierten Bestand überhaupt keine Spuren dieser
Gnadenbetroffenheit aller Menschen in sich tragen würde.
3
Es ist überflüssig zu betonen, dass das Wort „legitim" äußerst vage ist und
wohl deshalb von Rahner benutzt wird. Es scheint an erster Stelle zu bedeuten, dass die Betätigung der eigenen Religion moralisch gesehen gerechtfertigt sei. Es leuchtet aber ein, dass man diese Auffassung in ihrer Allgemeinheit nicht verteidigen kann. Kannibalismus, Menschenopfer, sakrale Prostitution, Dämonenkult, krasser Aberglaube, Verehrung von Geschöpfen als
wären sie göttlich, Pantheismus, usw. kann man objektiv kaum als legitime
Akte qualifizieren. Aber Rahner scheint den Ausdruck „legitim" in einer weiteren Bedeutung zu verwenden, so dass auch Ansichten, Vorstellungen und
religiöse Auffassungen gemeint sind. Hier stößt man auf noch größere
Schwierigkeiten, weil zumal bei den sogenannten Hochreligionen falsche,
mit der Wahrheit im Widerspruch stehende und die christliche Lehre z. T. verneinende Ansichten vertreten werden..
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Aufgrund seiner sozialen Natur kann der konkrete Mensch
die zum Heil notwendige Gottesbeziehung in der eigenen
Innerlichkeit nicht erreichen, und er muss sie innerhalb seiner
Religion vollziehen, die seinen Daseinsraum darstellt. Wo
immer Menschen eine sittliche Entscheidung treffen, vollziehen sie eine Selbstüberschreitung auf das Absolute hin und
verwirklichen auf diese Weise den Begriff eines erhöhten,
glaubenden und heilshaften Aktes. Der Grund hierfür ist,
dass im eigentlichen religiösen Akt die Intention immer auf
das eine und selbe Absolute geht.
3. These. Deshalb ist der Nichtchrist bereits ein anonymer
Christ und ist der Heide schon von der Gnade Gottes berührt.
Ohne von der Verkündigung des Evangeliums erreicht zu
sein, ja ohne es zu wissen und sich dessen, was sich in ihm
vollzieht, bewusst zu sein, bewegt er sich auf sein Heil zu.
Die christliche Missionsstrategie muss hieraus die nötigen
Folgerungen ziehen4.
4. These. Der religiöse Pluralismus wird in der Zukunft
kaum verschwinden und der Widerspruch zu Christus, den es
in einigen Religionen gibt, wird bleiben. Die Kirche siegt
nicht, aber Gott siegt.
Der Aufsatz Rahners rief eine große Erregung hervor. Er
fand viel Beifall, aber wurde auch von mehreren Seiten scharf
kritisiert. Rahner hat deshalb in späteren Veröffentlichungen
versucht, sich zu verteidigen und neue Erklärungen hinzugefügt. In einer Ansprache an der Gregorianischen Universität
in Rom, worin er das christliche Empfinden der weitaus großen Mehrzahl der Missionare zum Ausdruck bracht, erklärte
damals M. Queguiner, der Generalobere der Gesellschaft der
Auswärtigen Missionen von Paris, dass die sich verbreitende
Meinung, dass alle nichtchristlichen Religionen effiziente
und hinreichende Wege zum Heil seien und dass die Kirche
bloß eine kleine Herde sei und bleiben werde, die Lehre des
Evangeliums vernichte und selbst die Grundlagen der Kirche
zertrümmere5.
Bevor wir aber dazu Stellung nehmen, möchten wir
zunächst die eben erwähnten vier Thesen analysieren.
An erster Stelle muss die Verwendung des Terminus „Religion" untersucht werden. Rahner betrachtet jede Religion als
ein an sich existierendes Ganzes, das seine Adepten umgreift
und deren Leben und Denken weitgehend bestimmt. Dagegen
kann man einwenden, dass es nur Einzelmenschen gibt, die in
bezug auf das Göttliche mehr oder weniger gemeinsame Auffassungen haben, und dass jeder selbst entscheiden muss, ob
er religiöse Akte setzt. Dies bedeutet, dass Einzelpersonen,
wenn sie es wollen, viel leichter, als Rahners Theorie es darstellt, selbständig Entscheidungen treffen und eine innere
Religiosität entwickeln können, d. h. sich innerlich öffnen
können für die Verkündigung der Frohbotschaft. Die Bekehrungsgeschichte von Indern, Chinesen, Afrikanern und Indianern bestätigt diese Gegebenheit.
Eine weitere Schwierigkeit ist verbunden mit der Behauptung, dass die nichtchristlichen Religionen Elemente aufweisen, z. B. Reste einer Uroffenbarung, die Ausgangspunkte für
implizite, verdeckte Glaubensakte sind. Das Zweite Vatikanum hat zwar darauf hingewiesen, dass diese Religionen und
Kulturen Schätze besitzen, aber nirgendwo auch bloß angedeutet, dass sie übernatürliche Elemente enthalten könnten.
Im Gegenteil, es betrachtet sie z. T. als eine entfernte Vorbereitung, und unterstreicht die Notwendigkeit des Glaubens.
Viele Autoren, wie z. B. Jean Danielou, heben hervor, dass
die nicht-christlichen Religionen sich auf einer rein natürlichen Ebene bewegen6.
Weiterhin muss man auch betonen, dass es verschiedene
Typen von Religionen gibt. Die Naturreligionen scheinen oft
eine fast spontane Äußerung menschlicher Religiosität zu
sein. Wenn die Menschen sich aber weiterentwickeln und
durch eigene Initiativen ihr religiöses Leben weiterbilden,
entsteht eine neue Situation. Sowohl in den Hochreligionen
als im anthropomorphisierenden Animismus entscheidet der
Mensch, was die Wirklichkeit und das menschliche Leben
bedeuten sollen. Man entwickelt neue Ansichten. Einige
begabte Individuen haben auf diese Weise das religiöse
Leben späterer Jahrhunderte geprägt. Wenn aber der natürliche Mensch in lebenswichtigen Fragen eine Entscheidung
trifft, die auch für andere wegweisend wird, kann man erwarten, dass etwas dem Sündenfall Analoges eintritt, nämlich
dass man sich weiter von Gott entfernt. Genesis 3 erzählt
nicht nur ein einmaliges geschichtliches Ereignis, sondern
stellt auch den natürlichen Menschen in seiner Entscheidung
lebenswichtiger Fragen dar. So kann man vermuten, dass die
aus dem Animismus hervorgegangenen Religionen die Menschen eher von Gott entfernen als sie ihm näher zu bringen.
In religionsgeschichtlicher Sicht dürfte dies tatsächlich
zutreffen. Im Hinduismus wendet der Mensch sich einem
unpersönlichen Absolutum zu und er macht die eigene Innenwelt zum Gott. Der Einzelmensch und die Geschichte verlieren ihre Bedeutung. Im Buddhismus wird sowohl die Außenwelt als auch die Möglichkeit, eine absolute Wahrheit zu
erreichen, fraglich, und wird die Nutzlosigkeit aller menschlichen Bemühungen betont. Wenn es auch gewisse Fortschritte gegeben hat wie, beispielsweise in der Verinnerlichung des Gebetes, in Askese und Ethik, scheinen diese
Hochreligionen eine Abnahme der Unterwerfung unter Gott
herbeigeführt zu haben. Man muss deshalb eher sagen, dass
diese Religionen in eine entgegengesetzte Richtung wirken.
Der Islam wehrt sich sogar oft mit Gewalt und Unterdrückung, gegen die Lehre, dass Christus, der Sohn Gottes, unser
Erlöser ist. Das Zweite Vatikanische Konzil hat die negative
Seite dieser Religionen sehr betont, so dass es unmöglich ist,
dem Konzil die Lehre zuzuschreiben, dass Heiden durch die
Praxis der eigenen Religion gerettet werden oder dass diese
Religionen als solche eine positive Bedeutung für das übernatürliche Heil haben'. Die Theorie der Legitimität der nichtchristlichen Religionen findet keine Stütze in den Texten des
Konzils5. Bezüglich der Erklärung Nostra aetate bemerkt ein
evangelischer Theologe nach einer sorgfältigen Untersuchung, dass das Zweite Vatikanum weit davon entfernt ist, die
nicht-christlichen Religionen als Wege zum Heil zu betrachten9
Rahners Deutung des allgemeinen Heilswillens Gottes ist
auch höchst fragwürdig. Sein Gedankengang ist folgender:
1965, 251-252.
Für eine mehr detaillierte Darstellung vgl. L. Elders, „The Theology of the
Non-Christian Religions", in H. van Straelen s.v.d., The Church and the NonChristian Religions at the Treshold of the 21s' Centuty, London, 1998,
259-285, and besonders Prudencio Damboriena, La salvaci6n en las religio-
6 Bulletin du Cercle Saint Jean Baptiste,
7
Wahrscheinlich meint Rahner, das man die Verkündigung auf andere Weise
vornehmen und den Dialog mit Vertreteren anderer Religionen üben soll. Leider haben viele Katholiken die Folgerung gezogen, dass die Missionierung
keine zwingende und drängende Aufgabe mehr ist und dass es nicht darauf
ankommt, welcher Religion man zustimmt.
5 Vg. Documentation catholique, des 19. Dezember, 1965, col. 2196.
Theological Foundation of Evangelization, Sankt-Augustin 1989, 61-77.
9 M. Ruokanen, The Catholic Doctrine of Non-Christian Religions According to
the Second Vatican Council, Leyden 1992.
— 203 —
— 204 —
4
nes no cristianas, Madrid 1973.
8 P.
Hacker, „The Christian Attitude Toward Non-Christian Religions", in
Gott will jeden Mensch retten; leider sind die Menschen in
einer heidnischen Religion wie gefangen. Deshalb rettet Gott
sie durch die eigene Religion. Die theologische Tradition hat
aber eine viel nuanciertere Deutung des bekannten Satzes aus
I Timotheus 2, 4 gegeben'°, so dass man daraus zwar schließen darf, dass Gott jedem Menschen die Möglichkeit bietet,
das Heil in Christus zu erreichen, nicht aber, dass jeder leicht
das Heil erreicht, indem er seiner Religion treu bleibt. Wir
müssen die Aussagen der Hl. Schrift nicht durch die Brille
vorgefasster philosophischer Theorien, sondern in medio
Ecclesiae stehend verstehen, und uns für die ganze Tradition
öffnen.
Weiterhin kann man feststellen, dass Rahner die traditionelle Lehre der Dispositionen, die für die Bekehrung zum
Christentum notwendig sind, vernachlässigt, wie auch die
Begriffe „Verkündigung" und „Wort Gottes". Rahner meint
sogar, dass hier eine faktische Ablehnung des Christentums
der Selbstüberschreitung nicht im Wege steht, und dass das
Fehlen einer genügenden geschichtlichen Begegnung dazu
legitimiert, die eigene Religion zu behalten, so dass offensichtlich die von der ganzen Tradition wie auch vom Zweiten
Vatikanum betonte Notwendigkeit der persönlichen Dispositionen, wie eines sittenreinen Lebens und des Glaubensaktes,
ausfällt. Stattdessen legt Rahner eine eigene Theorie vor, und
nimmt seine Zuflucht zu einer philosophischen Meinung. Es
handelt sich um Folgendes: wenn immer ein Mensch eine
sittliche Entscheidung trifft, tritt er zur selben Zeit in die
übernatürliche Ordnung ein durch eine Selbst-Überschreitung oder eine Auto-Transzendenz. Es gibt nämlich im
menschlichen Geist eine Hinneigung zum Absoluten, und
dieses Absolute ist Gott. Wer sich dieser Neigung hingibt,
oder deutlicher gesagt, wer irgend einen religiösen Akt vollzieht, bewegt sich auf Gott zu und befindet sich in der übernatürlichen Ordnung.
Zunächst eine Bemerkung: der Lehrmeister Rahners, Martin Heidegger, der diesen Selbstvollzug des Menschen auf das
Sein hin als einen Kernpunkt der eigenen Philosophie
betrachtet, lehnt es heftig ab, dass man seine Lehre so deutet,
dass diese Autotranszendenz des Menschen auf Gott abzielt.
Das „Sein" darf nicht als Gott gedeutet werden". Rahner
meint dagegen, dass in dieser Bewegung der Begriff eines
erhöhten, glaubenden und so heilshaften Aktes verwirklicht
wird.
Man kann hierzu bemerken, dass der Begriff dieser SelbstÜberschreitung auf Gott hin eine hegelianische Denkkategorie ist, die im Monismus dieses Philosophen ihren Platz hat,
die aber weit von der Wirklichkeit entfernt ist. Es stimmt
zwar, dass der Mensch in jeder Entscheidung das Glück und
so implizit Gott sucht, aber er muss durch bestimmte, konkrete Akte die Existenz Gottes anerkennen und sich auf Gott
richten12. Überdies ist psychologisch gesehen die Theorie der
I° Man vergleiche Thomas, Summa theologiae I, 19 6 ad 1.
I I Vgl. R. Kearney und J.S. O'Leary, Heidegger et la question de Dieu, Paris
1980, 333 ff. Nach der sogenannten transzendentalen Philosophie, die von
Autoren wie Karl Rahner und J. de Vries propagiert wird, ist grundlegend für
jeden Aufstieg zu Gott und für alle Gottesbeweise, dass sie in einen fundierenden Akt des Willens aufgenommen werden, wodurch der Mensch seine
Kontingenz bestätigt und so das absolute Sein erreicht. Aber derart wird die
Affirmation der Existenz Gottes von einer Wahl des menschlichen Willens
abhängig gemacht. Vgl. B. Lakebrink, „Die metaphysischen Voraussetzungen der thomistischen Gottesbeweise und die moderne Philosophie", in
L. Elders (Hg), Quinque sunt viae, Cittä del Vataicano 1980, 7-28 und H. M.
Baumgartner, „Über das Gottesverständnis der Tanszendentalphilosophie", in
Philos. Jahrbuch 73 (1965-1966), 303-321, S. 314.
12 Summa theologiae I, 2, 1 ad 1; Q. d. de veritate 10, 12 ad 1.
— 205 —
Selbstüberschreitung der Mehrzahl der Menschen, die ganz
im konkreten, alltäglichen Leben stehen, unzumutbar. Sie
behauptet auch einen fast spontanen Übergang der natürlichen zur übernatürlichen Ordnung. Zwar muss, wie Urs von
Balthasar es ausdrückt, nach Rahner noch ein Impuls oder
Stoß Gnade dazukommen'', aber es handelt sich dennoch um
eine immanenten, menschlichen Akt. Wir stoßen hier auf
einen verdeckten Naturalismus, wo es eigentlich nur eine
Bewegung gibt und die ganze Natur mit allen Lebensformen
dauernd sich selbst zu übersteigen bestrebt ist, bis diese Entwicklung in Christus mündet.
Man kann also an dieser Theorie beanstanden, dass Rahner
sich eher von einer menschlichen und philosophischen Vorstellung leiten ließ als von der Sorge, die kirchliche Lehre
und die theologische Tradition als Ausgangspunkt zu nehmen. Mit „Vorstellung" meinen wir hier die Selbstüberschreitung, so wie sie die Transzendentalphilosophie lehrt'''. Die
„Vorstellung" verdeckt die theologischen Daten. Aber „Vorstellungen" können leicht irreführen, wie Thomas von Aquin
schreibt' 5.
Zur 4. These kann man geltend machen, dass die religiöse
Entwicklung der Menschheit nicht vorauszusehen ist. Die
Globalisierung und Internationalisierung der profanen technischen Kultur, die ursprünglich aus dem Westen herkommt,
lassen eher vermuten, dass es zu großen Veränderungen kommen wird, auch im geistigen und kulturellen Leben, und dass
die Moderne, die unaufhaltsam durch Bildung, Industrialisierung und Wirtschaft in Asien, Arabien und Afrika eindringt,
zu einer kritischen Prüfung der herkömmlichen Religionen
führen wird.
Weiterhin kann man dem Pessimismus Rahners entgegnen,
dass die Kirche zu Anfang bereits vor schwierigeren Aufgaben gestanden hat, menschlich gesprochen Unmögliches
erreicht hat und auch jetzt mit der Hilfe Gottes ihren Missionsauftrag weiter erfüllen wird. Wenn man mit Rahner sagt,
dass Gott siegt, die Kirche aber nicht, scheint man die Gnade
von ihrer Quelle, Christus und von der Kirche zu trennen.
Wie bekannt hat es in den letzten Dezennien verschiedene
Theorien gegeben, die sämtlich versuchen Christus und die
Kirche zu umgehen, damit die „Erlösung" der Nicht-Christen
auf eine völlig unsichtbare Weise gewirkt wird, z. B. durch
die Aktivität des göttlichen Logos, der in die Finsternis
hineinstrahlt, oder durch die Wirkung des Heiligen Geistes'6.
Im oben Gesagten stellte sich heraus, dass Rahner sich den
Schritt in die übernatürliche Ordnung als getragen von der
Selbstüberschreitung des Menschen vorstellt. Dieser Selbstvollzug, wie Rahner ausdrücklich betont, bedeutet nicht, dass
der betreffende Mensch sich des Schrittes bewusst zu sein
braucht, den er vollzieht. Er bleibt eigentlich bei den Auffassungen seiner Religion. Nun ergibt sich hier die Schwierigkeit, dass nach kirchlicher Lehre ein Erwachsener sich mit
Bewusstsein und freiem Willen entscheiden muss und so an
der eigenen Rettung mitwirken muss. Das Dekret Ad gentes
des 2. Vatikanum sagt zu diesem Punkt, dass Gott Menschen,
die ohne Schuld das Evangelium nicht kennnen, auf Wegen,
die er weiß, zum Glauben führen kann, ohne den es unmögCordula oder der Ernstfall, S. 47.
Für eine ausgiebige Stellungnahme zur Philosophie von Rahner vgl. Cornelio
Fabro, La svolta antropologica di Karl Rahner, Milano 1974 und auch P.
Eicher, Die anthropologische Wende. Karl Rahners philosophischer Weg vom
Wesen des Menschen zur personalen Existenz, Fribourg 1970.
15 Summa theologiae 1 17, 2 ad 2.
16 Die Erklärung Dominus Jesus hat zu diesen Theorien Stellung genommen
und betont, dass uns alle Gnade durch Christus zukommt.
13
14
— 206 —
lich ist ihm zu gefallen17. Das Neue Testament betont wiederholt die Notwendigkeit des persönlichen Glaubens für das
Heil''. Nun ist der Mensch keine Marionette und er muss ein
gewisses Bewusstsein von einer so wichtigen Sache, die sich
in ihm ereignet, haben. Glauben ist weder ein Trieb noch ein
Instinkt, sondern ein Zuhören und ein Annehmen einer Botschaft. In der Theorie Rahners gibt es keine objektive Offenbarung für die Nicht-Christen mehr, sondern es geschieht
etwas in ihnen, wovon sie nichts wissen und was sie vielleicht
gar nicht wollen. Auch wenn man als minimales Erfordernis
des Glaubens annimmt, dass ein Mensch um das Heil zu
erlangen wenigstens die Existenz Gottes und Gottes barmherzige und rettende Vorsehung annehmen muss, bleibt die Tatsache bestehen, dass der Glaube, dem man zustimmt, von
außen her zum Menschen kommen muss. Paulus schreibt,
dass man den Glauben nicht besitzen kann, wenn keine Verkündigung stattgefunden hat19. Offensichtlich ist das Heil der
Menschen auch abhängig von menschlichen Werkzeugen.
Thomas von Aquin lehrt, dass Gott Menschen auf einem
außerordentlichen Weg, z. B. durch eine Erleuchtung, Kenntnis der Glaubenswahrheiten geben kann. Am besten bekennen wir aber mit dem Zweiten Vatikanum, dass wir nicht wissen, wie Gott dem Einzelmenschen, der in einer heidnischen
Religion lebt, die Glaubensgnade anbietet, mit der er gerettet
werden kann.
In einem später veröffentlichen Aufsatz macht Rahner
weitere Bemerkungen zum Terminus „anonym`,20. Er gibt zu,
dass der von ihm verwendete Begriff nicht unproblematisch
ist. Der Terminus deutet aber an, dass etwas zu der Wesensfülle des christlichen Lebens fehlt. Rahner meint aber
bestimmt mehr als nur, dass ein Heide ein potentieller Christ
ist, weil er gerechtfertigt sein kann, bevor er ein explizites
Glaubensbekenntnis angenommen hat, obwohl er selbst
Atheist zu sein scheint. Die Überlieferung war stets der Meinung, dass Gott uns nicht ohne uns rettet, aber hier wird
behauptet, dass Gott einem Menschen im Verborgenen das
gibt, was er explizit verwirft. — Der anonyme Christ ist deshalb ein Heide, der das gnadenhafte Selbstangebot Gottes
angenommen hat, obwohl er nicht in die Kirche eingetreten
ist, ja, wie aus dem Kontext des Vorsatzes hervorgeht, die
Kirche und Christus möglicherweise bewusst ablehnt. Diese
Selbstüberschreitung ist ein dauernd gegebenes Existential
der geistigen Kreatur, eine Dynamik, deren man sich gar
nicht bewusst zu sein braucht. Oben wurde bereits auf die
Schwierigkeiten dieser Auffassung hingewiesen.
Es ist beunruhigend zu sehen, wie leicht viele von einer,
obgleich theologisch nicht begründeten und irrigen Theorie,
mitgerissen wurden und die bewährte Lehre der Kirche und
der Tradition verlassen haben2l.
Anschrift des Autors: Prof L J. Elders S. VD.
Theologisches Institut „Rolduc"
Kerkrade — Niederlande
Ad gentes, § 7.
Vg. Mk 16, 16; Jo 3, 14; Apg 4, 12; Rö 3, 22. Die Notwendigkeit des Glaubens wurde vom Tridentinum feierlich bestätigt.
19 Rö 10, 10.
„Anonymes Christentum und Missionsauftrag der Kirche", in Schriften zur
Theologie, IX (1970), 499-515.
21 Der Vf. dankt H. P. D'Angona für die Korrektur der deutschen Fassung des
Aufsatzes.
17
18
20
WALTER HOERES
Der veruntreute Thomas
— Rahners Fehlstart in Freiburg —
Cognitio nostra est adeo debilis, quod
nullus philosophus potuit unquam perfecte investigare naturam unius muscae
Si ergo intellectus noster est ita debilis, nonne stultum est nolle credere de
Deo, nisi illa tantum quae homo potest
cognoscere per se?
Unsere Erkenntnis ist so schwach, dass
kein Philosoph je auch nur die Natur
einer einzigen Fliege voll zu ergründen
vermochte ... Wenn also unser Verstand
so schwach ist, ist es dann nicht töricht,
nur das gläubig von Gott annehmen zu
wollen, was der Mensch auch aus eigener Kraft erkennen kann?
Thomas v. Aquin: Expos. symboli prol. ad 1
Neue theologische Lehrmeinungen und Ansichten des Glaubens, auch Häresien, gründen immer auch in einer ganz
bestimmten philosophischen Sicht der Dinge. So zeigt uns
die Kirchengeschichte, dass man das berühmte Wort, nach
dem die Philosophie ancilla philosophiae (Magd der Theologie) ist, allzu oft dahingehend erweitern muss, dass sie ihre
seductrix, Verführerin der Theologie gewesen ist — und
— 207 —
immer noch ist! In diesem Sinne ist auch das Erdbeben, das
Rahner ausgelöst hat und das in der Nachkonzilszeit die Kirche weit über den Kreis der theologischen Fachleute ergriffen
hat, schon in dem großangelegten frühen philosophischen
Entwurf angelegt, mit dem er 1937 vergeblich bei Martin
Honecker (1888-1941) in Freiburg zu promovieren suchte
und der dann — „re infecta" — 1939 in Innsbruck unter dem
Titel „Geist in Welt" als Buch erschien.
Bedenkt man die ungeheure Resonanz und Wirkung Rahners, dann ist die Ablehnung dieses Werkes durch Honecker
ein geistesgeschichtliches Ereignis, das ein bezeichnendes
Schlaglicht wirft auf die Sprengkraft der Ideen, die sich
schon beim frühen Rahner finden. Das ist auch die Auffassung des bekannten Aachener Philosophen Vincent Berning,
der uns genau richtig zum Rahner-Jubiläum eine großangelegte, philosophisch profunde Monographie über Martin
Honecker vorlegt, in der den Vorgängen um jene Ablehnung
aufs sorgfältigste nicht nur in historisch dokumentierender,
sondern — eben! — vor allem auch in philosophisch und theologisch absolut kompetenter Weise nachgegangen wird.'
Vincent Beming: Martin Honecker. Auf dem Wege von der Logik zur Metaphysik. Die Grundzüge seines kritisch-realistischen Denkens. Gustav Siewerth-Akademie 2003 551. S.
— 208 —
Die Untersuchung von Berning ist umso mehr zu begrüßen, als von Seiten der Rahner-Gemeinde die Ablehnung seiner Arbeit durch Honecker mit der Schmähkritik begründet
wurde, dieser sei als mediokrer Kopf der Genialität der Rahnerschen Gedankengänge nicht gewachsen gewesen. Es ist ja
bekannt und der Verfasser dieser Zeilen musste es schon als
junger Hochschullehrer erfahren, dass jede Kritik an Rahner
oder seinen Schülern einem Stich ins Wespennest gleicht.
Wer es wagt, den geradezu mystischen Rahner-Kult kritisch
zu hinterfragen, muss auf die wütende Reaktion seiner
Gemeinde gefasst sein. So gab der wohl bekannteste Schüler
und enge Vertraute Rahners, Herbert Vorgrimler, seinerzeit in
der „Tagespost" das vernichtende Urteil über mich ab: „Dieser Herr Hoeres, der in Freiburg künftige Erzieher unterrichtet, hat 1962 versucht, in der ,Deutschen Tagespost' mit Hilfe
der Enzyklika ,Humani generis' Johannes Baptist Metz anzuschießen. Erst mit diesem Herrn Hoeres rundet sich das Bild
ganz ab".2 Und das weil ich es gewagt hatte, in der gleichen
Zeitung die „Christliche Anthropozentrik" des Rahner Schülers J. B. Metz einer scharfen Kritik zu unterziehen.
In dieser vernichtenden Weise urteilt Vorgrimler auch über
Honecker, den er als „schlichten und beschränkten Vertreter
jener Neuscholastik" bezeichnet, die mit Thomas von Aquin
nicht mehr zu tun habe „als die Existenzialistenbärte von
Montmartre mit der Existenzphilosophie".3 Beming weist
nun nach, dass es sich hier in zweifacher Weise um ein absurdes Fehlurteil handelt. Einmal war Honecker gar kein Vertreter der Neuscholastik und sodann ein Philosoph von hohen
Graden.
Honecker kam als Schüler Oswald Külpes (1862-1915)
und Adolf Dyroffs (1866-1943) vom Kritischen Realismus
her, den er selbst zeitlebens und in großangelegten Synthesen
vertreten hat. Dieser trifft sich zwar in einem entscheidenden
Punkt, nämlich in der Anerkennung der Tatsache, dass unsere
Erkenntnis die subjektunabhängige Außenwelt erreicht, wie
sie in sich ist, mit der Scholastik und damit auch der Neuscholastik. Aber der Weg, wie dieser Anspruch begründet
wird, ist ein ganz anderer und das hat Honecker denn auch
immer in deutlicher Abgrenzung zur Neuscholastik betont.
Aristoteles, Thomas von Aquin und mit ihm der größte Teil
der Scholastik wie übrigens auch der modernen Phänomenologie lehren, dass uns die Außenwelt unmittelbar in sich
selbst gegeben ist und zwar deshalb, weil die Sinnesdinge
unmittelbar auf das Sinnesvermögen einwirken: „per solam
immutationem sensus ab sensibili".4 Plastisch und in einer in
der Scholastik durchaus geläufigen Form drückt das der
bekannte Neuscholastiker Joseph Gredt so aus, dass unsere
äußeren Sinne (und damit auch unsere geistige Erkenntnis,
die in ihnen gegenwärtig ist) „immediate attingunt obiecta":
dass sie ihre Objekte unmittelbar berühren.' Der Kritische
Realismus hingegen geht davon aus, dass uns zunächst nur
das intentionale Bewusstsein der Dinge und der Außenwelt
gegeben ist, das durch einen Kausalschluss auf sie bezogen
und als in ihr begründet und somit gerechtfertigt werden
kann. Sodass wir also keine unmittelbare, sondern nur mittelbare Gewissheit von ihr besitzen.
Der unbefangene Leser, der in der philosophischen Diskussion dieser nun schon vergangenen Epoche nicht zu
Hause ist, wird diesen Unterschied von unmittelbarem und
mittelbarem, kritischem Realismus für bloße Spitzfindigkeit
halten, zumal sich die Endergebnisse gleichen. Und doch verbirgt sich in ihm eine je andere Erkenntnistheorie, wie sie
Oswald Külpe für den Kritischen Realismus in seinem großartigen dreibändigen Werk: „Die Realisierung" entworfen
hat, das Vincent Bernings Urteil durchaus rechtfertigt, der
Külpe zu den „bedeutendsten und einflussreichsten Denkern"
seiner Zeit rechnet.6
Es ist hier nicht der Ort, auf diese erkenntnistheoretischen
Fragen einzugehen. Die ausführliche Darstellung Bernings
zeigt zu Genüge, dass Honecker zu ihnen einen ganz entscheidenden Beitrag geleistet hat. Das gilt nicht nur für die
Logik und Erkenntnistheorie, sondern für viele wichtige
Gebiete der Philosophie. Leider haben diese Beiträge nicht
die wünschenswerte Durchschlagskraft gehabt, weil Honecker allzu früh und dann mitten im Krieg (1941) gestorben
ist.
Dafür haben wir aber nun Bernings überaus gründliche
und ausführliche Analyse seiner Gedankenwelt, die auch
denen, die nicht an der Kontroverse um Rahner interessiert
sind, reiche Anregungen, vor allem zur Erkenntnistheorie, zu
geben vermag. Jedenfalls zeigt sich so schlagend genug, wie
ignorant, unsachlich und unqualifiziert Vorgrimlers Abqualifizierung Honeckers gewesen ist, die sich freilich ihrerseits
auf ein ähnliches Verdikt des in Abqualifizierungen ebenfalls
nicht zimperlichen Meisters Rahner selber stützen kann, der
nach einer Mitteilung von J. B. Lotz über Honecker geurteilt
hat: „als ob der überhaupt einen Geist hätte!"7
Dass Honecker weder beschränkt noch engherzig war,
zeigt die wohlwollende, ja massive Förderung, die er den
Arbeiten von Gustav Siewerth, Max Müller und Johann B.
Lotz SJ zuteil werden ließ: führenden katholischen Philosophen der Gegenwart, die alle drei von Honecker auf den Weg
gebracht wurden. Das ist ein seltener, ja in der Universitätsgeschichte unerhörter Vorgang, weil die Schüler schon in diesen ihren frühen Arbeiten, die sie Honecker vorlegten, eine
Richtung einschlugen, die so gar nicht zu seiner Schule des
objektiven und kritischen Realismus passte. Alle drei lassen
schon in diesen Frühschriften den sich gegenseitig verschränkenden Einfluss der Transzendentalphilosophie und Heideggers erkennen, der von der Sache her der ständige Widerpart
Honeckers in Freiburg gewesen ist. Nach Heidegger hat sich
das Sein immer schon in uns gelichtet und somit kann keine
Rede mehr davon sein, dass unser Verstand einerseits tabula
rasa, ein leeres unbeschriebenes Blatt ist, das eben deshalb
6
7
Beming a.a.O. S. 61.
Vgl. Beming S. 414.
Deutsche Tagespost v. 5.16. Juni 1964. Vgl. dazu auch Walter Hoeres: Die
neue Seinsmystik und der hl. Thomas v. Aquin. Zu der „Christlichen Anthropozentrik" von J. B. Metz, in: Deutsche Tagespost v. 24. 10. 1962 S. 8. Vgl.
auch zum polemischen Stil der Rahner-Schüler: Walter Hoeres: Nachtwächter und Psychopathen. In: Zwischen Diagnose und Therapie (Respondeo 14)
Siegburg 2001 S. 51 ff.
3 Herbert Vorgrimler: Karl Rahner. Zürich 1963. Zit nach Beming a.a.O.
S. 462.
4 Thomas v. Aquin Quodl. V. 9 ad 2.
5 Josephus Gredt: Elementa Philosophiae II. Freiburg 1956 S. 82.
„In der ökologischen Nische theologischer Fakultäten, wo man Hypothesen anstatt seiner selbst leben
und sterben lassen kann, ist das eigentliche Biotop
für Rahners Theologie und auch da scheint es eng
zu werden."
Helmut Müller
— 209 —
— 210 —
2
offen ist für die Wirklichkeit und andererseits dem Röntgenauge vergleichbar das innere Sein und Wesen der Sache freizulegen vermag. Vielmehr haben wir jetzt schon immer ein
apriorisches Urwissen von der Wirklichkeit und es bedarf der
bekannten Klimmzüge, um es dann mit ihrer tatsächlichen
Erfahrung — „Apriori" mit „Aposteriori" zu synchronisieren!
Gustav Siewerth und Max Müller promovierten und habilitierten sich bei Honecker, Lotz promovierte bei ihm. In den
entsprechenden Gutachten Honeckers kommt ebenso die
sachliche Distanz zu seinen Schülern, wie seine Würdigung
ihrer spekulativen Leistung zum Ausdruck, die ihnen niemand werde absprechen wollen. Wie nobel und großzügig
Honecker hierbei verfuhr, zeigt die Feststellung in seinem
Habilitationsgutachten über Max Müller: „Bemerkenswert
war der Freimut, mit dem der Verf. sich gegen einige Punkte
meiner eigentheoretischen und psychologischen Ansichten
wandte".8
Leider ist der Brief nicht mehr erhalten, in dem Honecker
im Juli 1937 Rahner eröffnete, dass er seine Arbeit nicht als
Dissertation annehmen könne. Dafür aber besitzen wir den
Brief, in dem Rahner seinem Provinzial am 19. 7. 1937 über
den ablehnenden Bescheid Honeckers berichtet und der in
grotesker Widersprüchlichkeit genau das Gegenteil von dem
beweist, was Rahner sagen will! Danach habe ihm Honecker
zwar bescheinigt, dass seine Auffassung „geistreich und interessant" sei, dennoch halte er seine ganze Thomasdeutung in
Methode und Ergebnis für verfehlt, weil er in einem (für
Honecker) untragbaren Maße moderne Gesichtspunkte in
Thomas hineingetragen habe! Obwohl es also ganz offensichtlich darum gar nicht geht, beklagt Rahner nun in seinem
Brief, dass sich Honecker nicht entschließen könne, „eine
seiner Auffassung ganz widersprechende Arbeit anzunehmen, trotz der oben aufgeführten guten Eigenschaften, die er
notgedrungen anerkennen muss".9 Aber es geht gar nicht
darum, ob Honecker eine andere Auffassung hat, sondern
darum, ob Rahner dem selbstgesteckten Anspruch gerecht
wird, den er in der Vorbemerkung seiner 1939 dann unter
dem Titel „Geist in Welt" erschienenen Arbeit selbst formuliert, „von so manchem, was sich ‚Neuscholastik' nennt, wegzukommen, zurück zu Thomas selbst". Das aber ist nun ganz
und gar nicht der Fall, denn mit Thomas hat die Arbeit so
wenig zu tun, dass man noch nicht einmal von radikaler
Umdeutung sprechen mag. Hier urteilt Berning womöglich
noch schärfer als Honecker selbst und als es der Verfasser
dieser Zeilen jedenfalls ausgedrückt hat.'° Widersprüchlich
ist der Brief Rahners aber vor allem deshalb, weil er beklagt,
dass Honecker seine Arbeit ablehne, weil er anderer Meinung
sei, seltsamerweise aber im gleichen Atemzug und unter
Bezugnahme auf Gustav Siewerth darauf hinweist, er habe ja
auch sonst Autoren akzeptiert, die anderer Auffassung seien
Nach Berning S. 373.
Zit nach Berning S. 401.
1° Vgl. Berning S. 455 f.: „Hoeres arbeitet mit subtilen .... Methoden heraus,
dass sich Kantische Transzendentalphilosophie und neuscholastische
Erkenntnislehre und Metaphysik nicht miteinander vermitteln lassen. Als
vermittelnde Schüler Marechals SJ nennt er die Jesuiten Rahner, J. B. Lotz,
E. Coreth und 0. Muck. Hoeres Kennzeichnung des Rahnerschen Ansatzes
als einen ,Versuch, die beiden konträren Positionen Kants und Thomas von
Aquins zu vermitteln', klingt — gemessen an seiner eigenen zutreffenden
Beurteilung zu harmlos. Hier handelt es sich nicht um eine Vermittlung, sondern um eine radikale Uminterpretation der Thomasischen Erkenntnislehre".
Vgl. dazu neuerdings Walter Hoeres: Wesenseinsicht und Transzendentalphilosophie. Thomas von Aquin zwischen Rahner und Kant. Questiones Non
Disputatae V. Siegburg 2001.
8
9
—211 —
als er selbst. Rahner hätte hier auch seinen Mitbruder Lotz
oder auch Max Müller erwähnen können.
Will man die Motive der Ablehnung richtig verstehen,
dann muss man bedenken, dass der frühe Rahner nicht nur,
wie das auch bei Siewerth, Lotz und Müller der Fall war,
inhaltliche Impulse von Heidegger empfing, sondern sich
auch in vollem Maße dessen Programm einer destruktiven
Interpretation der Philosophiegeschichte (und damit auch
Thomas von Aquins) zu eigen macht. Dabei ist der Ausdruck
„Destruktion" kein Schimpfwort, das Honecker, Berning oder
wir gebrauchen, sondern er stammt von Heidegger selbst, der
schon in „Sein und Zeit" die „Destruktion der Geschichte der
Ontologie" fordert.11 Das „Dasein" (der Mensch) soll sich
von der Verfallenheit an die Welt und seine eigene Tradition
losreißen, um sie (und damit auch die infragestehenden
Texte) von seinem je anderen, weil geschichtlich je neuen
Daseinsentwurf her auszulegen, in dem es sich selbst in je
neuer Weise auf sein Sein hin und damit überhaupt auf ein
neues Seinsverständnis hin entwirft. Daher hat die „existenziale Analyse" „ständig den Charakter einer Gewaltsamkeit" 12
Das ist nun genau, wenn auch nicht mit diesen harten Worten, das Programm der Rahnerschen Thomasdeutung, in der
es ihm gar nicht mehr um Thomas geht, sondern um seinen
transzendentalphilosophischen, an Kant, Fichte, Hegel und
Heidegger orientierten Entwurf, den er in Thomas hineinliest.
Man könnte hier mit Recht von einem Etikettenschwindel
sprechen und die Frage stellen, die wir schon als junger
Dozent Ende der fünfziger Jahre bei einer Tagung der Görresgesellschaft in Anwesenheit Max Müllers und bei eisigem
Befremden der zahlreichen anwesenden Heidegger- und Rahner-Adepten gestellt haben. Es sei, so führten wir damals aus,
ganz sicher das gute Recht eines jeden, auch katholischen
Philosophen, seine eigene Philosophie zu entwickeln! Aber
man solle doch endlich mit dem Etikettenschwindel aufhören, dieses philosophische Eigengewächs, das von Kant,
Fichte, Hegel, Heidegger herkommt, als Philosophie des hl.
Thomas auszugeben! Heute würden wir nicht mehr einfach
von „Etikettenschwindel" sprechen, weil wir mit Berning der
Meinung sind, dass die Sache viel schlimmer ist. Rahner
konnte gar nicht anders als Thomas durch die Brille seiner
Auslegung der menschlichen Erkenntnis sehen, die immer
schon durch den Vorgriff auf das Sein bestimmt ist, wie er es
im Anschluss an die genannten Denker versteht! „Bernhard
Lakebrink hat mit Recht auf diesen Ansatz gewalthafter
Interpretation bei Karl Rahner aufmerksam gemacht und wie
wir hier auf Rahners Vorbild Heidegger hingewiesen".13
Positiv und mit verschönernden Edelworten entwickelt
Rahner dieses Programm einer Thomas-Interpretation schon
am Anfang von „Geist in Welt". Jede historische Darstellung
müsse die philosophische Entwicklung mitvollziehen und
sich der Dynamik der Sache von einem bestimmten Ansatz
her (!) überlassen. Dabei sei es natürlich unvermeidbar, „dass
solche bei Thomas gegebenen Ansätze durch das eigene Denken weiter getrieben werden". Nur so sei „auch das Ewige
einer Philosophie aus der Belanglosigkeit des bloß Gewesenen zu retten". I4 Natürlich kann man diese Sätze richtig verstehen. Doch die Durchführung dieser guten Wünsche und
11 Martin
Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1963 § 6.
A.a.O. S. 311.
13 Berning S. 415; vgl. Bernhard Lakebrink: Die Wahrheit in Bedrängnis. Stein
am Rhein 1986 S. 7.
14 Rahner: Geist in Welt. Innsbruck 1939, XIL
12
— 212 —
seines Ansatzes zeigen, dass sie ihn radikal von Thomas wegführt und in diesem Sinne tatsächlich gewaltsam ist:5
Dass Rahner die thomistische Lehre unter Berufung auf
Thomas auf den Kopf gestellt hat, zeigt Berning zusammenfassend, schlüssig, präzise und mit ungeheurer Dichte nochmals ausdrücklich auf den Seiten 434 ff. auf! Die transzendentale Wende, nach der (philosophische) Erkenntnis nicht
mehr Neuentdeckung einer vorher unbekannten Wirklichkeit,
sondern Entfaltung des eigenen Selbstverständnisses und
damit Selbstauslegung des erkennenden Subjektes ist, kommt
schon gleich zu Beginn von „Geist in Welt" zum Ausdruck,
wo Rahner feststellt, „dass ... in der Metaphysik ... überhaupt
nicht etwas entdeckt wird, was man vorher nicht wusste, sondern das Verständnis, das der Mensch immer schon von sich
hat, weil er Mensch ist, zu sich selber gebracht wird".I6 In
diesem Sinne wird der thomistische Gedanke von der Konnaturalität, d. h. der tiefen Verwandtschaft zwischen dem erkennenden Geist und dem Sein in die Behauptung verwandelt,
dass Erkennen und Gegenstand in ursprünglicher Weise eins
seien und zwar so, dass der Geist im apriorischen Vor- oder
Ausgriff immer schon das Sein und damit die Grundverfassung der Wirklichkeit entwirft, die er nachher ausdrücklich
erkennt! Mit Recht bemerkt Berning dazu: „Diese SubjektObjekt-Identität als vorgreifende Transzendentalität des
menschlichen Geistes im Erkenntnisakt anzusehen, ist mit
dem thomasischen Verständnis des konnaturalen Verhältnisses von seiendem Gegenstand und menschlicher Erkenntnis
völlig unvereinbar. I7
Wenn so Metaphysik nicht die Entfaltung des vor uns liegenden Seins der Dinge, sondern im Gegenteil die des Beisichseins des Menschen ist, dann muss der aristotelisch-thomistische Satz, dass die Seele, der erkennende Geist gewissermaßen alles sei, radikal umgedeutet werden. Gemeint ist
nun nicht mehr, dass das Sein und damit alles Seiende das
eigentümliche Objekt des menschlichen Geistes ist und er
somit als „möglicher Verstand", wie ihn Thomas nennt, grenzenlos offen ist für die Wirklichkeit.18 Ganz im Gegenteil und
in striktem Gegensatz zu dieser Offenheit weiß er immer
schon und das aus sich selbst oder „a priori", d. h. von vorneherein um das Sein im ganzen Bescheid. Denn, so Rahner,
wie könnte er sonst danach fragen!l9 Umgekehrt könnte man
sagen: warum sollte er noch, wenn er immer schon Bescheid
weiß?
Doch bis hierhin könnte man bei einigem guten Willen
Rahners Ausgangspunkt noch mit dem der anderen Honecker-Schüler Siewerth, Lotz und Müller vergleichen, die ja
ebenfalls, wie schon angedeutet, von einem apriorischen
Seinsverständnis ausgehen, das wir je schon mitbringen.
Während dieses aber bei ihnen immerhin — man sieht freilich
nicht, was solche Verdoppelung bringen soll! — der Eröffnung
des Seins der Wirklichkeit dient und damit zur Not noch mit
Selbst der wohlwollende, weil selbst von Heidegger inspirierte Max Müller
weist daraufhin, „dass nur Rahners Arbeit eine radikal existenzial-anthropologische Ausdeutung der thomasischen Erkenntnislehre vornimmt, während
das für Lotz, Siewerth und Müller nicht gelte, weil diese sich trotz ihrer
jeweiligen Neuansätze stärker den großen spekulativen abendländischen
Metaphysik-Tradition, in welche Thomas hineingehöre, zu orientieren
suchen". Nach Berning S. 493. Vgl. dazu M. Müller, in: P. Imhoff/H. Bialowons (Hrsg.): Karl Rahner. Bilder seines Lebens. Zürich/Köln 1985 S. 28 f.
16 Geist in Welt, a.a.O. S. 17.
17 Berning S. 435.
18 Vgl. unser Werk: Offenheit und Distanz (Berlin 1993), das diese Lehre vom
Intellekt, der zu Beginn der Erkenntnis wie ein leeres, unbeschriebenes Blatt
ist, konsequent weiterführt und in ihrer anthropologischen Bedeutung zu analysieren sucht.
19 Rahner a.a.O. S. 35.
15
— 213 —
dem Realismus des hl. Thomas in Einklang gebracht werden
kann, dient es bei Rahner der Konstruktion der Welt aus eigenen Prinzipien heraus, in der sich das erkennende Subjekt
immer nur selbst wiederfindet. Zwar ist der Geist nach Rahner auf die Sinnesdinge und Sinnesbilder (phantasmata), also
auf die Anschauung der Sinne verwiesen. Aber sie dient wiederum nur dazu, dass er sich seines eigenen Beisichseins und
seines Vorgriffs auf das Sein bewusst wird. Denn „es geht
dabei nicht so sehr um das Angekommensein beim Hier und
Jetzt dieser Welt, sondern um das Herkommen vom Sein im
Ganzen".2° Und zudem erhalten die Sinnesdinge ihre Form
und Prägung, die sie erst erkennbar macht, schon von diesem
Vorentwurf her und „die faktisch gegen Thomas gerichtete
Tendenz Rahners wird schon dadurch deutlich, dass es für die
Menschen nicht darum geht, zur sinnenhaften Anschauung
der Welt zu gelangen ... sondern sich am Zwang zur Hinwendung zu den Sinnesbildern metaphysisch fragend für die
immanent aufsteigende Rückkehr des Bewusstseins zum Sein
im Ganzen zu qualifizieren".21
Rahner geht noch weiter und lässt nicht nur die Sinnlichkeit und das Sinnenbild auf mystische Weise aus dem Geist
entspringen,22 sondern auch das geistige Erkenntnisbild, die
species intelligibilis, mit dessen Hilfe wir das Wesen der
Dinge erkennen. So schreibt er: „Diese Auffassung der species intelligibilis als der Selbstbestimmung des freien
Geistes lässt sich auch ausdrücklich bei Thomas nachweisen",23 wozu Berning mit Recht bemerkt: „Belege für diese
Behauptung bietet Rahner allerdings nicht".24 Mit der ihm
eigenen Verhaltenheit bringt Joseph de Vries die Probleme
auf den Punkt, wenn er in der Rezension von „Geist in Welt"
seinen Mitbruder fragt, ob das erste Erfassen des Seins der
Dinge, wie dieser behauptet, im Hineinbilden eines apriorischen Elementes (eines Urwissens, welches das Subjekt
schon mitbringt) in das Sinnesbild bestehen könne! „Muss
nicht", so de Vries, „die ursprüngliche Seinserkenntnis vielmehr ein Vorfinden des Seins eines Seienden sein?".25 Urs
von Balthasar wird deutlicher und das mit Recht, wenn er
Rahner in der Nachfolge Fichtes sieht, der Erkenntnis in radikal idealistischem Sinne als Selbstentfaltung des denkenden
Ich versteht und die Welt nur als Material seiner Selbstverwirklichung.26 Hier kann man dann tatsächlich von einer
„christlichen Anthropozentrik" sprechen, wie sie dann später
J. B. Metz als nachkonziliares Programm beschwor.
Auch darin stimmen wir Berning zu, dass schon Rahners
Erkenntnislehre die Grenzen zwischen Endlichem und
Unendlichem in bedenklicher Weise verwischt und somit hier
schon jenes Ineinanderfließen von Natur und Übernatur oder
Gnade vorbereitet wird, das für seine Theologie charakteristisch ist. Schon in unserer ausführlichen Rahner-Kritik, die
wir zum ersten Mal in der „Kritik der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie"27 und sodann in „Wesenseinsicht
und Transzendentalphilosophie" vorlegten, wiesen wir darauf
hin, dass es bedenklich unklar bleibt, auf welches Sein sich
A.a.O. S. 39.
S. 437.
22 Berning charakterisiert diesen Ursprung treffend: „Der menschliche Geist
bedarf der sinnenhaften Materie, um aktiv die Sinnlichkeit als Vermögen aus
sich zu entlassen, indem er die Materie als solche erst bestimmend realisiert".
A.a.O. S. 453.
23 Rahner a.a.O. S. 278.
24 Berning S. 443.
25 In: Scholastik XV (1940) S. 408.
26 Urs v. Balthasar: Rezension von Rahners „Geist in Welt" in: Ztschr. f. Kath.
Theologie Innsbruck 1939, S. 375.
27 Stuttgart 1969.
20
21 Berning
— 214 —
der Rahnersche apriorische Vorgriff bezieht, der uns dazu
verhelfen soll, dass wir immer schon über das Sein im Ganzen und damit die Wirklichkeit Bescheid wissen: auf das
„Sein überhaupt" oder das göttliche Sein als die Fülle des
Seins schlechthin. Aber wenn das Wesen des Geistes darin
besteht, dass er sich selbst auf das Sein hin überschreitet,
dann ist damit implizit immer schon das Sein Gottes gemeint,
der mithin je schon in unserem Geiste gegenwärtig ist.
Für diese Konsequenz spricht auch, dass Rahner nicht nur
von Kant, vom Deutschen Idealismus und von Heidegger,
sondern mehr noch von seinem berühmten belgischen Mitbruder Joseph Marechal abhängig ist,28 der den geistigen VorVgl. Joseph Marechal: Le point de depart de la metaphysique. Cahier 5: Le
Thomisme devant la Philosophie critique. 2. Aufl. Brüssel-Paris 1949; vgl.
dazu Engelbert Wingendorf: Das Dynamische in der menschlichen Erkenntnis. Marechal, ein neuer Lösungsversuch des erkenntnistheoretischen Grundproblems. Bonn Bd. 11939, Bd. 2 1940.
28
griff auf das Sein, der unsere Erkenntnis allererst ermöglichen soll, mit dem Streben zu Gott hin gleichsetzt, worin ihm
Rahner ganz offensichtlich folgt.29 Wenn aber dieses apriorische Wissen um das Sein Wissen um Gott ist, dann ist die
Offenbarung nur die weitere Entfaltung dieses Urwissens und
damit dessen, was schon in unserem Menschsein angelegt ist.
Und diese Konsequenz hat dann Rahner auch tatsächlich
gezogen.3°
Anschrift des Autors: Prof. Dr. Walter Hoeres
Schönbornstr. 47,60431 Frankfurt/M.
Vgl. Rahner: Geist in Welt a.a.O. S. 203; Hörer des Wortes, München 1941
S.109, 118, 182 und Berning S.444.
30 Vgl. dazu Giuseppe Card. Siri: Gethsemani. Überlegungen zur theologischen
Bewegung unserer Zeit. Aschaffenburg 1982; Berhard Lakebrink: Die Wahrheit in Bedrängnis. Stein am Rhein 1986; David Berger: Natur und Gnade in
systematischer Theologie und Religionspädagogik von der Mitte des
19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Regensburg 1998.
29
ALMA VON STOCKHAUSEN
„Die christliche evolutive Weltkonzeption"1
Anmerkungen zu Karl Rahners Aufhebung von Metaphysik und Theologie in die „Weltwerdung Gottes"
1. Das Werden als Grundaxiom der Theologie Karl Rah- der Selbstrealisation des Kosmos. Die vorausgesetzten Prinners im Rückgang auf Martin Luther, G. W. Hegel und zipien der Theologie Karl Rahners sollen den Kosmos als die
Entwicklungsgeschichte Gottes entfalten! Die dialektische
Martin Heidegger
Verknüpfung
von Geist und Materie, Einheit und Vielheit,
„Die Erfahrungstatsache des Werdens" erklärt Rahner entvon
Sein
und
Werden
hat die Gnade schon im Ansatz in die
sprechend seiner maßgeblichen Ausrichtung an der welthafNatur
aufgehoben.
ten Wirklichkeit zum „Grundaxiom der Theologie".
Rahner wagt im Blick auf die modernen Wissenschaften
Wie kann die Theologie, deren Gegenstand der ewige
den
einzigartigen Versuch einer systematischen Versöhnung
unveränderliche Gott ist, das Werden zum Prinzip erheben
und mit dem absoluten Sein vertauschen? Nur dann, wenn die der Dialektik des deutschen Idealismus bzw. ExistenzialisMenschwerdung Gottes, die Inkarnation des ewigen Logos, mus und der sie konkretisierenden Evolutionstheorien mit der
wie bei Hegel als Akt der notwendigen Selbstverwirklichung christlichen Theologie. Er war sich dieses „Wagnisses sehr
Gottes pervertiert wird. Genau das vollzieht Rahner. Er zieht bewusst"4, denn die Widerspruchsfreiheit von Wissenschaft
die Konsequenz aus seiner Voraussetzung, dem Grundaxiom und katholischer Theologie, von Natur und Gnade ist mit der
des Werdens, und erklärt: „Dann versteht man Geist und dialektischen denkenden Moderne nur in der von Rahner
Materie als untrennbare Momente." Gleichermaßen erklärt beanspruchten „Geschichtlichkeit der Kirche" — die christliTeilhard de Chardin: „Kein Geist — nicht einmal Gott existiert che Offenbarung wird von Rahner „als Ergebnis einer langen
oder könnte ohne ein mit ihm verbundenes Vieles existieren Entwicklung der Menschheits- und Geistesgeschichte"5 ver... konkret gibt es nicht Materie und Geist, vielmehr existiert standen — in Überwindung von ihm so genannter „später neutestamentlicher Christologien" der lehramtlichen Dogmatik
nur die Geist werdende Materie."2
Nicht der perfekte Selbstbesitz des göttlichen Geistes ent- zu erreichen. „Mit Hege1"6, der seine Dialektik ausdrücklich
äußert sich zum Zwecke unserer Erlösung — sondern der im Rückgang auf Martin Luther entwickelt, will Rahner der
unbewusste göttliche Geist soll durch seine Weltwerdung erst vom Widerspruch geschüttelten Glaubensnot unserer Tage
dadurch begegnen, dass er das „Christentum auf den
zu sich selbst kommen!
Die Wirklichkeit der Welt wird damit von Karl Rahner Begriff'7 bringt. In Weiterführung der Hegelschen Forderung
„mit der Wirklichkeit des Logos" selber identifiziert. Durch gilt es das bloße Faktum der Inkarnation des Logos in die
die „Weltwerdung Gottes" — nicht durch die Annahme einer Faktizität der Vernunft aufzuheben.
Damit sinkt die Theologie zur „aposteriorischen Deutung
zweiten menschlichen Natur, geboren aus der Jungfrau
der
ursprünglich transzendentalen Erfahrung des Menschen"8
Maria, wird der ewige Logos Mensch. „Von unten", aus der
herab.
„Die christliche Lehre ... sagt also dem Menschen"
dunklen, unbewussten Natur steigt Christus als zu sich selbst
nur
noch
„sein eigenes, wenn auch unreflex vollzogenes
kommender Kosmos auf. „Dann haben wir die Idee der
Selbstverständnis
aus."9
christlichen Erlösung so, dass sie sich von selbst aus einer
christlich evolutiven Weltkonzeption ergibt"3, rechtfertigt
4 Karl Rahner, Kritisches Wort, Herder 1970, S. 9.
Rahner die Vertauschung der entäußernden Liebe Gottes mit
Karl Rahner, Grundkurs, S. 123.
Karl Rahner, Eb. S. 13.
7 Eb. S. 13.
8 Eb. S. 136/137.
9 Eb. S. 132/133.
5
6
Karl Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. 5, S. 216.
Th. de Chardin, Die menschliche Energie, Olten 1966, S. 75/76.
3 F. Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. V, S. 216.
I
2
— 215 —
— 216 —
Theologie ist Konkretion der Anthropologie — nicht umgekehrt: die philosophische Anthropologie wird nicht durch die
Offenbarung von ihren Aporien befreit, sondern zum Maßstab für die Theologie erhoben!
Das geschichtliche Verständnis der Wirklichkeit lässt Rahner „vom heutigen evolutionären Weltbild ausgehen, dieses
mehr voraussetzend als darstellend."w „Wie etwa bei Teilhard de Chardin" will Rahner die „Grundstrukturen der einen
Geschichte entwickeln" und zeigen, wie „auch noch das
Höchste, wenn auch wesentlich Neue als Abwandlung des
Früheren verstanden werden kann." I
Gottes, das er durch seine Allmacht in Bewegung setzte, so
wie auch alles andere."22
Konsequenterweise lässt Luther Gott von sich selber
sagen: „Ego sum, qui creo bonum et malum".23 „So widersinnig mächtig" erscheint Gott Luther, „dass er das Gute und das
Böse, zwei unvereinbare Dinge, auf die Einheit seiner ewigen
Natur zurückführt."24
Der Gott, der einmal als „grausamer Feind", als „Schöpfer
des Bösen" und dann als „Gott allen Trostes in Christus
erscheint, kann als Gott, wie er in sich selbst ist, als Wahrheit
in ihr selbst verstanden werden"25, wenn wir auf die Prädicatio identica des ranzigen Philosophen verzichten, und die
a) Luther versteht Gott als dialektische Gegensatzeinheit „novitas des Christentums" in eine „Logik des Werdens"
von Gut und Böse: „Gott muss erst Teufel werden, bevor er übertragen.26
Gott wird"2
Mit dieser neuen Entwicklungslogik versucht Luther die
Luther versteht Gott nicht mehr im Sinne der Metaphysik der schärfsten Gegensätze: Contrarissime: Gut und Böse, Leben
Griechen, der großen Konzilien und des Mittelalters als reine und Tod in „eine neue Einheit fortzureißen."27 Diese contraunveränderliche Vollkommenheit, sondern als eine sich ent- diktorisch sich ausschließenden Widersprüche will Luther
wickelnde Gegensatzeinheit: „Deus sibi contradicit".I3 Was durch die Allmacht Gottes in einem Werdeprozess vermitteln.
führt Luther in so folgenschwerer Weise dazu die Vollkom- Luther scheut nicht davor zurück, sogar Gott selbst in einen
menheit Gottes preiszugeben? In dem von Luther als seiner dialektischen Werdeprozess aufzuheben. Der Gott, der sich
wichtigsten Schrift bezeichneten Buch: „De servo arbitrio"I4 als Schöpfer des Guten und Bösen selber widerspricht: „Deus
schreibt Luther an Erasmus: „Ich lobe und preise Dich gar sibi contradicit", „kann nicht Gott sein, er muss zuerst ein
sehr, dass Du als einziger von allen, die Sache selbst in Teufel werden."28
Nicht nur die Gotteslehre der Metaphysik und der katholiAngriff genommen hast, d. h. das wesentliche der Sache, und
schen
Kirche zerstört Luther mit der Übertragung des Bösen
dass Du mich nicht mit fremdartigen Sachen über Papsttum,
auf
Gott.
Auch die Geheimnisse der Offenbarungsbotschaft
Fegefeuer, Ablass und ähnliches geplagt hast." Die Sache
pervertiert
Luther in eine dialektische Gegensatzeinheit, z. B.
selbst, um die es Luther in der Antwort an Erasmus von Rotmit
der
bekannten
Formel: „simul iustus et peccator", die
terdam geht, ist der Nachweis, „dass der freie Wille eine
sowohl
für
Gott
als
auch
für den Menschen gilt. Die TrinitätsLüge sei."15
lehre,
die
nach
katholischer
Auffassung, die Liebeseinheit der
Luther vertauscht „die herzbewegende Liebe Gottes", die
göttlichen
Personen
ausdrückt,
hebt Luther in einen Entwickallein, sich selbst zurücknehmend, als Raum gebend für die
lungsprozess
derart
auf,
dass
die
Personen zu EntwicklungsFreiheit des anderen verstanden werden kann, mit dem „kalten Allwillen der Alleinwirksamkeit Gottes", wie Shakes- phasen im Akt der göttlichen Selbstherstellung herabsinken.
peare in „King Lear" feststellt. „Wenn Gott will, weil Er will, Auch hier vertauscht Luther die liebende Selbstmitteilung
und weder Ursache und Grund für Ihn Geltung haben"I6 Gottes mit der Notdurft der Ergänzung des eigenen Mangels.
wenn sein Wesen durch die „Alleinherrschaft und Allmacht"
bestimmt ist, dann wird „das Dogma vom freien Willen gänz- b) Hegels Aufhebung von Schöpfung und Erlösung in notlich vernichtet"I7 „Allmacht und Praescienz Gottes strecken wendige Phasen der Selbstwerdung Gottes
den freien Willen wie einen Blitzschlag nieder."I8
Kann Gott nicht Gott sein, bevor er ein Teufel wird — fragt
Wie aber ist ohne Freiheit die Entstehung des Bösen über- sich Hegel auf Luther reflektierend.
haupt möglich?
„Handelt Gott wirklich tyrannisch — ist er kein Vater, sonDie Gebote und Gesetze Gottes fordern nicht unseren dern Gegner?"29 Kann ich diesen Gott nur durch einen absurfreien Willen auf, sondern „erinnern uns nur an unsere Ohn- den Glaubensakt des „wider Gott zu Gott" erfahren?
macht". Die göttlichen Gebote belehren uns zwar nach
Hegel bekennt: „Ich bin ein Lutheraner und durch die PhiLuther über das, was wir sollen, nicht aber über das, was wir losophie eben so ganz im Luthertum befestigt,"3° Hegel ist
können. „Wenn Gott es ist", der nach Luthers Auffassung ein Lutheraner, „und will es bleiben". Entsprechend zieht er
allein den Menschen in Handlungen bestimmt, „warum wan- die Konsequenz: „Wenn die Theologie selbst es ist, die zu
delt er nicht zugleich die bösen Willen, die er bewegt?"I9 dieser Verzweiflung gekommen ist: In Gott selbst das Böse
„Warum lässt Gott Adam fallen, und warum schafft er uns, zu sehen, dann muss man sich eben in die Philosophie flüchmit der selben Sünde befleckt?"2° fragt sich Luther selbst. ten, wenn man Gott erkennen will."31 „Was Luther als GlauAuch „Judas wurde" nach Luther „notwendiger Weise ein ben im Gefühl begonnen", gilt es „im Begriffe zu erfassen."32
Verräter"21, d. h. dieser Verrat war nach Luther: „Das Werk
W. A. 18, S.715/16.
A. 40,11 S. 417.
24 e.d.s.
25 W. A. 7, S. 589.
26 Enrico de Negri: „Offenbarung und Dialektik — Luthers Realtheologie",
Darmstadt 1973, S. 215.
e.d.s. S. 217.
28 W. A. 31, S. 249.
29 W. A. 56, S.368, S.26-29.
3° Hegel: „an tholuck", in Briefe, Hamburg 1981, S. 61.
31 Oeing Hanhoff: „Konkrete Freiheit", st Z 187, 372-390.
32 Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts", (Glockner), Stuttgart
1928, S. 36.
22
10 Karl Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. 5, S. 185.
I I Eb. S. 194.
12 W. A. Bd. 31, S. 249.
13 W. A. Bd. 43, S. 202.
14 W. A. 18, S.786.
15 W. A. 18, S. 603.
16 W. A. 18, S. 712.
17 W. A. 18, S. 615.
18 W. A. 18, S. 615.
19 W. A. 18, S. 712.
20 W. A. 18, S. 712.
21 W. A. 18, S. 715/16.
— 217 —
23 W.
— 218 —
Was unser Luther unternommen hat, war eine große Umwälzung.6433 Luthers „neue Logik des Werdens" aus seinen „theologischen Prämissen entstanden"34 dient nun als „Fundament
der Hegelschen spekulativen Dialektik". „Die Angel, um die
sich die Weltgeschichte dreht", ist auch für Hegel dies, „dass
Gott als der Dreieine gewusst wird."35
„Wenn man hier in der Religion die Persönlichkeit abstrakt
festhält, so hat man drei Götter ..., bzw. das Böse, denn die
Persönlichkeit, die sich nicht in die göttliche Idee aufgibt, ist
das Böse.36 An die Stelle der göttlichen Personen setzt Hegel
Strukturelemente des spekulativen Begriffs, der in der Entgegensetzung von Einheit und Andersheit, die Selbigkeit zu
erfassen vermag, bzw. die Identität von Denken und Gedachtem. Die im Akt des Denkens zu unterscheidenden Momente
bekommen durch die aus dem „organischen Leben gewonnenen Bilder von Vater und Sohn" nur ihre Veranschaulichung
für die negative Vorstellungsweise.
„In der göttlichen Einheit ist die Persönlichkeit als aufgelöst gesetzt."37
Nicht nur die göttlichen, auch die menschlichen Personen
werden in ihrem Fürsichsein bei Luther und Hegel geopfert
und als Momente, die am Horizont erscheinen und verschwinden, in den Prozess der Selbstherstellung des göttlichen Geistes im Gang durch die Welt gesetzt. Die von Luther
beklagte Negativität in Gott, die Hegel zur Flucht in die Philosophie getrieben hat, wird durch den spekulativen Begriff
als der ,Macht der Selbstreflektion des Geistes", bzw. als die
Notwendigkeit der Selbstobjektivation verstanden: Die Entgegensetzung von Denken und gedachtem als Voraussetzung
für die bewusste Selbstidentifikation des Geistes!
Der von Luther behauptete Gegensatz von Gut und Böse in
Gott muss nach Hegel als Notwendigkeit der Selbstentgegensetzung der Reflektion begriffen werden. Gut und Böse gibt
es für Luther und Hegel so wenig an sich wie göttliche und
menschliche Personen. Alle Entitäten werden als vorübergehende Teilfunktionen in den Prozess der göttlichen Selbstherstellung aufgehoben. Die Schöpfung erweist sich also, spekulativ gesehen, als „Weltwerdung Gottes — als Gang Gottes zu
sich selbst". Erst dadurch, „dass das Positive, das einfache
Sein Gottes an sich selbst die Negativität ist, dadurch geht es
außer sich und setzt sich in Veränderung.38 Der Mangel der
Nichtidentität bzw. die Unvollständigkeit der Selbstreflektion
treibt Gott über sich hinaus in die Andersheit seiner Selbstentgegensetzung als Sohn bzw. Schöpfung. Die Dynamik des
Werdens liegt für Hegel nicht in der Vollendung des Seins.
" Hegel (Glockner-Ausgabe), Band 20, S. 536.
34 So betont auch Ulrich Asendorf in seinem Werk „Luther und Hegel", Wiesbaden 1982, S. 274.
35 Hegel: „Philosophie der Geschichte" (Glockner), Stuttgart 1928, S. 410.
36 Hegel: „Philosophie der Religion" (Glockner), Stuttgart 1928, S. 239.
37 Hegel: „Philosophie der Religion", Band 2 (Glockner), Stuttgart 1928,
S. 239.
38 Hegel: „Wissenschaft der Logik", Band (Lasson), S. 59.
„Rahners Umdeutung der Trinitätslehre endet in der
mystischen Einsamkeit Gottes. Sie verdunkelt die
biblisch bezeugte Geschichte des Vaters, des Sohnes und des Geistes, sofern sie diese zur äußeren
Illustration dieser inneren Erfahrung macht. Gibt es
eine größere Gefahr als diesen ‚Modalismus'?"
Jürgen Moltmann
— 219 —
Werden ist nicht Ausdruck der Schenkung der Fülle, sondern
Notdurft des Mangels. Die sich selbst mitteilende Liebe Gottes wird von Hegel pervertiert in den Trieb der sich selbst
befriedigenden Libido. „Der Trieb als unendliche Substanz
des Daseins" stellt als „Widerspruch" die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit dar".39 Bis hin zu Marx und den Neomarxisten der Frankfurter Schule unserer Tage bleibt der
Widerspruch als „Kritikfähigkeit" das einzige Bildungsideal
der aufgeklärten Mündigkeit unserer Schulen und Hochschulen! An die Stelle der dankbaren Entgegennahme des Wahren, Guten und Schönen der göttlichen Schöpfung im Angesichte des Menschen oder der Natur, tritt die revolutionäre
Forderung der Weiterentwicklung durch Negation des Bisherigen. Wie lange werden wir noch Opfer dieser unendlichen
Triebkraft, die vorgibt durch Negation der Negation alles
Bestehenden: Der Kultur, der Sitte, der tradierten Religionen,
der personalen Bezüge ..., die endgültige Befriedigung durch
endlose Produktion und entsprechende Konsumtion paradiesisch einzurichten. Der Mensch reduziert auf eine Bündelung
von scheinbar entgegengesetzten Trieben — aber selbst C.G.
Jung und Konrad Lorenz entlarven den Libido-Trieb als
Todes- bzw. Aggressionstrieb, der sich im Liebeslächeln als
Zähnefletschen offenbart — wird zum Tier, das wie Nietzsche
sagt: „Über die Erde hüpft und schreit: „Wir haben das Glück
erfunden!".
Fassen wir zusammen: Luther hat den Ursprung des Bösen
auf Gott übertragen und den geknechteten Willen des Menschen von jeder Schuld freigesprochen. Hegel versucht dieser
Verzweiflung, in Gott selbst den Urgrund des Bösen sehen zu
müssen, dadurch zu entkommen, dass er diesen unfasslichen
Widerspruch in Gott als die Notwendigkeit der sich entgegensetzenden Selbstreflektion des absoluten Geistes versteht.
Der Trieb — als Spannkraft dieses Sichselbst — entgegensetzenden Geistes wird bei Hegel als jene „ungeheure Macht des
Negativen"40 beschrieben, die die gezeugten und geschaffenen Personen in den Akt der Selbstreflektion des Absoluten
aufhebt. Nicht dieser Unterwerfungsakt, der das Einzelne in
das Ganze aufhebt, wird von Hegel „böse" genannt, sondern
umgekehrt: „Böse" ist für ihn das „starrsinnige Festhalten"
an den „besonderen Persönlichkeiten Gottes", bzw. der jeweiligen Menschen, Tiere und Pflanzen. Die Aufhebung der Personen, bzw. der eigenständigen Organismen in den Entwicklungsprozess der Selbstproduktion des absoluten Geistes
bzw. der Gesellschaft, ist nicht irgendein Versagen am Rande,
sondern die umfassende Bosheit. Aufhebung, Vernichtung
des anderen als Akt der allversöhnenden, weil verflüssigenden Liebe, auszugeben, ist die Infamie der Bosheit des Vaters
der Lüge, der Liebe als Libido verrät.
Für Luther gab es noch die Frage nach dem gnädigen,
rechtfertigenden Gott. Für Hegel und die Anhänger seiner
Widerspruchsdialektik gibt es nur „noch das sogenannte
Böse", an sich ist die „Rechtfertigung durch den Begriff"
geschehen!
c) Heidegger erwartet von der Geschichtlichkeit des Seins
den endgültigen „Zusammenstoß von Göttern und Menschen"
Heidegger stimmt Nietzsche zu: „Mit Hegel ist ein Pantheismus auszudenken, bei dem das Böse, der Irrtum und das Leid
nicht als Argumente gegen die Göttlichkeit empfunden werden ... Der Deutsche Idealismus wagt es, das Böse als zum
38 e.d.s. S. 58.
40 Hegel: „Phänomenologie des Geistes", (Glockner), Stuttgart 1928, S. 34.
— 220 —
Wesen des Seins gehörig zu denken".43 Heidegger belehrt sende Kreuz Christi erfährt die äußerste Perversion! Gott
uns, dass „alle entscheidenden Sätze der Philosophie deswe- übermächtigt nicht den Menschen, um durch dessen Tod sein
gen dialektisch sind",42 weil „das Eine immer durch das eigenes Leben höher zu entwickeln. Im Gegenteil: Gott
Andere zu verstehen ist",43 d. h. „das Eine ist das Andere"44 opfert sein Leben als Unterpfand für die Auferstehung des
mit der Konsequenz: „Das Vollkommene ist das Unvollkom- Menschen vom Tode. Nicht Verewigung des Todes — als
mene, das Gute ist das Böse."45 Wenn das Gute und das Böse Schlüssel zu neuem Aufgang von Wahrheit — sondern Überdialektisch gedacht, als „ebenbürtige Partner"46 im Sein ver- windung des Todes, dem Stachel der Leben zerstörenden
standen werden müssen, wenn in der „Lichtung des Seins das Sünde, geschieht durch die Erlösung. Die Sünde und mit ihr
Heile und das Böse zumal erscheinen",47 dann können die der Tod kann nicht durch Übertragung auf Gott aus der Welt
„Weisungen", die aus dieser epochalen Schickung ergehen, geschafft werden.
nur die „Gebotstafeln der Kirche" verwerfen. Weil nach HeiKarl Rahner bekennt Heidegger zu seinem 80. Geburtstag,
degger das „Sein strittig" ist, dürfen die Gegensätze nicht dass „er unter seinen vielen Lehrern nur einen als seinen
überwunden werden — sondern müssen als Wurzel aller Meister verehren kann — eben Martin Heidegger". Er fügte
Bewegung „strittig bleiben". Das Ziel: Die Überwindung des hinzu: „Die heutige katholische Theologie ist wie sie wirkBösen durch das Gute, gibt es für Heidegger nicht mehr und lich ist ohne Martin Heidegger gar nicht mehr denkbar."52
entsprechend keinen Frieden.
Schon in „Sein und Zeit" behauptet Heidegger, dass „zur 2. „Die Kenosis und Genesis Gottes selbst — der Mensch als
ursprünglichen Wahrheit die Unwahrheit gehört".48 Der Streit trinitarische Selbstaussage Gottes"
zwischen den ebenbürtigen Partnern der Verbergung und Seiner dialektischen Theologie entsprechend, die das Werden
Lichtung muss „strittig bleiben". — „Wo dieser Kampf aus- zum Grundaxiom erhoben hat, identifiziert Rahner die immasetzt, weicht das Sein aus dem Seienden und Welt wendet nente Trinität mit der ökonomischen. Die „ökonomische
sich weg."49
heilsgeschichtliche Trinität ist die immanente"53, versichert
Gegenüber Hegel hat Heidegger die Dialektik wesentlich Rahner mit der Konsequenz, dass Gott ausschließlich — im
in der Weise verschärft, dass die Entgegensetzung nicht mehr Sinne Hegels — als „der Gott für uns, der am anderen seiner
als der notwendige Umschlagspunkt zur Versöhnung betrach- selbst wird"54, verstanden werden soll. Aus den eigenständitet wird. Jede Form der Synthese wird verneint. Die Negation gen göttlichen Personen, dem Vater, der den Sohn ebenbildvermag keine Position mehr zu vermitteln — der Streit selbst lich zu sich zeugt und mit ihm den wesensgleichen Heiligen
ist das, was ist! Das erinnert unmittelbar an Martin Luther, Geist haucht, werden „Gegebenheitsweisen des einen und
der den Streit zum Wesen Gottes erklärt hat.
selben Gottes für uns".55
„Der letzte Gott, gegen alle gewesenen, zumal gegen den
Es gibt daher nach Rahner innertrinitarisch nicht ein
christlichen"50 kann nicht persönlich in „Kirchen und Kulten" „gegenseitiges Du". „Der Sohn" wird als die „Selbstaussage
— sondern nur im Streitraum des Seins selbst als „Zusammen- des Vaters, die nicht nochmals als sagend konzipiert werden
stoß" der um die Wahrheit Kämpfenden erfahren werden, darf, und der Heilige Geist als die Gabe, die nicht nochmals
behauptet Heidegger. Heideggers Ontologisierung der Theo- gibt"56 verstanden. Aus den göttlichen Personen werden Mologie Martin Luthers führt zur erklärten Aufhebung des mente bzw. Funktionen im Prozess der Selbstherstellung des
christlichen Gottes und Kultes. Luthers Übertragung des göttlichen Geistes im Gang durch die Welt. B. J. Hilberath
Bösen auf Gott wird bei Heidegger zur Gleichberechtigung kommt zu der gleichen Feststellung: „In Rahners Trinitätsvon Gut und Böse, Wahrheit und Irrtum, Licht und Finsternis, theologie kommt letztlich der Sache nach der Personbegriff
Leben und Tod als ebenbürtigen Partnern im Sein. Die Radi- zum Verschwinden".57 Die Einheit der drei göttlichen Persokalität des unaufhebbaren Widerspruchs, der den Streit zum nen im göttlichen Wesen wird vertauscht mit PhasenabschnitAngelpunkt aller Geschichte macht, entspricht unmittelbar ten im Weltwerdungsakt Gottes. Nicht im Wesen sind die drei
Luthers „Gigantenkampr Gottes mit sich selbst.
göttlichen Personen geeint, sondern durch den vermittelnden
„Nicht der arme Mensch trägt die Schuld" an der jetzigen Weltprozess. An die Stelle der personalen SchenkungsgeGeschichte der „Seinsvergessenheit" — vielmehr ist die schichte Gottes tritt der Prozess der bewussten Selbstherstel„Anerkennung der Zugehörigkeit des Menschen durch den lung des göttlichen Geistes! Die Kenosis Gottes, die innertriGott"51 geboten, fordert Heidegger! An die Stelle der Inkar- nitarische Selbstauszeugung Gottes, wird pervertiert zur
nation des Logos, der in entäußernder Liebe die menschliche Genesis Gottes! Die Dynamik des Werdens besteht nicht in
Natur hypostatisch mit seiner göttlichen Natur vereint — tritt der Selbstmitteilung des Vollkommenen an den Anderen als
bei Heidegger der endlose Zweikampf Gottes mit den Men- Anderen — sondern im Gegenteil — in der Selbstvermittlung
schen. Die „Irre" der Metaphysik sieht Heidegger in dem ein- durch den Anderen. Rahner konkretisiert mit dem Begriff des
seitigen Festhalten an der Idee des Guten, bzw. der Identität Werdens Luther und Hegel, die die Negativität in Gott, das
des vollkommenen Seins mit sich selbst, das jede Form des behauptete Böse, in den Prozess der notwendigen SelbstentNichtseins: Das Böse, die Unwahrheit, den Tod von sich prin- gegensetzung aufzuheben suchen. Das Werden, das die
zipiell ausschließt. Das vom Tode — als der Sünde Sold — erlö- eigene Gegensätzlichkeit zu überwinden hat, kann nur in
allen dialektischen Werdeprozessen als „Werden zu sich" entM.Heidegger, Nietzsche, Bd. 1, S. 74.
wickelt werden! Werden vollzieht nicht mehr die liebende
42 M. Heidegger, Schellings Abhandlung, Tübingen 1971, S. 98.
entäußernde Anverwandlung der Vollkommenheit an den
Ebd. 95.
Ebd.
45 Ebd. 98.
46 Werner Marx, Heidegger und die Tradition, Hamburg 1980, S. 244.
47 Ebd.
48 S. u. Z., 8. Aufl. Tübingen 1957, S. 222.
49 M. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, 2. Aufl. 1957, S. 47 ff.
M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GHA 65, Frankfurt 1989, S. 403.
51 Ebd. 413.
Richard Wisser, Martin Heidegger im Gespräch, Freiburg (Alber) 1997.
Rahner, Grundkurs, S. 141/42.
54 Vgl. F. Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. V, S. 205.
55 Ebd. S. 141/42.
56 F. Rahner, Mysterium salutis, Bd. 2, S. 377, Anmerkung 29.
57 Katholische Theologie, 1988, Heft 4, S. 320, B. J. Hilberath, Karl Rahner.
— 221 —
— 222 —
43
44
52
53 Karl
Anderen als Anderen - sondern die Aufhebung des Anderen
als Befriedung des eigenen Mangels. Die göttlichen Personen
werden als Gegebenheitsweisen an den Menschen missbraucht. „Die Selbstmitteilung Gottes" will Rahner als Akt
„der Erschließung seiner letzten Intimität"58 im Angesicht
des Menschen verstehen, denn „die Gewöhnlichkeit des Menschen" soll „aus dieser ursprünglichsten Selbstaussage Gottes
resultieren".59 Der Mensch, nicht die göttlichen Personen wird zum „Urphänomen der Selbstentäußerung"6° erklärt.
„Den ursprünglichen Unterschied in Gott selber setzend"61
entsteht der Mensch!. Der Mensch ist das Ziel der göttlichen
Selbstproduktion. Ein Gott, „der am anderen seiner selbst
wird",62 an der Schöpfung, ein Gott, für den der Mensch, „als
Höchstfall der Mensch Jesus" aus dieser ursprünglichsten
Selbstaussage Gottes resultiert, hat jede personale Eigenständigkeit zugunsten eines „Gesamtsubjektes", in das alles
Geschaffene aufgehoben wird, aufgegeben.63 Wenn nicht die
göttlichen Personen - sondern der Mensch das Resultat der
ursprünglichsten Selbstaussage Gottes ist, muss Rahner folgerichtig sagen: „Der Mensch sei des göttlichen Wesens teilhaftig" und entsprechend „jetzt schon Sohn Gottes - es
müsse nur offenbar werden, was er jetzt schon ist".64 Die
Menschheit tritt an die Stelle der göttlichen Personen, die des
göttlichen Wesens teilhaftig ist. Christus, den inkarnierten
Sohn Gottes, nennt Rahner „Das Anderssein Gottes", das
sich von uns Menschen nur dadurch unterscheidet, dass es
„das gleiche Was auch zur Selbstaussage bringt".65 Einen
seinsmäßigen Unterschied zwischen Gott und Mensch gibt es
für Rahner nicht, weswegen nach Rahner „Was mit Gott
selbst gemeint ist, nur durch das Vorkommen lassen jener
Grundbefindlichkeit des menschlichen Daseins zu verstehen
ist".66 Da Gott allein im Menschen und durch ihn sich selbst
aussprechend zu sich selbst kommen kann, muss nach Rahner
„über Gott und Kreatürlichkeit", trotz der Verschiedenheit
des Gemeinten, nur in einer Aussage gesprochen werden.
„Alle Theologie ist darum in alle Ewigkeit Anthropologie".67
Gott und Mensch werden von Rahner dialektisch - Hegel entsprechend - identifiziert. Die Eigenständigkeit der göttlichen
Personen wie die des Menschen wird preisgegeben und der
Mensch als Andersheit Gottes das Medium der Selbstvermittlung Gottes zu sich selbst. An die Stelle der Menschwerdung
der zweiten göttlichen Person durch die Annahme einer
eigenständigen menschlichen Natur tritt der Prozess der
„Weltwerdung Gottes", der Gott erst artikuliert zu sich selbst
vermittelt. Die innertrinitarische Schenkungsgeschichte der
drei göttlichen Personen und die erlösende Selbstentäußerung
des ewigen Logis wird mit Phasenabschnitten der Weltentwicklung als Geschichte der Selbstkonstitution Gottes vertauscht!
3. Die Schöpfung - Teilmoment der Selbstwerdung Gottes? Oder substantielle Einzigartigkeit Kann Schöpfung in einem dialektischen System, für dass das
Werden als Grundaxiom an die Stelle selbständigen Seins
F. Rahner, Grundkurs, S. 129.
Ebd. S. 222.
F. Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. IV, S. 148.
61 F. Rahner, Grundkurs, S. 222.
62
K .Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. V, S. 205.
63 Urs v. Balthasar, Das Ganze im Fragment, Einsiedeln 1963, S. 202.
64 F. Rahner, Grundkurs, S. 126.
65 Ebd. S. 222.
66 F. Rahner, Grundkurs, S. 64.
F. Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. IV, S. 150.
58
59
- 223 -
tritt, noch als eine außer Gott befindliche Entität verstanden
werden - oder muss sie pantheistisch als Teilmoment der
Selbstherstellung Gottes vorgestellt werden?
„Wir dürfen ruhig das, was wir Schöpfung nennen, als
Teilmoment an dieser Weltwerdung Gottes auffassen. Wir
haben durchaus das Recht, Schöpfung und Menschwerdung
nicht als zwei disparat nebeneinanderliegende Taten Gottes
nach außen zu denken ... sondern in der wirklichen Welt als
zwei Momente und Phasen eines einen, wenn auch innerlich
differenzierten, Vorganges der Selbstentäußerung und Selbstäußerung Gottes in das Andere von sich hinein".68 Schöpfung
soll, so erklärt uns Rahner weiter, nicht im klassischen Sinn
als „positio ad extra" gedacht werden, sondern nur „als
Bewegung im Ziele selbst".69 Die Metaphysik hat die Bewegung im Ziele selbst konsequentermaßen als Bewegung in
Gott selbst verstanden. Entsprechend sagt Rahner von Gott,
dass er schafft, „gerade indem er und dadurch, dass er selbst
sich entäußert, sich weggibt, das Andere als seine eigene
Wirklichkeit setzt und so die Kenosis Gottes als Genesis
selbst"7° zu verstehen ist. Gott teilt sich nach Rahner - im
Gegensatz zur metaphysisch-dogmatischen Schöpfungsauffassung - selbst als das innerste Formprinzip dem Geschöpfe
mit. Er bleibt nicht als forma formarum - wie Thomas einschärft - die unveränderliche Exemplarursache, sondern wird
selber „inneres konstitutives Prinzip des Verursachten, im
Unterschied zu einer nach außen gehenden Wirkursächlichkeit"?' Gott bewirkt deshalb nach Rahners Ansicht „nicht
etwas von ihm Verschiedenes in der Kreatur - sondern seine
eigene Wirklichkeit mitteilend, macht er sich selbst zum
Konstituum der Vollendung des Geschöpfes".72 Das
Geschöpf ist erklärtermaßen nicht etwas von Gott verschieden Seiendes - sondern die Andersheit Gottes, in der Form
der Selbstaussprache bzw. Selbstreflexion, Gott nicht unmittelbar bei sich, vielmehr als Weltwerdung. „Was bedeutet
unser Leben, das wir von uns her im Grunde doch nicht verstehen, wenn es zuerst und zuletzt das Leben Gottes ist",
fragt sich Rahner selbst.73 Die „Wesensselbsttranszendenz"
der Materie zum Geist begründet Rahner aus „der Verlegenheit", dem logischen Grundsatz von zureichenden Grund
Rechnung tragen zu müssen, mit dem Hinweis auf den „allmächtigen Gott, der als Moment an der Wirkkraft des Endlichen zur inneren Konstitution der endlichen Ursache als solcher gehört".74 Hengstenberg kommentiert: „Rahners maßlose Überschätzung des Werdens"75, das er zum „Grundaxiom der Theologie"76 erklärt, verleitet ihn zum „Konflikt
mit der Schöpfungslehre:
1) Die Schöpfungstätigkeit Gottes besteht nicht darin, dass
ein Vorgegebenes durch Werden in einen neuen Zustand
gebracht wird, denn das brächte Gott ja in Abhängigkeit von
Etwas, das er zu seinem Schaffen nötig gehabt hätte, die creatio ex nihilo wäre aufgehoben".77
F. Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. V, S. 205.
F. Rahner, Grundkurs, S. 136.
F. Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. IV S. 148.
71 F. Rahner, Grundkurs, S. 127.
72 Ebd. S. 126-128.
73 F. Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. I, S. 212.
74 Vgl. P. Overhage/F. Rahner, das Problem der Hominisation, QD 12/13, Freiburg 1961, S. 69.
H. E. Hengstenberg, Evolutionismus u. Schöpfungslehre. In: Communio
Mai 1988, S. 245-247.
76 F. Rahner, Schriften zur Theologie, S. 191.
77 H. E. Hengstenberg, Evolutionismus und Schöpfungslehre. In: Communio
Mai 1988, S. 245.
- 224 -
2) Die Evolutionstheorie kann Rahner auch dadurch nicht
mit dem christlichen Schöpfungsglauben versöhnen, dass er
Christus selber - ähnlich wie Th. de Chardin - zur „prospektiven Entelechie"78 des Weltprozesses erklärt. Schöpfung
lässt sich nicht als „Teilmoment", „als erste Phase" neben der
Inkarnation des Logos, als „zweite Phase" „der Weltwerdung
Gottes" 79 ableiten. Damit wird die Schöpfung, wie bei Hegel
an die Stelle des Innertrinitarischen Du Gottes tretend, „der
ursprünglichste Akt" der Selbstentäußerung und Selbstäußerung Gottes in das Andere von sich hinein".80 Die erlösende
Inkarnation des ewigen Logos wird als „notwendiger Anfang
der Vergöttlichung der Welt im Ganzen"m aufgehoben. Im
Gang Gottes durch die Welt, wie Hegel lehrt, kehrt also auch
für Rahner Gott, in Christus die Schöpfung als Weise seiner
Selbstentäußerung bzw. seiner eigenen Personalisierung mit
sich endgültig vereinend, zu sich selbst zurück!
3) Schöpfung und Erlösung werden bei Rahner zu ableitbaren Momenten der Selbstartikulation bzw. der „Selbstproduktion des Absoluten, als Weg durch sich selbst für sich zu
werden".82 „Luthers deus semper actuosus reicht bis in
Hegels Logik hinein".83 Die praedicatio identica der „ranzigen" Metaphysik soll nach Luther durch die „novitas des
Christentums" in eine "Logik des Werdens" übertragen werden. Der Gott, der sich als Schöpfer des Guten und Bösen
(„Ego sum, qui creo bonum et malum"84) selbst widerspricht
(Deus sibi contradicit") kann nur durch den Prozess der
Selbstentgegensetzung (als Schöpfung) seine Identität mit
sich selbst herstellen. Das erlösende Eintreten Gottes für uns
bis zur Aufopferung am Kreuze wird als Gottes „Werden zu
sich" pervertiert. An die Stelle der entäußernden Liebe tritt
die Selbsterlösungs- oder Selbstbefriedigungsdialektik der
Sünde. Hengstenberg hat recht, wenn er feststellt: Ein persönlich unabhängiger Gott und ein werdender Gott lassen sich
nicht vereinen.86 Ein Gott, „der am anderen seiner selbst
wird",87 an der Andersheit der Schöpfung, ein Gott für den
der Mensch, als „Höchstfall der Mensch Jesus", aus dieser
ursprünglichsten Selbstaussage Gottes resultiert, hat alle personale Eigenständigkeit zugunsten eines „Gesamtsubjektes",
in das alles Geschaffene aufgehoben wird, aufgegeben." Die
Selbsterniedrigung des Höchsten am Kreuze wird durch die
Evolutionstheorie als Konsequenz der dialektischen Philosophie bzw. Theologie in das Gegenteil pervertiert: An die
Stelle der Erlösung vom Tode tritt der Tod als erlösendes
Geschehen, als selektives Prinzip der Höherentwicklung. Für
Rahner bedeutet Erlösung nicht Überwindung dieser Welt als
der Herrschaft der Sünde sondern im Gegenteil; Rahner
macht Gott zum Angeld für die Entwicklungsgeschichte dieser Welt - und nennt die Inkarnation durch die Immaculata
„siegreiche Einstiftung in diese Welt". Die persönliche Einigung von Gott und Mensch durch die Einigung der göttlichen
und menschlichen Natur in der Person Christi, das wahre Ziel
der Erlösung, wird pervertierend aufgehoben in den irreversiblen Prozess der Evolution.
F. Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. I. S. 188.
Ebd. Bd. V. S. 205.
80 Ebd. S. 205.
81 Ebd. S. 187.
82 Hegel. Philosophie der Regligion. Hrsg. Lasson. Bd. XII, S. 32.
83 vgl. U. Asendorf. Luther u. Hegel, Wiesbaden 1982, S. 412.
84 Luther, W. A. 40, 11. S.417.
85 Ebd. 43, S. 202.
86
vgl. H. E. Hengstenberg, Mensch und Materie, Stuttgart 1965, S. 188.
87 vgl. F. Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. V, S. 205.
H. U. v. Balthasar. Das Ganze im Fragment, Einsiedeln 1963, S. 202.
78
79
- 225 -
Nicht nur der dreifaltige Gott wird in Entwicklungsphasen des Kosmos aufgehoben, auch der Mensch wird zum
„Teilmoment der Natur"" degradiert. Als „Produkt der
Natur"9° besitzt er nicht eine selbstbewusste Geist-Seele,
unmittelbar von Gott geschaffen, wie selbst der Nobelpreisträger für Hirnphysiologie Sir J. Eccles angesichts der unvergleichbaren Einzigartigkeit der individuellen Geistigkeit des
Menschen beweist:
„Da materialistische Erklärungen unsere erfahrene Einzigartigkeit nicht begründen können, sind wir gezwungen, die
Einzigartigkeit der Psyche oder Seele einer übernatürlichen
geistigen Schöpfung zuzuschreiben. Um die Erklärung in
theologischen Begriffen zu geben: Jede Seele ist eine göttliche Schöpfung, die dem wachsenden Fötus ... „zugeteilt"
wurde. Es ist die Gewissheit über den inneren Kern der einzigartigen Individualität, welche die „göttliche Schöpfung"
notwendig macht. Wir geben damit zu bedenken, dass keine
Erklärung haltbar ist; weder die genetische Einzigartigkeit
mit ihrer abstrusen Lotterie, noch die durch die Umgebung
bedingten Differenzierungen, die die Einzigartigkeit eines
Menschen nicht bestimmen, sondern nur modifizieren".91
Dagegen beschreibt Rahner als konsequenter Evolutionist
die menschliche Geist-Seele als die „Selbstfindung des Kosmos",92 bzw. der „Natur"93 oder der „Materie".94 Die Unsterblichkeit der Seele darf nach Rahner entsprechend nicht als
„Entweichen einer kosmosfremden Geist-Seele aus ... der
Welt"95 missverstanden werden. Da die menschliche Geistperson für Rahner „der konzentrierte, ja einmalige Selbstbesitz des Kosmos"96 sein soll - und sie nicht klassisch-metaphysisch-theologisch - einen einzigartigen Gedanken Gottes
darstellt, den der Vater denkt, sofern er sich selber dem Sohn
und dem Heiligen Geist schenkend mitteilt, kann die Seele
nicht zu ihrem transzendenten Schöpfer-Gott, dessen unverlierbares Abbild sie ist, zurückkehren. Entsprechend kann die
Seele im Tode den Kosmos nicht verlassen. Der Kosmos als
Weltwerdung Gottes ist ihr Wesen - eingestiftet in den „kosmischen Leib Christi" „erreicht die Seele" als Teilhabe am
evolutiven kosmischen Geschehen „Gott in sich selbst".97
„Im Tode gerät die menschliche Seele gerade in eine größere
Nähe und innerliche Bezogenheit zu jenem schwer fasslichen, aber doch sehr realen Grund der Einheit der Welt".98
Auch der menschliche Leib erweist sich nicht, wie Rahner
sagt, als eine Stufe der „Selbstfindung der Materie".99 Die
„Ontogenese" der menschlichen Entwicklung entspricht
nicht der „Phylogenese",m° wie Rahner sich auf Haeckel
berufend, meint. „Die Unhaltbarkeit dieser Hypothese ist
längst Allgemeingut der Biologen", kommentiert Prof. Fr.
Büchner Karl Rahner.1°1 „Das Werden des Neuen hebt" nicht
„das Frühere als Vorstufe bewahrend, in sich auf".1°2 Nicht
Ebd. S. 195.
Ebd. S. 196.
91 Sir J. Eccles, D. N. Robinson. Das Wunder des Menschseins. Gehirn und
Geist. München-Zürich 1984, S. 71.
92 F. Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. V. S. 198.
93 Ebd. S. 196.
94 Ebd. S. 186.
95 Ebd. S. 198.
96 Ebd. S. 199.
97 Ebd. S. 220.
98 F. Rahner, Theologisches Lexikon für die Praxis, Freiburg 1969, S. 922.
99 Siehe Fußnote 92, S. 186.
100 Vgl. P. Overhage, F. Rahner. Das Problem der Hominisation, QD 12/13,
Freiburg 1961.
1°1 Fr. Büchner, Dir. des pathologischen Instituts der Uni. Freiburg im Rheinischen Merkur Nr.7 v. 17.2. 1973.
102
Vgl. F. Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. V, S. 193.
89
9°
- 226 -
durch Negation der Negation werden Teile zu einem höheren
Ganzem synthetisiert — wie z. B. der auf Hegel basierende
Darwinismus durch „Subspezies Spezies" zu entwickeln vorgibt.
Der menschliche Leib stellt kein Teilstück der Entwicklungsgeschichte der Natur dar — wie unter anderem der Anatom E. Blechschmidt durch Widerlegung des biogenetischen
Grundgesetzes Haeckels beweißt. Blechschmidt hat durch
seine „Göttinger Dokumentation" empirisch nachprüfbar
gezeigt, dass die menschlichen Organe an gar keiner Stelle,
sich als Glieder phylogenetischer Reihen erweisen. Der
Mensch besaß erwiesenermaßen nie Kiemen oder Flossen! Er
ist von Anfang an Mensch und zwar dieser.1°3
Die Form des menschlichen Leibes wird nicht durch die
Aufhebung des Vorausgegangenen durch Mutation und
Selektion gebildet, auch nicht durch bloße Verlängerung der
DNS-Kette von Leben überhaupt, wie die Neodarwinisten
J. Monod und M. Eigen zu beweisen suchen. Das hat B. Vollmen auf der Ebene der Polymerchemie überzeugend widerlegt. Die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung eines vermehrungsfähigen DNS-Protein-Systems durch Zufall gibt
Vollmert mit 1:10 hoch 1300 an. Die Anzahl aller Atome des
gesamten Weltalls wird auf 10 hoch 80 geschätzt, d. h. es
müssten also Milliarden von Welten in unserer Größenordnung geben, damit auch nur einmal ein codegerechter Zweierkomplex aus DNS und Enzym entstünde.m4 Diese von Vollmert seit Jahren publizierten Berechnungen wurden bislang
nicht falsifiziert. Das „Gestaltungsprinzip der Organismen"
ist, wie Blechschmidt zeigt, ein „geistiges" und deshalb „aus
der Materie nicht ableitbar". Gott selbst spricht nicht nur die
menschliche Geist-Seele aus. Vielmehr bestätigt die
modernste Naturwissenschaft Thomas von Aquin: „Der Leib
des ersten Menschen konnte nur unmittelbar von Gott selbst
gebildet werden".I°5 Nach K. Rahner soll der Mensch als
„Teil" der Entwicklungsgeschichte Natur, durch „natürliche
Evolution" in den kosmischen Leib Christi eingestiftet werden". Nicht verlassen sollen wir die Welt, die sich von Gott
durch die Erbschuld und persönliche Schuld getrennt hat,
sondern durch das „Sakrament der Natur" soll die „Selbsttranszendenz in Gott hinein"1°6 vollzogen werden. „Die transzendentale Zukunft des Menschen" —,‚sein Erreichen Gottes
in sich selbst"r der evolutionäre „Übergang zu Gott" darf
nicht „weltjenseitig" vorgestellt werden — „Gott ist nur da, wo
wir sind und alleine dort zu finden"108 — sondern als Eintauchen in den „sehr realen Grund der Einheit der Welt".1°9
Entsprechend wird von Rahner unsere Glückseligkeit nicht
als Anschauung Gottes gedacht. Die visto beatifica wird vertauscht mit einem „allkosmischen Weltbezug der Seele".11°
Wen die Erde sterbend, wie Th. de Chardin meint, in ihre
„Riesenarme schließt, der erwacht" nicht „im Schoße Gottes"
sondern unterliegt den Gesetzen der Entropie. Tod schlägt
nicht, wie Rahner sagt, dialektisch in Auferstehung um.
Hegels Anspruch, im Namen des Heils dieser Welt, Christi
Vgl. E. Blechschmidt, Wie beginnt das menschliche Leben, vom Ei zum
Embryo. Stein am Rhein 1989.
104 Vgl. B. Vollmert. Das Makromolekül DNS. Entstehung u. Entwicklung des
Lebens: Fügung oder Zufall? Pfinztal 1978.
105 Thomas v. Aquin. S. Th. Deutsch-lateinische Ausgabe München 1941,
Bd. VII. Q.91, 2.
1°6 E Rahner, Schriften zur Theologie. Bd. V. S. 206.
107 Ebd. S. 220.
108 F. Rahner, Grundkurs des Glaubens, Freiburg 1991, S. 223.
1°9 Hrsg. F. Rahner, Theol. Lexikon für die Praxis. Freiburg 1969, Bd. IV,
S. 922.
110 Ebd. S. 922.
gnadenhafte Versöhnung als natürliches Ereignis synthetisierender Evolution auszugeben, misslingt gründlich! „Der
Übergang zu Gott" ist nicht das Produkt der Entwicklungsgesetze. Die Materie des Kosmos ist nicht das Subjekt der Evolution, selbst dann nicht wenn Christus keimhaft schon
immer in ihr gegenwärtig sein soll. Die scheinbar naturwissenschaftlich geprüfte Evolutionstheorie erweist sich immer
mehr als jener „Ungedanke", der die Perversion der Inkarnation des Logos auf den Begriff zu bringen sucht. Nietzsche
hat recht: „Ohne Hegel, der im kühnen Durchgriff durch alle
logischen Gewohnheiten die Arten auseinander entwickelt,
kein Darwin".111 Nicht Geistwerdung der Materie, Höherentwicklung ist das Thema der Weltgeschichte, im Gegenteil:
Allein durch die Inkarnation des Logos wird die Welt von der
Gewalttätigkeit des Todes — Evolution ist auch immer Revolution, muss auch Rahner zugeben112 — befreit. Materie,
unverletzt durch die pervertierende Sünde ist entäußernde
Mitteilungsform des personal über sich verfügenden Geistes,
und nicht umgekehrt: Entwicklungsprinzip des Geistes. Die
Ewigkeit vollzieht sich nicht als Geist werdende Materie mit
dem Menschen als „Vermittler". Der einzige Mittler ist Jesus
Christus, die zweite Person des dreifaltigen Geist-Gottes, der
Fleisch angenommen hat aus Maria der Jungfrau, um uns
einen Auferstehungsleib, befreit von der Begierlichkeit der
Sünde, durch die Wiedergeburt aus seiner Seitenwunde zu
schenken. „Evolution ist die ungünstigste Kategorie, um
irgend etwas am Christlichen zu erklären".113
4. Die unio hypostatica — die Geschichte der gegenseitigen
Selbstrealisation von Gott und Mensch
Wer ist Christus für Karl Rahner? Die zweite Person Gottes,
die die menschliche Natur unvermischt und ungetrennt mit
sich personal vereinigt, gibt es für Rahner nicht. Die göttlichen und menschlichen Personen sind nur Momente im Prozess der Weltwerdung Gottes. Wenn die „Weltgeschichte" auf
diese Weise „zur Geschichte Gottes selbst wird"114 muss man
mit Rahner „die Idee einer möglichen Inkarnation von dem
formalen Schema einer Weltentwicklung her entwerfee.m
Aus Rahners „christologisch, evolutiver Weltkonzeption"6
soll sich sogar „die Idee der christlichen Erlösung von selbst
ergeben"117, nämlich „als notwendige Vollendungsphase" der
Entäußerungsgeschichte Gottes. „In diesem Jesus von Nazareth", meint Rahner, erfährt die Weltgeschichte zwar noch
nicht „ihre volle und absolute Vollendung, aber gelangt doch
in ihre unüberbietbare Vollendungsphase".118 Die erlösende
Inkarnation des ewigen Logos wird als „notwendiger Anfang
der Vergöttlichung der Welt im ganzen"9 aufgehoben. „Der
Mensch Jesus" leitet als „Höchstfall" die Vollendungsphase
ein. Die mit Jesus von Nazareth beginnende Bewegung „der
Selbsttranszendenz der Welt in Gott hinein" nennt Rahner die
hypostatische Union, die nicht als etwas uns von Jesus Unterscheidendes gesehen werden soll — sondern „nur einmal
geschehen muss, wenn die Welt beginnt, in ihre letzte Phase
103
— 227 —
111 Fr.
112
Nietzsche. Fröhliche Wissenschaft, Nr.357.
Vgl. Rahner im Gespräch, Bd. I. S. 135.
113 H. U. v. Balthasar. Die Spiritualität Th. d. Chardins in Wort u. Wahrheit. Mai
1963. S. 347.
114 F. Rahner Schriften zur Theologie, Bd. V, S. 215.
115 Ebd. S. 216.
116 Ebd. 5.216.
117 Ebd. S. 216.
118 Ebd. S.217.
119 Ebd. S. 187.
— 228 —
einzutreten".120 „Die letzte und höchste Phase der Selbsttranszendenz der Welt in Gott hinein" identifiziert Rahner mit
einer absoluten Selbstmitteilung Gottes, „die denselben Vorgang von Gott her gesehen sagt".121 Nur in einem dialektisch
verstandenen Geschichtsprozess kann die Selbstbewegung
der Schöpfung in Gott hinein auch zugleich als Selbstmitteilung Gottes ausgegeben werden. Für Rahner, Hegel und
Luther gibt es nur das eine übergreifende Gesamtsubjekt, das
sich selbst als Weltprozess entgegensetzt, um sich bewusst
mit sich selbst zu vereinigen. Christus ist der Mensch, durch
den Gott sich aussprechend, selbstbewusst mit sich identifiziert. Die Menschheit Christi, geboren aus der Jungfrau
Maria, wird in der hypostatischen Union nicht mit dem göttlichen Logos verbunden — die menschliche Natur ist, wie Kardinal Siri scharfsinnig betont, für Rahner „die Realität des
Logos selbst,122 Gott als ausgesprochener „Nicht Gott entäußert sich in der Annahme der menschlichen Natur", kritisiert
Siri zu Recht Karl Rahner, „sondern der Mensch" als erster
transzendiert Jesus als Vorbild für alle anderen Menschen in
Gott hinein, welcher Vorgang von Gott her gesehen, Selbstmitteilung Gottes grundsätzlich an alle Menschen bedeuten
soll. Da für Rahner sich in Christus nicht die einmalige Inkarnation des ewigen Logos im Jahre 0 ereignet — sondern der
Prozess der prinzipiellen Selbstrealisation Gottes im Gang
durch die Welt — kann sich die Geschichte „der Zusage und
Annahme der Selbstmitteilung Gottes"123 „auch in der
Geschichte anderer Völker ereignen und hat sich auch ereignet".124
Unio hypostatica stellt für Rahner nicht die einmalige, einzigartige, unwiderrufliche Vereinigung Gottes mit den Menschen in Christus dar, sondern benennt nur den Angelpunkt
bzw. Wendepunkt der dialektischen Bewegung im Ziele
selbst: Der Setzung von Teilen = Schöpfung und Aufhebung
bzw. Rückkehr der Teile in das vorausgesetzte Ganze = Erlösung. Unio hypostatica artikuliert für Rahner — in genauer
Pervertierung zu Chalcedon — nur den Schnittpunkt von Tod
und Auferstehung im Prozess der Weltwerdung Gottes. Die
wesenhafte Selbsttranszendenz der Welt in Gott hinein
geschieht für die ganze Schöpfung im Tode. Der Tod ist nicht
Folge der Sünde für Rahner, sondern gehört als erlösendes
bzw. weiterentwickelndes Prinzip zum Wesen Gottes. In
Christus soll beispielhaft anschaulich werden, dass Tod Auferstehung, „evolutionärer Übergang zu Gott", Einigung mit
ihm als dem Ganzen der Teile bedeutet. „Der Tod Jesu ist ein
solcher, der von seinem eigensten Wesen aus in die Auferstehung sich aufhebt, in diese hinein stirbt".125 Tod ist also in
Rahners Kurzfassung Auferstehung, Rückkehr aus der
äußersten Entfremdung der vereinzelten Teile oder Teilmomente in das übergreifende Ganze der Teile!
5. Die Kirche — das greifbare Selbstbewusstsein der Welt
Als Kirche kommt die Welt nach Rahner greifbar zu sich
selbst. Nicht umgekehrt, nicht das In-der-Weltsein des Menschen wird geheiligt.
„Das Christentum als Heilsgeschehen und als Tat Gottes
an uns und als Antwort des Menschen auf diese letzte Selbstmitteilung Gottes ist kirchlich",126 stellt Rahner fest. „Dort
Ebd. S. 183.
Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. V, S. 207.
122 Kardinal Siri, Gethsemani, Aschaffenburg 1982, S. 85.
123 F. Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. V, S. 211.
124 K, Rahner, Grundkurs, S. 171.
125 F. Rahner, Grundkurs, S. 262.
126 F. Rahner, Grundkurs, S. 336.
120
121 F.
— 229 —
nämlich, wo ein Mensch in einer letzten Bedingungslosigkeit
sein Dasein annimmt, in einem letzten Vertrauen, dass dieses
annehmbar ist, wo so ein Mensch in einer letzten Gelassenheit, in einem letzten Vertrauen sich in den Abgrund des
Geheimnisses seines Daseins fallen lässt, da nimmt er eben
Gott an, nicht einen Gott bloßer Natur, auch nicht einer bloßen Natur des Geistes, sondern er nimmt den Gott an, der
sich in der Mitte und Tiefe dieses Daseins selber in seiner
ganzen Unendlichkeit gibt".127
Wie kann ich durch die Annahme meines Daseins Gott
begegnen? Diese erschreckende Konsequenz muss Rahner
tatsächlich ziehen, weil nach ihm Gott nicht die transzendente Ursache meines Seins ist, zu der ich in Bejahung oder
Verneinung frei Stellung nehmen kann — sondern „selbst
inneres konstitutives Prinzip des Verursachten ist".122 Wenn
Gott selber „im Unterschied zu einer nach außen gehenden
Wirkursächlichkeit"129 inneres Formprinzip des Menschen als
„ursprünglichste Selbstaussprache Gottes" ist, dann sagt Rahner zu Recht, dass der Mensch nur sich selbst erfassen muss,
um bei Gott zu sein! Die Anbetung Gottes wird vertauscht
mit der Selbstbejahung! „Wer darum — auch noch fern von
jeder Offenbarung expliziter Wortformulierung — sein
Dasein, sein Menschsein annimmt ... der sagt, auch wenn er
es nicht weiß, zu Christus Ja".13° Mit der Selbstbejahung fällt
für Rahner auch die Zustimmung zu Christus zusammen, da
der Mensch als ursprünglichste Selbstaussage Gottes prinzipiell an die Stelle des ewigen Logos getreten ist! Wie soll die
Kirche als Weg zu Christus, als sakramentale Vereinigung
mit ihm noch verstanden werden, wenn ich selber schon
Christus bin? „Gnade ist ein unentrinnbares Existential des
ganzen Wesens des Menschen, auch dann noch, wenn er sich
dieser verschließt".'31
Da nach Rahner die Menschheit wesenhaft zu Gott gehört,
lässt sich von Sünde nur als dem „Geheimnis der sowohl
anwesenden wie sich entziehenden Gnade"132 sprechen. Die
Freiheit, die neben der Erkenntnisfähigkeit die zweite notwendige Voraussetzung für die Sünde darstellt, wird von
Rahner dialektisch widersprüchlich so gedeutet, dass er die
„göttliche Selbstmitteilung, Rechtfertigungsgnade genannt,
der Freiheit als Bedingung ihrer konkreten Handlungsmöglichkeit vorausgehen lässt".'33 Wenn Gnade ein „unentrinnbares Existential des ganzen Wesens des Menschen ist"'34, kann
Sünde in einer Welt, die die Entwicklungsgeschichte Gottes
selbst sein soll, nur als das „Noch-nicht des endgültig sich
durchsetzenden Heilswillen Gottes" verstanden werden — als
„Müll der Weltgeschichte".135 Selbst das absolute Nein des
Teufels wird als Widerspruch des Geschöpfes, das wesenhaft
zur Andersheit Gottes gehört, überholt durch die „allein
rechtfertigende Gnade".136 Auch bei Hegel gehört der Teufel
zu der zur Quaternität erweiterten Trinität!
Entsprechend kann auch die Tat Adams uns nicht „mythologisch" angerechnet werden, so dass sie gleichsam „biologisch auf uns übergegangen sei".137 Konsequentermaßen kann
F. Rahner, Grundkurs, S. 387.
Ebd. S. 127.
129 Ebd. S. 127.
130 F. Rahner, Zur Theologie der Menschwerdung, S. 154.
131 F. Rahner, Grundkurs, S. 66.
132 F. Rahner, Grundkurs, S. 63.
133 Ebd. S. 119.
134 Ebd. S. 66.
135 F. Rahner, Erfahrung eines kath. Theologen. In: Vor dem Geheimnis Gottes
den Menschen verstehen, hrsg. von Karl Lehmann 1984, S. 119.
136 Sacramentum Mundi, Bd. IV, S. 431, F. Rahner, Rechtfertigung.
137 F. Rahner, Grundkurs, S. 116/117.
127
128
— 230 —
nach Rahner auch der Tod nicht mehr als Folge der Erbschuld
verstanden werden. Er soll vielmehr zur Selbstaussage Gottes
gehören138 wie bei Hegel, weil Gott erst durch diese letzte
Entfremdung im Gang durch die Welt sich als Geist erheben
können soll. Der Tod Jesu darf also nach Rahner nicht als
Sühnetod für unsere Schuld, die es an und für sich nicht gibt,
verstanden werden. Christi Tod und unser Tod ist „der gleiche"139, nur mit dem Unterschied, dass Christi Tod als Vorbild anzusehen ist! Nicht zur Vergebung unserer Sünden wird
das Blut Christi vergossen — sondern als Teilhabe an der
durch den Tod sich realisierenden Entwicklungsgeschichte
dieser Welt als Weltwerdung Gottes. Die Schöpfung ist also
für Rahner nicht Ausdruck der Entäußerung der Vollkommenheit Gottes — sondern Geschichte der Bewusstwerdung
Gottes am Anderen seiner selbst. Aus Kenosis ist bei Luther,
Hegel und Rahner Genesis geworden.
„Die Selbsttranszendenz der Welt in Gott hinein"140 darf
nach Rahner nicht „weltjenseitig" vorgestellt werden. Nicht
verlassen sollen wir die Welt, die sich von Gott durch Erbschuld und persönliche Schuld von Gott getrennt hat, sondern
durch das „Sakrament der Natur" eintauchen in „den sehr
realen Grund der Einheit der Welt"141 „Gott ist nur da, wo wir
sind und alleine dort zu finden".142 „Die transzendentale
Zukunft des Menschen" ist nicht als Anschauung Gottes vorzustellen — sondern „als allkosmischer Weltbezug der
Seele".143 Die unsterbliche Geistseele wird von Rahner als
„der konzentrierteste je einmalige Selbstbesitz des Kosmos"
verstanden.'" Entsprechend kann145 die Seele im Tode den
Kosmos nicht verlassen. Der Kosmos als Weltwerdung Gottes ist ihr Wesen — eingestiftet in den „kosmischen Leib
Christi" „erreicht die Seele" als Teilhabe am evolutiven kosmischen Geschehen „Gott in sich selbst". „Im Tode gerät die
Rahner/Thüsing, Christologie-systematisch und exegetisch, Freiburg 1972,
S. 69.
139 F. Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. XIII, S. 199.
140 F. Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. V, S. 206
141 F. Rahner, Theologisches Lexikon für die Praxis, Bd. IV, Freiburg 1969,
S. 922.
142 F. Rahner, Grundkurs S. 223.
143 F. Rahner, Theologisches Lexikon für die Praxis Bd. IV, Freiburg 1969,
S.922.
144 F. Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. V, S. 198/199.
145 Ebd. S. 220.
138
Herausgeber:
Dr. David Berger, Hochstadenstraße 28, D-50674 Köln
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ISSN 1612-6165
— 231 —
menschliche Seele gerade in eine größere Nähe und innerliche Bezogenheit zu jenem schwer fasslichen, aber doch sehr
realen Grund der Einheit der Welt".'" Verwesung meines
Leibes bedeutet Eintauchen in die kosmischen Elemente,
durch die der von unten kommende, keimhaft aus der dunklen
Materie aufsteigende Gott lebt! „In dieser biologischen Strömung atme ich Gott", wie Teilhard de Chardin sich ausdrückt. Der Mythos kann es nicht besser sagen. Wenn mein
Wesen Gott sein soll, dann gehört die Gnade tatsächlich
wesenhaft unverlierbar zu mir. Eine Begnadigung durch die
Sakramente erübrigt sich damit! Kardinal Siri bemerkt dazu:
„Der Akt des Glaubens wird nutzlos, weil in meinem Wesen
Gott da ist, weil es ja Gott ist, der alle Handlungen vollführt
... Wenn für mich, mein Wesen anzunehmen, schon allein
gleichbedeutend ist mit der Annahme Christi, dann hat der
Akt des Glaubens keinen Sinn mehr".'47 Mit der Aufhebung
des Glaubensaktes in ein rein natürliches Selbstverständnis
verlieren auch die Sakramente ihren übernatürlichen Heilscharakter. Sie sind nur noch handgreifliche Zeichen zur Verstärkung des Selbstbewusstseins bzw. Funktionen der Kommunikation. Entsprechend erklärt Rahner: „Die nicht mehr
überbietbare Greifbarkeit"'" unseres Lebens stellt die Heilige Kommunion dar: „Die Eucharistie ist zuvor die heilige
Tat Gottes an uns, die, weil sie das Gesetz des Herrn in unser
Leben einfügt, den Alltag selber uns zuschickt ... da wir,
wenn wir Jesus empfangen, sein Leben als das innerliche
Gesetz unseres eigenen Lebens empfangen ... das aber heißt
mit einem profanen Wort: Unseren Alltag empfangen".'"
„Wenn der Alltag im Empfangen der Heiligen Kommunion
selber empfangen wird, wenn wir beim Empfang der Heiligen Kommunion die Annahme des Alltags einüben, dann
wird der Alltag die Fortsetzung der Kommunion in der Realität des Lebens".15° „Er — der Alltag — ist selber Kommunion,
... wenn wir weiter machen, wo wir enttäuscht worden sind,
wenn wir aufstehen, wo wir gefallen sind, ... weil also haargenau das geschieht, was in der Heiligen Kommunion auch
geschieht".151 „Sein ewiges Leben (des Christen) wird entwickelt durch solches Tun des Alltags".152 Die Heilige Kommunion ist für Rahner also nichts anders als die Repräsentation
des Alltags. Wir vergegenwärtigen uns den Alltag. Die Heilige Kommunion aber empfangen wir symbolisch, damit wir
den Alltag bestehen. Wie kommt Rahner dazu, den Empfang
der Heiligen Kommunion mit dem Empfang des Alltags
gleichzusetzen — mit der Konsequenz, dass das „ewige Leben
durch das Tun des Alltags entwickelt" werden müsse. Als
„ursprünglichste Selbstaussprache Gottes" realisieren Gott
und Mensch sich wechselseitig: Gott verwirklicht sich durch
sein Tun an uns, wie — umgekehrt — das menschliche Tun
Gottes in der Welt realisiert. Die von Rahner konzipierte
„Christologie von unten" kann die Auferstehung zu Gott nur
als Rückkehr in den evolutiven Weltgrund denken. Entsprechend hofft Rahner für die Zukunft „auf eine praktisch ekklesiologische Kosmologie".153 Die ekklesiologische Kosmologie soll ansichtig machen, dass „die Welt corpus christianum
ist und sonst eigentlich nichts".154
F. Rahner, Theologisches Lexikon für die Praxis, Freiburg, 1969, S. 922.
Siri Ebd. S. 89.
148 F. Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. VII. S. 204.
149 Ebd. S. 213.
15° Ebd. S. 217.
151 Ebd. S. 218/219.
152 Ebd. S. 218.
153 E Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. VIII, S. 655.
154 F. Rahner, Theologisches Lexikon für die Praxis, S. 13.
146
147
— 232 —
Die Welt — Leib Christi? Genau das meint auch Teilhard de
Chardin. Sie muss nur „diaphan" werden, „um objektiv in der
Tiefe allen Tuns und jeden Elements die leuchtende Wärme
ein und desselben Lebens durchscheinen zu lassen".155 „Ich
berühre ihn — diesen Gott — durch die ganze Oberfläche und
die ganze Tiefe der Welt der Materie, deren physisches Zentrum Gott selbst als Sakrament der Welt ist".156 Das Universum nennt Teilhard ähnlich wie Rahner, „die unermessliche
Hostie, Gottes Fleisch gewordene Welt".152 Die Aufhebung
der sakramentalen Kirche in den evolutiven Weltprozess kann
nicht konsequenter geschehen! Die Welt und ihr Entwicklungsprozess ist an die Stelle der Geschichte der dreipersonalen Entäußerung Gottes getreten! Nicht personale Einigung
der göttlichen Personen im göttlichen Wesen — oder abbildlich dazu — die Einigung der göttlichen und menschlichen
Person im Leibe Christi, im corpus Christi mysticum, nicht
Wiedergeburt des Menschen aus der Seitenwunde Christi zu
einem ewigen Leben mit Gott — sondern Selbstvermittlung
des göttlichen Geistes im Gang durch die materielle Welt.
Die Vertauschung des göttlichen Wesens, bzw. des corpus
Christi mysticum mit der Welt, stellt einerseits die dialekti
sche Aufhebung Gottes in den apersonalen Naturprozess —
wie anderseits die Vergöttlichung der triebgesteuerten Natur
dar. Diese pantheistische Absolutsetzung der Weltgeschichte
führt zum erklärten Rückfall in den durch Metaphysik und
christliche Offenbarung überwundenen Naturmythos der
Evolutionstheologie. Rahner bleibt Hegel treu: „Gott kann
um Gott zu sein des Endlichen nicht entbehren158 — ohne Welt
ist Gott nicht Gott". Entsprechend lässt Hegel Christus
sagenm: „Verlange ich denn Anbetung für meine Person?
Oder Glauben an mich? — Nein. Achtung für euch selbst —
Glaube an die heiligen Gesetze eurer Vernunft!" In einem
Brief an Schelling16° stellt Hegel befriedigt fest: Es blieb
unseren Tagen vorzüglich aufbehalten, die Schätze die an den
Himmel verschleudert waren, sind als Eigentum des Menschen zu vindizieren.
Nach Auschwitz und Archipel Gulag will wohl niemand
mehr Luthers, Hegels oder Rahners Thesen wiederholen.
Anschrift des Autors: Prof Dr. Alma von Stockhausen
Gustav Siewerth Akademie
79809 Weilheim-Bierbronnen
A. v. Stockhausen, Der Geist im Widerspruch, Von Luther zu Hegel, Schriftreihe der GSA, Weilheim-Bierbronnen, 3. Aufl. 2003, S. 93.
159 Ebd. S. 9.
16° Ebd. S. 97.
158
Th. de Chardin, Lobgesang des Alls. Die Messe über die Welt. S. 27.
156 Ebd. S. 23.
157 Ebd. S. 24.
155
WOLFGANG B. LINDEMANN
Karl Rahner und die Evolutionstheorie
Wenn in dieser Ausgabe von „Theologisches" zu Karl Rahner
auch seine Stellung zur Evolutionstheorie untersucht werden
soll, mag dies nur den zu überraschen, der nicht um den
extremen Einfluss dieser zunächst naturwissenschaftlich
scheinenden Theorie auf alle Bereiche unseres Geisteslebens
weiß.
Kürzlich erschien in Theologisches eine Artikelserie' über
Willigis Jäger, den die Glaubenskongregation disziplinieren
musste. Einer der „Eckpfeiler" der häretischen Ideen dieses
Zen-Meisters und exklaustrierten Benediktiners — und vielleicht Ursache, die ihn den Glauben verlieren ließ — ist die
Evolutionstheorie. An anderer Stelle2 wurde das Verhältnis
namhafter Naturwissenschaftler zu Religion und Naturwissenschaft referiert — der Einfluss der Evolutionstheorie ist
offenbar. Es ist nicht schwer, Äußerungen wie die folgende
aus einem Lehrbuch für Medizinstudenten zu finden: „Die
kontinuierliche Evolution der pflanzlichen und tierischen
Arten seit der Entstehung des Lebens ist heute wohlbewiesene Grundlage unseres Weltbildes"3. Sofern es ein einheitliches Weltbild in einer multikulturellen Gesellschaft gibt, ist
die Evolutionstheorie sicherlich dessen Grundlage — allerdings nicht die Grundlage des meinen als Schüler Christi und
zwar nicht nur, weil ich der Bibel höhere Autorität einräume
als säkularer Weisheit, mag sie auch noch so glänzend
erscheinen, sondern auch weil ich gerade als Naturwissenschaftler die Evolutionstheorie schlichtweg für falsch halte
Thomas Wittstadt, Diese kosmische Religion kennt keinen Erlöser, Theologisches, Jahrgang 33, Nr 8/9 p. 387-404, Nr. 10 p. 461-480, Nr.12 p. 601-614.
2 Elmar Anwander, Namhafte Naturwissenschaftler zum Verhältnis von Religion und Naturwissenschaft, Theologisches, Jahrgang 34, Nr. 1 p. 15-30.
3 Manfred Schweiger, Monika Hirsch-Kaufmann, Biologen für Mediziner,
Pharmazeuten und Chemiker, Stuttgart Thieme 1987, p. 224.
I
— 233 —
und ich denke, dass ihre weite Verbreitung gerade wegen
ihrer dem erbsündigen Menschen hochwillkommenen weltanschaulichen Konsequenzen geschieht4.
Vielerorts bezieht sich Rahner auf die Evolutionstheorie,
z. B.:
„Theologisches zum Monogenismus" Schriften zur Theologie I. Einsiedeln: Benzinger 1954
„Zur Theologie des Todes" Quaestiones disputatae, Freiburg: Herder 1958
„Theologische Anthropologie und moderne Entwicklungslehre" 1960
„Erbsünde und Evolution" Concilium 3 1967
„Die Christologie innerhalb einer evolutiven Weltanschauung"5 (abgekürzt „Christologie")
4
Ein mutatis mutandis analoger Fall, dass naturwissenschaftliche Kriterien aus
außernaturwissenschaftlichen Gründen nicht respektiert werden, ist die Arzneimittelsicherheit der „Pille": sie ist zwar nicht gerade giftig und Nebenwirkungen sind insgesamt selten, es sind aber so viele Fälle von Komplikationen
und selbst Todesfällen bekannt bei Fehlen eines medizinischen Nutzens, dass
jedes andere Medikament schon zehnmal vom Markt genommen wäre ... die
„Pille" aber nicht. Weil sie dem (erb-)sündigen Menschen hochwillkommen
ist, um zu betreiben, was Paulus rropveta Unzucht nennt. Ich kenne selber
einen Todesfall im Elsass eines gesunden jungen Mädchens unter hormoneller Kontrazeption (Lungenembolie nach unerkannter Beinvenenthrombose):
Praktizierend im modernen „katholischen" Milieu, hatte sie ihren Freund,
angehender Gendarm und Enkel meiner Nachbarin, auf „Tagen im Kloster"
kennengelernt, was sie indirekt zum Tode verurteilte, da es aufgrund der
Erwartungshaltung junger Männer — und deren theol. Tolerierung durch den
modernen rahnergeschulten Klerus — einem Mädchen nicht möglich ist,
intime Beziehungen zu verweigern, wenn sie ihren Freund behalten will. Da
man davon schwanger wird, besteht Notwendigkeit zur Verhütung, was am
einfachsten mit der „Pille" geht.
5 Karl Rahner, Die Christologie ..., in: Schriften zur Theologie Band V, 183 —
221.
— 234 —
„Das Problem der Hominisation"6 (abgekürzt „Hominisation”)
Karl Rahner stand der Evolutionstheorie positiv gegenüber. Hier soll untersucht werden, welche evolutionären
Ansichten sich bei Rahner finden und was dazu fachlich zu
sagen ist: was war zu seinen Lebzeiten schon bekannt, was
wissen wir heute. Dann werden die theologischen Folgerungen Rahners dargestellt und kommentiert.
Rahners evolutionäre Vorstellungen
Die Materie hat sich auf das Leben und den Menschen hin
entwickelt (Christologie 192), der Zufall ist für den Naturwissenschaftler kein sinnvolles Wort (Christologie 196) —
heute würde man dies wohl „gelenkten Zufall" nennen,
anscheinend kann Gott gar nicht anders, als durch von Ihm
aktiv gelenkte Evolution zu schaffen, denn „eine Wesensselbsttranzendenz aber ist ebensowenig wie die (einfache)
Selbsttranszedenz ein innerer Widerspruch, sobald man sie
geschehen lässt in der Dynamik der inneren und doch nicht
eigenwesentlichen Kraft des absoluten Seins, in dem, was
man theologisch Erhaltung und Mitwirkung Gottes mit dem
Geschöpf nennt, in der inneren und bleibenden Getragenheit
aller endlichen Wirklichkeit in Sein und Wirken, in Werdesein, in Selbstwerdesein, kurz in Selbsttranszendenz, die zum
Wesen alles endlich Seienden gehört" (Christologie 192).
Glücklicherweise, möchte man hinzufügen, hat die Evolution
nach Rahner notwendig „Einbahnigkeit und Gerichtetheit"
(Christologie 198) und der Mensch kann seine Evolution
heute sogar steuern (Christologie 196).
Es halten sich nach Rahner in der biologischen Evolution,
neben den neueren und höheren Formenlcreisen, auch die
Vertreter der niedrigeren, von denen die höheren Formenkreise sich herleiten (Christologie 207).
Er spricht von einer „Homogenität von Materie und Geist
die der Naturwissenschaftler erwarten würde", ist scheinbar
dagegen wegen der „Wesensverschiedenheit" beider (Christologie 186), stimmt dem aber dann doch zu, da im Menschen
die Grundtendenz der Selbstfindung der Materie im Geist
durch Selbsttranszendenz zu ihrem definitiven Durchbruch
käme (ibidem).
Ein wirkliches „Werden" sei kein „Anderswerden" sondern ein „Mehrwerden" im Sinne einer Selbsttranszendenz
und Selbstüberbietung (Christologie 191, vgl. 192)7: Die
Evolution ist ihm offenbar aus philosophischen Gründen
sogar eine Notwendigkeit.
Die Naturgeschichte kommt in der Geistesgeschichte des
Menschen zum Ziel (Christologie 192), der Mensch trägt
neben dem Geist noch die Naturgeschichte der lebendigen
Materie in sich (Christologie 195) — das entspricht etwa dem,
was man heute „Evolutionäre Psychologie" nennt: evolutionäre Welterklärungen beschränken sich nicht auf tierisches
oder pflanzliches Leben und den menschlichen Körper, sondern beziehen auch menschliches Verhalten, Fühlen und Denken mit ein. Dabei ist grundlegende Annahme, dass Gene für
ein Verhalten des Gesamtorganismus sorgen, das ihre eigene
Weitergabe optimiert: „Traurig, aber leider wahr: Evolutionspsychologisch gesehen ist die hohe Gewaltbereitschaft in
Banden keineswegs abnormal, wenn die Voraussetzungen
Armut, mangelnde Ausbildung und ein passender Anlass
zusammenkommen. (...) wenn jemand nichts hat, sind für
ihn die Aussichten, tot zu sein, ein Leben lang keine Frau,
beziehungsweise keinen sozialen Status zu besitzen, im
Grunde genommen völlig gleichwertig. Entwicklungsgeschichtlich muss jemand sein eigenes Leben als wertlos
betrachten, wenn er keine Aussicht auf Nachwuchs hat. Und
je weniger Chancen er in der Zukunft sieht, um so größere
Risiken nimmt er bereitwillig auf sich."8
Theologische Folgerungen Rahners
Dass der Mensch von der Erde stammt, ist bisher theologisch
zu wenig verstanden worden (Hominisation 24).
Es ist sinnvoll und kein schlechter und auf die Dauer
unhaltbarer Kompromiss zu sagen, der Mensch stamme dem
Leib nach aus der Materie, dem Geist nach jedoch nicht
(Hominisation 44). Die Materie ist durch Gott so geschaffen,
dass sie die Potenz zum Hervorbringen des Geistes schon
trägt und dieser dann im Menschen sich manifestiert (Hominisation 49-55). Die Erschaffung der Seele ist "kein exzeptionelles außergewöhnliches Vorkommnis" sondern ein Wirken durch Zweitursachen (Hominisation 60 ff.), die Rahner
„Ermöglichung der aktiven Selbsttranszendenz des endlich
Seienden durch sich selbst" nennt. Die unsterbliche Geistseele des Menschen scheint Rahner „schrittweise" entstanden
= evolviert (Hominisation 57) und Gott hätte entsprechend
der Phylogenese die erste menschliche Seele dem Nachkommen einer Tiermutter gegeben. Er holt die von Aristoteles
stammende scholastische Lehre der Sukzessivbeseelung hervor, um dies plausibel zu machen (Hominisation 79-84)
(Lebensrechtler wird es nicht freuen, dass so Frühabtreibung
tendenziell legitimiert wird).
Junker stuft Rahners Theologie als „konsequent evolutionistische Sichtweise" ein. Solche Theologen „(plädieren)
dafür, das Evolutionskonzept in jeder Hinsicht anzuerkennen
und die biblische Botschaft entsprechend neu zu interpretieren. (...) Der Glaube (wird) in evolutionäre Termini übersetzt. Die Evolutionsfaktoren werden als voll ausreichend
angesehen, um die Lebensvielfalt, den Menschen eingeschlossen, hervorzubringen"9
Konsequent deutet Rahner zentrale biblische Wahrheiten
entweder evolutionär um oder leugnet sie:
„Nach der Evolutionslehre ist nur ein Polygenismus denkbar, wenn man nicht ein besonderes unmittelbares Eingreifen
Gottes in den Evolutionsprozess postulieren will. Die Frage
nach einem Mono- oder Polygenismus der Menschheit ist
theologisch relevant, denn die Zeugen des Neuen Testamentes stellen Jesus Christus, den Erlöser, in die eine von Adam
herkommende Menschheitslinie (Monogenismus) und dem
ersten Adam gegenüber (Röm 5,12 ff.). (...) Die (...) Enzyklika Humani generis von Pius XII. aus dem Jahre 1950, kritisiert die Polygenismus-Auffassung: ,Es ist in keiner Weise
ersichtlich, wie eine derartige Auffassung sich vereinbaren
lässt mit dem, was die Quellen der geoffenbarten Wahrheit
und die Akten des kirchlichen Lehramtes über die Erbsünde
sagen'. Unter dem Eindruck der scheinbaren Plausibilität der
Evolutionstheorie, halten viele Autoren einen biologischen
Monogenismus jedoch nicht für unaufgebbar. Die mit dem
Monogenismus verquickten dogmatischen Inhalte werden
Karl Rahner, Paul Overhage, Das Problem ..., Quaestiones disputatae 12/13,
Freiburg Breisgau 1961.
7 Der Satz, dem ich dies entnehme, ist im Grunde aufgrund der vielen rahnereigenen Neologismen und der insuffizienten Syntax unverständlich, wie so
viele Sätze Rahners.
William F. Allman, Mammutjäger in der Metro, Wie das Erbe der Evolution
unser Denken und Verhalten prägt, Heidelberg — Berlin Spektrum 2 1999, p. 197.
9 Reinhard Junker, Leben durch Sterben?, Studium Integrale, Neuhausen-Stuttgart 1994, p. 23 + 49-59.
— 235 —
— 236 —
6
8
anderweitig (...) zu sichern gesucht. (...) Die Sünde eines
repräsentativen Einzelnen würde, so Rahner die Einheit der
Menschheit in der Sündenverfallenheit auch bei einem biologischen Polygenismus begründen. Dasselbe gelte, wenn die
ursprüngliche menschliche Gemeinschaft in Interkommunikation gesündigt hätte."''
Der Mensch hätte folglich auch vor dem Sündenfall sterben müssen, allerdings wäre für Rahner der „Tod" Adams
ohne Sünde „reine offenbare tätige Vollendung"12 (was
immer das sein mag).
Rahner sieht einen echten Fortschritt der Theologie von
der Ablehnung zur Duldung des Evolutionismus: nachdem er
frühere lehramtliche Stellungnahmen wiedergegeben hat
(Hominisation 16-20) — ausdrücklich betonend, dass er nicht
ihren Sicherheitsgrad referiert (Hominisation 16), schließt er
aus „Humani generis", dass der Evolutionismus ein für alle
Mal irreversibel durch das Lehramt „freigegeben" sei und es
auch bliebe, selbst wenn die Evolutionstheorie doch falsch
sei, was er so begründet (Hominisation 26 ff.):
— es gäbe kein Beispiel in der Dogmenentwicklung, dass
eine von der Theologie zunächst allgemein abgelehnte
These später durch das Lehramt zugelassen und noch später wieder verworfen würde
— es gäbe auch kein Beispiel, dass die schon erreichte Klarheit und Sicherheit durch spätere Maßnahmen des Lehramtes selber wieder aufgegeben würde, denn das widerspräche dem Wesen des geisterfüllten Lehramtes
— es sei nach 80-jähriger Diskussion unklar, woher neue
theologische Gründe kommen sollten, die ein erneutes
Verwerfen begründeten
— die Exegese interpretiere heute die Genesis neu, das sei
echter Fortschritt und verbiete eine rückläufige Revision
— die Mehrheit der Theologen billigt heute die Evolution, die
Exegeten sind dabei allgemein fortschrittlicher (evolutionistischer) als die Dogmatiker.
Rahner zitiert oft positiv Teilhard de Chardin (Christologie
186, 194). Es stört ihn nicht, dass dieser mit Sicherheit kein
Katholik und wohl auch kein Christ mehr ist, da er zentrale
Glaubensinhalte wie die Erbsünde und die Erlösung durch
den Kreuzestod leugnet und zumindest mehr als zweideutig
über die Gottheit Christi ist. Teilhard de Chardin's
(1881-1955) meiste theologische Schriften waren so extrem,
dass ihr Erscheinen zu seinen Lebzeiten von den in der Vorkonzilszeit schon „wankenden"13 zuständigen Autoritäten
unterbunden wurde14.
Was konnte Rahner wissen?
Er konnte wissen, dass die Evolutionstheorie alles andere als
absolut sicher darsteht:
Dass der Fossilbefund durch Lückenhaftigkeit und völliges Fehlen der zahllosen Zwischenformen imponiert — und
dass selbst sein Mitbruder Teilhard de Chardin einen
gefälschten „Pithecanthropus" irrtümlich für echt gehalten
hatte.
I° Karl Rahner, „Erbsünde und Evolution" Concilium 3 1967, p. 459-465
I Junker (a. a. 0.) p. 144f.
12 Karl Rahner, Zur Theologie des Todes, Quaestiones disputatae, Freiburg:
Herder 1958 zitiert nach Junker (a. a. 0.) p. 154.
13 Der Häretiker Rahner hat meines Wissens mit einer Ausnahme für alle seine
Schriften das Imprimatur erhalten!
14 Zu Teilhard de Chardin siehe Johannes Grün, Die Schöpfung, Ein göttlicher
Plan, Verax Verlag Müstair (CH) 2000, ISBN 3-909065-05-8, p. 492-501
und Alma von Stocichausen, Rahners kosmische Ekldesiologie im Rückgriff
auf Teilhard de Chardin, in: dies., Die Kirche als Corpus Christi mysticum,
Gustav-Siewerth-Akademie: 2002.
— 237 —
Er konnte die von 1890 bis 1940 heftig geführte Kontroverse um menschliche Werkzeuge und Fußspuren im Tertiär
kenner-115. Ein Mensch kann nur einen Körper hinterlassen,
aber viele Werkzeuge und sehr viele Spuren — es ist also zu
erwarten, dass zeitlich vor dem ersten Menschenfossil Werkzeuge bzw. Fußspuren erhalten sind.
Er konnte den Wiener Pastoralmediziner Niedermeyer
kennen16: Ähnlichkeiten und zeitliche Folgen beweisen überhaupt nicht einen gemeinsamen Vorfahr. Mutationen sind
sehr unwahrscheinlich und ergeben nur kleinste Veränderungen. Die Veränderungen der Lebewesen verbleiben innerhalb
bestimmter „Bauplantypen", z. B. der Verlust von Zehen bei
fossilen Pferden, was etwas anderes ist als die Entstehung
neuer Organe: Das Grundtypkonzept „leuchtet auf', auch
wenn Niedermeyer es noch nicht kennt. Die Enzyklika
„Humani generis" von Papst Pius XII. ist das Gegenteil einer
Anerkennung der Evolutionstheorie. Niedermeyer weiß um
die Rezeption der Evolutionstheorie in „modernen" katholischen Kreisen, aber noch ein Kardinal Ruffini versuchte ihre
fachliche und theologische Widerlegung.
Das Geist — Materie — Problem lässt sich nicht so einfach
lösen. Bereits 1756 stellte Johann P. Süssmilch das „Süssmilch'sche Paradoxon" auf: Der Mensch kann ohne den
Besitz des Denkvermögens die Sprache nicht erfinden, und
das Denken ist andererseits von der Existenz der Sprache
abhängig. Sprachentstehungstheorien gibt es unzählige, die
alle den Fehler haben, nur Spekulation zu sein. Die Pariser
Sprachgesellschaft erwehrte sich ihrer schon 1866, indem sie
die Annahme von Sprachentstehungstheorien in ihren Statuten verbot'''.
Im krassen Gegensatz dazu suggeriert Rahner (Hominisation 27), dass die Evolutionstheorie fachlich besser belegt sei,
als es die Enzyklika Humani generis konzediert. Es imponiert
der „totalitäre" Anspruch, (z. B. Christologie 186, 195,
Hominisation 14 u. a.): „der Naturwissenschaftler" als gäbe
es keine fachliche Evolutionskritik mehr und als bereite jedes
Festhalten an evolutionistisch unhaltbaren theologischen
Aussagen automatisch „große zusätzliche Glaubensschwierigkeit" für „den" katholischen Naturwissenschaftler (Hominisation 30). Niedermeyer sagt das genaue Gegenteil!
Rahner konnte wissen, dass nach dem Schlussevangelium
der Hl. Messe (Joh 1, 1-14) und dem Kolosserbrief (1,16)
Christus der Urheber der Schöpfung ist. Und dass wir kein
schlechtes Mittel für einen guten Zweck einsetzen dürfen
(Röm 3.8). Ich kann mir kein schlechteres und Jesus, der alle
Krankheiten heilte (Mt 4, 23; Mk 6,56), unangemesseneres
Mittel denken als brutales Recht des Stärkeren, brutaler Survival of the fittest. Die gesamte Schöpfung dient doch der
Selbstdarstellung Gottes, wobei jedes Detail einen Aspekt
des unendlichen Gottes wiederspiegelt18.
Rahner hätte erkennen müssen, dass zur Verbreitung einer
Theorie, mit solchen Implikationen für Menschen- und Weltbild auch nicht-naturwissenschaftliche Motive beitragen können. Der Mensch ist geneigt zur Sünde und sucht nur zu
gerne dafür eine Rechtfertigung. Durch die Evolutionstheorie
kann der Forscher der Konfrontation mit dem genialen
Schöpfer ausweichen, auf die ihn seine Arbeit eigentlich
Manfred Stephan, Der Mensch und die geologische Zeittafel, hg von der Studiengemeinschaft Wort und Wissen, Holzgerlingen Hänssler 2002,
p. 158-191.
16 Niedermeyer, Handbuch der Allgemeinen Pastoralmedizin, Band 2, Herder
Wien 1955, p. 145-284.
12 Beide Beispiele siehe Robert Liebi, a. a. 0. p. 48 + 104.
18 Thomas v. Aquin, Summa theologiae I q.56 a.2.
15
— 238 —
ständig stößt, indem er den Schöpfungsakt in nebelhafte vorzeitliche Ferne verbannt und zugleich einen atheistischen
Schöpfungsmechanismus postuliert. Wären Experimente an
menschlichen Embryonen denkbar, für die sich 2001 112 USamerikanische Universitätspräsidenten und 80 Nobelpreisträger ausgesprochen haben19, wenn der Naturwissenschaftler
angesichts der Genialität und unerhörten Komplexität der
Natur, ständig „den unsichtbaren Gott aus Seinen sichtbaren
Werken erkennen müsste" (Röm 1,20)20, wie es noch für
einen Sei. Niels Stensen, Arzt und einer der Begründer der
Geologie, später Konvertit und Bischof, unmittelbar evident
war"? Sicher nicht22. Die Evolutionstheorie ist ideale ideologische Grundlage zur Relativierung von Religion und Ethik:
Religion erscheint „evolutionär entstanden", da sie als Mittel
zur Angstreduktion dem hypothetischen Frühmenschen einen
Überlebensvorteil verschaffte. Die Neigung besonders des
Mannes Ehebruch zu begehen erscheint evolutionär vorteilhaft, da er so seine Gene besser weitergeben kann — um nur
zwei Topoi der aktuellen evolutionspsychologischen Literatur
zu zitieren" ".
Was wissen wir heute?
Nach dem Grundtypkonzept hat Gott nicht die heutigen biologischen Arten geschaffen, sondern taxonomische Einheiten
meist zwischen Gattung und Familie wie die Hundeartigen
oder die Pferdeartigen, aus denen sich in biologischen
Nischen die Arten wie Wolf, Fuchs oder Hund (Hundeartige)
bzw. Pferd, Esel und Zebra (Pferdeartige) entwickelt haben,
was mit Genverlust und Spezialisierung einherging — nicht
mit Neuentstehung. Die Arten eines Grundtyps sind grundsätzlich miteinander kreuzbar, über Grundtypgrenzen nicht.
Wenn experimentell die Mutationsrate von Pflanzen künstlich erhöht wird — „Evolution im Zeitraffer" — sind die Ergebnisse durchweg Verlust von Funktion oder Struktur. Es wird
auch bei solchen Experimenten keine Neuentstehung von
biologischer Struktur berichtet". Bei Bakterien wurde in entsprechenden Experimenten z. B. Wachstum in „selektierenden" Nährkulturen auch nach jahrelanger Kultivierung — tausende Generationen — keine Entstehung qualitativ neuer
Struktur gefunden. Vielmehr passen sich Bakterien durch
Optimierung vorhandener Stoffwechselwege bis zu einem
Maximalwert an die neuen Bedingungen an und bleiben dann
auf dem erreichten Niveau stehen26.
Wenn Evolutionsbiologen postulieren, dass je weiter der
„gemeinsame Vorfahr" zweier Organismen zurückliegt, um
so mehr sich die Gensequenzen ihrer Proteine unterscheiden,
so kommt man trotz aller Fehlerkorrekturversuche zu Ergebnissen wie, dass Säugetiere schon zur Zeit der Dinausaurier
gelebt haben, lange vor ihrem fossilen Auftreten".
Schließlich sind die Beispiele Legion für rasche (innerhalb
weniger Generationen) mikroevolutive (innerhalb von
Grundtypen verbleibende) Veränderungenn.
Evolutionskritische Übersichtswerke 29 30 zeigen, dass
diese Einzelbefunde nur Auswahl aus einem breiten Strom
sind — ich weiß, warum ich als Naturwissenschaftler die Evolutionstheorie für falsch halte.
Die menschliche Hand — und deren hypothetische evolutionäre Vorformen, für die es bis heute keine Fossilbelege
gibt- ist ohne eine Intelligenz, einen Geist, der sie zu bedienen weiß, biologisch Nachteil statt Vorteil.
Der Sprechapparat — Kehlkopf, Zunge, Mundhöhle- ist
nutzlos ohne eine Intelligenz, die ihn zu benutzen weiß.
Der „evolutionäre" Ursprung der Sprache ist völlig unklar
— alle Forschungsergebnisse zeigen, dass Sprache offenbar
nicht „von selbst" entsteht". Die evolutionäre Entwicklung
eines „sprachfähigen" Gehirns ist ähnlich unklar32. Und die
Evolutionstheorie ist durch ein einziges Beispiel einer evolutionär nicht enstehbaren biologischen Struktur oder menschlichen Fähigkeit zu wiederlegen! Zu Rahners Idee der Geburt
eines Menschen von einer Tiermutter: hat die Tiermutter dem
Menschenkind Sprechen beigebracht? Wenn ja, war sie noch
ein Tier? Sprache, Intelligenz und Geistseele sind kaum
trennbar. Wenn nein: ohne Sprache ist kein Denken, keine
Intelligenz und Geistseele denkbar. Hat es sich alleine Sprechen beigebracht? Das ist unmöglich. Hat Gott ein Wunder
gewirkt? Das ist wieder eine massive Durchbrechung der
Evolutionstheorie, was Rahner vermeiden will.
Der Informatiker Gitt hat die „Information" als fundamentale, aber nichtmaterielle Größe in biologischen Systemen
herausgearbeitet. Information wird mit dem Erbgut weitergegeben, ist aber nicht mit den Nukleinsäuren, die sie transportieren, identisch. Information wird zwischen Sender und
Empfänger auf mehreren Ebenen verstanden, folgt eigenen
Gesetzen und verlangt eine schaffende Intelligenz33.
Alle diese Argumente tauchen in Rahners Schriften nicht
auf und werden daher nicht widerlegt. Zu postulieren, dass
Materie Geist „hervorbringen" kann, verkennt völlig das
Wesen von Geist und der wichtigsten geistigen Größe, der
Information. So redet ein Theologe, der von den Sachfragen
keine Ahnung hat, aber semantische Lösungen findet („die
19 Malakoff et al., ScienceScope, Science 291 p. 2531 (30. 3. 2001).
20 Vgl. dazu Wolfgang B. Lindemann, Klonen, Theologisches, Jahrgang 33,
Nr.4, p. 183-188. Alle von mir verfassten hier zitierten Texte werden voraussichtlich ab der Osteroktav 2004 unter www.wolfganglindemann.net „Aktuell" online verfügbar sein.
21 „Wenn ein ganz kleiner Teil der Oberfläche des menschlichen Körpers so
anziehend ist und den Beschauer so tief beeindruckt, welche Schönheiten
würden wir sehen, welches Entzücken empfinden, wenn wir das ganze
Kunstwerk des Körpers (...) und dann die Abhängigkeit aller dieser Erscheinungen von der Ursache, die alles weiß, was wir nicht wissen, im Geist
betrachten würden?" Niels Stensen Oph II, 254 zit. nach Max Bierbaum,
Niels Stensen, Münster 1958, p. 5.
22 Wolfgang B. Lindemann, Ist die Evolutionstheorie gleichgültig für die katholische Religion?, Theologisches, Jahrgang 30, Nr.5/6, p. 175-186.
23 Junker a.a.0, p. 105
24 Wolfgang B. Lindemann, Evolutionäre Psychologie und Psychiatrie,
Tagungsband der 17. Fachtagung für Biologie der Studiengemeinschaft Wort
und Wissen, p. 17-19 März 2000, p. 45-49.
25 Emilie G. Burget Wolfgang B. Lindemann, Experimentelle Mutagenese bei
Arabidopsis thaliana, Studium Integrale Journal 7 (2000), p. 93-94.
26 Wolfgang B. Lindemann, Experimentelle Evolution bei einzelligen Mikroorganismen, Tagungsband der 17. Fachtagung für Biologie der Studiengemeinschaft Wort und Wissen, 17.-19. März 2000, p. 41-44.
Wolfgang B. Lindemann, Säugetiere zur Zeit der Dinosaurier, Studium Integrale Journal 5 (1998), p. 96-97.
28 Wolfgang B. Lindemann, Rasche Mikroevolution bei Drosophila und Gasterosteus, Studium Integrale Journal 7 (2000), p. 43. Wolfgang B. Lindemann,
Schnelle Artbildung ohne geographische Trennung bei Fruchtfliegen und
Lachsen, Studium Integrale Journal 8 (2001), p. 31-32.
29 Wolfgang B. Lindemann, Rezension von Reinhard Junker, Siegfried Scherer
(Herausgeber) „Evolution — Ein kritisches Lehrbuch", 4. völlig neu bearb.
Aufl., Weyel Lehrmittelverlag Gießen 1998, Forum Katholische Theologie,
17. Jahrgang Heft 2/2001, p. 155-157.
30 Wolfgang B. Lindemann, Rezension von Johannes Grün, Schöpfung. Ein
göttlicher Plan, Theologisches, Jahrgang 31, Nr.11, p. 558-562.
31 Vgl. Wolfgang B. Lindemann, Rezension von Robert Liebi, Herkunft und
Entwicklung der Sprachen. Linguistik contra Evolution, herausgegeben von
der Studiengemeinschaft Wort und Wissen, Holzgerlingen Hänssler 2003
ISBN 3-7751-4030-1, Theologisches, Jahrgang 34, Nr. 2 p. 121-126
(Februar 2004).
32 Brandt, Gehirn und Sprache, Studium Integrale Holzgerlingen 2000.
33 Werner Gitt, Am Anfang war die Information, 3. überarb. u. erw. Auflage,
Hänssler Holzgerlingen 2002.
— 239 —
— 240 —
27
Materie ist von ihrem Ursprung im ewigen Logos geistverwandt" Hominisation 54), weil ihm dies offenbar gut in seine
unbiblischen häretischen Konzepte passt.
Wer weiß, mit wie wenig Mitteln34 die evangelikale Studiengemeinschaft Wort und Wissen wieviel wissenschaftliche
Evolutionskritik auf die Beine gestellt hat, fragt sich doch, ob
die katholische Christenheit ihrem Auftrag, für die Wahrheit
einzutreten überhaupt noch gerecht wird35: wenn nur die Ressourcen der „Karl- Rahner- Akademie" Köln evolutionskritischen katholischen Naturwissenschaftlern zur Verfügung
gestellt wären — wieviel Gutes hätte geschehen können. Vielleicht hätte dann auch Willigis Jäger nicht den Glauben verloren.
Schlussfolgerungen
Junker führt zu Rahner aus: „Durch die genannten Konzepte
eines ,theologischen Monogenismus werden die entscheidenden Ursprungsfragen nicht beantwortet: (...) Wie entstand die Sünde des einzelnen, der alle mit sich in den
Abgrund riss (Rahner)? Worin besteht das gemeinsame
menschliche Versagen (Rahner) beim Durchlaufen des TierMensch-Übergangsfeldes und weshalb geschah es?"36.
„Die Beurteilung von Krankheit, Leid und Tod fällt in konsequent evolutionistischer Sicht diametral entgegengesetzt
zur Bewertung in biblisch-heilsgeschichtlicher Perspektive
aus. (...) Auch in gemäßigten theistisch-evolutionistischen
Konzepten müssen Tod und Leid als Schöpfungsmittel angesehen werden. Das Übel der Welt ist in allen derartigen Entwürfen eine notwendige Begleiterscheinung des Lebens.
Dem Widerspruch zur biblischen Bewertung soll hier die
Schärfe genommen werden durch die Annahme, der Tod
habe vor dem Fall eine andere Qualität gehabt und sei ein
harmonischer Übergang gewesen. Einen solchen „Übergang"
könnte man jedoch nicht als „Tod" bezeichnen. Darüber
hinaus ist im evolutionären Denkrahmen (auch dem gemäßigten) davon auszugehen, dass der Tod immer als katastrophales Ende empfunden wurde, insbesondere bei den tierhaften
Vorfahren des Menschen. Hier kann es keinen harmonischen
Übergang zum ewigen Leben geben. (...) In konsequenten
wie in gemäßigten evolutionstheoretischen Entwürfen, wird
der Tod mit seinen Begleiterscheinungen gleichermaßen verharmlost. Dies hat zur Folge, dass die Erlösungstat Jesu verkleinert wird, denn durch Jesu stellvertretendes Sterben am
Kreuz wird die Macht des Todes überwunden. Der Aspekt
des Dämonischen des Todes als Macht (vgl. 1 Joh 3,8; Joh
8,44) wird in den meisten Entwürfen faktisch übergangen."37
Das Lehramt hat sich zwar bisher nicht explizit zum Zeitpunkt der Beseelung des menschlichen Embryos geäußert,
aber alle neueren bioethischen Dokumente gehen zumindest
implizit davon aus, dass diese mit der Befruchtung geschieht38.
Rahners Argumente zur quasi-Dogmatisierung der evolutionistischen Bibelauslegung scheint mir nicht schlüssig.
Einige zu Rahners Zeit unbekannte neue Argumente wurden oben schon zitiert.
Ganz schlecht scheint mir die Begründung mit „Mehrheiten von Theologen" zu sein. Wieviele waren ein Jahrzehnt
Fünf hauptamtliche und ca. 50 regelmäßige ehrenamtlich tätige Naturwissenschaftler www.wort-und-wissen.de.
33 Wer an fachlicher Kritik der Evolutionstheorie mitarbeiten möchte, ist eingeladen, mich zu kontaktieren.
36 Junker (a. a. 0.) p. 146.
37 Junker (a. a. 0.) p. 159.
38 Lindemann, Klonen (a. a. 0.).
34
— 241 —
später, nach dem Konzil, offenbare Häretiker? Wie sieht das
heute aus?
Ich bezweifele, dass die von Rahner behauptete „Irreversibilität" der Dogmenentwicklung historisch haltbar ist. Die
Kirche ist zu groß, der Päpste und Theologen sind zu viele.
Das Lehramt kann unter dem Druck vermeintlicher naturwissenschaftlicher oder anderer Erkenntnis vorübergehend ein
leichtes „Fading" zeigen. Einerseits gibt er nicht den Sicherheitsgrad der einzelnen den Evolutionismus verurteilenden
Lehräußerungen an, aber gesteht gleichzeitig einer einzigen
Enzyklika quasi absolute Autorität zu. Vielleicht liegen
„höherwertige" Lehräußerungen der Vergangenheit vor? Eine
Enzyklika ist kein Evangelium. Welche Kriterien beurteilen
„Klarheit" und „Fortschritt"? Evolutionäre Glaubensanpassungen werfen — wie oben skizziert — mehr neue Fragen auf,
als sie klären — da die „Entstehung" des Menschen historisches Ereignis ist, können vage allegorisierende „Ausflüchte"
nicht befriedigen. Ist die „Kippung" der biblischen Urgeschichte und ihre Ersetzung durch Spekulation und Unwissenheit (Hominisation 84-90) „größere Klarheit und Sicherheit"?
Es ist schwer zu sagen, welchen Einfluss die Evolutionstheorie auf das Denken Rahners gehabt hat. Ist sie der Grund,
dass er — siehe andere Artikel in diesem Heft — in der Häresie
geendet ist? Oder stand am Anfang eine Entscheidung Rahners gegen den echten Jesus Christus, so dass alle möglichen
Ideen bei ihm offene Türen fanden? War eine solche Entscheidung durch die Vorstellung bedingt, das Christentum sei
durch die Evolutionstheorie sachlich unhaltbar? Das ist
schwer, wahrscheinlich unmöglich zu sagen.
Gab es eine Entwicklung in der Stellung Rahners zur Evolutionstheorie? Nachdem, was ich von ihm gelesen habe,
nicht — kann es aber nicht absolut ausschließen. Wenn, dann
müsste sie in die Zeit vor seiner ersten Publikation zu diesem
Thema fallen. Der Mensch Rahner hat sich jedenfalls nie entscheidend gewandelt: der junge Student (und schon Ordensmann!) Rahner fiel bereits durch unreif-flegelhaftes Benehmen auf, der alte Rahner durch sein laszives Verhältnis zu
Luise Rinser39. Hier wird die Haltung Rahners auf dem Höhepunkt seines Schaffens dargelegt, die er bis zum Ende beibehielt und in einer Fülle von Schriften darlegte. Hüten wir uns,
es ihm gleichzutun, denn es trennt uns von Jesus Christus,
unserem Erlöser, der nur das Beste für uns will.
Erweitert online unter www.wolfganglindemann.net „Aktuell"
Anschrift des Autors: Wolfgang B. Lindemann
22, rue d'Anjou, F-44000 Nantes
e-Mail:
contact@wolfganglindemann.net
39
David Berger, Karl Rahner Ketzer oder Kirchenlehrer, Theologisches 32,
Nr. 8.
„Der von Kant geleitete emotionslose Blick Rahners durch die Schießscharten der Vernunft auf das
Lichtreich der Offenbarung lässt den Glauben sterben wie den irischen Elch in der Geschichte der
Arten"
Helmut Müller
— 242 —
ANNELIE FUNKE
Der Jesuit Prof. Dr. Karl Rahner und die Kultur des Christentums
Die Kirchenzeitung meines Heimatbistums (Paderborn)
brachte in ihrer Ausgabe DOM Nr. 6, 8. Februar 2004, einen
Gedenkartikel zu Person und Werk Karl Rahners anlässlich
des „Rahner-Jahres, in dem im März des 100. Geburtstags
und des 20. Todestags Karl Rahners gedacht wird".
„Ein Denker Gottes" wird darin vorgestellt, „zum theologischen Olymp gehörend". Als solcher habe Karl Rahner
„nicht im elfenbeinernen Turm der Wissenschaft versteckt"
gelebt, sondern sei „als ein Mann des offenen Wortes in der
Kirche" aufgetreten und habe „kein Aufhebens um seine
enormen Verdienste machen wollen".
Auf dem Gebiet der Kulturphilosophie und der christlichen Kunst sind uns „enorme Verdienste" Pater Rahners nicht
bekannt, wohl galt die spezifische Rahner-Theologie für
unser Fach in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren
des 20. Jahrhunderts als eine immer stärker auf sich aufmerksam machende Quelle subtiler Verwirrung. Warum?
In Rahners Beschreibungen des Christentums, seiner Kultur und Kunst findet sich ein Denken, das permanent danach
drängt, feste Positionen in Widerspruchspositionen hineinzubringen, wo sie zu schweben beginnen, in eine Relation zueinander geraten, die ihr Wesentliches in Frage stellt und letztendlich auflöst in Momentaufnahmen, die als „Momente" an
irgendeiner allgemeinen Größe erscheinen, welche die
Geschichte sein kann, die Daseinssituation, die Zeit oder
unsere unmittelbare christliche Existenz.
Kultur und Kunst werden auf diese Weise unfassbar wie
Spiegelbilder im strömenden Wasser.
Daher wird es niemanden erstaunen, dass Kulturphilosophen und Kunsthistoriker, die aus der christlichen Tradition
heraus leben, arbeiten und forschen, von „großen Verdiensten" Karl Rahners für ihr Gebiet nicht überzeugt sind. Ein
Textbeispiel Karl Rahners möge diesen Umstand näher
beleuchten:
„Es gibt kein in sich geschlossenes Abendland mehr, kein
Abendland mehr, das sich einfach als den Mittelpunkt der
Weltgeschichte und der Kultur betrachten könnte, dessen
Religion also schon von daher, das heißt von einem Punkt,
der eigentlich nichts mit einer Glaubensentscheidung zu tun,
sondern das Gewicht des profan Selbstverständlichen hat, als
die selbstverständliche und einzig für einen Europäer in
Frage kommende Form der Gottesverehrung erscheinen
könnte. Heute ist jeder jedes anderen Menschen in der Welt
Nachbar und Nächster, und darum von der Kommunikation
aller Lebenssituationen von planetarischer Art her bestimmt:
Jede Religion, die in der Welt existiert, ist, wie alle kulturellen Möglichkeiten und Wirklichkeiten anderer Menschen,
eine Frage und eine angebotene Möglichkeit für jeden Menschen. Und wie man die Kultur des anderen als eine Relativierung der eigenen konkret und existentiell fordernd erlebt,
so ist es unwillkürlich auch mit den fremden Religionen. Sie
sind ein Moment an der eigenen Daseinssituation geworden,
nicht mehr bloß theoretisch, sondern konkret, und sie werden
daher erlebt als In-Frage-Stellung des Absolutheitsanspruchs
des eigenen Christentums. In der Frage des Fertigwerdens
mit dem heutigen Pluralismus ist somit die Frage nach dem
Verständnis und Bestehen des religiösen Pluralismus als
eines Momentes in unserer unmittelbaren christlichen Existenz eine vordringliche Frage:"
Ein annähernd babelscher Satzturmbau muss zergliedert
werden, um diesen Text zu verstehen, zu verstehen, was
damit gemeint ist, bevor das Sinngebilde auseinanderbricht in
fragwürdige Einzelaspekte. Dass es „kein in sich geschlossenes Abendland mehr" gibt, ist klar. Dass dieses Abendland
sich „als Mittelpunkt der Weltgeschichte betrachten" konnte
„und der Kultur" stimmt für gewisse geschichtliche Zeitabschnitte und bestimmte Situationen, aber nicht total und
absolut, denn kriegerische Auseinandersetzungen bezeugen
in gewissen Zeitabschnitten und in gewissen Situationen die
Fragwürdigkeit dieser Annahme. Dieser „Mittelpunkt" soll
„eigentlich nichts mit einer Glaubensentscheidung zu tun
haben"? Das ist objektiv falsch.
Selbst, wenn der christliche Glaube für den „abendländischen" Europäer durch die Tradition etwas „Selbstverständliches" bekommen hat, so kann das niemals ein „profan Selbstverständliches" sein, diese „einzig für einen Europäer in
Frage kommende Form der Gottesverehrung".
Die Heiligen dieses „in sich geschlossenen Abendlandes"
bezeugen uns durch ihr Leben und Wirken das Gegenteil:
durch immer wieder neue Glaubensentscheidung, immer wieder neuen Glaubenskampf blieb der „Mittelpunkt des Abendlandes" blieb das „Abendland als Mittelpunkt der Weltgeschichte" in seinem Wesen erhalten.
Die Nähe „jedes Menschen zu jedem anderen Menschen"
ist heute zwar durch die technischen Mittel erheblich vielfältiger, differenzierter und schneller möglich, doch ist damit
nicht auch „jede Religion" und sind damit nicht „alle kulturellen Möglichkeiten und Wirklichkeiten anderer Menschen"
zugleich identitätsverändernd wie ein Virus, das sich in eine
lebendige biologische Zelle einfügt, um, sie verändernd, zu
besitzen.
„Die Kultur des anderen" wird nur dann „als eine Relativierung der eigenen konkret und existentiell fordernd erlebt",
wenn die eigene Identität nicht gewahrt wurde. Die eigene
Identität zu wahren, ist aber ein Grundprinzip jeglichen sinnvollen Dialoges und davor jeglicher sinnvoller Entwicklung
des eigenen Wesens, besonders des durch die christliche
Offenbarung erkannten geschöpflichen Wesens mit seinem
speziellen Schöpfungsauftrag.
Erst wenn dieses Identitätsverständnis aufgeweicht wird,
was bei Pater Karl Rahner bewusst und gewollt durch die
Annahme bestimmter philosophischer Gedanken aus dem
deutschen Idealismus, insbesondere G. W. F. Hegels, und
dem Existenzialismus Martin Heideggers, geschehen ist
(Kardinal Joseph Siri und Bernhard Lakebrink haben dies in
gründlichen und zutiefst überzeugenden Arbeiten nachgewiesen, aber auch andere Fachleute sind zu diesem Ergebnis
gekommen), ist es möglich, fremde Kulturen, fremde Religionen als „Moment an der eigenen Daseinssituation" zu
erleben, so wie P. Rahner es beschreibt.
Das Prinzip der Identität ist in der idealistischen Philosophie Schellings und Hegels als absolut dialektisches Prinzip,
Gott und den Menschen umfassend, zweideutig geworden im
wahrsten Sinn des Wortes. Und in Heideggers Seinsverständ-
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- 244 -
Aus: Karl Rahner: Schriften zur Theologie Bd. V Neuere
Schriften, S. 137f Das Christentum und die nichtchristlichen
Religionen. Benzinger Verlag Einsiedeln, Zürich — Köln 1962.
nis ist die „Daseinssituation", abgekoppelt von Gott, ange- dann in den Atheismus Nietzsches und Heideggers zu verhinkoppelt an ein Sein in der Zeit, von der Wirklichkeit eines dern, die im Denken der katholischen Kirche nun ihr UnweWirbels in einem Fluss, der ständigen Veränderungen unter- sen treiben, mithereingelassen eben auch durch Pater Karl
liegt, d. h. der Mensch in dieser Situation ist ein Bündel von Rahner, der ein Schüler Martin Heideggers war.
Funktionen mit den Möglichkeiten entworfenen Seinkönnens
Als Schüler Martin Heideggers kann Pater Rahner Relials „frei schwebende Verhaltungen" des „je eigenen Ich" gion und Kultur als „Momente" in unserer Daseinssituation
(B. Lakebrink in: „Die Wahrheit in Bedrängnis" 1986 Stein ansehen, die, funktional angelegt, entwirft und entworfen
am Rhein S. 31)
wird und so keine festen Denkpositionen und GlaubensposiWenn die so verstandene „Daseinssituation" nicht nur den tionen mehr ihr eigen nennen kann. Alles, was der einzelne
einzelnen Menschen betrifft sondern die gesamte Welt als Mensch religiös und kulturell erfährt, ist in sich unbeständig,
„Dasein", was sie aber gar nicht ist, sondern Gottes objektive weil andere, fremde Denk- und Glaubenspositionen das
Schöpfung, kann es zu der Behauptung kommen — in der Bekannte ständig relativieren und in Frage stellen, als gewisKonstruktion Rahners — dass der „religiöse Pluralismus" sermaßen gleichberechtigte Elemente des gesamten Daseins.
„Moment in unserer unmittelbaren christlichen Existenz" sei. Der eigene Bestand an Gedanken, Erkenntnis und ErfahrunNach der Maßgabe unserer christlichen katholischen Phi- gen wird durch ein aufgeweichtes Identitätsverständnis, wellosophie, die auf den Grundlagen des scholastischen Denkens ches als Folge idealistischen Denkens Schellings und Hegels
beruht, welche ganz klare Trennungen zwischen objektiven auch in Heideggers Denken vorhanden ist, in einer aus sich
und subjektiven Gegebenheiten vollzieht, ist am Identitäts- heraus relativierenden Schwebepostition gehalten, die solprinzip und am Widerspruchsprinzip uneingeschränkt festzu- chen Denkern wie Pater Karl Rahner und vielen seiner Schühalten.
ler zur ureigensten Denkform geworden ist, so dass man beim
Das bedeutet, dass alles, was ist, mit sich selbst identisch Lesen ihrer Texte immer das Gefühl hat, sich auf schwankenist und so widerspruchsfrei erkannt werden kann.
dem Boden zu befinden mit dem schmerzlichen Gefühl des
Die Voraussetzung für die idealistische Philosophie Schel- Zerdehnens von Wahrheiten und Wirklichkeiten zugunsten
lings und Hegels war die Abwendung von der Tradition, wortreicher, oft schön formulierter, jedoch irritierender
besonders im Hinblick auf die geoffenbarte Schöpfungswirk- Abhandlungen, denen letztendlich Gedankenkonstruktionen
lichkeit, in der alle Dinge von Gott in Eigenwirklichkeit und zugrundeliegen, welche die geoffenbarte und natürlich erlebmit sich selbst identisch und widerspruchsfrei geschaffen bare Wirklichkeit wie in Nebel hüllen.
wurden.
Ich kann daher als Kulturphilosophin und katholische
Dass sich dennoch Widersprüche zeigen im Erfassen der Kunsthistorikerin nicht sagen, worin die „enormen VerWirklichkeit, ist einerseits Schöpfungsgeheimnis, anderer- dienste" Karl Rahners bestehen. Haben Schelling, Hegel,
seits auch infolge der Begrenztheit unserer Vernunft erfahr- Nietzsche und Heidegger uns eine katholische Kunsttheorie
bar, wie es kein Geringerer als Immanuel Kant in aller Deut- und Kulturtheorie schon unmöglich gemacht, war bei Pater
lichkeit aufgewiesen hat. Dass Kant die Wirklichkeit der Karl Rahner auch nicht wesentlich mehr zu finden, was uns
Schöpfung dabei nur eingeschränkt verstehen konnte, auf- die Stellung der christlichen Kunst und Kultur heute in Wahrgrund seines protestantischen Glaubens und seiner weitge- haftigkeit, d. h. identisch und widerspruchsfrei hätte erklären
henden Unkenntnis mittelalterlicher Metaphysik, tut seiner können. Wirklich gute Früchte fanden wir dagegen in der
großen Leistung auf dem Gebiet der Entdeckung der Antino- phänomenologischen Philosophie der Max-Scheler Schüler
mien der Vernunft keinen Abbruch.
Edith Stein, Dietrich von Hildebrand und Hans-Eduard
Mit dieser Entdeckung war eigentlich das profane philoso- Hengstenberg.
phische Bollwerk gegen die absolute dialektische Seinsvor- Anschrift des Autors: Dr. Annelie Funke
stellung des Idealismus gegeben, doch profane Widerstände
Hauptstr. 2a, 53604 Bad Honnef
genügten nicht, um den Dammbruch in den Pantheismus und
P. MARKUS CHRISTOPH SJM
Karl Rahners Anthropologie und Gnadenlehre
Zwei Seiten einer Medaille?
„Was ist der Mensch bei K. Rahner?" Dieser fundamentalen
Frage — immerhin spricht Rahner selbst von einer „anthropologischen Wendung" seines Denkens — will dieser Aufsatz auf
die Spur kommen. Dabei wird bald deutlich, wie Rahner das
menschliches Subjekt mit seinem unendlichen Seinshorizont in
ein dialektisches Beziehungsverhältnis setzt: Der Mensch wird
verstanden als „das Aufgehen des unendlichen Seinshorizontes von diesem selbst her" Ganz im Sinne dieser gegenseitigen
Verknüpfung von Sein und Subjekt, und damit letztlich von
Gott und Mensch, geht Rahner auch seine Gnadenlehre an.
Deshalb beschäftigt sich der zweite Teil der Arbeit mit dieser
Disziplin. Sehr schnell wird hier klar, dass es sich dabei nur
um eine Neuauflage, um eine Neuformulierung der zuvor
grundgelegten Anthropologie handelt, nur jetzt in theologischen Begriffen: Jeder konkrete Mensch ist als Mensch immer
schon Träger eines übernatürlichen Existentials, d. h. das
Ergebnis einer göttlichen Selbstmitteilung. Das Ergebnis:
Soviel auch vordergründig von einer absoluten Verschiedenheit Gottes und des Menschen gesprochen wird: Das primum
principium des rahnerschen Denkens ist eine a-priorische
Einheit beider Alles fußt auf dem Grundsatz, dass „Anthropozentrik und Theozentrik der Theologie keine Gegensätze, sondern streng ein und dasselbe" sind. — Der Verfasser des folgenden Beitrags, P Markus Christoph, ist seit 1995 Mitglied der
Kongregation der Servi Jesu et Mariae, in deren Studienhaus
er seine philosophisch-theologische Ausbildung erhielt. 2002
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Priesterweihe. Zur Zeit: Lizentiatsstudium am Internationalen
Theologischen Institut in Gaming/Niederösterreich.
Die ersten Symposien zum hundertsten Geburtstag von
Karl Rahner gehören bereits der Vergangenheit an, aber mit
Sicherheit wird auch das weitere Jahr 2004 voll sein von Diskussionen über die Theologie des vielleicht berühmtesten
Jesuiten-Theologen des 20. Jahrhunderts.
Rahnerverteidiger und Rahnerkritiker, Rahneranhänger
und Rahnergegner, Weiterdenker seiner Thesen und Skeptiker gegenüber seinen Theorien, sie alle streiten sich um die
authentische Interpretation der Gedanken des „Meisters":
Trifft Rahner mit seinen Gedanken immer die kirchliche
Lehre? Hat man den impliziten Absichten Rahners genug
Aufmerksamkeit geschenkt? Wurde die Wirkungsgeschichte
seiner literarischen Tätigkeit auch hinreichend beachtet?
Viele Themen, noch mehr Fragen, unzählige Streitpunkte.
Das Ziel dieser Arbeit dagegen ist äußerst einfach:
Es geht nicht um die Rezeptionsgeschichte des umfangreichen Schaffens Rahners. Ebensowenig um Entwicklungen in
der Theologie, die von Rahner (vielleicht) ausgelöst wurden.
Auch nicht um Spezialfragen eines bestimmten theologischen
Gebietes.
Diese Untersuchung möchte eine viel einfachere und
gleichzeitig grundlegendere Frage in Blick nehmen, nämlich:
was bedeutet bei K. Rahner der Mensch?
Als der hl. Franz Xaver SJ die japanische Mission eröffnete, benützte er anstelle des lateinischen Wortes deus den im
dortigen Land üblichen Begriff, um von Gott zu sprechen.
Erst nach Monaten erkannte er, dass die Ursache des mangelnden Fortschritt seiner Arbeit im Gebrauche eben dieses
Wortes lag: Zwar sprach man verbal von der gleichen Sache,
doch hatte man gleichzeitig grundverschiedene Vorstellungen, nämlich den christlichen Gott bzw. heidnischen Götzen.
Ein ähnliches Problem scheint bei vielen „Rahnerschen
Fachdiskussion" aufzutreten: Man spricht über Möglichkeit
einer Interpretation seiner Christologie, Eschatologie, Trinitätslehre u. ä. im Sinne der katholischen Tradition — aber
übersieht die viel grundlegendere Frage: Was ist für K. Rahner eigentlich der Mensch?
Rahner vertrete einen „anthropologischen Ansatz" — so
sagt man, ja so will er sich selber verstanden wissen.' Kann
man dann aber unmittelbar in die Diskussion einer theologischen Spezialdisziplin eintreten, ohne zuvor genau und präzise zu klären, was Rahner selbst unter Menschsein versteht?
Denn wäre es vielleicht nicht möglich — und sogar sehr wahrscheinlich, dass der Inhalt einzelner theologischer Fächer
ganz wesentlich mitgeprägt ist von anthropologischen Vorentscheiden wie: „Die Struktur des Subjekts [...] bildet ein
vorgängiges Gesetz dafür, was und wie etwas sich dem erkennenden Subjekt zeigen kann"2? Und von Aussagen wie: es
gäbe eine „innere Bezogenheit, Verwandtschaft und Einheit
mit Subjekt und Objekt"2?
Aus genau diesem Grund soll hier Rahners Anthropologie
unter die Lupe genommen und anschließen ein Blick auf
seine Gnadenlehre geworfen werden — einem Traktat, wel-
Rahner selber schreibt, „dass die dogmatische Theologie heute theologische
Anthropologie sein muss, dass eine solche ,anthropozentrische Wendung'
notwendig und fruchtbar ist." (Karl Rahner, Schriften zur Theologie VIII,
Einsiedeln 1967, S. 43; wird abgekürzt mit: „Schriften" und der jeweiligen
Bandangabe).
2 Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens, Freiburg im Breisgau 19843, S. 30
(wird abgekürzt mit: „GK").
3 Schriften VI, 199.
I
— 247 —
eher mit seiner Lehre vom Menschen in einem überraschend
engen und wechselseitigen Verhältnis steht.
Eine letzte Vorbemerkung:
Es sollen in diesem Aufsatz nicht die Absichten des Theologen, sondern allein die schriftlich festgehaltenen Inhalte als
solche untersucht werden.4 Damit dürfte klar sein, dass nicht
die Person Rahners, sein persönliches Verhältnis zur Kirche
und zum kirchlichen Lehramt im Blickpunkt steht, sondern
allein sein Denken, welches klar und eindeutig aus seinen
Veröffentlichungen hervorgeht.
I. Die Anthropologie K. Rahners
Die Schlüsselstellung der Anthropologie im Denken
Rahners
Ohne Frage bedarf jede Theologie einer Anthropologie —
oder wenigstens: sie impliziert eine bestimmte Anthropologie. Unser Denken von und über Gott wirkt sich notwendig
auf unser Denken über den Menschen aus, der als imago Dei
— nach dem Bilde und Gleichnis Gottes — geschaffen ist. In
diesem Sinn kommt der Anthropologie immer eine bedeutende Stellung im Rahmen des theologischen Denkens zu, als
Konsequenz und Folge der theologischen Spekulation.
Rahners Aussagen über den Stellenwert der Anthropologie
gehen jedoch weiter: Anthropologie bildet für ihn nicht eine
Disziplin unter vielen, sondern ist der Schlüssel und die hermeneutische Voraussetzung für schlechthin alle weiteren
Überlegungen. Genauer: jede Theologie — so Rahner —
beginne notwendig beim Menschen und finde im Denken
über Menschen das Material für ihre eigenen theologischen
Aussagen. Damit soll aber nicht nur gesagt sein, man müsse
vom Glauben und von Gott so sprechen, dass es die Menschen der jeweiligen Zeit verstehen könnten — letztlich eine
Selbstverständlichkeit — sondern: Man kann nicht „über Gott
theologisch etwas aussagen, ohne damit auch schon über den
Menschen etwas zu sagen und umgekehrt."5 Nur wer weiß,
was der Mensch ist, kann auch sagen, was es mit Gott auf
sich habe.6 Denn nach Rahner ist „jede Theologie immer eine
Theologie der profanen Anthropologien und Selbstinterpretationen des Menschen".2
Anthropologie ist für Rahner nicht Folge der Theologie;
sie ist auch nicht als bloß propädeutische Wissenschaft zu
verstehen, sondern maßgebend für die Inhalte (!) der Theologie selbst. „Theologie ist echt verkündbare Theologie nur in
dem Maße, wie es ihr gelingt, mit dem gesamten profanen
Selbstverständnis des Menschen, das dieser in einer bestimmten Epoche hat, Kontakt zu finden, [...] und sich davon in der
Sprache, aber noch mehr in der Sache selbst [sie!] befruchten
zu lassen".8
Aus diesem Grund wird grundsätzlich auf das Zitieren von Sekundärliteratur
verzichtet — obgleich es freilich ein beinahe unüberschaubares Feld von
Literatur zum Thema „K. Rahner" gibt. Dies mag vielleicht als ein Mangel
der Arbeit erscheinen, ergibt sich aber logisch aus der hier gewählten Aufgabenstellung: Es geht nur darum, was Rahner selber gedacht und geschrieben
hat; und dankenswerter Weise formuliert er seine Thesen in der Regel mit
aller nur zu wünschenden Deutlichkeit. Damit aber erübrigen sich tatsächlich Verweise auf die Sekundärliteratur.
5 Schriften VIII, 43.
6 vgl. GK 54.
7 GK 19.
8 GK 19; Rahner erläutert diese Auffassung selber am Beispiel der Angelologie: Will man die kirchliche Engellehre heute noch verstehen, so darf man
sie nicht als bloße Aussagen über eine vom Menschen unabhängige Wirklichkeit verstehen, sondern muss fragen: „Was für ein theologisches Selbstverständnis des Menschen selbst spricht sich in der Angelologie aus?"
(Schriften VIII, 46) Darin liegt nach Rahner der Sinn und Zweck einer theologischen Disziplin.
4
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Theologie wird zur Anthropologie, Anthropologie zur
Theologie. Rahner bestätigt ausdrücklich, dass er „die ganze
Dogmatik als transzendentale Anthropologie betreiben
will."9
Was aber veranlasst Rahner zu diese Äußerung? Was ist
für Rahner der Mensch? Wir berühren mit dieser Frage den
Kern seines ganzen Denkens: Von der Antwort auf diese
Frage erhält seine gesamte Theologie ihre Stoßrichtung.
entziehend — waltet".17 Entbergend, denn der Mensch ist
„jenes Seiende, dem sich die unverfügbare und schweigende
Unendlichkeit der Wirklichkeit als Geheimnis dauernd
zuschickt"' — d. h. der Ort und die Offenbarung des Seins
selbst — und zugleich entziehend, geschieht doch diese Entbergung immer nur im verbergenden Gewande der Erkenntnis eines endlichen Dings — eines „kategoriale(n) Verweise(s)
auf die transzendentale Gegenwart Gottes."I9
Der Mensch als Wesen der Transzendenz
Rahner formuliert selbst: „Der Mensch ist das Wesen der
Transzendenz, insofern alle seine Erkenntnis und seine erkennende Tat begründet sind im Vorgriff auf das ‚Sein' überhaupt."I° Was versteht Rahner unter dieser Aussage? Der
Mensch als das Wesen der Transzendenz interessiert sich
nicht nur für sich selber oder einen klar umgrenzten Ausschnitt der Wirklichkeit, sondern er fragt nach allem, er ist
offen für die ganze Wirklichkeit, er ist immer schon verwiesen auf einen unendlichen Horizont, auf das „heilige Geheimnis", auf Gott hin.11
Soweit liegt noch nichts Ungewöhnliches in der Aussage;
ja, hier wiederholt Rahner sozusagen eine sententia communis der alten Denker, bezüglich der Fähigkeiten der creatura
rationalis. Dass aber „alle seine Erkenntnis und seine erkennende Tat" begründet seien „im Vorgriff auf das ‚Sein' überhaupt" — das ist das besondere und neue an Rahners Theorie.
„Vorgriff auf das Sein" bedeutet hier — so erklärt Rahner
selbst — „das Aufgehen des unendlichen Seinshorizontes von
diesem selbst her"12. Nur weil dem Menschen in seinem
unendlichen Horizont das Sein selber gegeben und „aufgegangen" ist und damit zum Menschen als dem Wesen der
Transzendenz dazugehört, kann er sinnvoll nach allem fragen. Die Erkenntnis der endlichen Dinge im Rahmen eines
unendlichen Horizontes beweist für Karl Rahner, dass das
Sein als Ganzes — verborgen, aber wirklich — immer schon als
Urgrund zum geistigen Subjekt gehört. Geist besteht darin,
dass „er von vornherein in seiner Selbstbewegung auf das
Sein überhaupt seine einzelnen Gegenstände als Momente
dieser seiner unendlichen Bewegung ergreift."I3
Der Mensch ist deshalb „jenes Seiende, dem sich die
unverfügbare und schweigende Unendlichkeit der Wirklichkeit als Geheimnis dauernd zuschickt."14 Nicht aber im Sinn
zweier selbständiger, einander nur zugeordneter Wirklichkeiten — Mensch einerseits und die Unendlichkeit seines geheimnisvollen Horizontes anderseits —, nein, beide sind als
verschiedene Momente einer Wirklichkeit, einer; ja seiner
unendlichen Selbstbewegung zu verstehen.15 Noch mehr:
„Der Mensch ist daher in seinem Wesen, seiner Natur selber
das Geheimnis"16; die Unendlichkeit gehört zu seinem
Wesen, zwar verborgen und als Fragehorizont nur unthematisch reflektierbar, aber essentiell.
Oder nochmals mit anderen Worten: Der Mensch ist der
Ort „wo die Unendlichkeit des Seins — sich entbergend und
Zwei kritische Einwände
Zwei Einwänden sei an dieser Stelle geantwortet:
a) Soll hier behauptet werden, Rahner würde Gott und den
Mensch gleichsetzen und das endliche Erkenntnissubjekt
mit seinem unendlichen Horizont identifizieren?
Niemals! Für Rahner ist der Mensch das Wesen der Endlichkeit und nur Gott die Unendlichkeit des Geheimnisses;
beide sind ja sogar „unendlich verschieden"20. Aber — und
das ist der zentral(st?)e Punkt im Denken Rahners, von
dem alle seine Aussagen erst ihren eigentlichen Sinn erhalten — „der Mensch ist nur deswegen und dadurch dieses
besondere Wesen ‚Mensch' (wenn auch weiterhin
begrenzt), weil er das vom unendlichen Horizont gesetzte
Endlich-Sein des Horizontes selbst ist, weil er das ,Wesen
der Transzendenz ist —.
Es ist richtig: Rahner wendet sich scharf gegen einen Pantheismus. Gott ist weder die Welt, noch das menschliche
Subjekt. Aber die Welt und der Mensch werden von Rahner anderseits auch nicht in einem kreatürlichen Abhängigkeitsverhältnis von Gott gesehen;21 vielmehr werden
Gott und Welt dialektisch verknüpft: „Der Unterschied
zwischen Gott und Welt ist derart, dass das eine den Unterschied des anderen zu sich selber noch einmal setzt und ist
und darum gerade in der Unterscheidung die größte Einheit zustande bringt."22 Gott und Welt sind unterschieden,
weil sich Gott in der Welt (und besonders im Menschen)
als das von ihm verschiedene schafft. Und gerade dadurch
bilden sie eine nicht mehr zu überbietende Einheit, weil
sich doch Gott selber als das Anderssein seiner selbst
setzt."
Von hier aus erhält Rahners Aussage über die unendliche
Verschiedenheit24 von Gott und Welt ihre eigentliche
Bedeutung: Wenn nach der klassischen Analogielehre die
Unähnlichkeit zwischen Gott und Geschöpf immer größer
ist als ihre Ähnlichkeit" — aber immer eine Ähnlichkeit
(bei — eben — gleichzeitiger Unähnlichkeit) aufrecht erhalten bleibt, so werden von Rahner beide durch die unendliche Verschiedenheit einerseits vollkommen getrennt — das
Schriften VIII, S. 44.
I° GK 44.
II GK 42f.
12 GK 45.
13 Karl Rahner, Hörer des Wortes, München 1963, S. 85 (Abgekürzt: „Hörer
des Wortes").
14 GK 46.
15 Vgl. GK 128; dort heißt es über die Transzendenz des Menschen: „Mn der
Transzendenz als solcher ist das absolute Sein das innerste Tragende und
Konstituierende dieser transzendentalen Bewegung auf es hin und nicht ein
äußerlich bleibendes Woraufhin und äußerliches Ziel einer Bewegung."
16 GK 215.
GK 45.
GK 46.
19 GK 93.
20 GK 85.
21 Wenngleich er den Begriff der Kreatürlichkeit für seine Vorstellung verwendet (vgl. GK 83 ff.).
22 GK 71.
23 Oder mit Rahners Worten: „mitteilt", „wegschenkt", „aussagt".
24 „Diese absolute, unumgreifbare Wirklichkeit, die immer der ontologisch
sich verschweigende Horizont aller geistigen Begegnung mit Wirklichkeit
ist, ist damit immer auch unendlich verschieden vom begreifenden Subjekt."
(GK 85)
25 vgl. DH 806.
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17
9
18
Endliche ist gleichsam das Nicht-Sein des Unendlichen,
und damit zugleich die „größte Einheit"26 erreicht.27
b) Zugegeben: Man wird hier unweigerlich an Hegels Dialektik erinnert: Der endliche Geist als notwendiges Durchgangsstadium des absoluten Geistes zur Selbstvermittlung.
Hat sich Rahner aber nicht ausdrücklich von diesem Denken der Notwendigkeit distanziert?28 Betont Rahner deshalb nicht unzählige Mal die Gratuität der Gnade — und die
Unerzwingbarkeit des „Aufgang(s) des Seins"29 im
menschlichen Subjekt, was — so schreibt er ausdrücklich —
„letztlich der Gnade"3° zuzuschreiben sei?
In der Tat, Rahner beschreibt das Verhältnis zwischen
Mensch und Gott, Subjekt und Horizont immer als rezeptiv, als nicht-notwendig, kurz: als gnadenhaft. Und trotzdem — das darf nicht übersehen werden — wird dieses (zwar
kontingente) Verhältnis als im Wesen des Menschen verankert beschrieben. Das Endliche kann das Unendliche zwar
nicht erzwingen, sonst verlöre es gerade seine Endlichkeit.
Aber dennoch es gehört nach Rahner zum Wesen (wenigstens als geschichtliches Faktum) des Endlichen (d. h. des
Menschen), der endliche Seinsmodus des unendlichen
Horizontes zu sein.
So sehr auf der sprachlichen Ebene auf den Erhalt der
Nicht-Notwendigkeit dieses transzendentalen menschlichen Wesens geachtet wird, so sehr wird auf der geschichtlichen Ebene vom Faktum einer derartigen Verfassung des
Menschen ausgegangen.
Die erkenntnistheoretischen Vorentscheide von Rahners
Anthropologie: Der Mensch als Einheit von Subjekt und
Objekt
Die Wurzeln dieses Menschenbildes bei Rahner befinden sich
ganz deutlich in seiner Konzeption des menschlichen
Erkenntnisaktes: Hier zeigt sich unübersehbar, dass die
Begegnung von Mensch, Welt und unendlichem Erkenntnishorizont im Erkenntnisvorgang nicht als ein Aufeinandertreffen von verschiedenen und eigenständigen Wirklichkeit verstanden wird — der Mensch blickt auf ein von ihm klar ver-
und geschiedenes Objekt' —, sondern als der Hervorgang
eines Erkennenden und eines Erkannten, nämlich des Menschen und der Welt, aus einer ursprünglichen Einheit, aus
dem unendlichen Sein. „Das Sein ist der eine Grund, der
Erkennen und Erkanntsein als seine eigene Auszeichnung aus
sich entspringen lässt, und so die innere Möglichkeit einer
vorgängigen wesenhaften inneren Beziehung beider aufeinander begründet."32 Der Mensch ist nicht nur die bloße Verwiesenheit auf das Geheimnis, seinen Erkenntnishorizont,
den ganzen Kosmos, sondern beide stehen letztlich in einer
geheimnisvollen und ursprünglichen Einheit, aus der sie
beide hervorgehen. „Es gibt eine ursprünglichere Einheit [...]
von Wirklichkeit und deren „Bei-sich-selber-Sein" [= dem
erkennenden Subjekt]."33 Und darum kann und muss Rahner
sagen: „Nicht durch Erkenntnis (als Bewusstheit) werden
Erkennender und Erkanntes eins, sondern weil sie seinshaft
eines sind [...] erkennt der Erkennende den Gegenstand."34
Das Leben des Menschen in einer gegenständlichen Welt,
welche er als von sich verschieden erkennt — seine „Welthaftigkeit" — ist deshalb nicht ein zufälliges oder ihm äußerliches
Ereignis, sondern „ein inneres Moment dieses Subjekts
selbst".35 Erst auf diesem Weg der „Selbstentfremdung" des
Menschen ergreift er sich in seiner Ganzheit. „[D]ie weltliche
Selbstentfremdung des Subjekts ist gerade die Weise, in der
das Subjekt sich selber findet und endgültig setzt."36
In seinem Werk Geist in Welt wird Karl Rahner noch deutlicher, indem er kurzum Sein und Erkennen gleichsetzt: „Sein
und Erkennen ist dasselbe."37 Durch das Subjekt geschieht
das „Beisichsein des Seins und dieses Beisichsein ist das Sein
des Seienden"38. Mit anderen Worten: Durch das Erkennen
des Subjektes erwacht das Sein zum Selbstbewusstsein (Beisichsein), und dies ist das Seiende, nämlich als Sein des Seienden. Alles Sein ist Beisichsein des Seins. Damit gibt Rah-
GK 71.
Dass mit dieser Beschreibung wirklich Rahners Menschenbild wiedergegeben wird, wird ganz deutlich in seiner Beschreibung der „aktiven Selbsttranszendenz" des Menschen im Aufsatz Die Einheit von Geist und Materie
im christlichen Glaubensverständnis (Schriften VI, 185-214). Weil der
Mensch in der geheimnisvollen Einheit mit dem Seinsgrund steht, weil das
Endliche mit dem Unendlichen ursprünglich geeint ist, vermag das Endliche
mehr als es selber ist. Rahner spricht von einer aktiven Selbstüberbietung
des Menschen, welche darin besteht, „dass das absolute Sein Ursache und
Urgrund dieser Selbstbewegung des Werdenden derart ist, dass diese Selbstbewegung diesen Urgrund als inneres Moment der Bewegung einerseits in
sich selbst hat [...] und andererseits doch darum nicht Werden des absoluten
Seins ist, weil dieses als inneres Moment der Selbstbewegung des sich selbst
überbietenden Werdens gleichzeitig frei und unberührt über dem Werden
steht, unbewegt bewegend." (S. 211) Und noch deutlicher: „Weil jede endliche Ursächlichkeit kraft des innerlich im Endlichen waltenden absoluten
Seins ist, und zwar immer und wesentlich, so dass gerade durch das Innesein
des absoluten Seins im endlichen Seienden dieses sein eigenes Sein und
seine eigene Tätigkeit hat, kann und muss dem endlichen Seienden die
Ursächlichkeit zugesprochen werden auch für dasjenige, was mehr ist als es
selbst, für das, woraufhin es sich selbst übersteigt." Und deshalb — so Rahner
— kann gesagt werden, „dass ein endliches Seiendes mehr wirken kann, als
es ist." (ebd.) Weil der Mensch immer schon in einer apriorischen Einheit
mit dem Sein steht, kann er als das endliche Seiende in der unendlichen
Kraft des Seins (!) agieren.
28 vgl. Schriften I, Fußnoten auf S. 196f. und 202.
29 GK 45.
30 Ebd.
Auffassung wird sogar explizit verneint. Rahner lehnt „die vulgäre
Auffassung des Erkenntnisaktes als eines Stoßens-auf-etwas, als eines intentionalen Sich-Ausstreckens-nach-,außen ' ab. Erkennen geschieht nicht per
contactum intellectus ad rem." (Hörer des Wortes 59) Vielmehr gilt: „Im
ursprünglichen und grundlegenden Begriff der Erkenntnis (von dem allein
her alle konkreten Erkenntnisweisen metaphysisch zu deuten sind) ist diese
nicht ein ,intentionales` Sichausstrecken des Erkennenden auf einen Gegenstand, ist nicht ‚Objektivität' im Sinne eines Ausgehens des Erkennenden
aus sich selber auf ein anderes, nicht ein aus sich herausschauendes Berühren eines Gegenstandes durch die Erkenntnisfähigkeit, sondern zunächst das
Beisichsein eines Seienden, die innere Erhelltheit eines Seienden für sich
selbst auf Grund einer bestimmten Seinshöhe (Immaterialität), die Insichreflektiertheit." (Schriften 1, 355).
Dieses sein eigenes Verständnis des menschlichen Erkenntnisaktes will Rahner schon bei Thomas von Aquin finden. Er schreibt: „Es wäre ein reines
Missverstehen des Thomas und nichts als das Zeichen einer billigen und
oberflächlichen Interpretation, die die tiefsinnige Metaphysik des Aquinaten
auf das Niveau eines flachen Kopfes herabdrückt, wollte man die Identität
von Erkennen und Erkanntem, die in dieser und ähnlichen Formulierungen
ausgesprochen wird (nämlich das von ihm in diesem Kontext besprochene
„Intellectus in actu perfectio est intellectum in actu" — S.c.G. 11,99), dahin
verstehen, dass ein Erkanntes als solches eben von einem ‚Erkennenden'
erkannt sein müsse, und dass umgekehrt ein Erkennender als solcher eben
‚etwas' erkennen müsse und so beide in diesem Sinne ‚eins' seien. Perfectio
bedeutet vielmehr in dem zitierten Satz eine seinsmäßige Wirklichkeit [!]
des Intellekts als eines Seienden." (Hörer des Wortes 60).
32 Karl Rahner, Geist in Welt, München 19644, S. 82 (abgekürzt: „Geist in
Welt").
33 GK 27. Die transzendentale Erfahrung ist damit der Punkt im Menschen, in
dem „die Struktur des Subjekts und damit auch die letzte Struktur aller
denkbaren Gegenstände der Erkenntnis in einem und in Identität gegeben
ist". (GK 32)
34 Schriften I, 356.
35 GK 51.
36 GK 51.
37 Geist in Welt 82.
38 Ebd.
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26
27
31 Diese
ner seiner Meinung ganz offen Ausdruck, „dass Sein von sich
aus Erkennen und Erkanntheit ist, dass Sein Beisichsein
ist."39 Nur im Erkennen geschieht Sein — und Sein ist immer
schon Erkennen. In der Erkenntnistat des Subjektes (und der
Mensch ist das einzige Subjekt, welches hier in Frage steht)
geschieht Sein, weil das Sein nur durch den Vorgriff des setzenden Erkennens des Menschen als Erkanntes ist. „Das Sein
selbst ist die ursprünglich einigende Einheit von Sein und
Erkennen in ihrer Geeintheit im Erkanntsein."4°
Anmerkung:
Anhand der Zitationen aus den verschiedensten Werken
Rahners lässt sich klar ersehen, dass Rahner an diesem zentralen Punkt seines Denkens von seiner ersten Publikation an
seine Auffassung nie geändert hat. Noch im Grundkurs (erstmals erschienen im Jahr 1976) schreibt er, dass „das Wesen
des Seienden, insofern es Sein hat, innere Gelichtetheit und
personaler Selbstbesitz ist"4' Aufgrund dieser Tatsache gibt
es zwischen einem „frühen" und „späten Rahner" keine prinzipiellen Unterschiede.
die der Welt) aus eben diesem Seinsgrund und umfängt jenen
eben gerade dadurch, nämlich im „Vorgriff auf Sein".
Dieses Erfassen des Seins durch den Menschen hebt
jedoch nicht den Geheimnischarakter des Horizontes auf —
die transzendentale Erfahrung geschieht ja stets unthematisch
und niemals im Bereich kategorialer Erkenntnis. Das
„Woraufhin seiner Transzendenz" (= Gott) — der dunkle und
unsichtbare Mond — bleibt also weiter vom Menschen
getrennt — so wie äußerlich auch Subjekt und Objekt, d. h.
Mensch und Welt selbständig und verschieden bleiben. Es
gelingt deshalb dem Menschen als kleinem Teil der Wirklichkeit nie, die Unendlichkeit des Seins, seinen Handlungshorizont, durch seine eigene Endlichkeit zu „überholen": Der
Mensch bleibt in seiner alltäglichen kategorialen Erfahrungswelt ein endliches Wesen.
Aber gerade diese Erkenntnis der eigenen Gegenüberstellung zur Gesamtwirklichkeit zeigt nach Rahner, dass der
Mensch seinen Horizont grundsätzlich schon eingeholt hat
und in einer ursprünglichen Einheit mit ihm steht. Der
Mensch erkennt die Welt als ein von ihm verschiedenes
Die transzendentale Erfahrung als Ort des Selbstbewusst- Objekt, und genau dies (nämlich die Tatsache der Erkenntnis
seins des Menschen
des Objekts) ist für Rahner der Beweis, dass diese WirklichDie apriorische Einheit von Subjekt und Objekt ist das ent- keit nur in Relation zum Subjekt gedacht werden kann43 —
scheidende Wesensmerkmal des Menschen, sie ist „der und dass deshalb beide zusammen aus einem Horizont — dem
Wesensvollzug des Menschen'''. Sie wird dem Menschen Sein — entstammen müssen. Der Mensch erkennt sich als verbewusst in der sog. transzendentalen Erfahrung, einem wei- schieden von der Welt, aber just darin erkennt er seine Einheit
teren Schlüsselbegriff im Rahnerschen Denken. Sie besteht mit der Welt. Die materielle Welt gehört darum essentiell
nicht in der Wahrnehmung bestimmter kategorialer Einzel- zum „Wesen" des Menschen. Die Umwelt muss verstanden
dinge, sondern ist das nur unthematisch wahrnehmbare Erah- werden „als die erweiterte Leiblichkeit von Geist."44 Materie
nen der grundsätzlichen Verbindung, ja der apriorischen Ein- und Geist sind „unaufhebbar aufeinander bezogen"45 Denn
heit des Menschen mit seinem unendlichen Horizont, welche „[d]as Materielle ist [...] nur als Moment an Geist und für
nach Rahner die notwendige Voraussetzung für jede katego- (endlichen) Geist denkbar."46 Wenn aber Materie nur als Ausdrucksraum des menschlichen Subjektes interpretierbar ist,
riale Erkenntnis bildet.
Fast scheint es, als stelle sich Rahner — im Bild gesprochen dann freilich wird Welt ohne Mensch zur Sinnlosigkeit.47 Die
— den Menschen als eine schmale Mondsichel vor: Nur sie ist gegenständliche Welt erhält nur von ihrer Relation zum Subsichtbar, aber sie ist ausgerichtet auf den ganzen Mond und jekt ihre Berechtigung und Sinnhaftigkeit,48ja sie ist nichts
umklammert ihn als das ihr eigene verborgene Geheimnis. anderes als eine Bestimmung des Geistes. „Materie ist also
Aber gerade damit verrät sie ihre ursprüngliche und wirkliche die Eröffnetheit und das Sich-in-Erscheinung-Bringen des
Einheit mit dem Ganzen: Nur äußerlich erscheint der Mond- personalen Geistes in der Endlichkeit, [...] Moment am
inhalt von der Sichel getrennt. In Wirklichkeit bilden Mond- Geist".49
Noch einmal: Mensch und Welt sind voneinander versichel und unsichtbare Oberfläche eine Wirklichkeit: Die
Sichel ist mehr als sie scheint; sie ist verborgen der ganze schieden; sie sind deshalb von einander unterschieden, weil
sie grundsätzlich als geeint zu verstehen sind. Und damit ist
Mond.
In einem ähnlichen Verhältnis stehen nach Rahner der die Welt — genauer: die vom Menschen geschiedene Welt —
Mensch, seine Welt und der unendliche Seinsgrund: Vorder- exakt der Ort, an dem der Mensch immer schon mit sich selgründig drei selbständige, ja unabhängige Wirklichkeiten, ber umgeht, in dem er sich selber findet. „In Wirklichkeit ist
stellen sie letztendlich drei Momente einer einzigen Realität dasjenige, womit der Mensch primär umgeht, er selbst als der
dar. Indem der Mensch seine kategoriale Erkenntnis reflek- mit dem anderen von sich, der ‚Welt', wissend und handelnd
tiert (d. h. sich bewusst in Gegenüberstellung zur Welt weiß), Umgehende, der Mensch also in einer Einheit und Verschieerkennt er sich wieder in seinem Objekt, den Gegenständen denheit von wissendem Subjekt und begegnendem Objekt,
der Welt. Das Erkennende ist das Erkannte, anders bliebe —
nach Rahner — der Erkenntnisvorgang unverständlich; beide
bilden eine Einheit. Weil aber der Mensch in seiner Erkenntnis nicht auf einen bestimmten Bereich der Wirklichkeit ein- 43
„Die Frage nach einem bestimmten Gegenstand als philosophischen ist notgegrenzt ist, sondern sich in einer bewussten (wenn auch
wendig die Frage nach dem erkennenden Subjekt". (Schriften VIII,50)
unthematischen) Offenheit für die Unendlichkeit erfährt 44 Schriften VI, 204.
(nämlich in der transzendentalen Erfahrung), erkennt er die 45 Schriften VI, 196.
Schriften VI, 203.
ursprüngliche Abkünftigkeit seiner selbst (und damit auch 46
42 „Die christliche Philosophie und Theologie bestreitet nämlich durchaus mit
Recht, dass Gott eine materielle Welt für sich allein schaffen ‚könne', weil
dies einfach sinnlos wäre." (Schriften VI, 203)
48 Nur so wird verständlich, wie Rahner schreiben kann: „Die Struktur des
Subjekts ist vielmehr selber eine apriorische, d. h. sie bildet ein vorgängiges
Gesetz dafür, was und wie etwas sich dem erkennenden Subjekt zeigen
kann." (GK 30)
49 Schriften VI, 206.
'9 Geist
in Welt 83.
Geist in Welt 82.
41 GK 128.
42 GK 157.
4°
— 253 —
— 254 —
wobei Einheit und Verschiedenheit und Unvertauschbarkeit
dieser Momente gleich ursprünglich sind."50
Oder kurz: Wir „sind in der Auskehr zur Welt in uns selbst
eingekehrt."'
Zusammengefasst: Der Mensch definiert als die „zu sich
gekommene Undefinierbarkeit"
Der Mensch besitzt nach Rahner grundsätzlich einen zweideutigen Charakter:52 Als endliches Seiendes ist er Teil der
gesamten Wirklichkeit, ist Träger einer Natur und damit
bestimmbar. Gleichzeitig aber umschließt er als Wesen der
Transzendenz alle Wirklichkeit, hat auf diesem Weg teil an
der Unendlichkeit und ist damit undefinierbar: „Er ist, so
könnte man durchaus ‚definieren', die zu sich selbst gekommene Undefinierbarkeit."9 Der eigentliche Unterschied zwischen Mensch und anderen Dingen liegt also nicht in irgendwelchen festlegbaren Eigenschaften — zwei Beine, aufrechter
Gang usw. — sondern allein in der Unbestimmbarkeit — weil
Unendlichkeit — seines Wesens.54
Aus dieser Doppelgesichtigkeit des Menschen folgt, dass
sich der Mensch in seiner kategorialen Wahrnehmung zwar
einerseits als eine festgelegte Natur erfährt, aber umgekehrt
an sich transzendental unbestimmt ist — und erst durch sein
kategoriales Handeln sich selber — seine Natur — bestimmt.55
Dem Wesen nach unbestimmt (d. h. frei56) ist sein Tun die
Ursache und aktive Schöpfermacht seiner eigenen Natur. Der
Mensch ist das Wesen, welches „in Selbstmanipulation seine
Natur aktiv bildet und gestaltet und sie nicht einfach als
schlechthin kategoriale fixe Größe vorauszusetzen hat."57
Deswegen: Der Mensch ist beides. Seine (bleibende) Natur
ist, keine bleibende Natur zu besitzen.58
Auf diesem Hintergrund wird unmittelbar verständlich,
wie Rahner ohne zu zögern vom Menschen einerseits als endlichem Geschöpf sprechen kann, um andererseits im nächsten
Satz seine unendliche Dimension zu betonen oder seine „endliche Unendlichkeit"59 anzurufen. Wie der Mensch als
Geschöpf einer radikalen Abhängigkeit seines eigenen Horizontes stehen kann, den er jedoch selbst immer schon a priori
im „Vorgriff auf das Sein" umfasst hält. Und — das wird nun in
der Gnadenlehre deutlich werden — wie der Mensch die
„Selbstmitteilung Gottes" als gnadenhafte empfangen kann,
welche aber umgekehrt geschichtlich immer schon zu seinem
Wesen als Mensch gehört. Sich kontradiktorisch widersprechende Aussagen dieser Art sind grundgelegt in der Anthropologie Rahners. Sie sind nicht Anzeichen einer fehlenden
Folgerichtigkeit der Gedankenführung, sondern exakter Ausdruck der Doppeldeutigkeit seines Menschenbildes.6°
Folgen für die Theologie
Soweit Rahners Anthropologie. Was aber hat diese Vorstellung vom Menschen mit Theologie zu tun? Nach Rahner
wurde bereits längst Theologie betrieben. Sein ganzes theologisches Bemühen geht dahin, zu zeigen, dass die christliche
Botschaft nichts anderes meint als die eben beschriebene
Lehre vom Menschen. Im Originalton: „Anthropologie in
ihrer radikalsten Verwirklichung ist in Ewigkeit Theologie."6'
Denn das Geheimnis, auf welches der Mensch von Natur verwiesen ist, die Unendlichkeit seines Horizontes, ist Gott selber. Wenn wir deshalb als Menschen von Gott sprechen, sprechen können, ja sprechen müssen62, dann nur deswegen, weil
wir von Natur aus auf ihn verwiesen sind. Unser Wissen über
Gott hat seinen Ursprung und Begründung allein in der transzendentalen Etfahrung.63 Dementsprechend beginnt Rahners
Theologie immer beim Menschen. Denn: „Die ganze Theologie bedarf dieser transzendental-anthropologischen
Wende"64. Der sog. „anthropologische Ansatz" ist der Ausgangspunkt, „auf den wir [...] nicht verzichten können, wollen wir überhaupt heute noch von Gott reden."65
Die Offenbarung enthüllt dem Menschen folglich nicht
eine Wirklichkeit von außen, d. h. Tatsachen, welche sein
natürliches Wissen wesentlich übersteigen, von denen er
schlechterdings noch keine Vorstellung hätte, sondern: „Sie
[die kirchliche Lehre] sagt also dem Menschen sein eigenes,
immer — wenn auch unreflex — vollzogenes Selbstverständnis
aus."66 Alle christlichen Glaubenswahrheiten — Gnade und
Erlösung, Menschwerdung, Dreifaltigkeit, Auferstehung des
Fleisches usw. — versuchen nur dem Menschen sein unbewusstes Wissen um sein eigenes Wesen — nämlich die transzendentale Erfahrung — bewusst zu machen, mit Worten und
Bildern zu umschreiben.67 Dementsprechend ereignet sich
Offenbarung nicht nur in der Hl. Schrift, sondern überall, wo
der Mensch die transzendentale Erfahrung reflektiert.68 Die
christliche Offenbarung ist nur der „geglückteste Fall der not-
Schriften VI, 197.
in Welt 406.
52 Vgl. Rahners eigene Aussagen in: Geist in Welt 405.
53 GK 215.
54 Genau das ist gemeint, wenn Rahner vom Menschen als „Wesen der Transzendenz", als „Beisichsein des Seins", oder kurz als „Subjekt" spricht.
55 Der Mensch ist ein „sich selbst ins Geplante und eben so auch ins Unverfügbare aufgegebenes Wesen". (Schriften VIII, 57 f.).
56 Freiheit wird deshalb von Rahner immer verstanden als Selbstvollzug (vgl.
GK 102) eines Subjekts: „[I]in Wirklichkeit ist die Freiheit zunächst einmal
die Überantwortetheit des Subjekts an sich selber". (GK 101)
57 Schriften VIII, S. 274. In dem hier zitierten Aufsatz („Experiment Mensch.
Theologisches über die Selbstmanipulation des Menschen") zieht Rahner
die Konsequenzen aus der Tatsache, dass der Mensch einerseits Schöpfer
seines eigenen Wesens ist und gleichzeitig diesem Wesen entsprechend handeln muss — so z. B. wenn er feststellt: „Was er [der Mensch] kann, soll er
auch ruhig tun." (a.a.O. S. 275) Selbst „Aberrationen" können damit positiv
als „Versuche, das alte Wesen neu auszusagen" interpretiert werden, von
denen gilt: „[A]Il das macht erst das ganze Wesen [des Menschen] aus."
(a.a.O. S. 276)
58 vgl. Fußnote 27.
59 GK 67.
Es scheint, dass gerade aufgrund dieser Tatsache die Diskussionen von Texten Karl Rahners oft so mühsam und beinahe ergebnislos verlaufen: Man
kann in der Regel Textbelege für beide Seiten finden. Aber diese Zweideutigkeit offenbart letztendlich seinen eigentlichen Denkansatz.
61 GK 223.
62 Würde der Mensch nicht mehr von Gott reden, so würde er „nicht mehr
jenen geheimnisvollen Vorgang vollziehen, der er ist" (GK 58). Denn „Gott"
ist „das Wort, in dem die Sprache — d. h. das sich aussagende Bei-sich-Sein
von Welt und Dasein in einem — sich selber in ihrem Grund ergreift." (GK
58)
63 Rahner verneint ausdrücklich, dass wir „von irgendwo anders her als eben
durch diese Verwiesenheit auf das Geheimnis selbst wüssten, was mit „Gott"
gemeint ist." GK 54
64 Schriften VIII, 54.
65 GK 89.
66 GK 133.
67 Über den göttlichen Offenbarungsträger weiß Rahner zu berichten: „Der
Prophet ist, theologisch gesehen, nichts anderes als der Glaubende, der seine
transzendentale Gotteserfahrung richtig aussagen kann." (GK 163).
68 Damit sei freilich nicht gesagt, dass für Rahner „Offenbarung" ein natürlicher Vorgang sei. Vielmehr wird die transzendentale Erfahrung mit dem
lumen fidei gleichgesetzt. Auf diese Weise spricht Gott durch jeden Menschen. „Nur dort, wo Gott das subjektive Prinzip des Redens und des glaubenden Hörens des Menschen ist, kann Gott selbst sich sagen, weil sonst
jede Aussage Gottes, gleichsam über den radikalen Unterschied von
Geschöpf und Gott hinüberwandernd, der Menschlichkeit, Endlichkeit und
bloß menschlichen Subjektivität untertan würde." (GK 154).
— 255 —
— 256 —
50
51 Geist
60
wendigen Selbstauslegung der transzendentalen Offenbarung.<469
II. Rahners Gnadenlehre: Anthropologie im Gewand theologischer Begrifflichkeit
Der Mensch als Ereignis der absoluten Selbstmitteilung
Gottes
Was liegt näher, als in der Gnadenlehre eine Weiterführung
der Anthropologie zu erwarten? „Weiterführung", weil — so
die gewöhnliche Vorstellung — nach der Untersuchung, was
der Mensch kraft seiner Natur ist, nun zu untersuchen ist, wie
dieser Mensch von Gott begnadigt werden könne; wie nach
der Schöpfung des Menschen als imago Dei jetzt die Erhebung in den Stand der filii Dei zu verstehen sei.
Doch hier überrascht Rahner den Leser mit der These, der
Mensch sei bereits so, wie er sich tagtäglich erfahre, das von
der Gnade hervorgebrachte Wesen. „Der Mensch ist das
Ereignis einer freien, ungeschuldeten und vergebenden, absoluten Selbstmitteilung Gottes."7°
Der Begriff der „Selbstmitteilung Gottes" — einem Schlüsselbegriff in Rahners Gnadenlehre — ist der Sache nach auch
der „alten" Theologie bekannt. Im Allgemeinen herrschte
Einigkeit darüber, dass durch die Rechtfertigung dem Menschen Gnaden geschenkt werden (geschaffene Gnaden, nämlich aktuelle und habituelle), die ihn darauf vorbereiten,7' den
dreifaltigen Gott selber als gratia increata zu empfangen
(vgl. Joh 14,23 „Wir werden kommen und Wohnung bei ihm
nehmen.") Und nichts spricht dagegen, diesem Vorgang den
Namen „Selbstmitteilung Gottes" zu geben.
Neu an Rahners Konzeption dagegen ist, in dieser übernatürlichen Gnadenmitteilung das Wesen, ja den Wesenskern
des konkreten Menschen zu sehen. Beinahe wahllos können
Textbelege für diese Vorstellung angeführt werden: „Das
Wort ,Selbstmitteilung ' will wirklich bedeuten, dass Gott in
seiner eigensten Wirklichkeit sich zum innersten Konstitutivum des Menschen selber macht."72 Und: „Gott ist in dem,
was wir Gnade und unmittelbare Anschauung Gottes nennen,
wirklich ein inneres konstitutives Prinzip des Menschen."73
Gnade als unentrinnbares Schicksal des Menschen: das
übernatürliche Existential
Rahner versteht diese Sätze über die Selbstmitteilung Gottes
nicht als Aussagen über eine neue — nämlich göttliche —
Wirklichkeit im Menschen, welche diesem von Gott „zusätzlich" verliehen würde, sondern als Ausdruck des allgemeinen
und geschichtlich erfahrbaren Wesens des Menschen, wie es
im Abschnitt über die Anthropologie beschrieben wurde. In
jedem Menschen gibt es deshalb nach Rahner diese „Ausgerichtetheit des menschlichen Daseins auf die Unmittelbarkeit
Gottes. Diese Ausgerichtetheit nennen wir Gnade; sie ist ein
unentrinnbares Existential des ganzen Wesens des Menschen
auch dann noch, wenn er sich diesem in freiem Nein verschließt."74 „Selbstmitteilung Gottes" meint also nichts anderes als die radikale Offenheit des Menschen für das Sein, welche eine apriorische Einheit beider impliziert und welche per
GK 159 vgl. auch Schriften VI, 549: Offenbarung ist „nur die Ausdrücklichkeit dessen, was wir immer schon aus Gnade sind und wenigstens unthematisch in der Unendlichkeit unserer Transzendenz erfahren."
70 GK 122.
71 Ob vorbereiten als zeitliches oder nur als logisch zuvor (wie Rahner meint)
verstanden werden muss, ist in diesem Zusammenhang ohne Belang.
72 GK; vgl. Schriften IV, 221.
73 GK 127.
74 GK 66.
69
— 257 —
definitionem zum Menschen dazu gehört. In dieser Ausgerichtetheit öffnet sich das unendliche Sein dem endlichen
Menschen, teilt sich ihm mit und macht sich zum Fundament
seines Seins und Erkennens. „Selbstmitteilung Gottes"
bezeichnet also letztlich nichts anders als den Vollzug der
transzendentalen Erfahrung im Menschen. Konsequent folgert Rahner: „In diesem Sinn muss jeder, wirklich radikal
jeder Mensch als das Ereignis einer übernatürlichen Selbstmitteilung Gottes verstanden werden."75 Und: „Die Selbstmitteilung Gottes muss [...] — unbeschadet ihrer Ungeschuldetheit — in jedem Menschen gegeben sein."76 Und: Gott hat
„sich in seinem heiligen Pneuma als er selbst schon immer
und überall jedem Menschen — ob er will oder nicht, ob er es
reflektiert oder nicht, ob er es annimmt oder nicht — als die
innerste Mitte seiner Existenz mitgeteilt.""
Mit dieser Lehre vom übernatürlichen Existential, bestätigt und bekräftigt K. Rahner indirekt das im ersten Abschnitt
vorgetragene Verständnis seiner transzendentalen Anthropologie, nämlich der ursprünglichen Einheit von unendlichem
Horizont und erkennendem Subjekt im Menschen. Genau
dies drückt Rahner hier noch deutlicher in einer theologischen Begrifflichkeit aus: der Mensch ist die apriorische Einheit von Natur und Gnade.
Das Faktum der Selbstmitteilung Gottes an den Menschen
— an jeden Menschen — wird von Rahner mit dem Fachterminus des übernatürlichen Existentials bezeichnet. Sie ist jedem
Menschen von Gott geschenkt — unabhängig, ja bereits vor
der eigenen Stellungnahme des Menschen zu Gott. Vielmehr
bewirkt sie selbst ihre eigene Annahme im Menschen „Die
Selbstmitteilung erwirkt als solche ihre Annahme".78 Begründet sieht Rahner diese Auffassung in der kirchlichen Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Erlösung,
d. h. zwischen dem universalen Heilshandeln Christi und der
subjektiven Annahme der Erlösung durch den konkreten einzelnen Menschen. Denn — so Rahner — die Erlösung Christi
als solche darf nicht nur als Heilsangebot Gottes an den Menschen verstanden werden, welches diesen an sich unberührt
ließe, sondern muss ihn — noch einmal: lange vor jeder persönlichen Stellungnahme — auf ein übernatürliches „Niveau"
erhöhen, ihn erlösen, ja ontologisch verändern.
Rahner lässt den Leser in keinem Zweifel bzgl. seiner
eigenen Meinung: „[I]m voraus zu seiner subjektiven Stellungnahme ist der Mensch ein anderer (als er als bloßes
Geschöpf und bloßer Sünder wäre), weil die Erlösung in
Christo geschehen ist, [...] so dass er in alle Ewigkeit, selbst
in seiner Verdammnis, von diesem ‚ist' bestimmt bleibt. Dieses ‚ist', das ihn immer bestimmt, schafft er nicht durch
Glaube und Liebe, er nimmt es vielmehr durch sie ,zur
Kenntnis' [...], so dass dadurch etwas in ihm geschieht, was
sein Heil bedeutet [...]. Nennen wir dieses ‚ist' ein übernatürliches Existential, dann können wir sagen: Im voraus zur subjektiven Heilsaneignung ist der Mensch innerlich bestimmt
durch ein übernatürliches Existential, das darin besteht, dass
Christus in seinem Tod den sündigen Menschen vor dem heiligen Gott ‚gerechtfertigt' hat."79
Würde man also dieses ontologische „ist" auf eine übernatürliche Befähigung zur Entscheidung für oder gegen eine
subjektive Heilsaneignung verkürzen, welche aber das Sein
GK 133.
GK 134.
77 GK 144.
78 Karl Rahner, Begr. „Gnade" in: LThK IV2, Freiburg i. Br 1960, Sp.992
79 Schriften IV, 250.
75
76
— 258 —
des Menschen als Sünder noch unberührt ließe, so hieße es,
Rahner misszuverstehen. Durch das übernatürliche Existential befindet sich der Mensch im Stand des objektiven
Gerechtfertigtseins,86 er ist immer schon erlöst. Gottes objektiver Heilswille hat den Menschen immer schon übernatürlich
erhoben. „[I]m voraus zur Rechtfertigung durch die sakramental oder extrasakramental erworbene heiligmachende
Gnade, steht der Mensch immer schon unter dem allgemeinen, infralapsarischen, Erbschuld u. persönliche Schuld
umgreifenden Heilswillen Gottes, ist [sic] er erlöst."81
Menschliche Akte als göttliche Akte
Durch diese ontologische Erhöhung des Menschen, durch
sein apriorisches übernatürliches Existential, welches seine
objektive Rechtfertigung meint, ist es dem Menschen nun
möglich, sein Heil durch eigene Akte zu wirken. Warum
durch eigene Akte? Weil seine Natur als übernatürlich erhobene (was aber zu seinem geschichtlich-konkreten Wesen
gehört) auf einer übermenschlichen Ebene zu handeln vermag. Menschlich-natürliche Werke — d. h. Akte, zu welchen
der Mensch kraft seiner Natur befähigt ist — vermögen niemals seine Rechtfertigung zu bewirken. Weil aber der
Mensch nach Rahner immer im Modus des übernatürlichen
Existentials lebt und handelt — den nicht-übernatürlich-erhobenen Menschen gibt es bei Rahner nicht — deshalb kann die
Unterscheidung zwischen natürlichen und übernatürlichen
Akten nur noch theoretisch aufrechterhalten bleiben; im konkreten Menschen aber wird sie zur Unmöglichkeit: Natur und
Übernatur bilden eine ununterscheidbare Wirklichkeit. Deswegen „darf man auch nicht zwischen einem göttlichen und
einem menschlichen Glauben unterscheiden, als ob das zwei
verschiedene Wirklichkeiten seien. Haargenau jener Glaube,
den der Mensch als seinen freien menschlichen Akt setzt, ist
der Glaube, den Gott uns schenkt in seiner Tat an uns".82
Was für den Glauben gilt, gilt in gleicher Weise auch für
die anderen theologischen Tugenden. Auch für die übernatürliche caritas muss der Mensch eine „Kongenialität"B besitzen. „Er muss also eine reale ‚Potenz' [im Sinne einer aktiven
Befähigung] für sie haben. Er muss sie immer haben."84
Die Ungeschuldetheit der Gnade
Was meint Rahner mit diesen Aussagen? Wie kann man
jeden Menschen als Produkt einer gnadenhaften Selbstmitteilung Gottes verstehen? Bedeutet dann „Gnade" nichts anderes als „Menschsein"? Kann es überhaupt noch einen Menschen „ohne Gnade" geben? Ist dann aber die Gnade nicht zu
einem notwendigen Ereignis im Menschen geworden, welches seine Ungeschuldetheit — das Wesensmerkmal der
Gnade schlechthin — verloren hat?
80 Vgl. Schriften IV, 251: Rahner spricht hier explizit von einem „übernatürliche[n] Existential des durch Christus vor Gott (objektiv) Gerechtfertigtseins". Die subjektive Heilsaneignung wird im Anschluss daran ganz auf das
Sich-bewusst-Werden dieses immer schon vollzogenen objektiven Gerechtfertigtseins reduziert.
81 Karl Rahner, Art. „Existential, übernatürliches"; in: LThK 3, Freiburg i. Br.
21959, Sp. 1301
82 Schriften IV, 257; vgl. auch: „[W]enn der Mensch vor Gott (durch den gnadengeschenkten Glauben und die Liebe) subjektiv gerechtfertigt werden
kann und wenn dieses Können dem Akt der (subjektiven) Rechtfertigung
selbstverständlich vorausgeht, dann ist dieses ‚Können', diese Potenz, einerseits doch seine, also ihm ‚innerlich' (sosehr sie dauernd an der Gnade Gottes hängt), und anderseits doch etwas, das ihm nicht wesensnotwendig von
‚Natur' aus zukommt, sondern allein durch den Tod Christi." (Schriften IV,
250).
83 Schriften I, 338.
84 Ebd.
— 259 —
An dieser Stelle ist es notwendig, an den doppeldeutigen
Charakter des Rahnerschen Menschen zu erinnern: er ist
einerseits ein kleiner unbedeutender Teil des Kosmos, und
andererseits — verborgen, aber ebenso voll wirklich — das
Wesen, dem durch den Vorgriff auf Sein die gesamte Wirklichkeit zugesagt, zugeeignet, „zugeschickt" ist. Vom ersten
Aspekt aus betrachtet bewahrt die Gnade ihren Charakter der
Ungeschuldetheit: das endliche Wesen „Mensch" vermag als
kleiner Teil der Welt niemals sich die Gesamtheit des Seienden als eigenes Konstitutivum einzuverleiben. Der Mensch
hat — von hier aus betrachtet — kein Recht auf Gnade. Gott
muss sich ihm von sich aus — d. h. frei — huldvoll zuwenden.
Deshalb gilt auch durchaus für Rahner: „Geist ist schon sinnvoll, ohne dass er übernatürlich begnadet ist."85 Wäre dies
aber bereits die vollständige Beschreibung, was Menschsein
bedeute, dann würde sich der Mensch nach Rahner nicht vom
Tier unterscheiden. Der Mensch als Mensch ist deshalb
immer schon mehr als diese Sicht, mehr als er selber, nämlich
das Wesen der Transzendenz, derjenige, der im erkennenden
Vorgriff auf Sein seinen eigenen Grund umgreift. Freilich:
Gott hätte auch ein Wesen erschaffen könnten ohne diese
Auszeichnung. Dann gäbe es eben kein Wesen der Transzendenz, keinen Menschen. Wo sich aber ein Wesen als Träger
der transzendentalen Erfahrung erfährt, erfährt es Gnade.
Und damit ist gesagt: Gnade bedeutet, dass sich der Mensch
erkennt als das, was er immer schon ist, und als was er sich
immer schon — wenigstens implizit — weiß.86 Denn „das
Wesen des Menschen [ist] gerade so, dass es da erfahren
wird, wo Gnade erfahren wird, da diese nur erfahren wird, wo
von Natur aus Geist ist. Aber auch umgekehrt: wo Geist in
der faktischen Ordnung erfahren wird, ist er ein übernatürlich
erhobener Geist."87
Also: Zwar mag vielleicht abstrakt ein Mensch — betrachtet man ihn in Hinblick auf seine Endlichkeit — ohne Gnade
vorstellbar sein, sobald sich aber der Mensch als Mensch
erkennt, als Wesen der Transzendenz, vollzieht sich die
Selbstmitteilung Gottes, weil er, der Mensch, sich in Einheit
mit seinem Grund (Gott) erkennt. Auf diesem Weg rettet
Rahner den Begriff der Ungeschuldetheit der Gnade und die
Unterscheidung zwischen Natur und Gnade: Das Endliche
und Begrenzte kann per se nie einen Anspruch gegenüber
dem Absoluten geltend machen; Gottes Selbstmitteilung lässt
sich nicht erzwingen. Deshalb schreibt Rahner: „Die geistige
Natur wird so sein müssen, dass sie eine Offenheit hat für
dieses übernatürliche Existential, ohne es darum von sich aus
unbedingt zu fordern. Man wird diese Offenheit nicht bloß
als Nicht-Widersprüchlichkeit denken, sondern als eine
innere Hinordnung, vorausgesetzt nur, dass sie nicht unbedingt ist."88 Und: „Darum versteht die christliche Theologie
diese Selbstmitteilung [Gottes] als absolut gnadenhaft, d. h.
als ,ungeschuldet`, und zwar jedem endlichen Seienden
gegenüber."89 Und nochmals: „[D]ie Selbstmitteilung kann
gar nicht anders als ungeschuldet sein; d. h. der Wille zu einer
‚bloß' ungeschuldeten Selbstmitteilung ist nicht nur Tatsache,
sondern Notwendigkeit."9° Der endliche Mensch muss sich
85 Schriften
IV, 234.
„Die Selbstoffenbarung Gottes in der Tiefe der geistigen Person ist eine von
der Gnade herkommende, an sich selbst unreflexe, apriorische Bestimmtheit, ist nicht an sich schon gegenständlich sachhafte Aussage, ist Bewusstheit, nicht Gewusstheit." (GK 175).
87 Schriften IV, 232.
88 Schriften zur Theologie I, S. 342.
89 GK 129.
9° Schriften I, 337.
86
— 260 —
immer in Abhängigkeit von seinem unendlichen Horizont
erfahren. Der „Aufgang des Seins", welchen der Mensch in
der transzendentalen Erfahrung wahrnimmt, ist „letztlich der
Gnade" zu verdanken.9'
Doch damit widerspricht Rahner nicht seinen vorhergegangenen Aussagen, dass der Mensch das Wesen der Transzendenz ist. Im Gegenteil: hier wird nur zu Ende gedacht,
was es bedeutet, wenn der Mensch als endlicher wirklich das
BeiSichSein des Seins ist: Nämlich ein Seiendes, welches nur
dann ganz und voll verstanden wird, wenn es wirklich als der
endliche Seinsmodus des unendlichen Horizontes gedacht
wird. Das Endliche vermag das Unendliche nicht zu zwingen,
sonst wäre es nicht endlich. Gleichzeitig ist aber das Endliche
nur denkmöglich als — freimitgeteilte — Subsistenzform des
Seins. Kurz: Der Mensch hat von sich aus kein Recht auf
Gnade, wenn er aber Mensch ist, dann ist er begnadet.
Umgekehrt könnte das gleiche Paradoxon in Rahners Denken auch in Bezug auf Gott gezeigt werden: Der Seinsgrund
(Gott) bedarf an sich nicht der Welt; er ist absolute Freiheit.
Insofern er sich aber ausdrücken will, muss er den Menschen
(d. h. das Endliche seiner selbst) schaffen. „Will Gott in Freiheit aus sich heraustreten, muss er den Menschen schaffen."92
In diesem Sinn bleibt die Gnade zwar den Begriffen nach
gnadenhaft und ungeschuldet, kommt aber gleichzeitige allen
Menschen als Menschen notwendig zu. „Diese ‚Situation'
[d. h. das übernatürliche Existential] [...] ist eine realontologische Bestimmung des Menschen selbst, die als Objektivierung des allgemeinen göttlichen Heilswillen zwar gnadenhaft
zu seinem Wesen als ‚Natur' hinzutritt, dieser aber in der realen Ordnung nie fehlt."93
Oder noch klarer: Der Mensch ist das Produkt der göttlichen Selbstmitteilung — zwar unverdient und ohne Anspruch,
und zur gleichen Zeit doch immer und unverlierbar —, „weil
in der konkreten Ordnung der Mensch er selber ist durch das,
was er nicht selber ist, und weil das, was er selber unweigerlich und unverlierbar ist, ihm [...] in absoluter, freier, uneinklagbarer Liebe zu eigenen gegeben ist: Gott in seiner Selbstmitteilung."94
Natur als Restbegriff
Nach der Erläuterung des übernatürlichen Existentials stellt
sich freilich die unausweichliche Frage, welche Bedeutung
bei dieser Konzeption noch der menschlichen Natur als solcher bleibt. Was wird durch den Begriff „Natur" ausgedrückt? Klassischer Weise bezeichnet „Natur" das, was einer
bestimmten Art von Seienden als Handlungsprinzip gemeinsam ist;95 und dieses wiederum wird erkannt durch die für
diese Art von Dingen eigentümlichen Handlungen und Akte.
Eine natura rationalis bezeichnet deshalb ein Wesen, welches
zu Vernunftakten fähig ist.
Durch das übernatürliche Existential ist aber nach Rahner
jedem Menschen ein Handlungsprinzip (d. h. streng genommen eine zweite „Quasi-Natur") geschenkt, welches per definitionem nicht zur Natur des Menschen gehört. Sondern — so
Rahner — von der eigentlichen Natur „abzuziehen" ist. Natur
und Gnade sind deshalb zu verstehen als Unterscheidung
„zwischen dem, was diese ungeschuldete reale Empfänglichkeit, das übernatürliche Existential ist, und dem, was als Rest
bleibt, wenn diese innerste Mitte abgezogen wird vom
Bestand seines konkreten Wesens, seiner ‚Natur'. ‚Natur' [...]
ist somit ein Restbegriff."96 Denn „das konkret erfahrene
Wesen des Menschen differenziert sich in dieses übernatürliche Existential als ein solches und in den ‚Rest': diese reine
Natur."97
Damit entsteht freilich unmittelbar die Schwierigkeit, ja
Unmöglichkeit, zu bestimmen, was die „Natur" des Menschen nun eigentlich genau ist. Bleibt nach dieser Subtraktion
überhaupt etwas übrig, wenn vom konkreten Menschen die
Gnade, die ja seine „innerste Mitte" (!) ist, abgezogen werden
soll? Rahner gesteht selbst: „Wie also seine Natur [sc. die des
Menschen] für sich allein reagieren würde, was sie für sich
allein genau wäre, das lässt sich genau nicht ausmachen.""
Diese Folgerung aus der Gnadenlehre verweist uns erneut
auf das Menschenbild der Rahnerschen Anthropologie:
Bereits dort sah sich Rahner genötigt, die Natur des Menschen (insofern noch von Natur gesprochen werden kann) als
„die zu sich selbst gekommene Undefinierbarkeit"99 zu „definieren", da er das immer schon vom unendlichen Horizont
umfangene Wesen sei. Derselbe Sachverhalt wird nun in
Begriffen der Gnadenlehre ausgedrückt: Weil der Mensch in
seiner Natur immer schon gnadenhaft erhoben und überformt
ist — kraft des übernatürlichen Existentials — muss auch hier
seine Natur in der Unbestimmbarkeit verschwimmen. Es gilt,
„,Natur` nicht als dingliche Sache, sondern als transzendentale Geistigkeit"°° zu begreifen. Natur und Gnade sind damit
nicht mehr zwei Prinzipien, welche je eigenständige Wirklichkeiten bezeichnen, die sich erst im Menschen (durch
Gnade) gegenseitig durchdringen (ohne ihrer Verschiedenheit
zu verlieren), sondern werden zu sich gegenseitig dialektisch
bedingenden Begriffen. „Natur sagt darum auch gar nicht einfach undialektisch: Nicht-Gnade und so (in der faktischen
Ordnung) etwas, was ‚für sich' auch ohne Gnade, in sich
gegründet, auskommt, nicht die Grundlage, die auch ohne
den ,Überbau bestehen könnte, sondern das Niedrigere, das,
obzwar Voraussetzung des Höheren, am Höheren hängt, weil
schließlich alles am Höchsten hängt".'°'
Hier wird mit jeder nur denkbaren Deutlichkeit die gegenseitige, ja dialektische Verknüpfung von Natur und Gnade
beschrieben: Die Natur bleibt weiterhin „Voraussetzung des
Höheren", nämlich der Gnade; doch diese ist nur möglich,
weil immer schon Gnade — d. h. Selbstmitteilung Gottes —
möglich und faktisch wirklich ist, „weil schließlich alles am
Höchsten hängt".1°2 Damit werden Gnade und Natur —
obgleich begrifflich weiterhin voneinander unterschieden — in
einer sog. „ursprünglicheren" und „höheren" Einheit konfundiert.
Die Vorstellung der Rahnerschen transzendentalen
Anthropologie, wo der Mensch mit seinem Verständnishorizont in einer ursprünglichen Einheit postuliert wurde, scheint
Vgl. GK 45.
Karl Rahner, Der dreifaltige Gott als transzendenter Urgrund der Heilsgeschichte, in: Johannes Feiner, Magnus Löhrer (Hg.), Mysterium Salutis.
Grundriss heilsgeschichtlicher Dogmatik. Band II, Einsiedeln 1967, S. 375
(abgekürzt „MySal II").
93 Karl Rahner, Art. „Existential, übernatürliches"; in LThK 3, Freiburg i. Br.
2 1959, Sp 1301.
94 GK 130.
95 „[N]atura autem est principium actionis". (Thomas von Aquin, In libros
metapysicorum 12,3,4).
Schriften I, 340.
Schriften I, 342.
98 Schriften I, 341.
99 GK 215.
Im Schriften VIII, 54.
101 Schriften IV, 271.
102 Vgl. dazu GK 221 „Zwar kann es das Geringere immer ohne das Größere
geben, obwohl das Geringere immer in der Möglichkeit des Größeren gründet und nicht umgekehrt."
— 261 —
— 262 —
91
92
96
97
allgegenwärtig. Nicht umsonst bezieht sich Rahner in seinen
Ausführungen über die Selbstmitteilung Gottes, ausdrücklich
auf diese Ergebnisse der transzendentalen Erfahrung in der
Anthropologie. „Schon in der Transzendenz als solcher ist
das absolute Sein das innerste Tragende und Konstituierende
dieser transzendentalen Bewegung auf es hin".103
Ausgehend von dieser dialektischen Verknüpfung von
Natur und Gnade, von endlichem Subjekt und unendlichem
Horizont, lässt sich unschwer eine Brücke schlagen zu dem,
was Rahner mit seinem Begriff eines „formalen Ursächlichkeitsverhältnis" (einem weiteren Schlagwort seiner Gnadenlehre) zwischen Gott und dem Menschen meint.
Gottes Formalursächlichkeit in seiner Selbstmitteilung
Selbstmitteilung Gottes bedeutet, dass „Gott in seiner eigensten Wirklichkeit sich zum innersten Konstitutivum des Menschen selber macht."1°4 Weil also Gott selbst die Gabe ist,
wäre es nach Rahner unzureichend, im Bezug auf die Begnadigung des Menschen von einer Wirkursächlichkeit zu sprechen, d. h. von bloßen Wirkungen am Menschen, welche Gott
hervorbringt und das Geschöpf auf die Einwohnung des dreifaltigen Gottes im Menschen vorbereiten. Selbstmitteilung
Gottes besteht nach Rahner nicht darin, dass Gott etwas am
Menschen verändert, sondern dass er selbst als Form am
Menschen wirkt, dass er sich als Seinsprinzip — als forma —
dem Mensch schenkt, und damit dem Menschen eine unendliche Dimension, nämlich die Unendlichkeit, verleiht. Die
Selbstmitteilung Gottes als „innerste Mitte" der menschlichen Existenz wird deshalb von Rahner als ein ‚formales
Ursächlichkeitsverhältnis" w5 bezeichnet, um klar zu betonen,
dass Gott durch seine Selbstmitteilung den Menschen nicht
nur äußerlich — d. h. akzidentell und „extrinsek"— verändert,
sondern essentiell, dass er selbst zur Form des Menschen
wird.106 Die Gnade setzt Gott und das Geschöpf in die Beziehung „einer formalen Ursächlichkeit"Kg, ja sogar in die Relation einer „inneren formalen Ursächlichkeit"ms.
Was bedeutet das wirklich? Ein Ding ist durch seine Form
das, was es ist. Die Form stellt, zusammen mit der Materie,
die beiden konstituierenden Prinzipien jedes (materiell) Seienden dar. Materie und Form bilden im konkreten Seienden
eine Einheit. Mit der Theorie der Selbstmitteilung Gottes als
formale Ursächlichkeit Gottes am Menschen gelingt es Rahner erneut, seinen Grundgedanken der transzendentalen
Anthropologie in die theologische Sprache zu übersetzten.1°9
Seinsgrund und menschliches Subjekt bilden beide — freilich
„gnadenhaft" — eine apriorische Einheit; der unendliche Horizont gehört als undefinierbares Element mit zum Wesen des
Menschen. Oder gnadentheologisch ausgedrückt: Gott teilt
sich dem Menschen in formaler Ursächlichkeit mit. „Gott
teilt sich selbst mit seinem eigenen Wesen in einer formalen
Ursächlichkeit dem begnadeten Menschen mit, so dass also
GK 128.
GK; vgl. Schriften IV, 221.
105 GK 127; manchmal spricht Rahner auch von einer „quasiformalen Selbstmitteilung" vgl. Schriften IV, 221.
106 Gott als gratia increata ist nichts anderes als eine Bestimmung am Menschen. „Denn sie [die Gnade] ist, unbeschadet der Tatsache, dass sie Gott
selbst in Selbstmitteilung ist, [...] eine Bestimmung des geistigen Subjekts
als solchen zur Unmittelbarkeit zu Gott." (Schriften VIII, 53)
107 Schriften I, 357.
1°8 GK 127.
109 Dies ist nicht als ein übel gesinnter Vorwurf gegen Rahner zu verstehen, sondern entspricht vielmehr seiner expliziten Intention. Ist es doch einzige Aufgabe der theologischen Reflexion, „dem Menschen sein eigenes, immer —
wenn auch unreflex — vollzogenes Selbstverständnis" auszusagen. (GK 133)
103
104
— 263 —
diese Mitteilung nicht bloß die Folge einer effizienten Verursachung der geschaffenen Gnade ist."11°
Damit vermag Rahner auch einsichtig zu begründen, wie
sich auch der übernatürlich erhobene Mensch weiterhin endlich und begrenzt erfahren kann — obgleich er doch von Gott
als seiner forma inwendig geprägt ist. Weil durch die formale
Ursächlichkeit Gott sich nur als konstituierendes Prinzip des
Menschen schenkt, kann dieser das endliche Wesen bleiben,
welches doch die Unendlichkeit umfangen hält. „Göttliche
Selbstmitteilung besagt also, dass Gott sich als er selbst an
das Nicht-Göttliche mitteilen kann, ohne aufzuhören, die
unendliche Wirklichkeit und das absolute Geheimnis zu sein,
und ohne dass der Mensch aufhört, das endliche, von Gott
unterschiedene Seiende zu sein."
Konsequenzen der Rahnerschen Gnadenlehre: die Lehre
vom anonymen Christen
Wenn in Wirklichkeit jeder Mensch von einem übernatürlichen Existential erhöht und Empfänger einer formalursächlichen Selbstmitteilung Gottes ist, so folgt unweigerlich die
Frage: Wozu dann noch christliches Leben und Lehre, wenn
die Gnade, welche das Christentum dem Menschen vermitteln will, eben diesem Menschen von Natur aus mitgegeben
ist? Rahner beantwortet diese Frage, indem er nochmals
bekräftigt: „Die Predigt ist die ausdrückliche Erweckung dessen, was schon in der Tiefe des Menschenwesens da ist, nicht
von Natur, sondern von Gnade."112 Warum nicht von Natur,
sondern von Gnade? Weil die Selbstmitteilung Gottes nicht
zu seiner (Rest-)Natur gehört und deshalb von Seiten Gottes
immer ungeschuldet — sprich Gnade — ist. Wohl aber zum
Wesen des Menschen gehört und damit jedem Menschen
gegeben ist.
Aber nicht nur die Gnade rechnet Rahner zum (wenigstens
konkreten) Wesen des Menschen; selbst die beseligende Gottesschau der Heiligen gehört zur Vollständigkeit des Menschseins. „Die visio beatifica ist der aktuellste Vollzug des (bloßen) [!] Menschseins selbst."13
Damit wird der eigentliche Sinn der Rahnerschen Lehre
vom „anonymen Christen" unmittelbar einsichtig: Wenn
jeder Mensch als geistiges Wesen das Ereignis einer Selbstmitteilung Gottes ist, dann ist er in seinem tiefsten Innersten
— zumindest unbewusst — bereits das, was der Christ ausdrücklich und explizit ist. Die Verkündigung des Evangeliums kann damit reduziert werden auf Selbstreflexion des
Menschen, auf das, was Menschsein eigentlich meint. Auf
diese Weise ist jeder Mensch ein „anonymer Christ".
Gnadenlehre im evolutionistischen Weltbild: Gnade als
letzte Evolutionsstufe der Weltgeschichte
Rahner will mit seiner Theologie den heutigen Menschen und
sein Selbstverständnis erreichen. Um dies zu gewährleisten
wird von ihm „die evolutive Weltanschauung als gegeben
vorausgesetzt"114 und die traditionelle Theologie entsprechend interpretiert. Deshalb muss das, als was der Mensch
sich ausdrücklich erkennt, nämlich die Anwesenheit des
Grundes im Begründeten, auf einer tieferen und unbewussten
Stufe für alle Dinge gelten: Die Selbstmitteilung Gottes als
unbewusste ist das Prinzip der Entfaltung des Kosmos. Die
Schriften I, 362.
GK 125f.
112 Schriften IV, 229.
113 Schriften I, 204.
114 GK 180.
110
111
— 264 —
Unmittelbarkeit Gottes muss „in sich und in ihrer kategorial
geschichtlichen Objektivierung von vornherein in diese Welt
eingestiftet sein."' Die Selbstmitteilung Gottes ist nicht nur
dem Menschsein wesentlich, sondern auch eine Voraussetzung für die Möglichkeit einer Schöpfung. „Alle Schöpfungsgeschichte [ist] schon getragen [...] von einer Selbstmitteilung Gottes eben in der Schöpfung." 116 Die Schöpfung ist
lediglich ein „defizienter Modus" '7, Vorstufe einer höheren
Evolution, nämlich des Menschen, von dem die Selbstmitteilung Gottes bewusst erkannt wird. Beide — Schöpfung und
Selbstmitteilung — bilden aber letztlich eine Einheit.n8 Denn
Schöpfung ist ein inneres Moment der göttlichen Selbstmitteilung, „ein Moment, das diese Selbstmitteilung Gottes als
die Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit voraussetzt."119
Damit wird für Rahner die göttliche Selbstmitteilung an den
Menschen die Bedingung und Voraussetzung für die Möglichkeit einer Schöpfung.12°
Zusammenfassend mit Rahners eigenen Worten: „Wir
haben wohl keine besondere Schwierigkeit, uns die Welt- und
die Geistesgeschichte als die Geschichte einer Selbsttranszendenz in das Leben Gottes hinein vorzustellen, welche in
ihrer letzten und höchsten Phase identisch ist mit einer absoluten Selbstmitteilung Gottes, die denselben Vorgang, eben
von Gott her gesehen, deutet. Eine solche letzte und absolute
Selbsttranszendenz des Geistes in Gott hinein ist aber zu denken als in allen geistigen Subjekten geschehend."121
Gnadenlehre als universale Christologie
Im letzten Teil dieses Aufsatzes sei auf die Auswirkungen
Rahners Gnadenlehre auf seine Christologie hingewiesen.'22
Wenngleich dieses Traktat außerhalb des hier vorgegebenen
Rahmen (Anthropologie und Gnadenlehre) zu liegen scheint,
so wird der innere Verbindungspunkt schnell deutlich: Wenn
jeder Mensch Produkt der Selbstmitteilung Gottes, und damit
Gottes Gegenwart in der Welt ist — worin liegt dann in Christus das spezifisch Besondere? Was unterscheidet Christus als
dem Wort Gottes von den übrigen Menschen, wenn diese
doch ebenfalls Ergebnis der Selbstaussage Gottes sind? Es
gilt ja Rahners allgemeiner Satz: „Man könnte von daher den
Menschen [...] definieren als das was entsteht, wenn die
Selbstaussage Gottes, sein Wort, in das Leere des gott-losen
Nichts liebend hinausgesagt wird."123 Christologie als Wissenschaft vom Gott-Mensch Jesus Christus handelt deshalb
bei Rahner nicht mehr von der einen Person, welche unendlich erhaben über allen Menschen steht, Christologie ist nicht
mehr die theologische Disziplin, welche die Anthropologie
um Dimensionen überragt, sondern: „Christologie [ist] die
[...] ,Urkonzeption` der Anthropologie und Schöpfungslehre".124 Und darum kann man umgekehrt versuchen, bereits
„vom Wesen des Menschen aus uns ein gewisses Verständnis
GK 94.
GK 144.
117 GK 128.
118 In seiner Christologie wird Rahner sogar noch weiter gehen: Dort sind
Schöpfung und Menschwerdung Christi „zwei Phasen eines [...] Vorgangs
der Selbstentäußerung und Selbstäußerung Gottes." (GK 197)
119 GK 257.
120 Vgl. GK 221.
121 GK 198.
122 Rahners anthropologischer Ansatz hat seine Auswirkungen freilich nicht nur
auf die Gnadenlehre; denn eine Neuinterpretation dieser theologischen Teildisziplin wirkt sich unmittelbar auf alle anderen Traktate aus. Rahner bestätigt selbst, „dass diese transzendentale Wende der Gnadentheologie eine solche der ganzen Theologie bedeutet." (Schriften VIII, 54)
123 GK 222.
124 Schriften I, 184.
für das, was mit Inkarnation eigentlich gemeint ist, zu erringen.' 125
Weil sich der unendliche Gott nach Rahner jedem Menschen als innerstes Konstitutivum seines Seins mitteilt, weil
jeder konkrete Mensch als die Anwesenheit Gottes in der
Geschichte verstanden werden muss, weil jeder Mensch Träger des übernatürlichen Existentials ist, deshalb steht fest,
dass auch Christus „nicht mit wesentlich anderer Gottesnähe
und Gottesbegegnung begnadet werden kann und begnadet
ist als mit der Begegnung und Selbstmitteilung Gottes, die
tatsächlich jedem Menschen in Gnade zugedacht ist."26
Rahner versteht Christus als den Menschen, der erstmalig
erkannt hat, was Menschsein als Wesen der Transzendenz
wirklich bedeutet'27 — nämlich die vollkommene Unmittelbarkeit des Begründeten (nämlich des Mensch) zu seinem
Grund (nämlich Gott). Oder von Seiten Gottes ausgedrückt:
Jesus war der erste Mensch, dem sich Gott als Unendlicher
und Unmittelbarer ausdrücklich zugesagt hat, was aber implizit (wenn auch unreflektiert) für alle Menschen gilt. Auf
diese Weise kann nach Rahner „sogar der Versuch unternommen werden, die unio hypostatica in der Linie dieser absoluten Erfüllung dessen zu sehen, was Mensch eigentlich
meint."128 Denn: „Die Menschwerdung Gottes ist von daher
gesehen der einmalig höchste Fall des Wesensvollzuges der
menschlichen Wirklichkeit."129 Diese Selbstmitteilung Gottes
geschieht in unserer Begnadung nicht weniger als in der
hypostatischen Union Christi. „Die Selbstmitteilung des
Vaters in der Aus-sage des Wortes in die Welt" besagt
„sowohl Inkarnation wie gnadenhafte Zu-sage dieses Wortes
an den (glaubenden) Menschen."3°
Noch einmal: Christus unterscheidet sich von uns weder in
seiner menschlichen Natur noch in seiner menschlichen und
endlichen Subjektivität."' Von der Menschwerdung Gottes in
Christus — oder von der Vergöttlichung des Menschen durch
die Gnade — kann man nur deshalb sprechen, weil die (konkrete, stets übernatürlich erhobene) menschliche Natur
GK 216; in diesem Sinn spricht Rahner von einer „transzendentale[n]
Deduktion einer Christusgläubigkeit" (Schriften zur Theologie I, S. 206)
und möchte einen „apriorischen Entwurf der ‚Idee Christi' als des gegenständlichen Korrelats der transzendentalen Struktur des Menschen und seiner Erkenntnis" wagen (Schriften I, 207).
126 GK 217.
127 Vgl. Schriften VI, 548.
128 Schriften IV, 234; vgl. auch Schriften I, 191. Dort nennt Rahner die hypostatische Union sogar „eine real-ontologische Bestimmung der Menschlichen
Natur".
129 GK 216; vgl. Schriften VI, 548.
130 MySal II, 337.
131 „Christus ist ein Mensch. [...] Er ist ein Mensch, der in seiner geistigen,
menschlichen und endlichen Subjektivität ebenso wie wir Empfänger jener
gnadenhaften Selbstmitteilung Gottes ist, die wir von allen Menschen und
damit vom Kosmos aussagen als den Höhepunkt der Entwicklung, in dem
die Welt absolut zu sich selbst und absolut in Unmittelbarkeit zu Gott
kommt." (GK 196)
125
115
116
— 265 —
Leo Kardinal Scheffczyk
Ökumene
Der steile Weg der Wahrheit
Quaestiones non disputatae, Bd. VII
Schmitt-Verlag: Siegburg 2004, 368 Seiten, 15,—
— 266 —
immer schon das ist, was entsteht, wenn sich Gott selbst mitteilt, wenn sich der unendliche Seinshorizont im endlichen
Seienden „einrollt". Natura humana meint das, was entsteht,
wenn Gott sich als das andere seiner selbst zeigen
„Menschliche Natur ist [...] vom Ursprung her das konstitutive Realsymbol des Logos selbst, so dass in letzter ontologischer Ursprünglichkeit gesagt werden kann und muss:
Mensch ist möglich, weil Ent-äußerung des Logos möglich
ist."133 Menschliche Natur ist nichts anderes als das Anderssein Gottes in gleichzeitiger Identität mit sich selbst. Weil
Gott das von sich verschiedene werden kann, welches von
ihm geschieden, aber doch er selber ist und ohne sich zu
ändern bleibt (vgl. Rahners Formalursächlichkeit), nur deshalb kann und darf Menschsein als göttliche Selbstmitteilung
verstanden werden. Was für die Einheit der von göttlicher
und menschlicher Natur in Christus gilt, kann letztlich für die
Einheit von Grund und Begründetem in jedem Menschen
ausgesagt werden: „[D]ie Einheit muss selbst der Grund der
Verschiedenheit sein, so dass darum das Verschiedene als solches die geeinte Wirklichkeit dessen ist, der als die vorgängige Einheit (die darum nur Gott sein kann) der Grund des
Verschiedenen ist."134
Was lehrt uns die Rahnersche Christologie? Nichts Neues,
was nicht schon in seinen Überlegungen über den bloßen
Menschen offensichtlich geworden wäre. Er bestätigt deshalb
auch ganz offen, „dass Christologie Ende und Anfang der
Anthropologie zugleich ist."135 Und daraus folgert Rahner
auch treffend, dass Jesus uns durch seine Botschaft nur die
Nähe Gottes verkünden wollte und deshalb „gar nichts
eigentlich ‚Neues' gepredigt"36 hat.'37
III. Resümee
Zu Beginn dieser Erörterungen wurde gesagt, Rahners Denken beginne mit der Aussage „Der Mensch ist das Wesen der
Vgl. GK 223: „Wenn Gott Nicht-Gott sein will, entsteht der Mensch."
MySal II, 335.
134 Schriften I, 202. Dass es sich hier um eine dialektische Verknüpfung von
Gott und Mensch handelt, ist auch Rahner nicht entgangen, wie aus einer
Fußnote hervorgeht. Weil aber diese Aussage in der Offenbarung enthalten
sei, deshalb habe „sich die Ontologie danach zu richten". Man könne so
diese Vorstellung durchaus verteidigen auch „ohne darum ein Hegelianer zu
sein." (ebd.).
135 Schriften I, 205.
136 GK 250.
137 Was hier von Rahners Christologie deutlich wurde, nämlich dass sie nichts
anderes als eine sprachliche Ausdrucksform seiner transzendentalen Anthropologie darstellt, gilt im gleichen Maße von seiner Trinitätslehre, spricht er
doch von der „Möglichkeit, die Trinitätslehre ‚anthropologisch' zu lesen,
ohne sie zu verfälschen." Denn es gilt, dass „wegen der absoluten Selbstmitteilung Gottes in der ,ungeschaffenen` Gnade die immanente Trinität in
strenger Identität die ökonomische ist und umgekehrt". Dreifaltigkeitslehre
kann damit reduziert werden auf die Aussage, dass der Mensch im Verhältnis einer „trinitarischen Struktur" zu Gott steht. (vgl. Schriften VIII, 48).
132
133
Alfred Müller-Armack
Transzendenz." Vielleicht kann diese seine These am Ende
der Überlegungen tiefer verstanden werden. Der Mensch ist
die Verklammerung des Ichs mit dem grenzenlosen Horizont,
des Selbstbewusstseins mit der alles umfassenden Unendlichkeit, des Subjekts mit dem Objekt. „Welt" als Horizont ist
eine Eigenschaft, ein Existential des Menschen. Und in der
Erkenntnis dieser Tatsache, also in der Selbsterkenntnis des
Subjekts, teilt sich Gott als er selbst dem Menschen mit.
Kurzum: Der Mensch ist nicht Gott — und die Welt ist nicht
Gott; aber wenn der Mensch die Welt als das Anders-Sein
seiner selbst erkennt und just in dieser Bewegung das Sein
selber Erkennen und Erkanntsein als seine eigene Auszeichnung aus sich entspringen lässt, dann darf dies — nach Rahner
— als die Selbstmitteilung Gottes, als die Selbst-Aussage des
Seins verstanden werden. Dann ereignet sich der „Mensch".
Dies sei nochmal an drei kurzen Zitaten zusammengefasst:
1. „[D]ie weltliche Selbstentfremdung des Subjekts ist
gerade die Weise, in der das Subjekt sich selber findet und
endgültig setzt."38
Die „weltliche Selbstentfremdung des Subjektes" meint
nichts anderes als die Setzung der Welt durch das geistige
Subjekt als das Anderssein seiner selbst. Und genau dieses
Anderssein (= Welt-Sein) macht nach Rahner das eigentliche Wesen des Subjektes, nämlich des Menschen, aus.
2. Dementsprechend spricht Rahner von einer „göttliche(n)
Subjektivität des Menschen, die durch die Selbstmitteilung
Gottes konstituiert wird."39
Der Mensch an sich ist ein endliches Wesen und niemals
Gott. Aber in seiner welt-setzenden Tat besitzt er durch die
Selbstmitteilung Gottes eine „göttliche Subjektivität", d. h.
er ist Gott in der Endlichkeit.
3. Und genau dies ist das Ziel der Welt: die „Gott-Werdung"
des gesamten Kosmos. „Diese Selbsttranszendenz des
Kosmos im Menschen auf ihre eigene Ganzheit und auf
ihren Grund hin ist nun nach der Lehre des Christentums
[!] erst dann wirklich ganz zu ihrer letzten Erfüllung
gelangt, wenn der Kosmos in der geistigen Kreatur, seinem
Ziel und seiner Höhe, nicht nur das aus seinem Grund
Herausgesetzte, das Geschaffene ist, sondern die unmittelbare Selbstmitteilung seines eigenen Grundes selbst empfängt."14°
Der Mensch kann ausdrücklich nicht nur als Geschöpf, als
das aus seinem Grund (nämlich aus Gott) „Herausgesetzte" verstanden werden, sondern muss die unmittelbare
(!) Selbstmitteilung des Grundes werden und sein, muss
das Anderssein Gottes, muss das Endlichsein des Unendlichen sein. Denn nur dann gilt: „Das Endliche [...] ist kein
Gegensatz mehr zum Unendlichen, sondern das, wozu der
Unendliche selber geworden ist, worin er sich selber als
Frage, die er sich selbst beantwortet, aussagt"141.
Summa: Wie könnte man die Quintessenz des Denkens
Rahners zusammenfassen? Mit seinen eigenen Worten,
gemäß denen gilt, dass „,Anthropozentrile und ,Theozentrile
der Theologie keine Gegensätze, sondern streng ein und dasselbe"42 sind.
Das Jahrhundert
ohne Gott
GK 51.
GK 163.
14° GK 191.
141 GK 224.
142 Schriften VIII, 43.
138
Reprint von 1948, in Vorbereitung
Schmitt-Verlag: Siegburg 2004, 192 Seiten
— 267 —
139
— 268 —
HEINZ-LOTHAR BARTH
Rahners Theorie vom „anonymen Christentum", „Gaudium et spes" 22 des II. Vatikanums
und die Lehre Papst Johannes Pauls II.
Eine für die nachkonziliare katholische Theologie zentrale
Aussage steht in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes"
(Nr.22). Sie lautet: „Ipse enim, Filius Dei, incarnatione sua
cum omni homine quodammodo se univit" — „Denn er, der
Sohn Gottes, hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt." Bereits in seiner Antrittsenzyklika „Redemptor hominis" wurde dieser Satz von Papst
Johannes Paul II. zustimmend und zugleich, wie wir noch
sehen werden, mit einer bestimmten Intention zitiert (Nr.8).2
Die Aussage klingt zunächst einmal recht harmlos, zumal
sie ja die einschränkende Bestimmung enthält: „gewissermaßen" („quodammodo"). Ähnliche Gedanken kann man auch
bei Matthias Josef Scheeben und zuvor schon bei Thomassin
finden? Beim jetzigen Papst hat jener Satz aber eine ungeheure Eigendynamik entwickelt; J. Dörmann, der die Bedeutung dieses Gedankens für die Theologie Johannes Pauls II.
detailliert analysiert, spricht zu Recht von einem „grundlegende(n) Schlüsseltext".4 Er führt bei ihm nämlich zu einer
gewissen Vermischung von Natur und Übernatur, zwischen
denen freilich auch in Gaudium et spes Nr. 22 zuvor schon in
folgendem, dem ersten Satz des Kapitels, nicht scharf genug
unterschieden worden war: „Tatsächlich klärt sich nur im
Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des
Menschen wahrhaft auf. Denn Adam, der erste Mensch, war
das Urbild (lat. „figura", entsprechend dem griechischen
Begriff „typos", Verf.) des zukünftigen, nämlich Christi des
Herrn. Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem
Menschen selbst den Menschen voll kund und erschließt ihm
seine höchste Berufung."' Das Schlusskolon des letzten Satzes gestattet eine katholische Interpretation der Gesamtaussage, aber es hätte stärker betont werden sollen, dass sich
nach christlicher Lehre das unmittelbar zuvor Gesagte nicht
2LThK 14, 352f. = Josef Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien,
Bd. 3: Konzilien der Neuzeit, Paderborn 2002, 1082.
AAS 71/1979, 272
3 Die Herrlichkeiten der göttlichen Gnade, 16. Aufl. hg. von Robert Grosche,
Freibg./B. 1941, 47 mit Anm. 11
4 J. Dörmann, Der theologische Weg Johannes Pauls II. zum Weltgebetstag der
Religionen in Assisi, 11.11 Die „trinitarische Trilogie": Redemptor Hominis;
Dives in Misericordia; Dominum et Vivificantem, Senden/Westf. 1992, 115.
5 Text weitgehend nach der Übersetzung im 2LThK , 14, 351. Die dort
gewählte Wiedergabe von „figura" mit „Vorausbild" ist ungewöhnlich und
sprachlich unschön, wenn auch gut gemeint und inhaltlich in gewisser Weise
ausdrucksstärker als „Urbild". Falsch ist die Wiedergabe von „figura" mit
„Abbild" (Philippe Delhaye, Die Würde der menschlichen Person, in: Die
Kirche in der Welt von heute. Untersuchungen und Kommentare zur Pastoralkonstitution ,Gaudium et spes des II. Vatikanischen Konzils, hg. von
Guilherme Baraüna, deutsche Bearbeitung von Viktor Schurr, Salzburg
1967, 162). „hominem ipsi homini plene manifestat" übertrug man in der
von den deutschen Bischöfen approbierten, halboffiziellen Übersetzung mit
„macht dem Menschen den Menschen selbst voll kund", wobei das Pronomen „ipsi" falsch bezogen wurde. Da hier kein ideologischer Hintergrund
für die Abweichung vom Original zu erkennen ist, muss man wohl entweder
Sorglosigkeit oder philologische Defizite des Übersetzers annehmen. Derselbe Fehler findet sich jetzt auch wieder in der an sich sehr lobenswerten
und unter Mithilfe von hervorragenden jungen Leuten, die am Bonner Philologischen Seminar ausgebildet worden waren, erarbeiteten zweisprachigen
Ausgabe aller Ökumenischen Konzilien (Dekrete der ökumenischen Konzilien, hg. von Josef Wohlmuth, Bd. 3, Konzilien der Neuzeit, Paderborn
2002, 1081). Leider wurden die Texte des II. Vatikanums nicht noch einmal
neu übersetzt, was manche Passagen hätten ratsam erscheinen lassen.
Immerhin brachte man hier und dort korrigierende Fußnoten an.
2
— 269 —
den natürlichen Menschen betreffen kann, sondern dass
damit das Geschöpf Gottes in seiner übernatürlichen Bestimmung gemeint sein muss. Diese deutliche Unterscheidung6
wäre schon deshalb sinnvoll gewesen, weil der Satz „er, der
Sohn Gottes, hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt" so nur auf den natürlichen Menschen zutreffen kann. Immerhin legt eine solche
Deutung auch der dort unmittelbar vorausgegangene Satz
nahe „Da in ihm (Jesus Christus) die menschliche Natur
angenommen wurde, ohne dabei verschlungen zu werden, ist
sie dadurch auch schon in uns zu einer erhabenen Würde
erhöht worden." Eine Allerlösung ist jedenfalls aus GS 22
keinesfalls zwingend herauszulesen, obgleich man diesen
Text später zu diesem Zweck benutzen sollte.
Auch § 5 sprengt nicht den Rahmen traditioneller Aussagen: „Da nämlich Christus für alle gestorben ist (Röm 8,32),
und da es in Wahrheit nur eine letzte Berufung des Menschen
gibt, die göttliche, müssen wir festhalten, dass der Heilige
Geist allen die Möglichkeit anbietet, diesem österlichen
Geheimnis in einer Gott bekannten Weise verbunden zu
sein." Hier ist nur von der „Möglichkeit" (lat. innerhalb des
Satzgefüges im Akkusativ: „possibilitatem") die Rede, sie
kann offenbar auch zurückgewiesen werden. So schreibt Delhaye in seiner Kommentierung zu Recht': „Manche Menschen werden ohne Zweifel sagen, sie wünschten es überhaupt nicht, Gott zu werden; es genüge ihnen, Mensch zu
sein. Aber damit sagen sie nein zu dem, was der Mensch
wirklich ist: ein Ebenbild Gottes, das nicht es selber sein
kann, wenn es nicht mit Gott in Beziehung steht." Halten wir
gerade den letzten Satz fest, weil wir gleich genau hierzu
noch etwas ganz anderes hören werden!
Im übrigen soll mit unserer Stellungnahme keineswegs die
gesamte Pastoralkonstitution rechtfertigt werden. Wegen
ihres Anthropozentrismus, den Joseph Ratzinger schon früh,
wenn auch, wenigstens damals, zustimmend konstatiert
hatte,8 und ihrer Zuwendung an die moderne Welt ist sie ein
gefährliches Dokument.9 Das haben auch bedeutende Männer, die nicht den „Traditionalisten" zugerechnet werden können, so gesehen. Einige Bischöfe erkannten schon damals die
Gefahren für die Kirche, die von einer solchen Erklärung ausgehen, konnten sich aber nicht durchsetzen, ihre Stimmen
sind zusammengetragen worden von H. Helbling in seinem
Werk „Das Zweite Vatikanische Konzil".10 Die „Deutsche
Siehe Raimundo Sigmond 0. P., El ateismo (Kommentar zu „Gaudium et
spes" 19-22), in: Concilio Vaticano II, Comentarios a la constitucion GAUDIUM ET SPES sobre la Iglesia en el mundo actual. Ediciün dirigida por ei
Cardenal Angel Herrera Oria, Madrid 1968, 212: „Evidentemente es necesario distinguir ei orden sobrenatural, don de Dios, y ei orden natural de los
valores humanos, pero ei cristianismo en su existencia concreta debe realizar
siempre la armonfa de estos distintos planos, la sIntesis de las tensiones opuestas." R. Sigmonds Bemerkung trifft durchaus zu, nur vermisst man eben in
GS 22 die deutliche Erfüllung des ersten Teils seiner Forderung an eine
katholische Aussage zum Verhältnis von Natur und Gnade.
7 Die Würde der menschlichen Person, a. 0. 164
8 „Diese ,Anthropozentrik`, von der die ganze theologische Konzeption des
Textes bestimmt ist, dürfte in der Tat seine am meisten charakteristische Entscheidung darstellen (2LThK 14, 315)."
9 Vgl. Verf., Keine Einheit ohne Wahrheit! Kap. „Der Dialog mit der liberalen
Welt als Grundlage einer neuen Kirche", 2Stuttgart 1999, 192-197
I° Basel 1966, 192-203
6
— 270 —
Tagespost" setzte vor einigen Jahren in dem Bericht über den
besonders prononcierten und mutigen, aber erfolglosen
Widerstand des Berliner Bischofs Alfred Bengsch, der später
auch beherzt die wenig rühmliche Erklärung der Deutschen
Bischofskonferenz zur Enzyklika „Humanae Vitae"
bekämpfte, ein ehrenvolles Denkmal. Prälat Theodor
Schmitz, von 1970 bis 1982 Generalvikar im Ostteil des Bistums Berlin, hatte erstmals der Öffentlichkeit jenes höchst
brisante Schreiben des Konzilsvaters Bengsch an Papst Paul
VI. zur Pastoralkonstitution „Gaudium et spes" zugänglich
gemacht, in dem man u. a. die erstaunlich offenen und vom
katholischen Geist des Absenders zeugenden Sätze liest u:
„Der Text strebt den Dialog der Kirche mit der Welt an und
gibt offen zu erkennen, dass sie diesen Dialog mit Wohlwollen, ja sogar mit einiger Freude beginnen will. Diese Absicht
aber führt — nach meinem demütigen Urteil — zu einem solchen Optimismus bei der Beurteilung der Phänomene dieser
Welt, der weder durch die Erfahrung noch aus der Heiligen
Schrift gerechtfertigt werden kann. Die moderne Kultur und
der menschliche Fortschritt werden so positiv anerkannt, ja
geradezu gerühmt, dass der Text den Eindruck eines gewissen
Säkularismus erweckt ... Es fehlt nämlich — und das beweist
auf der anderen Seite diese gefährliche Tendenz — die Theologie des Kreuzes und jene wesentliche Forderung des Herrn an
den Jünger, sich selbst zu verleugnen und sein Kreuz auf sich
zu nehmen ... Gelegentlich scheinen die Aussagen fast wörtlich identisch zu sein mit den Phrasen kommunistischer Propaganda, in unseren Gegenden auch von den sogenannten
,progressiven Christen' immer von neuem wiederholt."
Joseph Kardinal Ratzinger charakterisierte die Pastoralkonstitution sogar mit folgenden Worten, mit denen er allerdings
von seiner Seite keinerlei Kritik ausdrücken wollte: „Begnügen wir uns hier mit der Feststellung, dass der Text die Rolle
eines Gegensyllabus2 spielt und insofern den Versuch einer
offiziellen Versöhnung der Kirche mit der seit 1789 gewordenen neuen Zeit darstellt."I3
Karl Rahners Konzeption ging zweifellos erheblich weiter
als die Sätze, die wir oben aus GS 22 kennengelernt haben.
Es nimmt daher auch nicht wunder, wenn er, obgleich hier
Ansätze seines Denkens in abgemilderter, vom katholischen
Standpunkt aus noch zu verantwortender Weise eingeflossen
zu sein scheinee, mit dem Text letztlich nicht zufrieden war:
„Schauen wir uns das erste Kapitel von ,Gaudium et spes` an.
Da wird zunächst eine halbe Anthropologie entwickelt, und
zum Schluss ist dann mit einemmal ganz unvermittelt Christus als die Lösung der anthropologischen Probleme da. Man
könnte wieder einmal sagen, um unsere alte Platte laufen zu
lassen: Es fehlt eben eine transzendentale Vermittlung der
Anthropologie auf die Christologie hin."15
Rahners Natur und Gnade gezielt vermengende Position,
die ihm erst die Möglichkeit seiner theologischen Neukonzeption bot, erschließt sich aus Sätzen wie dem folgenden:
„Dadurch, dass das Wort Gottes Mensch geworden ist, ist real
ontologisch die Menschheit auch schon im voraus zur faktisch gnadenhaften Heiligung der einzelnen Menschen, zum
Volk der Kinder Gottes geworden."I6 Dieser Satz geht eindeutig weiter als die zitierten Aussagen von GS 22. Mit Recht
wies Johannes Stöhr eine solche Lehre, nach der alle Menschen durch die Inkarnation des Logos bereits in der Gnade
seien, vom katholischen Standpunkt aus zurück.I7 Zugleich
zeigte er auf, wie derartige Ansätze heute weite Teile der
gesamten theologischen Forschung vergiftet haben. Im zitierten Satz Rahners finden wir auch jene Tendenz, das Erlösungsgeschehen vom Kreuzestod weg zur Inkarnation hin zu
verlagern. Auch sie ist in der modernen Theologie weit verbreitet28 Zum entsprechenden Ansatz in Karl Rahners Theologie (und überhaupt zu seinem ganzen Konzept vom „anonymen Christentum", s. u.) hat sich vor allem Hans Urs von
Balthasar in seiner Schrift „Cordula oder der Ernstfall" kritisch geäußert.19 Balthasar zog sich mit dieser seiner Schrift
die heftige Kritik der Rahner-Verehrer bis auf den heutigen
Tag zu.2° In neuester Zeit findet man hervorragende Gedanken zu Rahners Neuorientierung, die von skotistischen
Grundlagen ihren Ausgang nahm, in David Bergers Dissertation „Natur und Gnade — In systematischer Theologie und
Religionspädagogik von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis
zur Gegenwart".2I
Durch die Kirchenväter ist jedenfalls bei tieferer Betrachtung eine solche gefährliche Akzentverschiebung nicht
gedeckt. Freilich haben sich die Vertreter der „Nouvelle theologie" hier von ihnen anregen lassen, sind dabei aber Opfer
einer einseitigen, vorurteilsbehafteten Sichtweise geworden.
Sebastian Tromp SJ, der große Theologe Papst Pius XII.,
stellte selbst eine ganze Reihe von Aussagen der Kirchenvä-
Zitat nach Deutsche Tagespost vom 22.April 1995, S. 13. Der spätere Kardinal Bengsch hatte das Schreiben, das vom 22. November 1965 datiert ist, in
lateinischer Sprache übermittelt, die zitierte deutsche Fassung geht auf die
Übersetzung zurück, die Prälat Schmitz anhand seiner persönlichen Unterlagen anfertigte.
12 Ratzinger bezieht sich hier auf den berühmten Syllabus des sei. Papstes Pius
IX., mit dem dieser im Jahre 1864 eine Reihe auch heute noch — und gerade
heute! — in der Kirche grassierender Irrtümer verurteilte. Der Text ist leicht
zugänglich in DH 2901-2980.
13 Theologische Prinzipienlehre, München 1982, 399
14 SO erläutert ein Kommentar § 5 von GS 22 so: „De par Incarnation
redemptrice, tous les homines sont reellement appeles au salut; et cette vocation est une dimension constituante de la conscience humaine, au plan existentiel (en un tout autre langage, eile est en l'homme un existential surnaturel); eile fait de tous les hommes, en puissance et en appel, des fils de Dieu.»
(L'Eglise dans le monde de ce temps, Constitution pastorale «Gaudium et
spes», Ouvrage collectif publie sous la direction de Y. M.-J. Congar, 0. P. et
M. Peuchmard, 0. P., Tome II, Commentaires, Paris 1967, 251). Sicher steht
irgendwie die Rahnersche Konzeption im Hintergrund, auf die ja mit dem
Begriff des „existential surnaturel" angespielt wird. Aber solange sich die
Berufung Gottes in „puissance et appel" erschöpft, auf die der Mensch auch
mit Ablehnung (und folglich mit Verwerfung von seiten Gottes) reagieren
kann, wird der katholische Rahmen nicht gesprengt. Rahner ist aber, wie wir
noch sehen werden, mindestens ansatzweise weiter gegangen.
Karl Rahner antwortet Eberhard Simons, Zur Lage der Theologie. Probleme
nach dem Konzil, Düsseldorf 1969, 11. Auch in anderer, ihn durchaus ehrender Hinsicht erhob Rahner gegen das Schema XIII Bedenken: Es fehle eine
Theologie des Kreuzes, die Tiefe der Sünde werde verkannt, und man folge
weithin der Ideologie einer besseren Welt. Siehe P. Niklaus Pfluger, Der Einfluss der deutschen Theologen auf das Zweite Vatikanische Konzil, Dives in
omnes 5,3/1996 (Sondernummer), 19 (mit Literaturnachweisen in den
Anmerkungen).
16 Schriften zur Theologie, Bd. , 2. Aufl. Köln 1960, 89.
17 Das Schicksal der leidenden Kirche und die Hilfemöglichkeiten der pilgernden Kirche, in: Die Letzten Dinge, hg. von F. Breid, Steyr 1992, 142; bei
diesem Band handelt es sich um die Referate, die auf der Internationalen
Theologischen Sommerakademie 1992 des Linzer Priesterkreises gehalten
wurden, die meisten sind äußerst lesenswert.
18 Vgl. Alois Felders Beanstandung einer entsprechenden Tendenz im Buch
von Alois Moos, Das Verhältnis von Wort und Sakrament in der deutschsprachigen katholischen Theologie des 20. Jahrhunderts, Paderborn 1993,
Rezension in: Forum Katholische Theologie 12/1996, 159
19 (1. Aufl. 1964) 3. Aufl. Einsiedeln 1967, Trier 1987, 90-96
20 Siehe Herbert Vorgrimler, Karl Rahner: Gotteserfahrung in Leben und Denken, Darmstadt 2004, 123-125. In seinem Buch „Theodramatik" III.
Bd./1980 warf Balthasar Rahner sogar, wohl nicht zu Unrecht, Irrlehren vor,
wogegen sich Vorgrimler (a. 0. 124), der keine Gelegenheit auslässt, für den
Heiligenschein seines Lehrers zu streiten, erzürnt wendet. „Der größte Glaubenszeuge unserer Zeit darf nicht vergessen werden", so wirbt er mit einem
Satz aus einem Brief von Heinrich Fries an ihn vom 11. Mai 1990 auf dem
hinteren Umschlag für die Vermarktung seines neuen Rahner-Buches, derselbe Satz schließt auch im Epilog (S. 279) seine Ausführungen ab.
21 Regensburg 1998, 253-322, v. a. 287-291
— 271 —
— 272 —
II
15
ter zusammen, an denen jene eine gewisse Verbindung
Christi mit allen Menschen allein schon durch die Menschwerdung ins Auge fassen, wobei sie hierzu konkret sehr
unterschiedliche Überlegungen anstellen. Dann fügt er aber
ergänzend einen entscheidenden Gesichtspunkt an: „Obwohl
nämlich die Väter bei der Erklärung der Lehre von der Erlösung einen größeren Anteil der Inkarnation zuzuweisen
scheinen, zeigt doch ihre Lehre, nach der sie die Entstehung
der Kirche am Kreuz aus der (Seiten-)Wunde verkünden, klar
an, dass auch die Alten den eigentlichen Akt der Erlösung in
das blutige Geschehen am Kreuz legen."22
Rahners Stellung auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil
Es erhebt sich natürlich die Frage, ob es überhaupt möglich
oder wahrscheinlich ist, dass Rahners Überlegungen, wenn
auch nur in abgemilderter Form, den Text von GS 22 mitgeprägt haben. Wie war seine Stellung auf dem II. Vatikanum?
Bekanntlich war Rahner mit der Aufsicht durch das katholische Lehramt in den 50-er und beginnenden 60-er Jahren
mehrfach in Konflikt geraten. In seinem Leserbrief „Die
Geister, die herumrahnern" (DT vom 25. Mai 2002) verteidigte der Patristiker Hermann J. Vogt hingegen Karl Rahners
Rechtgläubigkeit. Dabei verwies er u. a. zweimal auf die
Erteilung des Imprimatur, also der kirchlichen Druckerlaubnis, für ein Werk des Theologen aus dem Jahre 1961. Diese
Argumentation, der man häufiger begegnet, berücksichtigt
nicht, dass seine Arbeit über die leibliche Aufnahme Mariens
in den Himmel ungedruckt bleiben musste. Seine Gedanken
zur Ausweitung der Konzelebration, die de facto eine Reduzierung der Zahl der Messen bewirkt, stießen auf den Widerstand Papst Pius' XII. Was der Gelehrte zur Jungfräulichkeit
der Gottesmutter zu sagen hatte, erschien anstößig. Nur eine
persönliche Fürsprache Kardinal Döpfners bewahrte ihn 1961
bei Papst Johannes XXIII. vor einem Lehrverfahren. Im Jahre
1962 wurde er unter Vorzensur gestellt.23 Sie wurde übrigens
nie formal aufgehoben, aber trat später de facto außer Kraft.24
Auch die Kardinäle Frings und König setzten sich für ihn ein.
Letzterer machte ihn zu seinem persönlichen Peritus auf dem
Konzil. Dort wirkte er über die Bischöfe, die er beriet — neben
Kardinal König häufig auch Kardinal Döpfner —, durch seine
Arbeit in einzelnen Kommissionen und vor allem durch seine
vielen Vorträge und Stellungnahmen in Rom, die oft vervielfältigt und rasch unter das Volk gebracht wurden, so dass sie
auch viele Bischöfe beeinflussen konnten, aber nicht minder
übte er Einfluss aus durch seine Gespräche mit Journalisten
und Interviews in den Medien.25
Welche Absichten Rahner mit seiner Teilnahme am Konzil
verfolgte, hat Hans Küng uns berichtet: „Am 17. Juli erhalte
ich einen Brief von KARL RAHNER, ihn habe Kardinal
König eingeladen, mit ihm zum Konzil zu gehen, und Kardinal Döpfner erreicht beim Papst persönlich die Ernennung
Rahners zum offiziellen Konzilsperitus, allerdings nicht für
die theologische Kommission (da herrscht das Sanctum Officium), sondern für die Kommission der Sakramentenverwaltung. Rahner an mich: >Hoffentlich bleibt der Bischof von
Rottenburg bei seiner Einladung. Da Ratzinger, Semmelroth
auch zu kommen scheinen, könnte man mit Congar, Schillebeeckx usw. einen ganz netten Club aufziehen.< Während
des Konzils in ROM spreche ich mit niemandem mehr als mit
Karl Rahner. Er meint: >Sie sprechen gut Latein und sind
frech genug. Kommen Sie doch einfach mit in die Theologische Kommission !< 26
Schließlich ist ein ganz entscheidender Aspekt nicht zu
übersehen, den Karl Lehmann hervorgehoben hat. Denn der
Einfluss Rahners „beruht(e) nicht nur in der Art der Mitwirkung während des Konzils, sondern auch schon in der weltweiten vorkonziliaren Rezeption seiner theologischen Gedanken, die mit den Geist dieser Kirchenversammlung vorbereitete. Durch diese ‚Autorität' gelang ihm mit Y. Congar,
E. Schillebeeckx, J. Ratzinger, H. Küng u. a. mancher Durchbruch durch die fix und fertig präparierten Schemata in ein
freieres theologisches Gelände."27 Eine Reihe wichtiger
Informationen über diese so einflussreiche und verhängnisvolle theologische Richtung, zu der vor allem noch J. Danielou und H. de Lubac gehörten, kann man dem Sammelband
Die „neue" Theologie oder „Sie glauben, gewonnen zu
haben" (Vorwort von Msgr. Francesco Spadafora, Verlag
Amis de St Francois de Sales, Sion/Schweiz 1995), entnehmen. Leider vermisst man hier manchmal eine weniger polemische, wissenschaftlich-nüchternere Sprache, obwohl man
die Erregung der Autoren über die Glaubensverfälschungen
verstehen kann. Dem Sammelband angefügt sind der
berühmte Aufsatz von Reg. Garrigou-Lagrange 0.P., La nouvelle theologie ou va-t-elle? (ursprünglich in: Angelicum
23/1946, jetzt Anhang 5: Wohin führt die Neue Theologie?
223-249) und ein Beitrag, in dem Peter Henrici, späterer
Weihbischof von Chur, ganz offen über den antischolastischen, ja auch antirömischen Geist berichtet, wie er oft genug
in den Priesterseminaren bereits vor dem Konzil geherrscht
hatte. Stattdessen schätzte und las man z. B. de Lubac! ( Das
Heranreifen des Konzils — Erlebte Vorkonzilstheologie,
ursprünglich in: Communio 19/1990, jetzt Anhang 6: Das
Heranreifen des Konzils, 251— 274).
Damit soll allerdings keineswegs behauptet werden, die
Mehrzahl der Konzilsväter hätten sich in jenem neuen Denken gut ausgekannt. Im Gegenteil! Auch hier ist wieder Peter
Henricis SJ Zeugnis aufschlussreich: „Neu konnten diese
Texte (der Neuen Theologie, H-L B) nur darum erscheinen,
weil die bereits geleistete Theologenarbeit und der tatsächliche Stand der katholischen Theologie Ende der fünfziger
Jahre den Außenstehenden (und dazu gehörten nicht wenige
Konzilsväter) weitgehend unbekannt waren — oder weil jetzt
Teile dieser Arbeit, die kurz zuvor noch zensuriert worden
waren, als orthodox anerkannt wurden. So oder so erklärt es
sich, warum gerade dieses Konzil weitgehend ein ,Konzil der
Theologen' wurde."28 Mit anderen Worten: Jene „neue Theologie" war in den Köpfen nicht weniger Kleriker, auch mancher Konzilsväter, bereits beheimatet, die sie auch wie selbstverständlich in das Konzil, jedenfalls hier und dort, einbrachten. Andere — und zwar vermutlich eine erhebliche Zahl von
Bischöfen — hatten keine Ahnung von jenen neuen Strömun-
Ecclesia Sponsa Virgo Mater, Gregorianum 18/1937, 16.
23 Nachzulesen sind alle diese Fakten beispielsweise bei Michael Schulz, Karl
Rahner begegnen (Augsburg 1999, 36-43), der wahrlich nicht zu den
erklärten Gegnern Rahners gehört.
24 Günther Wassilowsky, Universales Heilssalcrament Kirche. Karl Rahners
Beitrag zur Eklclesiologie des II. Vatikanums, Innsbruck-Wien 2001, 93
Anm. 180 mit weiterer Literatur zur „Vorzensur".
25 H. Vorgrimler, Karl Rahner a. 0. 87
Hans Küng, Ein Vorkämpfer der Freiheit in der Theologie: Karl Rahner (aus
meinen >Erinnerungen<), IBW-Journal 42,2/2004, 25
27 Karl Lehmann, Karl Rahner, in: H. Vorgrimler — R. Vander Gucht (Hg.),
Bilanz der Theologie im 20. Jahrhundert. Bahnbrechende Theologen,
Freibg./B.-Basel-Wien 1970, 148. Lehmann bestätigt also indirekt das, was
P. Niklaus Pfluger viele Jahre später herausarbeitete: Der Einfluss der deutschen Theologen auf das Zweite Vatikanische Konzil, Dives in omnes
5,3/1996 (Sondernummer).
28 Zitiert nach: Communio 119/1990, 483
— 273 —
— 274 —
26
22
gen und war angesichts unklarer oder gar mehrdeutiger Formulierungen, die aus jenem geistigen Umfeld oft zu kommen
pflegten, damit in der großen Gefahr, bei Abstimmungen das
mit einem Text von bestimmten Kreisen intendierte Ziel gar
nicht recht zu erfassen.29
Mit Kardinal König und Kardinal Döpfner teilte Rahner
nun die Überzeugung, alles müsse unternommen werden,
dass das Konzil anders verlaufe, als es die (eher konservative)
Kurie beabsichtigt habe.3° Daher bekämpfte man ja auch die
schon vorbereiteten Schemata, die fast alle, obwohl es sich
um theologisch wertvolle Entwürfe gehandelt hatte, entweder
ganz vom Tisch gewischt oder in ihrem Wesen erheblich verändert wurden. Walter Brandmüller, ein profunder Kenner
der Konziliengeschichte, urteilte sicher zu Recht über jene
ursprünglichen Texte: „Vermutlich war die theologische Qualität der vorbereiteten Schemata sogar besser als die des nachfolgenden Konzils."3' Nicht geringen Anteil an jener Neuorientierung hatte eine Intervention der Kardinäle Lienart und
Frings, die mit ihrem Antrag vom 13. Oktober 1962 erreichten, dass die Konzilskommissionen ganz anders besetzt wurden als ursprünglich vorgesehen.32 Mit Bezug auf dieses und
ein weiteres sehr folgenreiches Eingreifen vom 8. November
1963, bei dem es zum Zusammenstoß mit Kardinal Ottaviani
gekommen war, äußerte Kardinal Frings im Jahre 1970, als er
die nachkonziliare Entwicklung mit größter Sorge verfolgte,
dem Historiker Konrad Repgen gegenüber in einem privaten
Gespräch, „er sei sich gar nicht so sicher, ob er mit den beiden erwähnten Interventionen beim Konzil das Richtige
getan habe und wie das später, drüben und hier, einmal beurteilt würde".33 Jedenfalls gelang es durch jene Verfahrenstricks, die europäische Bischofsallianz zum Zuge zu bringen, die auf ihr nunmehr einsetzendes progressives Wirken
bestens vorbereitet war.34 Zurück gehen die Texte, die jetzt
erstellt wurden, vielfach auf den Einfluss der „Konzilsberater", der „Periti", über die Bernd Jochen Hilberath, als Progressist ein unverdächtiger Zeuge35, folgendes Urteil fällte:
„Die Theologen, die im Umfeld des Zweiten Vatikanischen
Belege für die Tatsache, dass viele Konzilsväter nicht immer zuverlässig
wussten, wofür sie stimmten, siehe Verf., Keine Einheit ohne Wahrheit!
78-96.
30 Geschichte des II. Vatikanischen Konzils (1959-1965) Bd. I, hg. von Giuseppe Alberigo, deutsche Ausgabe hg. von Klaus Wittstadt, Mainz-Leuven
1997, 513
31 Das Konzil und die Konzile — Das 2. Vatikanum im Licht der Konziliengeschichte, in: Joachim Piegsa (Hg.), Zweites Vatikanisches Konzil — Das bleibende Anliegen, St. Ottilien 1991, 30. Zu den Vorzügen der vorbereiteten
Schemata siehe Abbe Lovey, Les schernas preparatoires, in: Eglise et Contre-Eglise au Concile Vatican II, Actes du 2' Congres theologique de si si no
no, Versailles 1996, 111-147. Verf. äußert sich auch zu den dann aus guten
Gründen niedergeschlagenen Konzilsplänen der Päpste Pius XI. uind Pius
XII. (a. 0. 112-114).
32 Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. VII, hg. von Hubert Jedin und Konrad
Repgen, Freibg./B. 1979/1985, 112
33 Konrad Repgen, Ein kirchlicher Lebensweg: Kardinal Frings (1887-1978),
in: Von der Reformation zur Gegenwart — Beiträge zu Grundfragen der neuzeitlichen Geschichte, hg. von Klaus Gotto und Hans Günther Hockerts,
Paderborn 1988, 250. Zuvor (248) berichtet Repgen über jene zwei bedeutsamen Interventionen des Kölner Erzbischofs und ihre Folgen.
34 Ralph M. Wiltgen SVD, Der Rhein fließt in den Tiber, dt. Ausgabe Feldkirch 1988, 15-24
35 Nur zwei Beispiele können hier als Belege für unser Verdikt über den Theologen angeführt werden: Man lese nach, was er zur Sakramentalität der Ehe
geschrieben hat (Sakramentalität und Unauflöslichkeit der Ehe aus dogmatischer Sicht, in: ThQ 175/1995, 128 f., dazu Verf., Zeugnisse aus Schrift und
Tradition zum Sakramentenempfang wiederverheirateter Geschiedener III,
UVK 26,1/1996, 42-46) und wie er sich zumindest verschwommen, wenn
nicht direkt falsch zur Eucharistie im neuen „Lexikon für Theologie und
Kirche" äußerte, siehe hierzu Walter Hoeres, Stichworte und Edelworte — ein
Standardwerk vor und nach der Wende, Theologisches 26,6/1996, 253 f.
29
— 275 —
Konzils rehabilitiert wurden, die Sachverständigen, die Konzilsberater wurden, hatten alle irgendwann einmal vor dem
Konzil Predigt- und Schreibverbot." Namentlich führte Hilberath unmittelbar zuvor de Lubac, Congar, Danielou, Teilhard de Chardin und eben auch Karl Rahner an.36 Das Urteil
über letzteren wäre allerdings, wie wir gesehen haben, leicht
zu modifizieren.
Kardinal Walter Kasper zögerte noch jüngst nicht, Rahner
„eine große Wirkung beim zweiten Vatikanischen Konzil" zu
attestieren.37 Otto Hermann Pesch war sogar noch weiter —
und vielleicht zu weit — gegangen, als er in seinem aufschlussreichen Buch „Das Zweite Vatikanische Konzil"" im
Anschluss an ein Urteil von P. Hebblethwaite (aus dessen
Biographie zu Papst Johannes XXIII.) schrieb: „Nie wieder
würde ein einzelner Theologe solchen Einfluss (auf das Konzil) haben." Dabei fällt es aus methodischen Gründen äußerst
schwierig, einzelne Sätze einzelnen Theologen wie Rahner
zuzuordnen. Denn diese wurden natürlich — im Unterschied
zu Entscheidungen des Magisteriums oder Sätzen von Kirchenlehrern der Vergangenheit — nicht in Fußnoten zu den
beschlossenen Texten zitiert. Ab und an lassen Zeugnisse aus
persönlichen Archiven einen Einblick zu. Die Konzilsakten
geben ebenso für solche Zuweisungen eher selten etwas her.39
Man darf nicht vergessen, dass viele Formulierungen erst
nach intensiver Diskussionen in den Konzilsgremien festgelegt wurden, so dass man den genauen Wortlaut kaum einer
einzelnen Person wird zuweisen können.49 Das methodische
Problem erkannte auch Alexandra von Teuffenbach richtig,
die ihrerseits in ihrer Dissertation nachzuweisen versucht hat,
dass das berühmt-berüchtigte „subsisitit in" in „Lumen gen36
Karl Rahner — Gottgeheimnis Mensch, Mainz 1995, 28 f.
„Kein Zurück hinter Rahner — Ein Gespräch mit Kurienkardinal Walter Kasper über das Werk des Konzilstheologen" (DT vom 4. März 2004, Forum
„100 Jahre Karl Rahner", S. 19. Übrigens ist schon der Titel des Interviews
bezeichnend: Man fürchtet offenbar, dass die Ikone des Progressismus angekratzt werden könnte!
38
Würzburg 1993, 57. Man könnte für derartige Urteile eine beliebige Zahl
weiterer Stimmen aus verschiedenen Lagern der Kirche anführen.
39
Eine Ausnahme liegt z. B. bei den „Animadversiones de Schemate „De
Ecclesia" vor, die Wassilowsky im Archiv der Phil.-Theol. Hochschule St.
Georgen/Frankfurt am Main hat einsehen können und die von Karl Rahner
und Otto Semmelroth stammen (Universales Heilssakrament Kirche,
192-264; im folgenden untersucht der Autor „Spuren der Animadversiones
in den ekklesiologischen Reden der deutschsprachigen Bischöfe während
der Sessio I", 264-276). Mit diesem Text, der bei Wassilowsky a. 0.
410-423 abgedruckt ist, wurde das traditionstreue, vor allem von Tromp
entworfene Schema über die Kirche kritisiert. Rahners und Semmelroths
Bemerkungen sind übrigens in einem teilweise holprigen Latein verfasst,
was schon mit der Überschrift beginnt, die lauten müsste: Animadversiones
in schema „De Ecclesia". In sprachlicher Hinsicht scheint Rahner jedenfalls
nicht einmal die schwächeren Vertreter der von ihm bekämpften Neuscholastik überwunden zu haben! Überhaupt müsste man einmal systematisch
seine so oft gerühmten Lateinkenntnisse überprüfen. Nach Lektüre dieses
Textes und v. a. des Briefes an Emilio Guano, Erzbischofs von Livorno,
kann ich da meine Bedenken nicht verhehlen. So heißt es im letzteren nach
Wassilowskys Zitat (a. 0. 96 f. Anm. 190), dessen Zuverlässigkeit ich freilich nicht überprüfen konnte: „praestavit" (statt praestitit); „non omittere
posssum" statt „omittere non possum"; „aguntur" statt „agentur"bei einem
eindeutig auf die Zukunft ausgerichteten Prädikat; „aliquod" statt substantivischem „aliquid" usw.
40
Zur Frage, wieweit einzelne Entscheidungen des Konzils direkt für Karl
Rahner in Anspruch genommen werden können, siehe v. a. Wassilowsky,
Universales Heilssakrament Kirche, 81-103 (Kap. „Karl Rahner im Ereignis
II. Vatikanum", mit ausführlichen Literaturangaben in den Fußnoten, die
u. a. auch auf private Äußerungen Rahners zurückgreifen, welche sich z. B.
im Karl Rahner-Archiv in Innsbruck befinden). Wie Wassilowsky selbst die
Situation beurteilt, zeigt folgender Satz: „Ich bin in den Archiven auf keinen
einzigen Rahner-Text gestoßen, von dem ich behaupten würde, dass Rahner
ihn alleine verfasst hat" (a. 0. 103). Damit leugnet der Autor aber keineswegs gerade den nicht zu unterschätzenden Einfluss Rahners auf die Lehre
von Lumen gentium, die Kirche sei das universale Heilssakrament.
37
— 276 —
tium" (Nr. 8) (statt „est") auf Tromp zurückging.4' In einem
Beitrag der Zeitung „Die Tagespost"42 schrieb sie jüngst: „Es
ist nicht so, als könne man — auch wenn man das Archivmaterial in seiner ganzen Fülle sichten würde — nun Ausdruck um
Ausdruck feststellen, wer welches Wort in die Konstitutionen
und Dekrete eingebracht hat... Wenn auch der eine oder
andere Ausdruck von Rahner vorgeschlagen wurde, heißt das
nicht, dass andere Punkte nicht durch Rahners indirekten Einfluss entstanden sind."
Etwas anderes ist es, hinter bestimmten Gedanken den
Geist einzelner Theologen auszumachen. Für GS 22 besitzen wir ein jedenfalls doch ernstzunehmendes Zeugnis aus
der Feder seines Meisterschülers und Freundes H. Vorgrimler. Im Vorwort zu seiner skandalösen Veröffentlichung der
teilweise nicht minder skandalösen Privatbriefe seines Lehrers an ihn schreibt er über diesen: „So übernahm man mehrfach seine Thesen, ohne seine Sprache und seine Begründungszusammenhänge zu übernehmen. Bei den Aussagen
über das Heil der Atheisten (Lumen gentium 16, Gaudium et
spes 22) dachte man an die Theorie vom anonymen Christentum"', man benützte sie aber nicht."45 Wir haben bereits gesehen, dass es im Konzilstext — das gilt auch für LG 16, worauf
wir hier nicht näher eingehen werden — Ansätze dieser Art
gibt, dass der Text von GS 22 aber noch traditionell verstanden werden kann.
ähnlichen Texten für vorgezeichnet hielt. Den Exerzitienvorträgen aus dem Jahre 1976, die bezeichnenderweise 1979
unmittelbar nach seiner Wahl zum Nachfolger Petri, und
zwar in deutscher Sprache unter dem Titel „Zeichen des
Widerspruchs — Besinnung auf Christus" im Herder-Verlag,
erschienen, kann man folgende Bemerkungen entnehmen, die
klar in die Richtung eines „anonymen Christentums" weisen,
wenngleich die Erlösung hier noch vom Kreuz und nicht von
der Inkarnation her gesehen ist: „Die Geburt der Kirche im
Moment des messianischen, erlösenden Todes Christi" war
„im Grunde auch die Geburt des Menschen, und zwar unabhängig davon, ob der Mensch dies weiß oder nicht, dies
annimmt oder nicht." (108) „Alle Menschen seit dem Beginn
und bis zum Ende der Welt sind von Christus durch sein
Kreuz erlöst und gerechtfertigt worden." (103)48
In der italienischen Vorlage der deutschen Ausgabe heißt
es im letzten Satz wirklich: „giustificati". Der Begriff ist
zweifellos von besonderer Tragweite! Die Aussage über die
Erlösung im selben Satz unmittelbar zuvor könnte ja auf die
Suffizienz, als auf das Erlösungsangebot Christ zielen. Es
muss nicht unbedingt die Effizienz betreffen, das wirkliche
Erlöstsein jedes einzelnen Menschen. Die Kirche hat nämlich
mit dem hl. Thomas stets betont, dass die Erlösung zwar von
der göttlichen Intention her universal, von der Wirklichkeit
her aber aufgrund der menschlichen Entscheidungsfreiheit
begrenzt ist (in primo actu universalis, in secundo actu partiGS 22 als Schlüsseltext im Lehramt des gegenwärtigen cularis, S.c.gent. 6,55). Schön kommen beide Aspekte im
Papstes
Hymnus „Te Deum" zu ihrem Recht, wo der eine sich unmitJohannes Paul II. beruft sich nun seit seinem Amtsantritt bis telbar an den anderen anschließt: „Du scheutest nicht zurück
zu den jüngsten Verlautbarungen ständig auf ihn.46 Christoph vor dem Schoße der Jungfrau, um die Rettung des Menschen
Schönborn, damals Weihbischof, mittlerweile Kardinal und (d. h. der Menschheit) auf dich zu nehmen. Du hast den StaErzbischof von Wien, legte Zeugnis für die Tatsache ab, dass chel des Todes besiegt und dadurch den Glaubenden das
„Gaudium et spes" Nr. 22 der „Schlüsseltext" auch des neuen Himmelreich geöffnet" („Tu ad liberandum suscepturus
Weltkatechismus sei.47 Schon als Kardinal hatte Karol hominem non horruisti Virginis uterum. Tu devicto monis
Wojtyla die Linien weiter ausgezogen, die er in GS 22 und aculeo aperuisti credentibus regna caelorum").49
Die Spannung zwischen universalem Erlösungsangebot
und
nur partieller Erlösungswirklichkeit hat die Synode von
41 Die Bedeutung des subsistit in (LG 8). Zum Selbstverständnis der katholiQuiercy im Jahre 853 gerade auch mit Blick auf eine gewisse
schen Kirche, München 2002.
42 Eingeformt in den Dienst an Kirche und Konzil. Karl Rahner und seine MitVereinigung jedes Menschen mit Christus aufgrund der
arbeit beim Zweiten Vatikanum: Blick auf eine Sitzung der Theologischen
gemeinsamen
menschlichen Natur in besonders klare Worte
Kommission vor genau vierzig Jahren, Forum „100 Jahre Karl Rahner", DT
vom 4. März 2004, S. 16.
Es bleibt abzuwarten, ob die mir noch nicht greifbare Habilitationsschrift
von Hans-Joachim Sander (Würzburg) zu „Gaudium et spes" (siehe Wassilowsky, Universales Heilssakrament Kirche, 97 Anm. 190) weiteren Aufschluss zum Einfluss Karl Rahners auf dieses Kapitel geben kann.
44 Der wohl auf Blondel zurückgehende (David Berger, Natur und Gnade, 296
Anm. 235), bekanntlich aber besonders von Karl Rahner propagierte Begriff
wurde mit Recht sogar von Hans Urs von Balthasar getadelt. Durch eine solche Nomenklatur werde kein Problem gelöst (Cordula oder der Ernstfall, 3.
Aufl. Einsiedeln 1967, Trier 1987, v. a. 84-96; 124-129). Es wurde u. a.
gegen Rahner eingewandt, wenn man die Heiden „anonyme Christen"
nenne, könnten diese wiederum umgekehrt sagen, dass die Christen „anonyme Heiden" seien. Übrigens ließ es sich Rahner — mit gewissen, relativierenden Einschränkungen — in der Tat durchaus gefallen, z. B. als „anonymer
Zen-Buddhist" bezeichnet zu werden (H. Waldenfels, Theologie der nichtchristlichen Religionen, in: E. Klinger u. K. Wittstadt [Hrsg.], Glaube im
Prozess [FS Karl Rahner zum 80. Geburtstag], Freiburg 1984, 765).
45 Orientierung 84/1984, 34
46 „Redemptor hominis" Nr. 8 hatten wir oben schon erwähnt, ein weiteres Beispiel: „Evangelium Vitae" vom 25. März 1995, Nr. 104.
47 Osservatore Romano 12,1/1993, vgl. Si sl no no 15. April 1993, 3. Es ist
schwer verständlich, dass derselbe Weihbischof Schönbom zu Recht die
Gefahr skizzierte, die mit der Theorie von der Erlösung der ganzen Menschheit allein durch die Inkarnation verbunden ist, diese auch zutreffend mit
dem protestantischen Theologen Adolf von Harnack als einem früheren
Befürworter in Verbindung bringt, sie ferner korrekt, gerade mit Bezug auf
die große Mehrzahl der Kirchenväter, als unkatholisch verwirft, aber dann so
tut, als wenn sie heute nur von fehlgeleiteten Theologen und nicht etwa auch
vom offiziellen Lehramt vertreten oder zumindest in erschreckendem Maße
begünstigt würde (Interview mit Schönborn in: 30 Tage 6/1994, 66).
Zu dieser und ähnlichen Aussagen aus „Zeichen des Widerspruchs" siehe
J. Dörmann, Der theologische Weg Johannes Pauls II. zum Weltgebetstag
der Religionen in Assisi, Bd. I: Vom Zweiten Vatikanischen Konzil bis zur
Papstwahl, Senden/Westf. 1990, 62-68.
49 Auch im überlieferten Römischen Ritus der Kirche kommen Gebete vor, die
die Suffizienz, also das Angebot der Erlösung Christi für alle Menschen,
betonen, so z. B. das Opferungsgebet „Offerimus tibi, Domine, calicem
salutaris", wo es heißt, dass dieser Kelch „pro nostra et totius mundi salute"
(„für unser und der ganzen Welt Heil") dargebracht wird, oder das Gebet zur
Kommunionvorbereitung „Domine Jesu Christe, Fili Dei vivi", wo der Priester spricht: „per mortem tuam mundum vivificasti" („Du hast durch Deinen
Tod der Welt das Leben geschenkt"). Der Kontext solcher Aussagen lässt
aber an der Intention der Kirche nicht den geringsten Zweifel. So wird
unmittelbar nach der letzteren Anrufung der Herr angefleht, er möge den
Genuss Seines heiligsten Leibes nicht „zum Gericht und zur Verdammnis
gereichen lassen" („non mihi proveniat in judicium et condemnationem").
Ein potentielles Missverständnis des Opferungsgebetes über dem Kelch ist
schon aufgrund des vorangegangenen „Suscipe, Sancte pater, omnipotens
aeterne Deus ..." kaum möglich, das die Notwendigkeit des Sühneopfers
angesichts der Sündhaftigkeit des Menschen wie kaum ein anderer Text
betont und damit der Verdammung durch alle Neuerer seit der sog. Reformation anheimfiel. Vollends widerlegt würde es durch die bald folgenden
Worte des Kanons „lass uns der ewigen Verdammnis entrissen werden" („ab
aeterna damnatione nos eripi jubeas"), die ja, wenn man so betet, offenbar
möglich ist. Es ist nicht erstaunlich, dass der Canon Romanus bei den
modernen Theologen so unbeliebt ist — natürlich nicht nur aus diesem, sondern auch aus einer Reihe weiterer Gründe (siehe Verf., Die Mär vom antiken Kanon des Hippolytos, Köln 1999.
— 277 —
— 278 —
43
48
gefasst. Die Stellungnahme der Kirchenversammlung unter
dem Vorsitz des Erzbischofs Hinkmar von Reims war als
Antwort auf den Irrtum des Mönches Gottschalk von Orbais
nötig geworden, der eine doppelte Vorherbestimmung gelehrt
hatte, gewissermaßen der absoluten Prädestination des Menschen zu Himmel oder Hölle vergleichbar, wie sie später Calvin vertreten sollte. Jene Synode verkündete nun: „So wie es
keinen Menschen gibt, gegeben hat oder geben wird, dessen
Natur nicht in unserem Herrn Jesus Christus angenommen
war, so gibt es keinen Menschen, hat es keinen gegeben und
wird es keinen geben, für den er nicht gelitten hat; gleichwohl
werden nicht alle durch das Geheimnis seines Leidens erlöst.
Dass aber nicht alle durch das Geheimnis seines Leidens
erlöst werden, bezieht sich nicht auf die Größe und Fülle des
Lösegeldes, sondern bezieht sich auf den Anteil der Ungläubigen und derer, die nicht mit dem Glauben glauben, der
durch die Liebe wirkt' (Gal 5,6); denn der Kelch des menschlichen Heiles, der durch unsere Schwachheit und die göttliche
Kraft bereitet wurde, hat es zwar in sich, dass er allen nützt;
wenn er aber nicht getrunken wird, heilt er nicht." (DH 624)
Es mag den Katholiken erstaunen, aus dieser so dichten und
umfassenden Erklärung im neuen „Katechismus der Katholischen Kirche" nur denjenigen Auszug zu lesen, der dem Erlösungsangebot Jesu gilt: „Im Anschluss an die Apostel (vgl. 2
Kor 5,15; 1 Joh 2,2) lehrt die Kirche, dass Christus ausnahmslos für alle Menschen gestorben ist: ,Es gibt keinen
Menschen, es hat keinen gegeben und wird keinen geben, für
den er nicht gelitten hat' (Syn. v. Quiercy 853: DS 624)"
(KKK 605). Allerdings soll nicht verheimlicht werden, dass
an anderer Stelle dasselbe Werk sehr wohl die Pflicht des
Menschen, mit der Gnade mitzuwirken, kennt (KKK 1993)
und auch die katholische Lehre von der Existenz eines Ortes
der Verdammten, der Hölle, erwähnt (KKK 1033-1037).
Im theologischen System Rahners und anderer Vertreter
der „Neuen Theologie", ohne das Johannes Pauls II. Ansichten nicht zu verstehen sind, ist es jedoch für das Heil des einzelnen nicht mehr relevant, ob er das Werk der Erlösung auch
für sich bewusst annimmt, indem er sich der göttlichen
Offenbarung und der sie verkündenden Kirche im Glauben
unterwirft. Zwischen Suffizienz, also dem universalen Heilsangebot des Erlösungswerkes Christi, und seiner Effizienz,
der tatsächlichen Wirksamkeit durch die Annahme von seiten
des Menschen, wird nicht mehr oder jedenfalls nicht mehr
durchgängig klar unterschieden. Das ist u.a. auch ein Ausfluss der philosophisch bedingten mangelnden Trennung zwischen subjektiver und objektiver Ebene im theologischen
Denken Johannes Pauls II. Auf diesem Hintergrund wird es
verständlich, warum jeder Mensch nun, und zwar offenbar
sogar ohne wirklichen Glauben und echte Werke, „gerechtfertigt" sein soll. (Fortsetzung folgt)
Anschrift des Autors: Dr. Heinz-Lothar Barth
Heerstraße 67, 53111 Bonn
HANS KINDLIMANN
Eine moderne „Ablassthese"
Anmerkungen zum Umgang Karl Rahners mit dem Thema Ablass
Die überlieferte Ablasslehre setzt lehrmäßig vieles voraus:
unter anderem die überlieferte Lehre von Sünde, Schuld und
Sündenstrafe, von der Genugtuung und der möglichen Stellvertretung in der Genugtuung und von der Kirche als Gemeinschaft
der Heiligen, die ihrerseits Voraussetzung für die Lehre vom
Kirchenschatz ist. Diese Lehrelemente hängen selbstredend
auch untereinander zusammen. Karl Rahner versuchte eine
neue Konzeption des Ablasses zu entwerfen, und setzte dabei
nicht einfach nur beim Ablass an, sondern tiefer im Lehrgefüge,
nämlich bei einem veränderten Begriff von zeitlicher Sündenstrafe. Da dieser sich an der überlieferten Lehre von Sünde und
Sündenstrafe reibt, gerät Rahner der genannten Zusammenhänge wegen auch in Spannung zu anderen Elementen der
kirchlichen Lehre und natürlich auch zur überlieferten Ablasslehre. — Der aus der Schweiz stammende Verfasser hat einen
Doktortitel in katholischer Theologie (Rom) inne.
des christlichen Lebensvollzuges einzufügen, dass diese
Lehre wirklich verständlich und ‚realisierbar' wird. Eine formaljuridische Ablasskonzeption ist dafür nicht geeignet."'
Unter „formaljuridischer Ablasskonzeption" versteht Rahner
hier die traditionelle Ablasslehre (im folgenden als TAL
bezeichnet). Da er dieses Anliegen aus pastoraltheologischer
Perspektive formulierte2, ist anzunehmen, er sei der Auffassung gewesen, die TAL würde von den Gläubigen mindestens
großenteils nicht mehr verstanden. Rahner äußerte aber dieses Anliegen nicht nur, er versuchte auch, es zu verwirklichen, indem er eine Auffassung vom Ablass entwickelte, die
sich von der TAL stark unterscheidet und die inzwischen bei
vielen Theologen durchscheint. Aus dem deutschen Sprachraum seien für diese Gefolgschaft Rahners lediglich als Beispiele angeführt: Georg Muschalek3, Herbert Vorgrimler4,
1. Vorbemerkungen
Manch einer wird sich in unseren Tagen vielleicht wundern,
dass ein als so aufgeschlossen und modern geltender Theologe wie Karl Rahner (1904-1984) sich wiederholt mit dem
Ablass beschäftigt hat, einem Thema, das heutzutage oft
selbst in dicken Handbüchern der Dogmatik auf ein paar
wenige Seiten zusammengedrängt wird.
Rahner äußerte die Meinung, es sei eine Lehre vom Ablass
„so zu verkündigen und in den Zusammenhang des Ganzen
Art. „Ablass", in Sacramentum mundi. Theologisches Lexikon für die Praxis,
1. Bd., [im folgenden SM 1] Herder, Freiburg i. Br. 1967, Sp. 32.
2 Vgl. ebd.
3 Vgl. G. Muschalek, „Der Ablass in der heutigen Praxis und Lehre der katholischen Kirche", in Gespräch über den Ablass (= Kirchengeschichtliche
Reihe, Heft 2), Styria, Graz etc. 1965, SS. 34-35.
4 Vgl. H. Vorgrimler, Buße und Krankensalbung (= Handbuch der Dogmengeschichte, Band IV, Faszikel 3), Freiburg im Br., Herder, S. 212.
— 279 —
— 280 —
1
Wolfgang Beinert5, Franz-Josef Nocke6, Gerhard Ludwig
Müller', Bernd Jochen Hilberath", Günter Koch9.
In der kirchlichen Öffentlichkeit ist es seit Jahrzehnten
schon still geworden um den Ablass. Es soll hier nicht der
Frage nachgegangen werden, wie es zur Flaute in der Ablasspraxis gekommen ist; etwas gar einfach lautet jedenfalls eine
Erklärung dafür bei Rahner und Vorgrimler: „Das Ablasswesen ist nach jahrhundertelangen Missbräuchen und Missverständnissen heute weithin außer Übung gekommen."1° Das
tönt so, als ob es nicht vor mehr als vierhundert Jahren ein
Konzil gegeben hätte, das in Trient getagt und die Missbräuche im Ablasswesen ausgeräumt hätte, als ob es nicht nach
diesem Konzil jahrhundertelang eine ruhige und vernünftige
Ablasspraxis gegeben hätte, die bspw. Muschalek bis in die
Gegenwart hinein feststellt." Mitte der 50er Jahre war übrigens auch Rahner noch der Auffassung, dass die Gewinnung
des Ablasses unter den Gläubigen noch lebendig war:2
Mittlerweile verhält es sich so: Wenn nicht gerade ein
bedeutsames Ereignis anfällt wie ein Heiliges Jahr, nimmt der
Katholik den Ablass kaum wahr. In der Regel braucht es
einen Anstoß aus Rom, damit dieses Thema mit einer gewissen Intensität aufgegriffen wird. So erlebte anlälich des vergangenen Heiligen Jahres das Thema „Ablass" eine kurze
Hochkonjunktur. In kirchlichen Medien tauchten zahlreiche
Darlegungen dazu auf. Der Beobachter konnte dabei allerdings den Eindruck gewinnen, dass es sich dabei vielfach
mehr um Schadensbegrenzung im Sinn des Ökumenismus
ging als um Katechese: Nein, das mit dem Ablass ist heute
nicht mehr so schlimm; die Katholiken praktizieren den
Ablass nicht mehr so wie im Mittelalter; Ablass ist heute
etwas Modernes, Soziales, Solidarisches, ein Ausdruck der
Kirche als Gemeinschaft. Kaum war aber der aus Rom verfügte Anlass, der zur Diskussion über den Ablass geführt hat,
vorüber, versiegte auch der Rede- bzw. Schreibfluss über den
Ablass so schnell, wie er ausgebrochen war.
Solchen Publikationen lag — nimmt man den deutschen
Sprachraum in den Blick — größtenteils nicht die traditionelle
Ablasslehre zugrunde, sondern die These, die Karl Rahner
vom Ablass entwickelte.13 Dieser soll im folgenden etwas
nachgegangen werden. Es versteht sich von selbst, dass im
Rahmen eines Zeitschriftenartikels nicht zu allem, was Rahner über den Ablass gesagt hat, Stellung bezogen werden
kann.
2. Eine moderne Ablassthese
2.1. Nähe und Distanz zu Bernhard Poschmann
Rahner äußerte, dass er bei der Entwicklung seiner These von
den Untersuchungen Bernhard Poschmanns (1878-1955)
ausgegangen sei, eines Erforschers der altkirchlichen und
frühmittelalterlichen Bußgeschichte. Dieser kam aufgrund
historischer Erforschungen zu gewissen Ergebnissen bezüglich der Wirkweise des Ablasses. Die Frage, die ihn beschäftigte, lautet: Wie werden im Ablass die Sündenstrafen nachgelassen? Er gelangte zur Auffassung: der Kirche steht
„keine rechtliche Verfügungsgewalt über die Verdienste der
Heiligen" zu, jedoch „eine moralische. Sie kann auf dem Weg
der Bitte einen maßgebenden Einfluss auf die ‚Verteilung des
Kirchenschatzes' ausüben"14; der Ablass beinhaltet ein „autorisiertes Gebet"15, in dem die Kirche Gott um Erbarmen für
die Büßer anfleht „und ihm als Ersatz für deren Genugtuung"
die Genugtuung Christi und der Heiligen anbietet.I6
Poschmanns Behauptung, der Ablass bestehe nicht in
einem richterlichen Akt, sondern in einem Fürbittgebet, fand
schon 1949 die Zustimmung Rahners17, für den die zentrale
Frage jedoch eine andere war: Was wird im Ablass nachgelassen bzw. was ist unter den zeitlichen Sündenstrafen zu verstehen? Rahner ließ sich durch Poschmanns Ausführungen
anregen, aus dogmatischer Sicht Kritik an der Auffassung des
Ablasses als eines jurisdiktionellen Aktes, der Auffassung
also, die damals noch „die meisten Theologen lehr[t]en", wie
er selbst feststellte'', vorzubringen'''. In bezug auf die Frage,
was im Ablass nachgelassen wird, bewegte sich Poschmann
allerdings im Rahmen der TAL26, worauf auch Rahner hinwies, als er von Poschmanns Theorie sagte, dass sie sich „von
der bisherigen Theorie des Ablasses nicht so weit entfernt, als
es auf den ersten Blick scheinen mag"2'.
Man ist daher von gewissen Formulierungen Rahners
überrascht, die suggerieren, die These Poschmanns liege auf
derselben Linie wie seine eigene22 bzw. Poschmanns These
Vgl. „Vom Sinn des Ablasses", in Der Prediger und Katechet 122 (1983)
741-743.
6 Vgl. „Spezielle Sakramentenlehre", in Handbuch der Dogmatik, hrsg. von
Theodor Schneider, Bd. 2, Patmos, Düsseldorf 2 1995, S. 318.
7 Vgl. Katholische Dogmatik. Für Studium und Praxis der Theologie, Herder,
Freiburg 1995, SS. 733-734.
8 Vgl. „Gnadenlehre", in Handbuch der Dogmatik, hrsg. v. Theodor Schneider,
Band 2, Patmos Verlag, Düsseldorf 21995, S. 318.
9 G. Koch, „Gnadenlehre — Das Heil als Gnade", in Glaubenszugänge. Lehrbuch der Katholischen Dogmatik, hrsg. v. Wolfgang Beinert, Band 3, Schöningh, Paderborn 1995, SS. 466-468.
10 K. Rahner — H. Vorgrimler, Kleines theologisches Wörterbuch, Herder, Freiburg im Br. 1976, S. 11.
I I Vgl. „Der Ablass in der heutigen Praxis und Lehre der katholischen Kirche",
S. 23.
12 Vgl. K. Rahner, „Über den Ablass", in Stimmen der Zeit 156 (1954/1955)
S. 343.
13 Nur wenige Beispiele seien angeführt: Andreas Laun, „Der Ablass — die
übersehene Liebe Gottes", in Kirche heute 1999, Nr.9, S. 4-7; Pater Roland
Trauffer OP, (damaliger) Sekretär der Schweizer Bischofskonferenz SBK,
verfasste einen Text zur Frage des Ablasses, der am 8. 3. 1999 vom Komitee
der SBK für das Jahr 2000 entgegengenommen wurde. Er ist in der Schweizer Kirchenzeitung (12/1999) veröffentlicht und vertritt die MAL; Christoph
Casetti, Die Gnade ist größer! — oder: Was ist ein Ablass?, www.bistumchur.ch (11. Februar 1999); Peter Henrici, Predigt zum Thema „Ablass" am
15. Oktober 2000 in der Martin-Luther-Kirche (Zürich), www.kath.ch/aktuell—thema.php?thid=293 (20. 10. 2000); Karl Veitschegger, „Ablass — was ist
das?" Referat auf der WallfahrtsleiterInnentagung in Seggauberg am 1. April
2000 (http://members.surfeu.ativeitschegger/texte/ablass.htm); Johannes
Holdt, „Vom Fluch der bösen Tat und dem Segen der Gnaden Christi", in Die
Tagespost, Nr. 22, 22. Febr. 2000, S. 6.
14
Bernhard Poschmann, Der Ablass im Licht der Bußgeschichte Theophaneia
4), Hanstein, Bonn 1948, S. 108.
15
Vgl. ebd., SS. 109.
16
Vgl. ebd., SS. 121-122.
17
Vgl. Rec. ad Bernhard Poschmann, Der Ablass im Licht der Bußgeschichte
(= Theophaneia 4), Hanstein, Bonn 1948, in Zeitschrift für katholische Theologie 71 (1949) SS. 489-490.
18
Ebd., S. 489.
19
Ein Eingehen auf diese kritischen Fragen Rahners an die TAL (vgl. „Bemerkungen zur Theologie des Ablasses", in Schriften zur Theologie, Bd. II, Benziger, Einsiedeln etc. 51961, SS. 193-203) kann durchaus zu einer Vertiefung des Wissens um den Ablass führen, doch ist dies nicht die Aufgabe, der
sich der vorliegende Beitrag annehmen will.
20
Vgl. Poschmann, Der Ablass im Licht der Bußgeschichte, SS. 119-122.
21
„Bemerkungen zur Theologie des Ablasses", S. 195
22
Zu denken ist hier an Formulierungen wie: „Das Thema dieser Bemerkungen
ist zunächst die Vereinbarkeit der von B. Poschmann und dem Verfasser
[= Rahner] vorgetragenen Deutung der kirchlichen Ablasslehre mit der Apostolischen Konstitution ,Indulgentiarum Doctrina` vom 1. Januar 1967."
(K. Rahner, „Zur heutigen kirchenamtlichen Ablasslehre", Schriften, Bd.
VIII, Benziger, Einsiedeln etc. 1967, SS. 488-489.)
— 281 —
— 282 —
5
würde auch Rahners Neuerungen dogmatisch23 und dogmengeschichtlich24 absichern.
2.2. Rahners Idee
Nach der traditionellen Lehre gibt es unter den Sündenfolgen
solche, die mit der Vergebung der Sünde überwunden sind
(z. B. Verlust der heiligmachenden Gnade, ewige Strafe), und
solche, die auch nach der Vergebung der Sünde noch verbleiben können: zeitliche Sündenstrafen für die in der Sünde
gegebene Abkehr von Gott und alle jene Beschwernisse, die
sich für den Sünder aus der durch die Sünde verletzten Ordnung von Mensch und Umwelt ergeben, die sogenannten
Überbleibsel der Sünde. Nach der TAL werden im Ablass
zeitliche Sündenstrafen nachgelassen, die der Sünder vor
Gott für jene Sünden noch zu verbüßen hat, die hinsichtlich
der Schuld bereits getilgt sind. Es sind diese Strafen vindikativ, d. h. sie dienen der Genugtuung für die in der Sünde liegende Abkehr von Gott und die damit verbundene Beleidigung Gottes. Dabei gewährt die Kirche den Nachlass dieser
Strafen, indem sie aus ihrem Schatz schöpft." Diese traditionelle Lehre vom Ablass und von den Sündenstrafen haben
wir an anderer Stelle kurz besprochen und braucht hier nicht
von neuem systematisch beschrieben zu werden. Ihre Kenntnis insgesamt ist für die im Verlauf dieses Artikels erfolgende
Kritik an Rahners Vorstellungen vorausgesetzt, wenn auch
einzelne ihrer Elemente anlässlich dieser Kritik zur Sprache
kommen.26
Vieles was Rahner über die Sündenfolgen und deren Überwindung durch den Büßer sagte, ist alte christliche Lehre.
Rahners Idee besteht nun darin, die zeitlichen Sündenstrafen,
die nach Vergebung der Sünde noch verbleiben können, mit
den Überbleibseln der Sünde zu identifizieren.27 Eine eigentliche Sündenstrafe als Vergeltung für die in der Sünde liegende Abkehr von Gott und die damit für den Sünder verbundene Pflicht zur Sühne, wie sie in der TAL gegeben sind",
lassen sich bei Rahner nicht ausmachen.
23 So
Rahner sprach zwar auch vom Vergeltungscharakter29 der
Beschwernisse, die sich aus der durch die Sünde verletzten
Wirklichkeit für den Sünder ergeben, bzw. von der „sich
rächend rückwirkenden objektiven Ordnung"30, deren Urheber Gott ist; er sprach davon, dass man sich die Überbleibsel
der Sünde nicht „bloß" (also auch) als Vergeltung vorstellen
solle.3' Es fällt jedoch nicht leicht, zu glauben, dass Rahner
mit diesen Ausdrücken wirklich das bezeichnen wollte, was
traditionellerweise mit ihnen bezeichnet wird, denn eine für
sich Sinn machende, nicht der Heilung bloß innerweltlicher
Sündenfolgen untergeordnete zeitliche Strafe, eine Sündenstrafe, die das unmittelbare Verhältnis des Büßers zu Gott
ordnet, indem sie die Beleidigung Gottes, die in der Sünde als
Abkehr von Gott liegt, sühnt, erscheint in Rahners Konzeption nicht. Blass ist davon die Rede, die Sündenfolgen seien
vindikativ, insofern sie die Gerechtigkeit Gottes manifestieren.32 Und so konnte Vorgrimler bezüglich dieser Ausklammerung des Vergeltungselementes durch Rahner schreiben,
dieser habe sich um ein „vindikative Vorstellungen überwindendes Verständnis der ,Sündenstrafen bemüht.33
Die Beschwernisse im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Überbleibsel der Sünden sind sogenannte poenae
medicinales. Sie können von ihrem Gehalt her aber nicht einfach nachgelassen werden; sie sind dem Menschen aufgegeben zur Besserung, von der er nicht dispensiert wird. Mit dieser Sachlage ist natürlich auch konfrontiert, wer wie Rahner
die Überbleibsel zum eigentlichen Gegenstand des Ablasses
machen will. Von daher musste Rahner sagen, dass der
Ablass die Überbleibsel der Sünden, „nicht einfach in einem
autoritativen Nachlassen" schenkt34.
Was wird dann aber gemäß Rahner im Ablass gewährt?
Seine Antwort: Die Gnade für den reuigen Sünder, damit er
die Überbleibsel der Sünde „schneller, sicherer` und seliger
überwinde"35. Es gehe im Ablass um die „Ermöglichung
schnellerer und seligerer Aufarbeitung" der inneren und
äußeren Zuständlichkeiten des Menschen, die durch die
Sünde geschaffen worden sind und mit der Vergebung der
Sündenschuld noch nicht überwunden sind.36 Diese Vermittlung von Gnadenhilfe im Ablass komme dem Büßer aufgrund
des Fürbittgebetes der Kirche zu.37
Natürlich betet die Kirche für den Büßer um die für Aufarbeitung der Überbleibsel der Sünde nötige Gnadenhilfe;
natürlich verfolgt die Kirche in der Gewährung der Ablässe
auch das Ziel, die reliquiae peccatorum im engeren Sinn zu
überwinden. Sie knüpft an die Gewinnung der Ablässe ja die
Verrichtung guter Werke.38 Doch Rahner erklärt dies zum
eigentlichen Inhalt des Ablasses, und darin unterscheidet er
wenn Rahner sagt, dass es „von vornherein ausgeschlossen" sei, dass die
Kirche im Ablass um den Nachlass reiner Sühnestrafen bete. („Zur heutigen
kirchenamtlichen Ablasslehre", S. 503.) Man beachte die Einstreuung von
Wörtern wie „solche" und „bloß" an dieser und an anderen Stellen, die im
Falle einer Kritik an der neuen Theorie der Verteidigung dienen können, aber
an der Tendenz der Ausführungen nichts ändern.
24 „Damit soll nicht gesagt werden, dass sie [. Poschmanns und — behauptetermaßen — Rahners Theorie] sachlich neu sei; sie ist vielmehr, wie
B. Poschmann dogmengeschichtlich gezeigt hat, Wiederaufnahme — in Reinigung der seit dem Hochmittelalter üblichen Ablasslehre von einer allzu juristischen Verfremdung [...]" („Zur heutigen kirchenamtlichen Ablasslehre,
S. 489.)
25 Vgl. CIC (1917), can. 911; CIC (1983), can. 992; Papst Klemens VI., Jubiläumsbulle „Unigenitus Dei Filius", 27. Jan. 1343 (DS 1025-1027); Papst Leo
X., Dekret „Cum postquam", 9. November 1518 (DS 1447-1449).
26 Vgl. Hans Kindlimann, „Was ist ein Ablass?", in vobiscum 1(1999) Heftl,
SS. 44-49; „Von der Sünde und dem, was aus ihr folgt", in vobiscum 5(2003)
Heft 1, SS. 32-40; „Der moderne Ablass", in vobiscum 5(2003) Heft 2,
SS. 29-37, hier besonders SS. 29-31; deshalb wird im folgenden mitunter
auf von uns in den angegebenen Beiträgen schon Gesagtes verwiesen.
27 Vgl. z. B. „Kleiner theologischer Traktat über den Ablass", in Schriften zur
Theologie, Bd. VIII, Benziger, Einsiedeln etc. 1967, S.480; ebenso: „Zur
heutigen kirchenamtlichen Ablasslehre", S. 503.
28 Vgl. Hans Kindlimann, „Von der Sünde und dem, was aus ihr folgt",
SS. 34-39. Wie Johann Christoph Hampe, der offenbar Rahners Ablassthese
zuneigt, bemerkt, meint in der TAL die zeitliche Sündenstrafe „die göttliche
Strafe auf Erden und im Fegefeuer, allerdings nur ihren vindikativen, ihren
rächenden, nicht ihren pädagogischen Teil." (Johann Christoph Hampe,
"Zwischenspiel: Ablassreform", in Die Autorität der Freiheit, Hrsg. J. Ch.
Hampe, Bd. I, Kösel, München 1967, S.443, Anmerkung 1).
Vgl. Art. „Sündenstrafen", in Sacramentum mundi. Theologisches Lexikon für
die Praxis, 4. Bd. [im folgenden SM 4], Herder, Freiburg i. Br. 1969, Sp. 764.
LThK, Herder, Freiburg i. Br. 1964,9. Bd., Art. „Sündenstrafen" [im folgenden LThK 9], Sp. 1186.
31 „Zur heutigen kirchenamtlichen Ablasslehre", S.503; LThK 9, Sp. 1187.
32 „Bemerkungen zur Theologie des Ablasses", S. 205.
33 H. Vorgrimler, H., Buße und Krankensalbung, S. 213.
34 „Kleiner theologischer Traktat über den Ablass", S. 484.
" Vgl. „Zur heutigen kirchenamtlichen Ablasslehre", S. 503.
36 SM 1, Sp. 31.
37 Vgl. „Über den Ablass", SS. 351-355; „Kleiner theologischer Traktat",
SS. 480-487.
38 Apostolische Konstitution lndulgentiarum doctrina, Nr. 8, in AAS 59 (1967)
17: „Finis quem ecclesiastica auctoritas sibi proponit in elargiendis indulgentiis, in hoc est positus ut non solum adiuvet christifideles ad poenas debitas
luendas, sed etiam eosdem impellat ad pietatis, paenitentiae et caritatis opera
peragenda, ea praesertim quae fidei incremento et bono communi conducunt."
— 283 —
— 284 —
29
sich von der herkömmlichen Lehre. Diese These Rahners sei
im folgenden „moderne Ablasslehre" (MAL) genannt.
2.3. Rahners Ablassthese: Diskussionsbeitrag oder moderne
Wahrheit?
Rahner schrieb bisweilen so über die Sündenstrafen, als ob er
seine Auffassung lediglich zur Diskussion stelle39, als ob
diese noch nicht so recht übernommen werden könnte, da sie
noch einer notwendigen Ausarbeitung und Fundierung harre,
als ob er einfach Anregungen geben wolle, die von anderen
aufgegriffen und weiterentwickelt werden könnten. So müsse
einer in seiner Richtung gehenden Auffassung von Überbleibseln der Sünde erst noch „eine vertieftere Ontologie des
Wesens der menschlichen Geistperson und ihrer Umwelt
zugrunde gelegt werden"40. Eine „angemessene Theorie des
Ablasses als Tilgung zeitlicher Sündenstrafen" müsse erst
noch erarbeitet werden.41 Nach den Fragen und Überlegungen, die er sich bezüglich der Sündenstrafen gemacht hatte,
schrieb er gegen das Ende eines Artikels, den Leser ziemlich
ernüchternd: „Diese Fragen sind hier nicht aufgezählt, um
eine Antwort auf sie zu geben, sondern nur um zu zeigen,
wieviel noch zu tun wäre, um die Fragen zu klären, die
Poschmann in Angriff genommen hat."42 Für eine solide
Lehre von den Sündenstrafen — und damit natürlich auch vom
Ablass — wäre „eine dogmengeschichtliche Untersuchung
über die Lehre von den zeitlichen Sündenstrafen" eine „fast
notwendige Voraussetzung": „Hoffentlich schreibt uns bald
jemand eine solche Geschichte."43
Entsprechend konnte sich Rahner bei der Hinführung zu
seinem Konzept der zeitlichen Sündenstrafen auch schon einmal vorsichtig fragend geben: „Käme man von da (so kann
man wenigstens einmal fragen [kursiv im Original]) zu einer
Lehre von den zeitlichen Sündenstrafen, die ein bisschen
weniger formaljuridisch wäre als die übliche?"44
Angesichts dieser Relativierungen von seiten Rahners her,
wundert man sich über die zahlreiche Gefolgschaft, die Rahner bezüglich seiner Ablassthese unter heutigen Theologen
hat.
Es gibt bei ihm aber auch Stellen, die seine Auffassungen
ohne derartige Eingrenzungen vortragen. So hatte Rahner
bspw. keine Bedenken, gleich alle Christen hinter seine Auffassung von den zeitlichen Sündenstrafen zu scharen, wenn
er mit Bezug auf die Überbleibsel der Sünde sagt: „Diese
durch Schuld bedingten Wirklichkeiten unseres eigenen
geschichtlich sich formenden Daseins [...] nennen wir Christen , zeitliche S ündenstrafen
."45
2.4. Rahners Kritik an der TAL
Es soll hier Rahners Kritik an der TAL nicht ausführlich dargestellt werden. Es seien nur einige Punkte herausgegriffen
zur Art, wie Rahner in seiner Kritik vorging, und zu ihnen
etwas Kurzes gesagt.
a) Rahner brachte im Rahmen seiner kritischen Anfragen
an die TAL gerne vor, der Ablass könne nicht die persönliche
Buße schwächen.46
Dadurch wird insinuiert, die TAL enthielte solches, was
nicht der Fall ist.47 Wenn der Ablass, wie es gemäß der TAL
ist, nur von den Sühnestrafen befreit, so nimmt er eben von
der Aufgabe an den Überbleibseln nichts weg. Es ist Rahner
selbst, der den Ablass auf die Überbleibsel der Sünde bezog.
b) Rahner verglich die Tilgung der Sündenstrafen als eines
eigentlichen Erlasses, wie sie in der TAL gegeben ist, mit
einer Amnestie im zivilen Bereich, „die den Gebesserten und
den Unverbesserlichen in gleicher Weise ,begnadige"48.
Während bei einer zivilen Amnestie die sittliche Disposition der zu Amnestierenden nicht berücksichtigt zu werden
braucht, ist dies beim Ablass in der TAL sehr wohl der Fall:
im Ablass werden nur Strafen erlassen, die von Sünden herrühren, die bereits vergeben, also auch bereut worden sind.
c) Rahner beschrieb das, was er zu seiner Zeit als etablierte
Lehre über die Sündenstrafen ansieht, bisweilen in einer
überspitzten Weise, die seiner Kritik mehr Berechtigung zu
verleihen geeignet ist. Ein Beispiel: „In der durchschnittlichen rein formal-juristischen und ,extrinsezistischen` Vorstellung, nach der sie [. die Sündenstrafen im Fegfeuer]
einen rein vindikativen Charakter haben, nur durch eine juridische Verfügung Gottes mit den Sünden zusammenhängen
und durch eine eigens nur , ad hoc' betätigte Einwirkung Gottes zugefügt werden, können solche Sündenstrafen selbstverständlich durch einen einfachen Erlass ‚nachgelassen' werden, der einfach darin besteht, dass sie nicht zugefügt, dass
die peinigende Einwirkung auf die ,Armen Seelen' durch
Gott unterlassen wird."49
Dass diese Strafen „nur" durch eine juridische Verfügung
Gottes mit den Sünden zusammenhängen, trifft nicht zu. Der
Sünder macht sich durch die Sünde vor Gott strafwürdig und
damit straferstehungspflichtig, er verdient nach kirchlicher
Lehre die Strafe (siehe nächstes Kapitel). Zudem hat sich der
Sünder in seiner Bekehrung die inskünftige Sühne vorgenommen und ist mit ihr dadurch sittlich in einer neuen Weise verbunden.
Durch die Formulierung „peinigende Einwirkung auf die
‚Armen Seelen' durch Gott" und durch die in diesem Kontext
negativ konnotierten Wörter „extrinsezistisch" und „formaljuristisch" wird die kritisierte Auffassung schon von der Rhetorik her herabgesetzt.
d) Hinsichtlich der TAL will Rahner festgestellt haben:
„Eine genaue theologische Reflexion auf das Wesen der von
Gott verfügten Sündenstrafen fehlt in den kirchenamtlichen
Aussagen."5°
Nun, selbst wenn sich das, was Rahner für eine „genaue
theologische Reflexion" hält, bezüglich des Wesens der von
Gott verfügten Sündenstrafen nicht in amtlichen Texten der
Kirche finden ließe, wäre es nicht statthaft, aus dieser Sachlage zu folgern, hier läge die Möglichkeit vor, in der Hamartologie gleichsam wieder ab ovo zu beginnen.
Rahner stellte nun aber vor dem Hintergrund dieser
behaupteten Ungenauigkeit in amtlichen Texten nicht nur
eine neue Theorie über die Sündenstrafen auf (wenn er ihre
Neuheit auch zu relativieren bemüht ist51), sondern er sah in
47 J.
Vgl. „Bemerkungen zur Theologie des Ablasses", S. 207.
4° Ebd., S. 206.
41 Ebd., S.208.
42 Ebd.
43 Ebd., SS. 203-204.
44 Ebd., S. 205.
45 „Über den Ablass", S. 346.
46 Z. B. ebd., S. 353.
39
— 285 —
Mausbach, Katholische Moraltheologie, 2. Bd., Münster, Aschendorff,
1960, S. 283: „Der Ablass bezieht sich auf die der göttlichen Gerechtigkeit
geschuldeten Strafen (poenae vindicativae). Er kann und will nicht die zur
sittlichen Läuterung psychologisch erforderlichen Bußen (poenae medicinales) ersetzen."
48 „Über den Ablass", S. 349; vgl. ebd., S. 353; vgl. SM 4, Sp. 765.
49 „Bemerkungen zur Theologie des Ablasses", S. 207.
50
LT/OK 9, Sp. 1185.
51 Vgl. „Zur heutigen kirchenamtlichen Ablasslehre", S. 489.
— 286 —
der behaupteten lehramtlichen Ungenauigkeit der Ausdrücke
zur Bezeichnung der Realitiät „zeitliche Sündenstrafen"
einen Hinweis dafür, dass das Lehramt auf denselben Begriff
von Sündenstrafen abziele wie er selbst!"
3. Zum Begriff „Sündenstrafen" bei Rahner
Kurz gesagt, identifizierte Rahner die zeitlichen Sündenstrafen mit den innerweltlichen Folgen der Sünden. Er setzte sich
damit in Spannung zum überlieferten Glaubensleben der Kirche. Gewiss hat die Verletzung der geschöpflichen Ordnung
durch die Sünde Leid zur Folge - auch für den Sünder -, da
hatte Rahner recht, er sagte damit aber nichts anderes, als was
seit jeher schon erkannt wurde (vgl. Tob 1 2,1 0). Was aber in
der Konzeption Rahners nicht genügend beachtet wird, ist die
Tatsache, dass die Strafe im eigentlichen Sinn nicht einfach
in den sich unangenehm auswirkenden Störungen liegt, die
sich aus dem sittlichen Fehlverhalten ergeben, also sich nicht
einfach mit dem deckt, was in der katholischen Theologie
üblicherweise als reliquiae peccatorum im eigentlichen Sinn
bezeichnet wird, sondern dass die Strafe in der Schuld ihren
Grund hat: Sie ist verdient, wie der hl. Papst Pius X. lehrt:
„Der Ablass ist die Erlassung der zeitlichen Strafe, die wir
durch unsere Sünden, die hinsichtlich der Schuld bereits vergeben sind, verdient haben; diese Erlassung wird von der Kirche außerhalb des Bußsakramentes erteilt."53 Die Strafe hat
ihren Grund in der moralischen Ordnung des Verhältnisses
des Menschen zu Gott, sie ist nicht einfach ein innerweltliches Übel, das durch die Sünde verursacht wird. Dies ist, wie
der bekannte Theologe Dominicus Palmieri festhält, kirchliches Dogma.54
Dass auch die Überbleibsel der Sünde bisweilen als Strafe
bezeichnet werden, bedeutet nicht, dass sie dasselbe sind wie
das, was im eigentlichen Sinn als zeitliche Sündenstrafe
bezeichnet wird. Der Römische Katechismus ist sich dieser
Unterscheidung bewusst.55 Auch das Konzil von Trient unterscheidet zwischen der Genugtuung für die Sünden und der
Heilung von den Überbleibseln der Sünde.56 Es lehrt die
Beichtväter, darauf zu achten, dass die Buße, die sie den
Beichtenden auferlegen, nicht nur zur Heilung ihrer Schwäche, also der Befreiung von den Überbleibseln der Sünden
dient, sondern auch der Vergeltung (ad vindictam) und der
Züchtigung (ad castigationem) für die vergangenen Sünden.57
Das Konzil will mit dieser Aussage den Irrtum der Reformatoren treffen, die eigentliche Buße sei die Besserung des
Lebens, eine Genugtuung für die vergangenen Sünden sei
nicht notwendig."
Die Unterscheidung zwischen Sündenstrafen und Überbleibseln der Sünde liegt auch der kirchlichen Lehre zu
„Es deutet sich darin [in der nichtvorhandenen Unterscheidung und Variation
der Worte in lndulgentiarum doctrina] schon an, dass die Konstitution die
„poena temporalis„ eher als eine innere, konnaturale und aus dem Wesen der
Sünde selbst erfließende, leidschaffende („poena„) Folge der Sünde („reliquiae peccatorum„) anzusehen scheint [A" („Zur heutigen kirchenamtlichen
Ablasslehre", S. 507.)
53 Hl. Papst Pius X., Kompendium der christlichen Lehre, Mediatrix-Verlag,
Wien 1981, S. 231.
54 Dominicus Palmieri, Tractatus de poenitentia, Ex Officina Libraria Giachetti,
Prati 1896, SS. 494-495: „De fide est enim, culpam omnem mereri aliquam
poenam, Deumque exigere pro quavis culpa aliquam [495] satisfactionem
52
Grunde, dass die Taufe von allen Sündenstrafen befreit, aber
eben nicht von anderen Belastungen, die die Sünde mit sich
bringt: „Wenn wir zum ersten Mal den Glauben bekennen
und in der heiligen Taufe abgewaschen werden, wird uns die
Vergebung so reichlich geschenkt, dass keinerlei Schuld - sei
es, dass sie durch die Abstammung an uns haftet, sei es, dass
wir etwas durch eigenen Willen unterlassen oder getan haben
- zu tilgen und keinerlei Strafe zu verbüßen bleibt. Jedoch
wird niemand durch die Taufgnade von aller Schwachheit der
Natur befreit; vielmehr hat jeder gegen die Regungen der
Begierlichkeit, welche uns unablässig zu Sünden anregt, zu
kämpfen".59
Es ist von daher klar, dass eine Abschwächung des Vergeltungselementes in den zeitlichen Sündenstrafen einschneidende Konsequenzen für die Glaubenslehre hat, worauf auch
Rahner anspielte: „Eine Untersuchung des eigentlichen
Wesens der Sündenstrafe würde ungefähr das Ganze der
Theologie in sich hineinziehen und in Bewegung setzen müssen."60
Ein Szenario für eine solche „Bewegung", wenn man sie
als von Rahners These aus lanciert betrachtet, ließe sich etwa
folgendermaßen skizzieren: Von der Auffassung, die Strafe
für die Sünde diene nicht mehr der Genugtuung für die in der
Sünde liegende Abkehr von Gott, ist der Weg zur Vorstellung,
die Sünde sei keine Beleidigung Gottes und konstituiere
daher auch keine Schuld vor Gott, nicht weit. Eine solche
Verharmlosung der Sünde führt dann zu einer Reihe gewichtiger Fragen: Haben Sünden überhaupt direkt etwas mit Gott
zu tun, oder sind sie nicht einfach menschliche Fehler oder
menschliche Schwächen, die sich in erster und eigentlicher
Linie auf Mensch und Umwelt beziehen? Und wenn es fraglich ist, ob die Sünde direkt etwas mit Gott zu tun hat, wird
dann nicht auch fraglich, ob die guten Werke etwas mit Gott
zu tun haben? Verdienen die guten Werke Lohn vor Gott,
wenn die Sünden keine Strafe verdienen, oder sind sie einfach zu begrüßende Sozialwerke ohne Bezug zu einem ewigen Wert?
Wenn aber die menschliche Untat nur weltimmanent gesehen wird, dann fehlt ihr die letzte sittliche Relevanz, sie wird
zu einer Art Unfall und wäre nach überlieferter katholischer
Lehre gar nicht mehr als Sünde zu bezeichnen.6 ' Man erahnt
leicht, dass die Abschaffung des vindikativen Momentes der
Sündenstrafe in der Tat die Möglichkeit für eine völlige
Umdeutung des Christentums eröffnet.
Angesichts eines solchen Szenarios berührt es eigenartig,
wie wenig Rahner sich von der Diskrepanz beeindruckt
zeigte, die zwischen den kirchlichen Dokumenten und den
meisten Theologen bis zu seiner Zeit einerseits und seiner
These andererseits besteht.
4. Zu einigen Schwierigkeiten der modernen Ablassthese
a) Die Bußwerke können ihrem Genugtuungswert nach anderen Gläubigen zugute kommen, zur Abtragung ihrer Sündenstrafen, während der medizinale Wert zur Heilung der ungeordneten Leidenschaften anderen nicht zugewandt werden
kann.62 Diese Zuwendung ist möglich aufgrund der Gemeinschaft der Heiligen° und findet gemäß der TAL im Ablass
statt: In Indulgentiarum doctrina ist zu lesen: „Denn im
[...1".
Vgl. Katechismus nach dem Beschlusse des Konzils von Trient für die Pfarrer
[= Römischer Katechismus], 2. Teil, 5. Hauptstück, Nr. 65. (1970 auf deutsch
erschienen im Petrus-Verlag, Kirchen/Sieg 1970)
56 Vgl. 14. Sitzung, Lehre über das Bußsakrament, 8. Kapitel (= DS 1690) und
Lehre über das Sakrament der Letzten Ölung, 2. Kapitel (= DS 1696).
57 Vgl. 14. Sitzung, Lehre über das Bußsakrament, 8. Kapitel (= DS 1692).
55
58
Ebd.
- 287 -
59
Römischer Katechismus, 1. Teil, 11. Hauptstück, Nr. 3; vgl. KKK 978.
„Bemerkungen zur Theologie des Ablasses", S. 205.
Hans Kindlimann, „Von der Sünde und dem, was aus ihr folgt",
SS. 32-33.
62 Römischer Katechismus, 2. Teil, 5. Hauptstück, Nr. 77.
63 Römischer Katechismus, 2. Teil, 5. Hauptstück, Nr. 76.
61 Vgl.
- 288 -
Ablass [...] betet die Kirche nicht nur, sondern verwaltet und
wendet den Schatz der Sühneleistungen Christi und der Heiligen dem recht disponierten Gläubigen zur Nachlassung der
zeitlichen Sündenstrafen autoritativ zu."64
Für die kirchliche Lehre vom Kirchenschatz als einem
Genugtuungsschatz Christi und der Heiligen, der anderen
Gliedern der Kirche zufließen kann, ist in der MAL kein
Platz. Wie soll das Fasten des Wüstenvaters Antonius, das
dieser nicht mehr zur Mäßigung im Essen brauchte, einem
anderen zugewendet werden können, damit dieser dadurch
mäßiger im Genuss von Speisen werde? Der Ausweg über
das Fürbittgebet für den anderen hilft hier nicht weiter: Das
Fürbittgebet um Gnadenhilfe in der Aufarbeitung der Sündenfolgen ist nicht schon Genugtuung: Jemand, der um Heilung eines Menschen vom Neid betet, sühnt nicht stellvertretend für diesen.
Wie kann überhaupt der Mensch überfließende Genugtuung leisten, wenn Genugtuung nur als Aufarbeitung der Folgen der eigenen Sünden verstanden wird, wie es die MAL
will? Es lassen sich ja nur soviel Überbleibsel aufarbeiten als
vorhanden sind. Besonders deutlich wird der Gegensatz der
MAL daher zur kirchlichen Lehre bezüglich der stellvertretenden Genugtuung, wenn wir auf Christi Mutter blicken.
Weil die allerseligste Jungfrau keine Sünde beging und somit
auch keine Sündenfolgen aufarbeiten musste, besäßen all die
Leiden, die sie auf sich nahm, keinen Genugtuungswert. Sie
wären in dieser Hinsicht tatsächlich überflüssig.6' Aber was
für Worte brauchte doch Papst Klemens VI. bezüglich der
von heilsförderndem Wert überfließenden Werke: „damit sie
nicht unnütz, vergeblich und überflüssig [•.•] 66 seien.
Rahner reagierte zwar auf Indulgentiarum doctrina und
schrieb einen gut dreißigseitigen Artikel, in dem er zu zeigen
versuchte, dass seine These auch mit Indulgentiarum doctrina vereinbar sei. Dies ging er aber an, ohne den in der
Apostolischen Konstitution enthaltenen Ausdruck „Schatz
der Sühneleistungen Christi und der Heiligen" zu besprechen,
wodurch freilich seine Stellungnahme zu diesem lehramtlichen Text ihres beabsichtigten Zweckes beraubt ist.67
b) Worin besteht in der MAL die unmittelbare Wirkung
des Ablasses? Vermittelt der Ablass Gnadenhilfen zur Aufarbeitung der Sündenfolgen, so kann unter „Gewinnung eines
Ablasses" eigentlich kaum die Erlangung der Gnadenhilfe
selbst verstanden sein. Denn die Sündenfolgen müssen in
einem zeitlichen Prozess aufgearbeitet werden68, können also
nicht in dem Augenblick, in dem alle Bedingungen für die
Ablassgewinnung erfüllt sind, ebenfalls behoben werden.69
Indulgentiarum doctrina, Nr. 8, in AAS 59 (1967) S. 21.
Dies erinnert an die Auffassungen Melanchthons und Wyclifs, es gäbe vor
Gott keine überfließenden Verdienste der Heiligen (vgl. Vorgrimler, Buße und
Krankensalbung, S. 210).
„ [• ]ut nec supervacua, inanis aut superflua [...]" („Unigenitus Dei Filius",
DS 1025 und 1027)
67 „Zur heutigen kirchenamtlichen Ablasslehre", SS. 488-518. Ob G. Koch
wohl deshalb die Bemühungen Rahners, seine These mit Indulgentiarum
doctrina in Übereinstimmung zu setzen, nicht so ernst nimmt (vgl. „Gnadenlehre — Das Heil als Gnade", SS. 467-468)? Jedenfalls handelt er die Erlasse
von Paul VI. unter der Überschrift „Die Lehre vom Ablass in Bibel und Tradition" ab (S. 467) und nicht in dem anschließenden Abschnitt „Versuche
einer Neuerschließung" (SS. 467-468).
68 Vgl. „Kleiner theologischer Traktat über den Ablass", S. 474.
68 Aus dem gleichen Grund ist es aus Rahners Sicht der Sündenstrafen „viel
schwerer zu erklären, wie nach der Lehre der Tradition die Taufe eines
Erwachsenen eine solche Nachlassung aller zeitlichen Sündenstrafen sein
könne." Diese Einsicht Rahners wäre eine Chance gewesen, das Vergeltungsmoment in der Strafe wiederzuentdecken, doch leider fährt er an derselben
Stelle fort: „Doch soll auf diese Frage hier nicht eigentlich eingegangen werden." (Kleiner theologischer Traktat über den Ablass", S. 476)
64
65
— 289 —
Die Gewinnung des Ablasses müsste daher mehr als eine
Zusage des Anrechtes auf diese Gnadenhilfen bei inskünftiger Bußarbeit verstanden werden. Die eigentliche Frucht des
Ablasses würde also nicht wie gemäß der TAL beim Gewinnen eines Ablasses empfangen.
c) Wenn der Ablass einfach die Zusage jener Gnaden ist,
deren der reumütige Büßer bei seiner noch zu verrichtenden
Bußarbeit bedarf, wie es gemäß der MAL sein soll, fragt es
sich, warum diese Zusage nicht schon im Bußsakrament
gemacht wird. Ein so verstandener Ablass ist umständlich
und macht den Ablass eigentlich überflüssig.
Damit erhebt sich die kritische Frage, die Rahner bezüglich der TAL machte, auch hinsichtlich seiner Auffassung:
Warum soll die Kirche außerhalb des Bußsakramentes mehr
können als in ihm?7° Es folgt aus der Rahnerschen Theorie
auch, was er „aus der jurisdiktionellen Theorie" folgerte,
nämlich „dass die Nachlassung der Sündenstrafe im Bußsakrament von geringerem Umfang" ist „als im Ablass, was
gegen die Würde des Sakraments"71 ist.
d) Was könnte in der MAL ein vollkommener Ablass
bedeuten? Doch wohl nur die Zusage einer derart intensiven
Gnadenhilfe, dass der Büßer keine Mühsal mehr erfährt bei
sämtlicher, ihm aufgetragener Besserungsarbeit? Damit
würde im Ablass aber gerade das gewährt, von dem Rahner
wiederholt sagte, dass er es nicht gewährt, nämlich die
Befreiung vom „wesensgemäßen Weg der Aufarbeitung
unserer Vergangenheit in deren ‚Überbleibseln' (reliquiae
peccatorum)".72 Wenn der Ablass gerade nicht „den Menschen der Möglichkeit berauben [soll], sich wahrhaft im Leid
durch alle Dimensionen seines Daseins hindurch zu vollenden"73, kann es in der MAL offenbar keinen vollkommenen
Ablass geben. Ob Rahner wegen dieser Schwäche seiner
These in Frageform vorschlug, die Unterscheidung zwischen
vollkommenen und unvollkomenen Ablässen aufzugeben?74
Von der MAL her überzeugender ist da jedenfalls schon die
Forderung nach Abschaffung des vollkommenen Ablasses?'
e) Praktisch in jeder Definition des Ablasses, sei es in lehramtlichen Texten, sei es bei Theologen (selbst bei Vertretern
der MAL), ist davon die Rede, dass der Gläubige durch den
Ablass von den der göttlichen Gerechtigkeit geschuldeten
Strafen „befreit" wird, dass ihm deren „Erlass" oder „Nachlassung" erteilt wird. Wie kann man diese Formulierungen
mit der MAL, die nur die beschwerliche Überwindung der
Überbleibsel der Sünde als zeitliche Sündenstrafe kennt, in
Einklang bringen?
Von seiner Vorstellung der zeitlichen Sündenstrafen her
konnte für Rahner ja deren Tilgung grundsätzlich „nicht einfach in einem autoritativen Nachlassen"76 bestehen. Kann
man daher in der MAL überhaupt sagen, dass zeitliche Strafe
„nachgelassen" wird, dass der Büßer von ihr „befreit" wird?
Die Minderung der Leiderfahrung bei der Aufarbeitung der
Sündenfolgen durch die Gnadenhilfe hat in der MAL ja nicht
Vgl. „Bemerkungen zur Theologie des Ablasses", S. 199.
SM 1, Sp. 28.
72 „Kleiner theologischer Traktat", S. 480.
73 „Über den Ablass", S. 349.
74 Vgl. SM 1, Sp. 32.
75 So sieht Sabine Demel, eine Anhängerin der MAL, dass von der MAL her ein
vollkommener Ablass keinen Sinn macht. Leider bringt sie diese Sackgasse
nicht zu einer kritischen Hinterfragung der MAL, sondern zur Forderung
nach Abschaffung des vollkommenen Ablasses: vgl. „Missbraucht — belächelt — verpönt: Der Ablass", in Anzeiger für die Seelsorge, Okt. 2000,
SS. 453-454.
76 „Kleiner theologischer Traktat über den Ablass", S. 484; vgl. „Zur heutigen
kirchenamtlichen Ablasslehre", S. 509.
78
71
— 290 —
den Sinn, dass dem Sünder eine Strafe erlassen wird, die er "vergeben" (dimittitur)82, „geschenkt" (condonetur)83, „erlaswegen der in der Sünde liegenden Beleidigung Gottes hätte sen" (remitti)" wird.
g) Nach kirchlicher Lehre werden Ablässe auch für Vererstehen müssen. Die Leidminderung dient hier dem Christen
einfach bei der Aufarbeitung der Überbleibsel. Rahner storbene gewonnen. Wenn der Ablass in der Vermittlung
möchte zwar auch in seiner Ablasstheorie noch einen Erlass aktueller Gnaden besteht, um das Werk der aufgetragenen
zeitlicher Sündenstrafen erkennen'', doch folgt ihm Otto Besserung des Lebens und der Wiederherstellung der verletzSemmelroth, selber Anhänger der MAL, hier nicht, wenn er ten Ordnung behender zu vollbringen, ist es schwer verstehfeststellt, man könne nicht behaupten, der Ablass kürze oder bar, wie dies sich beim Ablass für Verstorbene verhalten soll.
mildere Strafen ab.78 Hätte Rahner eigentlich nicht sagen Was die Wiederherstellung der gestörten Ordnung der zwimüssen: Einen Ablass wie man ihn seit dem Hochmittelalter schenmenschlichen Beziehung und der Umwelt betrifft, könpraktiziert und sich vorgestellt hat, gibt es nicht und hat es nie nen die Armen Seelen nichts mehr tun, und es ist kirchliche
gegeben; die Gläubigen, die Bischöfe und die Päpste waren Lehre, dass die Armen Seelen auch für sich selbst nichts
seit dem 11. Jahrhundert bis zur Erfindung der MAL auf dem mehr tun können. Eine Aufarbeitung der Sündenfolgen findet
daher im Fegfeuer nicht statt. Deshalb kann es auch keine
Holzweg.
Die Forderung, man möge das, was die MAL als Ablass Minderung von Beschwernissen geben, die den Armen Seebezeichnet, nicht mehr Ablass nennen, sondern dieser Sache len über eine Vermittlung von Gnaden zur behenderen Volleinen neuen Namen geben79, ist da nur konsequent. Ist es bringung einer solchen Arbeit zukäme.
diese Konsequenz, die Rahner davon abgehalten hat, auf Formulierungen wie „Nachlass", „erlassen", ja auf das Wort 5. Schlussnotiz
„Ablass" zu verzichten?
Die genannten Schwierigkeiten der Rahnerschen Vorstellung
f) Rahner stellt fest: Es ist „dogmatisch verpflichtende von den zeitlichen Sündenstrafen und vom Ablass weisen auf
Lehre des Tridentinums, dass im Bußsakrament von der Kir- einen großen Erklärungsbedarf hin. Angesichts der weiten
che die zeitlichen Sündenstrafen nicht immer ohne weiteres Verbreitung von Rahners Ablasstheorie unter Theologen und
ganz nachgelassen werden."8° Das heißt, das Bußsakrament in kirchlich orientierten Presseerzeugnissen für die Gläubilässt auch zeitliche Sündenstrafen nach. Wie festgestellt, gen, angesichts auch der Tatsache, dass Rahner gegenüber
kann nach Rahners Vorstellung die Tilgung zeitlicher Sün- der Fundierung seiner These Einschränkungen aussprach,
denstrafen grundsätzlich nicht in einem autoritativen Akt des und nicht zuletzt wegen der immer noch danieder liegenden
Nachlassens vollzogen werden. Es wäre dies folgerichtig Ablasspraxis, ist es an der Zeit, sich den Fragen zu stellen,
aber nicht nur im Ablass, sondern auch im Bußsakrament welche die moderne Ablassthese aufwirft. Eines lässt sich
nicht möglich. Dem steht die Lehre der Kirche entgegen, dass Jahrzehnte nach der Konzipierung der MAL mit Sicherheit
das Bußsakrament ein Gericht ist und in einem richterlichen festhalten: sie hat nicht dazu geführt, dass die Gläubigen wieAkt vollzogen wird' und in ihm die zeitliche Sündenstrafe der zum Ablass gefunden haben. Ob sie dazu beigetragen hat,
dass ihnen der Ablass fremd blieb?
„Bemerkungen zur Theologie des Ablasses", S. 208.
„Ablass — vierhundertfünfzig Jahre nach der Reformation", in Theologische Akademie, (hrsg. von Karl Rahner und Otto Semmelroth, Verlag Josef
Knecht, Frankfurt a. Main 1968, SS. 22-23.
79 Hampe, „Zwischenspiel: Ablassreform", S. 437.
80 „Bemerkungen zur Theologie des Ablasses", S. 199.
81 Vgl. Konzil von Trient, 14. Sitzung, Lehre über das Bußsakrament, 2. Kapitel
(= DS 1671) 6. Kapitel (= DS 1685).
77
78 Vgl.
Konzil von Trient, 6. Sitzung, Dekret über die Rechtfertigung, 14. Kapitel
(= DS 1543).
83 Idem, 14. Sitzung, Lehre über das Bußsakrament, 8. Kapitel (= DS 1689).
84 Idem, 14. Sitzung, 12. Kanon (= DS 1712).
82
JOSEPH OVERATH
Frühe Kritiker Karl Rahners nach dem Vaticanum II.
Hubert Jedin sagte am 5. April 1965 vor Mailänder Studenten
über die Kirche: „Wenn sie gehört werden will, muss sie so
sprechen, dass die Menschen unserer Zeit sie verstehen. Sie
muss ihre Glaubensverkündigung, ihren Kult, ihre Seelsorgsmethoden auf die Menschen von heute ausrichten, die sie für
Christus gewinnen will. Das ist Aggiornamento. Sie darf aber
nie vergessen, dass sie auf den Felsen der göttlichen Wahrheit
gebaut ist, der von den Wogen der Weltgeschichte umspült
wird, den diese Wogen aber nicht überspülen können, weil
die Kirche die Verheißung Christi hat, dass die Pforten der
Hölle sie nicht überwältigen werden". Wenig vorher hatte
I
Hubert Jedin: Kirchengeschichte ist Theologie und Geschichte, in: Raymund Kottje (Hrsg.): Kirchengeschichte heute. Geschichtswissenschaft oder
Theologie? Trier 1970, 33 ff., hier 47; auf die Stellung Jedins zur Kirchenkrise soll in einer eigenen Abhandlung eingegangen werden.
— 291 —
der Kirchenhistoriker ausgeführt: „Tradition ohne Fortschritt
wäre Erstarrung, Fortschritt ohne Tradition wäre Revolution"2. In den ersten Jahren nach dem II. Vatikanischem Konzil (1962-1965) gab es einen erbitterten Kampf der beiden
„Richtungen" in der Kirche. Auf der einen Seiten standen
Theologen, die sich mehr der „Tradition" verpflichtet fühlten,
auf der anderen Seite fanden sich die, die auf „Fortschritt"
setzten. Jedin mahnte damals an, man müsse unterscheiden
zwischen der „traditio sacra" und den „traditiones humanae`‘3
.
2
3
ebd. 47.
ebd. 47; vgl. auch Hubert Jedin: Das apostolische Amt in der Kirche.
Schlaglichter eines Kirchenhistorikers auf die Gegenwartsituation. Berlin
1970.
— 292 —
Versucht man von heute aus über die ersten Jahre nach
dem Vaticanum II. zu schreiben, unterliegt ein solcher Versuch den Grenzen der kirchlichen Zeitgeschichte, d. h. nicht
alle Quellen liegen offen und viele Akteure von damals sind
noch am Leben4.
So beschränken wir uns notwendigerweise auf einige Kritiker des Theologen Karl Rahners — hier zeigt sich beispielhaft die Spannung zwischen den beiden „Richtungen" der
Theologie, die Jedin in seinem Vortrag angedeutet hat.
Historisch gesehen ist es richtig, wenn der Theologe Karl
Rahner und dessen Kritiker ausgewählt werden, denn Rahner
gehört zu den einflussreichsten Theologen der Nachkonzilszeit, wie auch seine Kritiker zugeben5. Die kirchliche Zeitgeschichte kann kaum auf Sekundärliteratur zurückgreifen; mit
Nutzen eingesehen wurden die Beiträge des Jedinschen
Handbuches der Kirchengeschichte in dessen Bd. VII und
Jose Orlandis' „Stürmische Zeiten"6.
In einem I. Abschnitt stellen wir die beteiligten Personen
vor; dabei ist aber zu berücksichtigen, dass diese Theologen
nicht von heute aus betrachtet werden können, sondern deren
Entwicklung nur dargestellt werden kann bis etwa in die
Mitte der siebziger Jahre. Dann wird der II. Teil die Argumente gegen die Theologie Karl Rahners nach sachlichen
Aspekten vortragen, damit Überschneidungen in der Argumentation vermieden werden können.
In einem III. Abschnitt wird versucht, die damaligen Vorgänge in der Kirche mit dem Heute zu konfrontieren — ohne
allerdings zu einem letzten Urteil kommen zu können — was
ohnehin nicht die Aufgabe des Kirchenhistorikers ist.
1.
Die Kritiker Rahners werden nun alphabetisch vorgestellt.
Zunächst ist der Schweizer Theologe Hans Urs von Balthasar
(1905-1988) zu nennen, der 1929 in den Jesuitenorden eingetreten war und somit Ordensbruder Rahners gewesen ist'.
Balthasar widmete sich intensiven theologischen Studien,
wurde Mitarbeiter an den „Stimmen der Zeit", war ab 1940
Studentenseelsorger in Basel. Dort begegnete er dem evangelischen Theologen Karl Barth und auch Adrienne von Speyr,
einer Mystikerin, deren Betrachtungen Balthasar später
herausgeben konnte'. 1949 trat der Theologe aus dem Jesuitenorden aus und leitete ab jetzt sein Säkularinstitut Johannesgemeinschaft. Balthasar schrieb nun seine Hauptwerke als
freier Schriftsteller. 1969 wurde er Mitglied der InternationaEine kritische kirchliche Zeitgeschichte findet sich in meinen folgenden Beiträgen: Der katholische Philosoph Dietrich von Hildebrand (1889-1977) als
Kritiker der Liturgiereform, in: ThG1 69 (1979) 415-431; Zur Rezeption des
Allgemeinen Katechetischen Direktoriums in der nachkonzilaren Kirche, in:
MüTle 33(1982) 295-307; „Heiliges Brot" oder der Leib Christi? Überlegungen zur Vermittlung der Lehre vom Altarssakrament im Grundschulalter,
in: Kath. Bildung 85 (1984) 74-88; 157-173; „Gemeinde", in: IKZ Communio 14 (1985) 281-284; 20 Jahre nach dem II. Vatikanischen Konzil. Schlaglichter aus dem Blickwinkel der Kirchengeschichte auf die Gegenwartslage,
in: Kath. Bildung 87 (1986) 193-206; Im Abstand von 30 Jahren — Zum Verhältnis von „Fides et Ratio" und Dietrich von Hildebrands Buch Das Trojanische Pferd in der Stadt Gottes" in: Theologisches 29 (1999) 623-640
sowie weitere Artikel in „Theologisches" in den letzten zehn Jahren.
5 Georg May beklagt in seiner Rezension der Werke Rahners dessen übergroßen Einfluss auf den deutschen Episkopat und die Universitätstheologen.
Einzelheiten siehe unter III.
6 Hubert Jedin/Konrad Repgen (Hrsg.): Die Weltkirche im 20. Jahrhundert
(= Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. VII) Freiburg 1979; Jose' Orlandis: Stürmische Zeiten. Die katholische Kirche in der Zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts. Aachen 1999.
7 Elio Guerriero: Hans Urs von Balthasar. Eine Monographie. Einsiedeln
1993.
8 Erschienen im Johannes-Verlag, Einsiedeln.
4
— 293 —
len Theologenkommission des Papstes und 1984 wurde er
geehrt durch den „Premio internazionale Paolo VI.".
1973 hatte er die Internationale katholische Zeitschrift
„Communio" gegründet und sich von den Theologen, die die
Zeitschrift „Concilium" herausgaben, distanziert. Balthasar
hatte bereits 1939 das Buch Rahners „Geist in Welt" kritisch
besprochen9 und teilte auch nicht Marechals Thomas-Interpretation, der sich auch Rahner angeschlossen hatte. 1967
übte dann Balthasar an Rahners Theologie gründliche Kritik
im Büchlein „Cordula oder der Ernstfall"16.
Balthasar war zunächst sicher als „progressiv" einzustufen, aber die nachkonziliare Krise zwang ihn, seinen Standort
zu überdenken".
1966 gab er sein Buch „Wer ist ein Christ?" heraus, das
bereits Kritik an vielen Missständen in der Kirche übte12 .
Wenige Jahre später bezog er erneut Stellung gegen nachkonziliare Tendenzen, die er für falsch hielt. In seinen „Klarstellungen. Zur Prüfung der Geister" ging es ihm um das
wahrhaft Christliche, das er im Verblassen begriffen sah. Er
ließ sich aber von den verschiedenen Gruppierungen in der
Kirche nicht vereinnahmen, so warf er z. B. der „Bewegung
für Papst und Kirche" vor, ihr Name sei eine „... undurchdachte Divise..."13. Das hinderte ihn aber nicht sich energisch
gegen die antirömische Affekte vieler Theologen zur Wehr zu
setzen'''.
Neben Hans Urs von Balthasar ist als Rahner-Kritiker
jener Zeit auch Walter Hoeres (* 1928) zu nennen. Nach seiner Promotion in Philosophie im Jahre 1951 bei T. W.
Adorno, arbeitete er zunächst als Journalist. Er war tätig beim
„Rheinischen Merkur" und bei der „Deutschen Tagespost".
1957 folgte die Habilitation in Salzburg; 1964 wurde er dort
Philosophieprofessor. Seit 1961 war er schon an der Pädagogischen Hochschule Freiburg/Breisgau tätig, lehrte dort seit
1963 als Professor Philosophiel5.
Hoeres hat die nachkonziliare Krise sehr kritisch beobachtet und versucht, den fatalen Entwicklungen gegenzusteuern.
So gründete er 1969 die „Bewegung für Papst und Kirche",
die durch die Herausgabe der Monatsschrift „Der Fels"
immer wieder kritisch gegen progressistische Theologen vorgegangen ist.
Zahlreich sind seine Schriften, Vorträge und Rundfunksendungen für eine am Konzil ausgerichtete Reform der Kirche
und immer wieder geht er gegen den „Geist des Konzils" an
mittels dessen die Aussagen des Vatikanum II. verfälscht
werden.
1969 erschien sein Buch „Kritik der transzendalphilosophischen Erkenntnistheorie", dass einleuchtend darlegt, dass
die Erkenntnis nicht auf Gründe a priori zurückzuführen ist.
Durch eine strenge Analyse der Erkenntnis kann er zeigen,
dass von Kant, Marechal und Rahner das, was Erkenntnis ist,
verfehlt wird durch das Rückgehen auf die Kantsche ErkenntDarauf weist Balthasar in seinem Buch „Cordula oder der Ernstfall" hin;
hier 124, Anm. 5.
I° Einsiedeln 1967.
II Orlandis 178.
12 Einsiedeln 1966; damit gehört Balthasar zu den frühen Kritikern mancher
Tendenzen nach dem Konzil. Er war damals bereits ein sehr bekannter Theologe, allerdings wurde er kaum von den Medien wahrgenommen wie etwa
Karl Rahner oder auch Hans Küng, der mittels des Fernsehens seine Irrlehren zu multiplizieren wusste.
13 Freiburg 1971,93.
14 Der antirömische Affekt. Freiburg 1974; später in der zweiten Auflage von
1989 sprach Balthasar von der Selbstzerstörung der katholischen Kirche, die
sich durch die Ablehnung des Papstes vollziehe.
15 Die Daten stützen sich auf die biographischen Notizen in Hoeres Werken.
9
— 294 —
nislehre16 . Die Untersuchungen des Freiburger Philosophen
waren für die damalige Theologie von allergrößter Bedeutung. Vorherrschend war damals in der Theologischen Propädeutik die Transzendentalphilosophie Kants in der Fassung
Rahners. Diese wurde breiten Kreisen der Theologiestudenten nahegebracht durch die „Metaphysik" Emmerich
Coreths17 . Hoeres kam zum Schluss: „Wir sehen hier also
einen Rationalismus am Werk, der blind für die Sachen selbst
ist und dogmatisch voraussetzt, dass sich alles plausibel
machen lasse und dass somit auch selbstverständlich erklärt
werden könne, wie die Erkenntnis ‚funktioniert'. Er rechnet
gar nicht mit der Möglichkeit, dass sie sich jeder erklärenden
Deduktion entzieht, und verfehlt so im Versuch, ihr einmaliges Geschehen in allbekannte Kategorien zu pressen, die
Selbstrechtfertigung, die sie immer schon in sich trägt"18.
Hoeres erkennt in der Kantschen Philosophie „... den
Höhepunkt des Aufstandes der neuzeitlichen Philosophie
gegen Gott, seine Kirche und die wahre Ordnung der Schöpfung .2'9. Vor allem Jesuiten hätten die Gotteslehre des Vatikanum I. in Frage gestellt und hätten versucht, Kant mit der
Lehre des hl. Thomas von Aquin zu versöhnen. Wenn einmal
die Geschichte der Rezeption des Vatikanum II. geschrieben
werden wird, wird Hoeres als klassischer Zeitzeuge entdeckt
werden. Vor allem seine zahlreichen fundierten Artikel in der
Zeitschrift „Theologisches", die auch in Buchform herausgegeben wurden, sind eine Quelle aus erster Hand für eine
zukünftige Geschichtsschreibung'''. Was aber die Transzendentalphilosophie angeht, so wird Hoeres für immer das Verdienst zukommen, sie in klassischer Weise widerlegt zu
haben — damit hat er für die Sanierung der Theologie nach
dem Vatikanum II. Großes geleistet.
Als weiterer Kritiker Rahners und nicht nur der rahnerischen Theologie muss der Philosoph Dietrich von Hildebrand
(1889-1977) genannt werden. Die 3. Auflage der LTHK
bedenkt diesen großen Denker und Kämpfer für die Kirche
mit wenigen Zeilen21 . Indessen gibt es mittlerweile eine Biographie mit einem Vorwort Kardinal Ratzingers22. Dort wird
deutlich, dass Hildebrand einer der frühen Gegner des Nationalsozialismus gewesen ist, mit der „Machtübernahme Hitlers" in Deutschland seines Lebens nicht mehr sicher war und
deswegen nach Österreich ins Exil ging. Als die Deutschen
Österreich einnahmen, musste Hildebrand wieder fliehen und
Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1969; vgl. hierzu auch die positive Aufnahme
der Arbeit Hoeres' durch Josef Seifert: Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die
Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis. Salzburg/München 1972.
Seifert weist daraufhin, dass es zwischen dem Realismus in der Erkenntnislehre und der Transzendentalphilosophie .... keinerlei Brücke ..." gibt und
dass letztere eindeutig relativistisch ist (323).
12 Metaphysik. Eine methodisch-systematische Grundlegung. Innsbruck/
Wien/München 1964, 2. Auflage. Das Werk Coreths kommt auf S. 545 zum
Schluss, der Mensch müsse dem Wort Gottes (der göttlichen Offenbarung).
„... die freie personale Antwort gläubig vertrauender Hingabe schenken" und
verweist den Leser auf Rahners „Hörer des Wortes. Zur Grundlegung einer
Religionsphilosophie" München 1941. Coreth übersieht aber gerade, dass
Offenbarung aufgrund der Theorie des „anonymen Christen" nach Karl Rahner eigentlich überflüssig ist, wie sich unter III. zeigen wird.
18 Hoeres, Kritik 212.
19 Der Aufstand gegen die Ewigkeit. Kirche zwischen Tradition und Selbstzerstörung. Stein am Rhein 1984, 46
20 Genannt seien an dieser Stelle: Theologische Blütenlese (=Respondeo 12);
Kirchensplitter (= Respondeo 13); Zwischen Diagnose und Therapie (Respondeo 14) sowie: Wesenseinsicht und Transzendentalphilosophie (=
Quaestiones non disputatae Bd. 5) alle Siegburg, Verlag Schmitt.
21 Bd. 5, 104 (Hans-Ludwig 011ig); vgl. mein: Diktat der (Wahrheit. Ein Dietrich von Hildebrand-Lesebuch. Abensberg 1991; dort auch die „Hinführung" aus der Feder Josef Seiferts (9-16).
22 Alice von Hildebrand: The Soul of a lion: Dietrich von Hildebrand. San
Francisco 2000; Vorwort Ratzingers 9-12.
16
— 295 —
wurde schließlich in New York Philosophieprofessor. Hildebrand hat Zeit seines Lebens sich immer wieder mit theologischen Fragestellungen auseinandergesetzt, so schrieb er eine
Widerlegung der Situationsethik oder konnte die kirchliche
Ehelehre durch seine philosophischen Einsichten entscheidend bereichern23.
Im deutschen Sprachraum ist er in den Nachkonzilsjahren
durch drei Veröffentlichungen bekannter geworden. 1968
veröffentlichte er sein Werk „Das Trojanische Pferd in der
Stadt Gottes", das mit Anmerkungen von Josef Seifert versehen, die wohl entschiedenste Kampfansage an die Theologen
darstellt, die das Konzil verfälschten durch eine Berufung auf
den vagen „Konzilsgeist"24. Selbstverständlich konnte Hildebrand nicht ohne kritische Auseinandersetzung mit Karl Rahner seine Bedenken gegen die Tendenzen der Theologen
äußern.
1968 war auch das Jahr der Enzyklika „Humanae vitae".
Dort lehnte Papst Paul VI. die künstliche Geburtenregelung
ab — und nach der Veröffentlichung dieses Rundschreibens
wurden überall Proteste laut.
Hildebrand verfasste eine Verteidigungsschrift des Papstschreibens25 und stellte einen Zusammenhang zwischen der
allgemeinen Glaubenskrise und Ablehnung der Enzyklika
her: „Es ist kein Zufall, dass kurz vor ,Humanae vitae' der
Heilige Vater zum Abschluss des Glaubensjahres feierlich an
die Grundwahrheiten der christlichen Offenbarung erinnerte,
an die zu glauben das entscheidende Kriterium dafür ist, ob
jemand sich noch sinnvoller und ehrlicher Weise einen
Katholiken nennen darf ... In der Stellung zu diesem Credo
liegt die wahre Scheidung der Geister. Dass das Verständnis
dafür, dass die künstliche Geburtenregelung ein Heraustreten
aus der Jeligio', der ehrfürchtigen Bindung an Gott, eine
Überschreitung der Grenzen unserer Kreatürlichkeit, ein
Widerspruch zu unserem ehrfürchtigen Wandeln vor Gott ist,
— setzt voraus, dass man nicht vom Anthropozentrismus, der
Säkularisierung, dem ,Progressismus' angekränkelt ist. Was
deshalb Theologen, Priester oder Laien, die nicht mehr eindeutig auf dem Boden des vom Papste verkündeten Credo
stehen, über ,Humanae Vitae' sagen, kann für einen gläubigen Katholiken von keinerlei Gewicht sein"26.
Wenige Jahre später trat Hildebrand noch einmal mit einer
kritischen Schrift an die Kirchenöffentlichkeit. Sein 1973
erschienenes Buch „Der verwüstete Weinberg" kritisiert wieder Karl Rahner und rechnet sehr scharf mit dem „Progressismus" ab27.
Mit Dietrich von Hildebrand tritt ein Kritiker Rahners auf
den Plan, der vor den Nationalsozialisten fliehen musste und
dessen Bücher im „Dritten Reich" nicht erscheinen durften.
Pater Rahner konnte zwischen 1933 und 1945 publizieren.
Hildebrand dagegen musste unter dem Pseudonym „Peter
Ott" sein religiöses Hauptwerk „Die Umgestaltung in Christus" in der Schweiz erscheinen lassen28. Und Karl Rahner, der
23 Situationsethik,
in: Gesammelte Werke VIII, 9-164; übrigens stimmen Rahner und Hildebrand in dieser Frage überein; Die Ehe. München 1929 und
Reinheit und Jungfräulichkeit. München 1927.
24 Regensburg 1968; vor allem die vielen von Josef Seifen in den Anmerkungen beigefügten Konzilstexte zeigen, dass Hildebrand das Konzil in hohen
Ehren gehalten hat.
25 Die Enzyklika „Humanae Vitae" — ein Zeichen des Widerspruchs. Regensburg 1968.
26 ebd. 34_35.
27 Regensburg 1973; aus diesem Buch tritt an vielen Stellen die Trauer Hildebrands über die Lage der Kirche hervor, aber zugleich hatte er auch eine
Hoffnung, die nur übernatürlich genannt werden kann.
28 Einsiedeln/Köln 1940.
— 296 —
sich bei Martin Heidegger in Philosophie ausbilden ließ, hat als nicht dem Konzil entsprechend34; er befasste sich mit dem
nie ein Wort eingelegt für die vom NS-Regime verjagten Wis- neuen Messritus von 196935 und gab einen guten Überblick
senschaftler, so dass diese nach 1945 wieder einen Platz an über die theologischen Irrlehren der siebziger Jahre des letzdeutschen Universitäten hätten finden können. Rahners Leh- ten Jahrhunderts36. Auch warf er vielen Bischöfen vor, sie
rer, Martin Heidegger, lehrte nach 1945 in Deutschland wei- gingen nicht energisch genug gegen die Theologen vor, die
ter, obwohl man ihm eine Affinität zum Hitlerregime nach- die Kirchenkrise verursachen würden37.
weisen konnte. Auch Bernhard Lakebrink (1904-1991) war
In dem in der zweiten Auflage erschienen Buch „Echte
zugleich ein prominenter Gegner des Nationalsozialismus und unechte Reform" geht er in seinem Vorwort auch auf die
wie auch ein strenger Kritiker des philosophischen Werkes heutige Lage der Kirche in unserem Land38 ein.
Karl Rahners. Ist es Zufall, dass Lakebrink nicht in der
Um die Kritiker Rahners zu verstehen, sei an ein Wort
3. Auflage des LTHK gewürdigt worden ist?
Hans Küngs über die Rahnerische Theologie erinnert. Hier
Geboren in Asseln, in der Nähe Paderborns, machte Lake- fasst Küng gut zusammen, was auf dem Spiel steht für die
brink sein Abitur am Gymnasium Theodorianum in der Kirche: „In der neueren katholischen Theologie war es Karl
Bischofsstadt an der Pader. Er studierte in Freiburg, München Rahner, der hier wie anderswo mit vorbildlichem intellektuelund Bonn Jura, Philologie und Philosophie. In Bonn promo- lem Mut und starker denkerischer Kraft neue Türen geöffnet
viert zum Dr. phil., war Lakebrink bis 1954 an Gymnasien und die klassische Christologie mit modernem Denken kontätig.
frontiert hat. Der große Geist, der im Hintergrund dieser
Nach seiner Habilitation 1954 erreichte ihn 1959 ein Ruf begrifflich scharf durchdachten Vertiefung der klassischen
an die Freiburger Philosophische Fakultät.
(chalkedonisch-scholastischen) Christologie steht, ist bis in
Er arbeitete über Hegel, die Hochscholastik und versuchte die Begrifflichkeit hinein (neben heideggerischem Einfluss)
die beiden Epochen miteinander zu vergleichen.
niemand anders als Hegel. Gelegentliche Absicherungen
Bernhard Lakebrink zählt zu den Verfassern der „Studien Rahners gegen Hegel im Nebensatz unterstreichen dies eher
zum Mythus des 20. Jahrhunderts", einer Streitschrift gegen noch. Aufgrund des ihm eigenen transzendentalen Ansatzes
den Ideologen des Nationalsozialismus Alfred Rosenberg. ist es Rahner daran gelegen, die Bedingungen der MöglichDie „Studien" erschienen 1934 als Beilage zum Amtsblatt keit einer Menschwerdung Gottes theologisch verständlich zu
des Erzbistums Köln29.
machen"39.
Im Wintersemester 1966/1967 hielt der Philosoph an der
Das überschwengliche Lob aus dem Munde Hans Küngs
Freiburger Universität Vorlesungen unter dem Titel „Klassi- lässt verstehen, dass die Kritik an Rahner entstehen musste.
sche Metaphysik". 1967 gab er diese Vorlesungen als Buch Was für eine Seite das Öffnen neuer Türen war, ist vom
heraus; der Untertitel lautete: Eine Auseinandersetzung mit Standpunkt der Kritiker Rahners ein neuer Glaube, der sich
der existentialen Anthropozentrik"30.
schwerlich mit der Tradition der Kirche in Einldang bringen
Damit war klar, dass auch Karl Rahners Positionen einer lässt.
kritischen Bewertung unterzogen werden mussten. Lakebrink
tat dies in einer Präzision, die bestechend ist. Lange Zeit war
er die Alternative zu Coreths „Metaphysik" — für Theologen, Die Kritik an Karl Rahner lässt sich in vier Sachbereiche aufdie um die Irrtümer der Rahner-Schule wussten, war das teilen. Heftig ist die Infragestellung seiner philosophischen
Buch Lakebrinks eine große Argumentationshilfe. 1986 ver- Grundlagen (1.). Aus seiner Transzendentalphilosophie folgt
öffentlichte er sein gegen die Rahner-Schule gerichtetes Werk sodann seine Theorie des „anonymen Christen" (2.), die
„Die Wahrheit in Bedrängnis. Kardinal Siri und der neue ebenfalls kritisiert worden ist. Die Kritiker werfen ihm auch
Glaube", das sich nun speziell mit der zeitgenössischen vor, bezüglich verschiedener Glaubenswahrheiten (3.) nicht
Theologie befasste. Der Erzbischof von Genua, Kardinal immer klar die Lehre der Kirche vertreten zu haben. SchließJoseph Siri, hatte 1980 das Buch „Gethsemani" veröffent- lich geht es noch um die kirchenpolitischen Konsequenzen
licht, in dem sich eine sehr gute Auseinandersetzung mit (4.) der Theologie Karl Rahners.
theologischen Thesen Rahners befindet32.
Von den hier vorgestellten Kritikern Rahnerischer Theolo- 1.
gie hat sich der Mainzer Kirchenrechtler Georg May (* 1926)
der Mühe unterzogen, die Gesammelten Werke seines Kon- Bernhard Lakebrink und Walter Hoeres befassen sich vor
trahenten einer kritischen Rezension zu unterziehee. Dabei allem mit dem Philosophen Karl Rahner. Dieser bekennt sich
ordnet May die Theologie Rahners auch ein in kirchenpoliti- zur transzendentalen Methode Kants, also er reflektiert auf
sche Strömungen und kann feststellen, dass Rahner zu den vorgängige Bedingungen der Möglichkeit eines Erkenntnisvollzuges. Aller Erkenntnis soll vorausgehen ein Wissen, das
einflussreichsten Theologen seiner Zeit gehört hat.
die
Erkenntnis begründet, ein „a priori".
Georg May gehört zu den prominenten Kritikern der nachkonziliaren Kirchenkrise. In vielen Veröffentlichungen hat er
sich immer wieder kritisch zu Wort gemeldet. Schon früh kritisierte er die Verdrängung der lateinischen Liturgiesprache 34 Der Gebrauch der Volkssprache in der Liturgie nach der Konstitution des
Sie erschienen im Oktober 1934; ein Nachtrag kam im Dezember 1934.
heraus. Lakebrink und die anderen Mitarbeiter an den „Studien" riskierten
damals nicht nur ins Gefängnis geworfen zu werden, sondern sie setzten
auch ihr Leben ein, stellten ihre berufliche Karriere aufs Spiel, wenn die
Nationalsozialisten die Autoren gefasst hätten.
30 Freiburg 1967.
31 Stein am Rhein 1986.
32 Aschaffenburg 1982, dt. Übersetzung.
Erasmus 23 (1971) 903-925.
Zweiten Vatikanischen Konzils über die Heilige Liturgie vom 4. Dezember
1963. Gerresheim 1969
35 Die alte und die neue Messe. Die Rechtslage hinsichtlich des Ordo Missae.
Gerresheim 1975.
36 Der Glaube in der nachkonziliaren Kirche. Wien 1983.
37 Die Krise der Kirche ist eine Krise der Bischöfe (Kardinal Seper). Köln
1987.
38 Stuttgart 2003.
39 Menschwerdung Gottes. Freiburg 1970, 648-649; zu Küng vgl. meinen
Artikel: Kirchengeschichte unter päpstlichem Cäsarenwahn. Zu Hans
Küngs: Kleine Geschichte der katholischen Kirche, in: Theologisches 32
(2002) 338-354.
— 297 —
— 298 —
29
Rahner möchte nun den Realismus des hl. Thomas von
Aquin mit dem Idealismus Kants versöhnen. Lakebrink wendet ein, die Lehre des Aquinaten werde dem Idealismus
Kants „... geopfert..."40. Damit vollzieht Rahner die Wende
von der klassischen Metaphysik zu einer existentialen
Anthropozentrik. „Denn schließlich ist die Thomistische
Ontologie nicht in erster Linie auf irgendeine Anthropologie
abgezweckt, sondern sie ist erdacht als ausgezeichnetes Mittel für eine natürliche und auch übernatürliche Theologie,
welche als solche auch den Gott Abrahams und Isaaks als den
schlechthinnig Seienden uns irgend zu vermitteln sucht,
zumal Er von sich sagt: „Antequam Abraham fieret, ego
SUM
41
"
Thomas habe geradezu vor den Vorgriffen gewarnt, die
Rahner nun beim Kirchenlehrer finden möchte42.
Kritisch wird auch der Begriff des Apriori gesehen. Hoeres
definiert das Apriori „... als Inbegriff der Bestimmungen des
Gegenstandes, die nicht aus ihm selbst stammen, sondern
durch das Subjekt in ihn hineingelegt werden"43. Bei Rahner
indessen wird dieses Apriori als inhaltliche Vorentscheidung
über das Erkannte gesehen und er begründet dies mit Texten
des Thomas. Das aber hält einer Prüfung nicht stand". Hoeres analysiert das Wesen der Erkenntnis, die ja wesentlich
Schau oder auch Kontemplation ist45. Demgegenüber ist bei
Kant und Rahner die Erkenntnis mehr auf der Seite des
„Machens" angesiedelt. „Die Wesenszüge des modernen Produktionsapparates, in dem ein an sich indifferentes Material
zum nützlichen Gut verarbeitet wird, kehren in allen kantianischen Theorien über das Erkennen wieder. Es fällt schwer,
nicht daran zu glauben, dass das Modell des Produzierens
nützlicher Güter bei der Konzeption der modernen Erkenntnistheorie Pate gestanden hat"46.
Die „entdeckende Schau", die in der Erkenntnis ist, wird
absolut übersehen und so verändert sich auch der Begriff der
Metaphysik. Für Rahner meint Metaphysik „... das methodisch reflexe Erkennen dessen, was man schon immer
kannte" — während dieser hier vorausgesetzte Vorbegriff (was
man immer schon kennt) etwas ganz anderes meint als das
Entdeckende der Erkenntnis.
Im Grunde wird in Rahners Position das Erkennen überflüssig. Denn wenn ich immer nur das erkennen kann, was
ich immer schon vor Augen habe, dann gibt es keine Entdeckung der Wirklichkeit. Angeblich soll ein apriorisches Wissen um das Sein da sein. Die Frage ist dann aber, warum man
sich noch um die Erkenntnis des Sein bemühen muss, letztlich warum man Philosophie treiben muss.
Was sich bislang als Streit unter Philosophen ansehen
könnte, hat für die Konzeption der Theologie Rahners weitestgehende Konsequenzen. Darauf weist vor allen anderen
Kritikern Lakebrink mit Nachdruck hin. Was nun den Gottesbegriff angeht, so hat sich ein radikaler Bruch mit der Tradition vollzogen: „Nach anthropozentrischer Konzeption ist
Gott für uns das letzte Woraufhin, das heißt die transzendentale, vorgängig gewusste Bedingung all unseres Tuns und
Erkennens, mit anderen Worten: Gott ist nicht nur Seinsgrund
unseres Erkennens, sondern auch die von uns gewusste und
Lakebrink, Metaphysik 28.
ebd. 33-34.
42 ebd. 63.
43 Hoeres, Kritik 178.
44 Lakebrink, Metaphysik 234.
45 Heeres, Kritik 62 ff.
45 ebd. 139.
49
41
— 299 —
unentbehrliche Bedingung alles Wissens"47. Für Lakebrink ist
deutlich, dass sich kaum mehr ein Gottesbeweis erstellen
lässt, wenn man nicht mehr auf den Abbildcharakter der
Schöpfung schaut. Wenn der Mensch bereits einen Gottesgedanken gesetzt hat, dann kann er nicht mehr über die Schöpfung sich Gottes Dasein nähern.
Diesen anthropozentrischen Ansatz nennt Lakebrink denn
auch eine „Neo-Theologie"u. Dahinter steht ein Fideismus,
der den Glauben auf das bloße Hören verkürzt und dem Glauben alles abnimmt, was Seinshaft-Supranatural ist.
Die Folge aus der Neo-Theologie ist dann das „Radikal
Dynamische"49. Der Mensch stehe nun nicht mehr vor einer
ewigen Wahrheit, die er durch objektive Erkenntnis auch
erkennen kann, sondern wichtig ist jetzt das Dynamische, der
Fortschritt oder auch der immerwährende Neuerwerb von
Wahrheiten.
Spiegel für dieses „Radikal-Dynamische" ist auch die
Sprache, die der Anthropozentrik eigen ist: „Die gewohnte
Sprachstruktur und ihre Ordnung wird aufgelöst, Präfix und
Präposition dringen ungebührlich vor und zerstören den
Rhythmus und das Gleichmaß von Satz und Satzzusammenhang, die sogenannten Gänsefüßchen treten ihre Herrschaft
an, um klare und gängige Worte in das zu verwandeln, was
Goethe im Hinblick auf alle Idealismen als „zweizüngelnde
Ausdrücke" bezeichnet. Die moderne Philosophie und leider
auch die existentiale Theologie wimmeln davon, während
Aristoteles und Thomas, auch Goethe und Stifter ohne diese
dubiosen Behelfe auszukommen wussten"50.
Rahners Position lässt sich als „... transzendentaler Subjektivismus ..."5' bezeichnen. Die Frage bleibt, ob sich auf
dieser Grundlage eine katholische Theologie erarbeiten lässt
— Lakebrink verneint dies52.
Georg May gibt zu bedenken: „Er stellt das Prinzip heraus
und bejaht es formal; dann bringt er jedoch so viele Wenn
und Aber an ihm an, dass das Prinzip praktisch unanwendbar
wird ... Wohl bekennt er sich zu einem Satz; aber wenn er
dann seine Interpretation vorlegt und seine Einwände formuliert, bleibt von ihm nicht mehr viel übrig"53.
Rahners Philosophie krankt an einer falschen Erkenntnislehre. Für ihn ist die Erkenntnis mehr eine dynamische
Größe. Daher vermeint er in der Erkenntnis eine vermeintliche Offenheit auf Gott zu sehen. Sicher ist indessen nur, dass
die Offenheit des menschlichen Geistes durchaus eine „...
Bereitschaft für die Hinnahme von Mysterien..." ist54.
Lakebrink, Metaphysik 224.
ebd. 173.
49 ebd. 175.
50 ebd. 10.
51 May 908.
52 Lakebrink, Metaphysik 260; diese Position wurde bis in die dreißiger Jahre
des 20. Jahrhunderts von den meisten katholischen Theologen vertreten.
Man erkannte deutlich, dass der Modernismus sich von der Transzendentalphilosophie ableitet, vgl. dazu etwa: J. Donat: Ontologia (Summa Philosophiae Christianae III) Innsbruck 1921,7. Später dann wurde Marechal immer
öfter zustimmend bedacht. Als Beispiel mag genannt werden. Jakob Schilling: Die Auffassungen Kants und des hl. Thomas von Aquin von der Religion (= Abhandlungen zur Philosophie und Psychologie der Religion, hrsg.
von Georg Wunderle, Heft 27-28) Würzburg 1932, 223: hier wird Kants
Philosophie verstanden als Ausdruck für die erschütternden Fragen der Neuzeit. Und es heißt sehr deutlich: „Wahre Philosophie wird immer das
Gemeinsame auch in gegensätzlichen Anschauungen betonen, um so der
Wahrheit zu dienen und die Gegensätze in einer höheren Einheit zu versöhnen" (223). Hier werden nicht in Erwägung gezogen die verschiedenen Formen von Gegensätzen.
53 May 908.
54 Hoeres, Offenheit 383.
42
48
— 300 —
Aber nach Rahner kann jeder Mensch von sich aus mit der
göttlichen Offenbarung rechnen. Es stellt sich seinen Kritikern deswegen die Frage, was dann der Unterschied zwischen
einem Christen ist und einem Menschen, der — im Sinne Rahners — bereits subjektiv auf Gott verwiesen ist.
2.
Rahner ist infolge seiner Transzendentalphilosophie zu einem
vehementen Vertreter der These vom „anonymen Christen"
geworden. Für ihn lebt der Mensch ständig in der Gnade vor
dem dreifaltigen Gott, auch und gerade dann, wenn er nichts
von der Trinität weiß oder auch nicht an sie glaubt. Wenn nun
ein Mensch unmittelbar mit dem christlichen Glaubensgeheimnis in Kontakt tritt, also mit der übernatürlichen Offenbarung konfrontiert wird, trifft auf ihn nichts eigentlich
Neues. Vielmehr, so Rahner, reflektiert der nun Glaubende
nur, was bereits in ihm gewesen ist. Der „anonyme Christ" ist
also der „Christ", der noch nicht reflex zu sich selbst gekommen ist55.
Was ist dann das Christentum im herkömmlichen Sinne?
Rahner sagt es so: Christentum ist nur: „... das Zusichselbergekommen sein dessen, was als Wahrheit und Liebe auch
überall sonst lebt und leben kann"56.
Georg May sagt vollkommen zu Recht: „Der Anschluss an
das Christentum ist also nichts anderes als eine Art Selbsterkenntnis und lässt sich in gewisser Hinsicht mit einer tiefenpsychologischen Behandlung vergleichen"57. Das Christentum kann dann höchstens noch eine höhere Entwicklungsphase des bereits im Menschen angelegten „anonymen Christentum" genannt werden und die Kirche verblasst zu einer „...
geschichtlichen Verfasstheit des Allgemeinen..."58.
Die Theorie des „anonymen Christen" hat natürlich auch
Konsequenzen für das Verhältnis der Konfessionen. Für Rahner liegt es nicht fern zu sagen, dass etwa die Katholiken anonyme Lutheraner seien und umgekehrt.
Es stellt sich mit allem Ernst die Frage, ob Rahner die Kirche nicht als heilsnotwendig erachtet. Menschheit und Volk
Gottes sind in seinen Schriften nicht selten miteinander identisch. Und die „... Heilsnotwendigkeit der Kirche verwandelt
sich bei Rahner in die Heilsnotwendigkeit der Menschheit"59.
Hans Urs von Balthasar hat kritisch eingewandt, Rahner
habe die Kirche von einem Albdruck befreit, nämlich vom
„... Kriterium des Martyriums ..." entbunden — und zugleich
gestehe er dieser Theorie den Christennamen zu613. Aber
gerade Balthasar ist es, der mit seinem Büchlein „Cordula
oder der Ernstfall" das Kreuz im Leben eines Christen wieder
zum Aufleuchten bringen möchte und er fügt hinzu: „Wenn
das wahr wäre, dann würde das ganze Ernstfallproblem sich
völlig verlagern. Die Entscheidung für mich fiele gar nicht
angesichts des Kreuzes Christi, wo ein „nackter Glaube",
eine sola fides von mir verlangt wird, sie fiele dort, wo sie für
jeden Menschen fällt: im Verhältnis zum Nächsten, im Entweder-Oder zwischen Egoismus und Liebe"61.
Was aber bedeutet Christus, etwa die Christus-Nachfolge
im Konzept Rahners? Balthasars Ausführungen legen nahe,
dass Rahner in Wirklichkeit diese Begrifflichkeit in der überlieferten Form nicht gelten lässt. Denn der Schritt zu Christus
bedeutet für den Menschen nicht mehr als das „... was dieser
Mensch in der Tiefe seines geistigen Daseins schon vollzogen hat ..."62.
Rahners Konzeption räumt der Nächstenliebe den Primat
über die Gottesliebe ein; es ist für seine Kritiker nicht deutlich, wie dann Religion als Gottesverehrung noch sein könne.
Und auch das Christus-Geheimnis ist dergestalt ausgedünnt, dass es keinen Unterschied mehr geben kann zwischen
Christologie und Anthropologie.
Und so liegt es nahe, dass für Rahner „... alle Theologie
darum in Ewigkeit Anthropologie ist"63.
Indessen, so Hans Urs von Balthasar, ist dieser Entwurf
Rahners nichts Neues. „Das ist genau die evolutionistische
Christologie, die Solowjew, auf Schelling-Hegel und auf Darwin fußend, im letzten Jahrhundert als das modernste Christentum vorgestellt hat"". Für Rahner wird nicht der Mensch
durch Christus erlöst nach dem ewigen Heilsplan Gottes, sondern letztlich wird dem Menschen Gottes Heilswillen „... im
Existenzvollzug Christi ..." greifbar65.
Georg May führt die Folgerungen vor Augen, die aus der
Theorie des „anonymen Christen" zu ziehen sind: „Die Folgerungen aus der Ideologie des anonymen Christen müssen
jedoch die Kirche in ihrem Wesen und in ihrem Bestand aufheben. Was Rahner proklamiert, ist tatsächlich, recht verstanden, „das Heil ohne das Evangelium". Die Begriffe Heilsgeschichte, Offenbarung und Glaube verändern gänzlich ihren
Sinn ... Rahners Theologie entgeht nicht der Gefahr, die
Offenbarung auf das zu reduzieren, was immer schon war
und der Mensch eigentlich immer schon weiß. Seine Theorie
führt zu der absurden Ansicht, Gott verpflichte die Menschen
auf den Irrtum in ähnlicher Weise wie auf die Wahrheit"66.
Hans Urs von Balthasar kann Karl Rahner im Zusammenhang mit dem „anonymen Christen" gar den Vorwurf nicht
ersparen, letztlich führe diese These zum Atheismus: „Die
aus Schlagwortprinzipien sich entwickelnde Theologie ist
immer eine solche der Nivellierung, der Erleichterung und
Verbilligung schließlich der Liquidation und des Ausverkaufs; sie nähert sich, ob sie es will oder nicht, asymptotisch
dem Atheismus"67.
Dies sagt Balthasar auf dem Hintergrund seines „Kriterium Martyrium", das er im Konzept Rahners nicht gewährleistet sieht. Bei aller Offenheit für den vom Konzil gewollten
Dialog zwischen den verschiedenen Religionen bleibt für
Balthasar die Kirche „... wahre, glaubhafte Durchgabe des trinitarisch-christologischen Geheimnisses in die ganze Welt ..."
hinein68.
In aller Deutlichkeit führt der Schweizer Theologe seinen
Lesern in einem kleinen Theaterstück vor Augen, wie er sich
von Rahner unterscheidet. Ein Christ steht vor einem Kommissar und soll Rede und Antwort über das Christentum stehen. Der Christ, indessen, ergeht sich in Schlagworten; etwa
die Nächstenliebe sei das Wichtigste. Und er gibt auch zum
Besten, er glaube weniger an den „... historischen Jesus als an
den Christus des Kerygmas ..."69• Schließlich kommt er in
seiner Apologie fürs Christentum auch noch auf den Gedanken, Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit seien ursprüng62
ebd. 85.
ebd. 89.
64 ebd. 89.
65 ebd. 92.
66 May 914.
67 Balthasar, Cordula 103 104.
68 ebd. 107.
69 ebd. 111.
May 912ff.
56 ebd. 913.
57 ebd. 913.
58 ebd. 913.
59 ebd. 913.
60 Balthasar, Cordula 83.
61 ebd. 84.
55
63
— 301 —
— 302 —
lich christliche Werte. Darauf antwortet der Kommissar
zynisch: „Schade, dass andere die Schlacht für euch schlagen
mussten"7° und er fügt hinzu: „Euer Christentum ist keinen
Schuss Pulver wert".
Dann geht es weiter: „Der Christ: Sie sind bei uns dabei!
Ich weiß, wer Sie sind. Sie meinen es ehrlich, sie sind ein
anonymer Christ.
Der Kommissar: Nicht frech werden, Junge. Auch ich
weiß jetzt genug. Ihr habt euch selber liquidiert und erspart
uns damit die Verfolgung. Abtreten"71.
Wer die Theorie des „anonymen Christen" annimmt, der
wird schwerlich in die Situation kommen, dass er sich für
oder gegen Christus entscheiden muss. Er wird zum Salz
werden, das schal geworden ist - oder wie es der Kommissar
ausdrückt, mit dieser Theorie liquidiert sich der christliche
Glaube selber.
In der Tat: „Das, was dem ,anonymen Christen' fehlt, ist
nichts Unwesentliches, sondern etwas Wesentliches, unbedingt Erforderliches"72.
3.
Die Kritiker Karl Rahners gehen nicht nur mit dessen Theorie
des „anonymen Christen" hart ins Gericht, sondern geübt
wird auch eine Kritik am gesamten theologischen Entwurf.
Dietrich von Hildebrand hat darauf hingewiesen, dass es in
der Philosophie Martin Heideggers keinen Platz gibt für die
Subjekt-Objekt-Situation, also für ein „Du". Dieses Konzept
habe Rahner übernommen". Georg May verweist auf
Schwierigkeiten der Rahnerischen Trinitätslehre und erinnert
an dessen bemerkenswerte Aussage: „Es gibt daher auch
,innertrinitarisch` nicht ein gegenseitiges Du"74.
Aber die Kritik richtet sich zunächst nicht auf diese oder
jene Auslegung einer Glaubenswahrheit durch Karl Rahner,
sondern es handelt sich um eine Art von Grundlagenkritik.
Der Vorwurf lautet: Rahner rationalisiert das Mysterium".
Infolge Rahners Bekenntnis zum Heideggerismus werden die
geoffenbarten Wahrheiten durch eine „... obskure und abstrakte Metaphysik..." ersetzt".
„Nun ist die Verbindung einer eindeutigen Tatsache mit
einem absoluten Mysterium das Hauptkennzeichen der geoffenbarten Wahrheit. Doch in Rahners Spekulation werden die
Tatsachen ihrer Eindeutigkeit völlig beraubt und die Mysterien werden durch verwirrende und verworrene Rationalisierungen ersetzt. Das Verschleiern der Mysterien und die Substituierung nebuloser Metaphysik für die geoffenbarte, klare
und unergründliche Wahrheit, steht außerdem im offenen
Widerspruch zu dem viel hinausposaunten Wunsch, die Religion den Menschen unserer Tage näher zu bringen"77.
Dietrich von Hildebrand und auch Hans Urs von Balthasar
beziehen sich mit ihrer Kritik auf Rahners Überlegungen zur
Theologie der Inkarnation. Dort ist u. a. der Satz zu finden:
„Wenn Gott Nicht-gott sein will, entsteht der Mensch, gerade
das und nichts anderes"78.
Bereits in „Hörer des Wortes" hatte Karl Rahner die These
vertreten: „Die conversio des Geistes gehört also zur Konsti-
tution dieser Geschichte, zu ihrer Geschichtlichkeit als solcher; und die inhaltliche Bestimmung dieser Geschichte ist
nicht abzulösen von der faktischen materialen Selbstentfaltung des menschlichen Geistes"79. Lakebrink stellt dazu fest,
dass für die Rahner die Offenbarung sich „... dem menschlichen Apriori als bestimmenden Prinzip nachträglich zu adaptieren..." habe". Was heißt das nun konkret für die Glaubenswahrheiten?
Die biblischen Berichte müssen vom Menschen aus ihre
geschichtliche Wirklichkeit empfangen, denn der Mensch
wendet sich ihnen mittels der „... transzendentalen Konversion des menschlichen Geistes ..." zum.
Daraus folgt aber nach Lakebrink: „Dieser Idealismus
kennt kein objektives, sondern allemal nur ein objektiv ierte s Geschehen" und: „Die Geschichtlichkeit des Geschehenen ist bedingt durch das transzendentale Geschehen unserer
Subjektivität im Hier und Jetzt. Das Gewesene ist immer nur,
weil es von uns als ein ‚Gewesenes' transzendental mobilisiert wird"82.
Lakebrink, der sich mehr als Philosoph denn als Theologe
zu Wort meldete, zitiert aus einer Rede des damaligen
Bischofs von Münster, Joseph Höffner, der eine Wiederauferstehung des Doketismus feststellte: „... das Grundbekenntnis
des alten und neuen Doketismus ist dasselbe: ‚Aus Sein wird
Schein'. An die Stelle der geschichtlichen Wirklichkeit tritt
das Interpretament. Das interpretierte Heilsgeheimnis fällt
der Interpretation zum Opfer; es wird in der Auslegung aufgelöst. Das geschichtliche Ereignis wird doketisch in ein bloßes Gedankengebilde verwandelt, mit dem der Interpret nach
Belieben umgehen kann"83. Zwischen Höffner und Rahner ist
es später nicht von ungefähr zu einer Kontroverse über die
Gottessohnschaft Jesu Christi gekommen.
Auf diesem Hintergrund lassen sich nun die vielen Halbwahrheiten und falschen Aussagen Rahners kritisieren. Georg
May nennt die „... Darstellung der Sündigkeit der Kirche... so
etwas wie ein Steckenpferd" des Theologen; er sei ständig in
Sorge gewesen, die Kirche sei nicht genügend irrend oder
sündig erschienen". „Wie Rahner mit den gläubigen Christen
umgeht, unter denen er ‚massenhafte' Spießbürger findet, so
getraut er sich nicht über die Nichtchristen zu sprechen"85.
Andererseits vertritt er in der Gnadenlehre die These,
bereits in der Erfahrung des Menschen mache sich die Übernatur geltend; er betont die existentielle Seite sehr86.
Wie passt die Rede von den christlichen Spießbürgern
zusammen mit der Definition Gottes, nach der Gott bereits in
der Erfahrung der Menschen anwesend ist'''.
Heftig kritisiert wird der Innsbrucker Theologe auch
wegen der Lehre von den Sakramenten. May wirft ihm eine
„... protestantisierende Sicht ..." vor88. Auch, was die Eucharistielehre angeht, wird Rahner nicht als voll mit dem katholischen Glauben in Übereinstimmung gesehen". Ähnliches gilt
auch für Fragen der Eschatologie90.
ebd. 112.
112.
72 May 915.
73 Hildebrand, Pferd 224; die Krise der Theologen kritisierte Hildebrand unter
dem Begriff „Immanentischer Verfall".
74 May, Glaube 140.
75 Hildebrand, Pferd 224 ff.
76 ebd. 224.
77 ebd. 225.
78 Balthasar, Cordula 89; Hildebrand, Pferd Anm. 8, 224-225.
Lakebrink, Metaphysik 245-246.
ebd. 245.
81 ebd. 246.
82 ebd. 245-246.
83 ebd. 280.
84 May 916; von einer sündigen Kirche zu sprechen ist so nach dem Vatikanum
II. nicht möglich.
85 ebd. 912.
86 ebd. 911.
87 Vgl. May 911.
88 ebd. 919.
89 May, Glaube 183.
90 ebd. 243.
- 303 -
- 304 -
70
71 ebd.
80
Rahner hat sich immer wieder nicht nur als Dogmatiker zu
Wort gemeldet, sondern er griff immer wieder in die tagesaktuelle theologische Diskussion ein.
So nahm er auch Stellung zur Enzyklika Papst Paul VI.
„Humanae vitae" vom Sommer 1968. Auch hier gilt für einen
prominenten Kritiker: „Die Ausführungen Rahners zu Humanae vitae kann man nur mit großer Verwunderung lesen:
wenn sie zuträfen, ließe sich keine einzige Lehre der Kirche
mehr verpflichtend machen, weil es im Bereich des Geistes
und gar des Glaubens eine schlechthin überwältigende, zwingende Argumentation überhaupt nicht gibt"91.
Rahner, der auch das Credo Papst Paul VI. einer Kritik
unterzogen hat92, würde nach Dietrich von Hildebrand nicht
mehr als katholischer Theologe betrachtet werden93.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu fragen, wie
Rahner denn das Phänomen der Häresie gesehen hat. Man hat
ihm vorgeworfen, die Irrlehren zu verharmlosen. Er meide
sehr das Wort „Häresie" und hebe mehr auf eine „... partielle
Identifikation..." mit der Kirche ab94. Dass Häresien für die
Kirchenkrise die Schuld tragen, erkennt Rahner offensichtlich nicht.
4.
Die Fragestellung nach der Häresie führt uns bereits in die
Kritik an Rahner bezüglich der kirchenpolitischen Implikationen seiner Thesen. Vor allem ist es der von Karl Rahner
propagierte Pluralismus, der heftig kritisiert wird. Georg May
vermutet, Rahner habe mit Nachdruck immer wieder von
dem Pluralismus in der Theologie gesprochen, um so einer
eventuellen Verurteilung der eigenen Thesen zu entgehen95.
„Die Rede vom ,Pluralismus der Theologie' ist jedoch in
Wirklichkeit nichts anderes als eine euphemistische Bezeichnung für das Lehrchaos, an dessen Heraufführung sicher kein
Theologe einen größeren Anteil hat als Rahner"96. Es lässt
sich die Frage stellen, ob Rahner überhaupt noch ein verpflichtendes Glaubensbekenntnis haben möchte und er rechnet für die Zukunft nicht mehr mit lehramtlichen Aussagen.
Den Begriff des Pluralismus wendet er nicht nur auf die
Theologie an, sondern er benutzt ihn auch in Hinblick auf das
Dogma97. Er sieht in erster Linie immer eine bestimmte
Theologie hinter den lehramtlichen Dokumenten und scheint
nicht vorzudringen zu dem, was Papst Paul VI. einmal über
das kirchliche Lehramt gesagt hat: Echo der Stimme
Christi98. Dietrich von Hildebrand hat den Pluralismus kritisiert und er ist der Ansicht, dass sich auch Bischöfe diesem
falschen Pluralismus unterwerfen würden. Er gibt zu bedenken: „Sobald die kirchliche Autorität sich auf einen Pluralismus in Glaubensfragen einlässt, hat sie den Anspruch auf
Gehorsam gegenüber ihren disziplinären Verfügungen verloren"99. Pluralismus in diesem Sinne meint die „... Auffassung,
man könne in Bezug auf definierte Glaubensfragen verschiedener Ansicht sein, oder auch, dass jede Philosophie in der
921.
ebd. 909.
93 Vgl. unter I. die Ausführungen über Hildebrands Streitschrift gegen die
Gegner von „Humanae vitae".
94 May 918.
95 May 917.
96 ebd. 917.
97 ebd. 917; Schriften IX, 467.
98 ebd. 918; Papst Paul VI. nannte das Lehramt in seiner Enzyklika "Mysterium Fidei" u. a.: .... vox, quae Christi vocem iugiter resonat ..." (AAS 57
(1965) 766.
99 Hildebrand, Weinberg 31.
Kirche Platz habe — also im Grunde einen absoluten Relativismus"100.
Zwar würde der Papst, so Hildebrand, sicher den pluralistischen Lehren nicht zustimmen, aber die Tatsache, dass an
katholischen Universitäten „... alle Spielarten von transzendentalem Idealismus..." und „... ausgesprochener Relativismus..." gelehrt werden dürfe, würde auf Dauer den katholischen Glauben zerstöree .
Aber Karl Rahner kann nach Hildebrand gar nicht zu anderen Schlüssen bezüglich des Pluralismus kommen, weil nämlich bei ihm eine falsche Sicht der Autorität vorhanden sei.
Rahner hatte in einem Vortrag in München der Autorität in
der Kirche vorgeworfen, sie leite sich von einem feudalistischen Menschenbild ab Im. „Derselbe Mann, der noch vor 20
Jahren bedeutende theologische Werke schrieb, fällt hier der
spezifisch mediokren Soziologisierung zum Opfer, einer
unseligen Modeströmung. Die Redensarten sind bekannt:
Wir müssen uns von dem platonischen Irrtum frei machen,
von der griechischen Mentalität, die behauptet, dass es eine
objektive Wahrheit gebe. Letzte grundlegende Tatsachen —,
die man im Moment, wo man sie zu leugnen sucht, wieder
voraussetzt — für einen Ausdruck einer Nation, einer Zeit,
einer soziologischen Struktur zu halten, ist ein kindischer Irrtum"103.
Rahner benutze nicht nur soziologische Kategorien wo er
sich exakter Weise der philosophischen Einsichten bedienen
solle, sondern er könne auch nicht unterscheiden zwischen
einer sakralen und profanen Autorität. „Indem er das ‚Paternal& aus aller kirchlichen Autorität entfernen will, will er die
kirchliche Autorität entsakralisieren und gerade den wesentlichen Unterschied von sakraler und profaner Autorität eliminieren"°4.
Kirchenpolitischen Schaden erleide die Kirche dadurch,
dass nicht nur Karl Rahner solche irrigen Lehren vertrete,
sondern es sei ein Zug der Zeit, die Autorität in Frage zu stellen. Diese „... Verdiesseitigung ist ja nicht nur mit der Lehre
der hl. Kirche, mit der Offenbarung Christi, sondern mit aller
Art von Religion unvereinbar"105 . Neben dem Pluralismus
Rahners sehen dessen Kritiker auch dessen Auffassung des
Ökumenismus als schädlich für die Kirche an.
Ein kritischer Blick auf Rahners Wahrheitsbegriff — Ökumenismus ohne Wahrheit nennt das Vatikanum II. Irenismus106 — lässt die Frage aufkommen, ob der Theologe nicht
einer Auflösung des Wahrheitsbegriffes verfallen war?'°'.
Rahner vertrat die Meinung, die christlichen Konfessionen
hätten das Wesentliche gemeinsam: „... man fragt sich, wie er
dann die Existenz der katholischen Kirche überhaupt noch
rechtfertigen will"I°8. Kurzum: Rahner geht bezüglich ökumenischer Fragen ganz besonders in Richtung des Subjektivismus und des Relativismus.
Neben der Ökumene, die Rahner vorantrieb, war es auch
der Dialog mit den Marxisten, der zur Kritik herausgefordert
hat.
91 May
1130
92
1°1 ebd.
— 305 —
ebd. 31, Anm. 3.
26.
102 ebd. 208 ff.
103 ebd. 208.
104 ebd. 209.
105 ebd. 210.
106 So sagt das Ökumenismusdelcret des Vatikanum II. in Art. 11: "Nichts ist
dem ökumenischen Geist so fern wie jener falsche Irenismus, durch den die
Reinheit der katholischen Lehre Schaden leidet und ihr ursprünglicher und
sicherer Sinn verdunkelt wird".
107 May 921.
108 ebd. 921.
— 306 —
Im September 1966 fand ein Dialog zwischen Karl Rahner, anderen Theologen, und Vertretern des Marxismus
statt'°9.
Die katholische Seite hatte versichert, das Evangelium
spreche in erster Linie von der Zukunft; in diesem Begriff
„Zukunft" wurde ein Weg der Annäherung gesehen. Auch die
Marxisten, so hieß es, hätten diesen Begriff als Mitte der
eigenen Weltanschauung.
Hildebrand setzt an diesem Begriff seine Kritik an. Wenn
die Marxisten von der Zukunft sprechen, meinen sie „... eine
bloß irdische Zukunft, die die Erwartung eines irdischen
Messianissimus sein mag"il°.
Aber der radikale Unterschied von Zukunft im Sinne des
Neuen Testamentes und im Sinne des Marxismus bestehe in
der Frage nach der Ewigkeit. Die Zukunftsfrage sei in der
christlichen Botschaft von der Ewigkeitsfrage umfangen.
„Ewigkeit und geschichtliche Zukunft unterscheiden sich
deshalb so absolut, dass es nicht berechtigt ist, sie so zu
behandeln als wären sie zwei Gattungen derselben
„Zukunft". Es genügt auch nicht, die eine „absolute Zukunft"
und die andere „nicht-absolute" oder einfach „Zukunft" zu
nennen. Der einzige Weg, auf dem man Äquivokation und
Irrtum vermeiden kann, ist, den Gebrauch des Begriffs
Zukunft auf die zeitliche oder geschichtliche Wirklichkeit zu
beschränken". Auch bezüglich der christlichen Moral sieht
Hildebrand Defizite im Dialog Rahners mit den Marxisten.
Rahner habe gesagt, manche moralische Werte würden in
Zukunft verschwinden können; übrigbleiben aber müsse die
Menschenwürdeil2. Hildebrand wertete diese Aussage als
Amoralismus. Was meinte er damit? Er hatte Tendenzen festgestellt, dass moralische Vorstellungen auch bei Katholiken
zugunsten von vordergründigen Bewertungen im Rückgang
begriffen seien. Die Vermeidung einer Sünde werde für weniger wichtig gehalten als der Fortschritt in der Technik.
Rahner habe nun eine „... relativistische Einstellung
gegenüber der sittlichen Sphäre ..." vertreten und nur ontische Werte anerkannt. Denn die Menschenwürde sei nicht ein
sittlicher Wert, sondern ein sittlich bedeutsames Gut il3. Die
Menschenwürde komme dem Menschen zu, sei also nicht ein
Wert, wenn die Würde des Menschen indessen auch eine
Reihe von sittlichen Verpflichtungen in sich birgt.
Hildebrand fasst zusammen, auch im Hinblick auf die kirchenpolitische Lage in den sechziger Jahren: „Es ist, als ob
der Sinn für die einzigartige innere Größe und das Gewicht
sittlicher Werte unter einer großen Anzahl progressistischer
Katholiken geschwunden wäre. Sie sind unfähig geworden,
die glorreiche Welt zu begreifen, die im Mittelpunkt der Philosophie Platons und in ihrer übernatürlichen Verklärung im
Zentrum der heiligen Schrift steht. Sie betrachten die Sittlichkeit als eine eher geringfügige, rein innermenschliche Angelegenheit, die mit der Größe ontologischer Vollkommenheiten oder dem Fortschritt der Menschheit nicht zu vergleichen
ist" 14
Falschmünzerei sieht Hildebrand auch in dem Versuch
Rahners, sich über den Begriff „Humanismus" mit den Marxisten zu verständigen. Kommunismus und Christentum
könnten nicht beide ehrlicherweise als Humanismen verstan-
'® Hildebrand, Pferd 274.
io ebd. 275.
ebd. 274.
ebd. 250.
113 ebd. 250.
114 ebd. 251.
111
112
— 307 —
den werdenil5. Die Kommunisten könnten niemals das
annehmen, was das Christentum als Humanismus bezeichne.
„Der doppeldeutige Gebrauch von Begriffen durch Katholiken dient deshalb nur der kommunistischen Propaganda und
verbreitet unter den Katholiken selbst Verwirrung. Das
Zweite Vatikanische Konzil hat diese Art von Dialog nicht
befürwortet"16.
Die frühen Kritiker Rahners sehen aber nicht nur dessen
Theologie als gefährlich an, wenn es um den Dialog mit den
Kommunisten geht. Vielmehr haben sie auch große Sorgen
im innerkirchlichen Bereich. Denn: „Worte und Begriffe, die
heute in aller Munde sind, wie z. B. Dialog, Geschichtlichkeit
haben ihren Siegeszug in die (theologische) Umgangssprache
aus den Veröffentlichungen Rahners angetreten"17• Verantwortlich dafür seien nicht zuletzt viele Bischöfe, die „... in
völlige geistige Abhängigkeit ..." von Karl Rahner geraten
seienil s. Georg May nennt namentlich den damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Döpfner.
Da aber damals (1971), als der Kirchenrechtler May seine
Analyse der Rahnerischen Theologie veröffentlichte, deutlich
wurde, es werde zu einem Massenauszug aus der Kirche
kommen, fügt er hinzu: „Das quantitative Wuchern der Theologie und ihres Apparates sowie die Machtergreifung in der
Kirche durch die hoministische Theologie haben einen ungeheuerlichen Niedergang der religiösen Praxis und der Effektivität des Dienstes der Kirche in der Welt zur Folge gehabt"119.
Ein Grund dafür liege auch in der strikten Ablehnung der
„... römischen Schultheologie ..." durch die Rahner-Schulem.
Man lehne alles ab, was Scholastik sich nenne; und „Rom"
sei geradezu der „Prügelknabe" — wenn Christen nicht glauben könnten, sei dies diese Art von Theologie schuld'21 .
Dabei spielt auf der Rahner Seite sicher Hochmut eine
Rolle, wenn dermaßen alle Theologie — außer der eigenen —
so abqualifiziert wird. „Nicht leicht wird ein Theologe oder
gar ein „Schultheologe" vor ihm Gnade finden; einmal redet
er z. B. von der „turba magna der kleinen Theologen"22.
Rahner übersehe, dass seine „Theologie" im Grunde zu
einer „Ideologie" werde, die „... jedem Tagesbedürfnis dient,
die alles rechtfertigt und für alles eine Entschuldigung
sucht ..."' 23
.
Auch die frühen Kritiker Karl Rahners, von denen hier einigen Gehör verschafft worden ist, wussten um die großen
Leistungen dieses Theologen. So kann Georg May sagen:
„Rahner ist Träger einer hervorragenden, seltenen und weit
überdurchschnittlichen geistigen Potenz, ich stehe nicht an,
ihn als genial begabt zu bezeichnen, denn er ist ein originaler,
selbstständiger, ja schöpferischer Denker"124.
ebd. 278.
ebd. 279; Hildebrand führt zahlreiche Stellen des Vatikanum II. an und kann
nachweisen, dass seine Sicht der Dinge mit dem Konzil übereinstimmt.
117 May 922.
118 ebd. 922.
116 ebd. 923.
120 ebd. 908; Rahner war sicherlich nicht ganz unschuldig am Aufkommen
eines antirömischen Affektes unter den Theologen dieser Jahre, wie Balthasar diese Bewegungen genannt hat.
121 ebd. 908; unter „Scholastik" versteht Rahner alles, was sich der Neuinterpretation seit Marechal nicht unterwerfen kann und vor allem nicht der Transzendentalphilosophie zu huldigen bereit ist.
122 ebd. 909.
123 ebd. 924.
124 May 906.
115
116
— 308 —
Und doch kommt May bei aller Wertschätzung des Dogmatikers aus Innsbruck zu der Feststellung: „Das Chaos und
die Anarchie in der Kirche gehen zum nicht geringen Teil auf
die Umsetzung von Aufstellungen Rahners in die Praxis
zurück"125 . May nennt als Beispiele den verwirrenden Pluralismus oder auch einen Ökumenismus, der „... bis an den
Rand der Selbstaufgabe ..." gehe.
Jose Orlandis hat in seinen Ausführungen über die kirchliche Zeitgeschichte die damaligen Jahre mit den Worten
„Licht und Schatten" beschrieben126. Auf der einen Seite ist
sicher vieles an negativen Entwicklungen in der Kirche festzustellen. Die ersten zehn Jahre nach dem Vatikanum II. sind
auch die Zeit genannt worden, in der „... der Rauch Satans in
den Tempel Gottes eingedrungen ..." sei'27. Diese Worte
Papst Paul VI. kann der Historiker nicht übersehen, zumal
anhand der Statistiken nachzuweisen ist, dass die Priesterund Ordensberufe rapide zurückgegangen sind und die Laisierungsanträge sprunghaft in die Höhe schnellten128.
Bereits 1965 hatte Hans Urs von Balthasar Entwicklungen
benannt, die sicher auch auf die Auswirkungen Rahnerischer
Theologie (also auf deren „Popularisierung" durch die
Medien) zurückzuführen waren. Es geht um die „... unkritische Anwendung der Philologie auf die Heilige Schrift; diffuser Liturgismus (wo bleibt die Anbetung bei unseren liturgischen Funktionen?), Ökumene um jeden Preis, bis hin zur
Anwendung der Methode der Substraktion oder der Einebnung; Anpassung an die weltliche Welt mit der Gefahr, das
Christentum auf einen konsequenten Humanismus zu reduzieren"129.
Man kann diese Gefahren auch anders beschreiben. Orlandis nennt drei Faktoren.
Er sieht für den fraglichen Zeitraum ein „... Parallellehramt ..." von Theologen installiert; diese hätten sich durch die
Medien immer wieder Gehör verschaffen könnenI30. Sodann
seien die Geistlichen in einer tiefen Identitätskrise gewesen,
weswegen auch die Laisierungen so deutlich angestiegen
seien. Neben den liturgischen Wildwüchsen sei es dann eine
Protesthaltung gewesen, die die Krise vergrößert habe.
„Unter ihnen verdient Karl Rahner (1904-1984) aufgrund
seiner Bedeutung besondere Erwähnung. Obwohl er selbst
nicht als Protesttheologe betrachtet werden kann, war Rahner
doch in hohem Maße von der Philosophie Heideggers beeinflusst, und seine theologische Arbeit, die überall in seinem
Werk gegenwärtig ist, wurde von ihm selbst mit dem Begriff
der , anthropologischen Wende' umschrieben"
Vor allem auch die These vom „anonymen Christen" habe
bezüglich des kirchlichen Selbstverständnisses und Sendungsbewusstseins „... erhebliche Erschütterungen ..." ausgelöst132.
Hans Küng hat Karl Rahner vorgeworfen, er habe die „...
einheitliche Front der konziliaren Reform-Theologie auseinander brechen ..." lassen133. Er spielt damit an auf Rahners
Sammelband „Fehlbar?" gegen Küngs Buch „Unfehlbar?"134.
ebd. 922-923.
Orlandis 85 ff.
127 ebd. 87.
128 ebd. 88-91.
129 Guerriero 259.
13° Orlandis 92 ff.
131 ebd. 97.
132 ebd. 97.
133 Küng, Kleine Geschichte der katholischen Kirche. Berlin 2002, 245.
134 Unfehlbar? Eine Anfrage. Zürich/Einsiedeln/Köln 1970; Karl Rahner kritisierte dieses Buch sogleich in den „Stimmen der Zeit" (1970), 361-377 und
gab später einen Sammelband gegen Küng heraus.
125
126
— 309 —
Orlandis Aussage, Rahner sei kein „Protesttheologe"
gewesen, muss indessen hinterfragt werden. Sicher, er hat
nicht nach Außen hin so provoziert wie ein Hans Küng, dem
die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen worden i5 135•
Aber Jose Orlandis sollte sich erinnern an die Worte seines
Landsmannes Jose Ortega y Gasset. Dieser Philosoph hatte
1924 zur Jahrhundertfeier Kants gesagt, beim Königsberger
Philosophen herrsche Ontophobie vor, lasse sich feststellen
eine pure Seinsangst, die vor der Wirklichkeit zurückschrecke.
Und er nannte diese Ideologie eine „Wikingerphilosophie", die
immer das „Ich will" in den Vordergrund schiebe l36.
Rahner war von Kant inspiriert. Und er hat auch den hl.
Thomas von Aquin falsch verstanden, wie vor allem durch
Bernhard Lakebrink gezeigt worden ist.
Dieses Nichtvordringen zum Sein zieht sich nicht nur
durch die philosophischen Werke Rahners, sondern auch dessen Theologie ist davon gekennzeichnet.
Seine Zeit hätte eine missionarische Kirche nötig gehabt —
Rahner quält sich ab mit dem „anonymen Christen". Wie
Balthasar eindringlich gezeigt hat, fehlt dieser Theorie das
Kriterium des Martyriums, sie taugt nichts zur Glaubensverkündigung.
Mit diesem „Gebräu aus Kant und Thomas" (Dietrich von
Hildebrand) waren auch die Intellektuellen nicht zu überzeugen; führende Denker gehörten nach dem Vatikanum II. zu
den Kritikern Rahnerischer Theologie. Und schon früh haben
sich Laien wie Priester zusammengeschlossen, um das, was
Papst Paul VI. den Rauch des Satans in der Kirche genannt
hatte, zu bekämpfen.
Rahner hat genau gewusst, dass theologische Meinungen
oft durch die Schüler vergröbert werden: „Nur hat er diese
Erkenntnisse bei der eigenen Arbeit nicht oder nicht genügend beachtet. Unaufhörlich damit beschäftigt zu reden und
zu schreiben, ist ihm vermutlich das Gespür für die Auswirkungen seiner Produkte verlorengegangen ..."132.
Diesem Satz kann sich die kirchliche Zeitgeschichte
anschließen. Bereits 1973 hatte der französische Theologe
Marie-Joseph Le Guillou geschrieben: „So geschieht das
Paradox, dass eine Bewegung, die sich als von Thomas von
Aquin inspiriert betrachtet, sich in die Perspektive der transzendentalen Subjektivität einpasst. Sie kommt dann folgerichtig dahin, in der Kirche die Existenz eines „unüberwindbaren geistigen Pluralismus" zu verkünden, der das Lehramt
künftig daran hindern werde, Lehraussagen positiver Art zu
machen. Sie beweist damit sehr klar, dass wer beim Prinzip
der Immanenz ansetzt und das moderne Postulat der Bestimmung des Seins durch das Bewusstsein annimmt, die Bedeutung der grundlegenden Kategorien der christlichen Tradition
nicht mehr verstehen kann"138.
Nun hat inzwischen das Lehramt gesprochen. Papst Johannes Paul II. hat in seiner Enzyklika „Fides et Ratio" vom
14. September 1998 für die ersten Jahre nach dem Konzil
einen „...gewissen Verfall ..." (Art. 61) eingeräumt.
Die Zukunft wird zeigen, ob die vielen wertvollen Anregungen des Papstes rezipiert werden von den katholischen
Philosophen.
Anschrift des Autors: Dr. theol. Joseph Overath
Hauptstr. 54, 51789 Lindlar
135 DH
136
4530 ff.
Gesammelte Werke. Augsburg 1996, Bd. II, 435 ff.
137 May 924.
138 Das Mysterium des Vaters. Apostolischer Glaube und moderne Gnosis. Einsiedeln 1974, 195. Das Original in Französisch war 1973 erschienen.
— 310 —
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