May, A. (2010b): Buchbesprechung: 1119. Junker, R. & Scherer, S. (2006): Evolution. Ein kritisches Lehrbuch (mit Beitr. von H. Binder, M. Brandt, N. Crompton, J. Fehrer, S. Hartwig-Scherer, P. Imming, D. Keim, H. Kutzelnigg, R. Süßmuth, H. Ullrich, G. Wagner & N.Winkler). - Zentralblatt für Geologie und Paläontologie Teil II, 2010 (5/6): p. 931-934; Stuttgart.
TEXT DER BUCHBESPRECHUNG:
Junker, R. & Scherer, S. (2006): Evolution. Ein kritisches Lehrbuch (mit Beitr. von H. Binder, M. Brandt, N. Crompton, J. Fehrer, S. Hartwig-Scherer, P. Imming, D. Keim, H. Kutzelnigg, R. Süßmuth, H. Ullrich, G. Wagner & N. Winkler). – 6. akt. u. erw. Aufl., 336 S., 419 Abb. (davon 410 farbig), 23 Tab.; Gießen (Weyel Biologie), 20 x 27 cm, geb., ISBN 3-921046-10-6; € 24,90.
Das vorliegende Buch tritt mit dem mehrfach formulierten Anspruch auf, ein kritisches Lehrbuch zu sein. Ein Lehrbuch ist es, denn es schneidet alle im Zusammenhang mit der Evolution wesentlichen Themenkomplexe an. Aber es ist nur „kritisierend“ und nicht „kritisch“, denn anstatt die beobachteten Fakten entsprechend ihrer Häufigkeit, Evidenz und Bedeutung darzustellen, sucht es immer und überall die Aspekte, die als Schwachpunkte der Evolutionstheorie gelten können, oder die die Bedeutung und Reichweite der Evolutionstheorie reduzieren könnten, oder die „Schöpfungslehren“ Nahrung geben könnten. Vielfach wird Fakten, die zwar richtig, aber nur von sehr begrenzter Bedeutung sind, oder existierenden wissenschaftlichen Minderheitsmeinungen eine ihnen nicht zukommende Bedeutung gegeben. So wird z. B. den Ausnahmen vom universellen genetischen Code der DNS an verschiedenen Stellen große Bedeutung gegeben.
Demgegenüber werden die Aspekte, die starke Belege oder Beweise für die Evolutionstheorie sind, viel knapper und stiefmütterlich behandelt und in ihrer Bedeutung heruntergespielt. So benennen die Autoren zwar kurz die Kategorien des Systems der Lebewesen, machen aber nicht den geringsten Versuch, die Fülle der Lebewesen darzustellen. Oder sie wählen Fallbeispiele aus, die man zumindest als etwas unglücklich bezeichnen kann (z.B. die Orchideen-Gattung Ophrys als Musterbeispiel für Co-Evolution auf S. 72).
Ein anderes Beispiel für das Vorgehen der Autoren ist das 15. Kapitel, die Entstehung der Menschheit: Zwar werden alle relevanten Taxa zitiert, aber oft erweckt das in den Illustrationen dokumentierte Material einen Eindruck von Bruchstückhaftigkeit und Unvollständigkeit der Fossilüberlieferung, der den großen Fortschritten der Paläoanthropologie in den letzten Jahrzehnten nicht gerecht wird. Und der Text walzt die Unsicherheiten und offen Fragen in den Details so weitgehend aus, dass für einen unkundigen Leser die klaren großen Linien der Evolution des Menschen nicht mehr sichtbar sind.
Auf die hier angesprochenen Weisen wird der Leser systematisch und sehr geschickt manipuliert. Trotzdem ist es oft schwierig, die Manipulation als solche hieb- und stich-fest zu beweisen, denn in den meisten Fällen kann man nicht ausdrücklich sagen, dass das Dargestellte völlig falsch ist, es ist halt immer nur sehr stark verzerrt, verkürzt und verbogen.
Besonders deutlich ist die Manipulation im Abschnitt „Sehen im Tierreich“ (S.81-82), der so beginnt: „Zwar schauderte es schon DARWIN, wenn er an die Evolution eines Wirbeltierauges dachte,...“ Dies erinnert an den alten Creationisten-Trick, eine rhetorische Zuspitzung im 6. Kapitel von Darwin´s „The Origin of Species“, die eine mehrseitige Erklärung der Entstehung des Auges einleitet, aus dem Kontext zu reißen und so gegen Darwin selbst zu richten (
http://www.talkorigins.org/indexcc/CB/CB301.html). Anstatt sich mit den von Darwin gegebenen Argumenten zur Augen-Entstehung und den klassischen Beobachtungen nachfolgender Autoren zu den Augen-Typen der Mollusken auseinanderzusetzen, bietet der Abschnitt dem Leser eine Mischung aus tendenziösen Verallgemeinerungen und verwirrenden Details.
Nachdem die Autoren im gesamten Buch die Evolutionstheorie soweit als möglich in Frage gestellt haben, versuchen sie im letzten Kapitel das Leben unter der Voraussetzung von Schöpfung zu deuten. Die „klassischen“ Ansätze „Schöpfung durch Evolution“ und „Kurzzeit-Schöpfungslehren“ (=Creationismus) finden nicht die Zustimmung der Autoren. Sie favorisieren ein neues Konzept, das mit von Gott geschaffenen „Grundtypen“ arbeitet (wie z.B. Hundeartige, Katzenartige, Pferdeartige), die sich durch Mikroevolution modifizieren und diversifizieren. Offensichtlich werden sie sich der Absurdität des „Grundtypen“-Konzepts nicht bewusst: Dieses Konzept benötigt viele tausende einzelne Schöpfungsakte verstreut über mehrere Milliarden Jahre, denn die Autoren akzeptieren die geologischen Zeiträume. Dieses Konzept erklärt auch nicht, warum es zwischen verschiedenen „Grundtypen“ jene abgestuften Ähnlichkeiten gibt, die zwanglos zum System der Lebewesen führen. Darüber hinaus gibt es auch keine theologische Rechtfertigung für das „Grundtypen“-Konzept, denn beide Schöpfungsberichte am Anfang der Bibel sind „Kurzzeit-Schöpfungslehren“.
Wenn der Leser schon etwas von der Fülle und Vielfalt des Lebens kennengelernt hat, wird dieses Buch vermutlich Verwirrung und Irritation hervorrufen. Wenn der Leser erst durch dieses Buch die Biologie kennenlernt, kann es sein, dass neben einem diffusen Zweifel an der Evolutionstheorie auch ein diffuser Glaube an einen Schöpfergott angeregt wird. Trotzdem ist dieses Buch eigentlich nur interessant für Personen, die entschieden gegen die Evolutionstheorie eingestellt sind und Munition oder Selbstvergewisserung für ihre Position suchen.
Wenn die Autoren mit diesem Buch Gott dienen wollten, so ist es gründlich fehlgeschlagen; denn man kann dem Vater aller Wahrheit nicht mit Manipulationen und Lügen dienen. Vielleicht konnten die Autoren es nicht besser, da sie Gefangene eines Weltbildes oder eines Denkverbotes waren. Man möchte den Autoren zurufen: „Die Wahrheit wird euch frei machen!“ (Joh, 8,32).
Wie könnte nun eine Versöhnung zwischen Evolutionstheorie und jüdisch-christlichem Glaube aussehen? Zuallererst müsste sie beides ernst nehmen, die biologische Wissenschaft und den biblischen Befund. Der biblische Befund ist unbezweifelbar (auch wenn Creationisten ihn systematisch ignorieren): Seit mehr als zweitausend Jahren beginnt das erste Buch der Bibel mit zwei radikal unterschiedlichen und inkompatiblen Schöpfungberichten: Zuerst die hochphilosophische Sieben-Tage-Schöpfung (Gen 1,1-2,4a), danach sofort die ursprungsmythische Adam-und-Eva-Schöpfung (ab Gen 2,4b). Es ist offensichtlich, dass es nicht die Funktion dieser Schöpfungsberichte sein kann, zu beschreiben, wie die Welt entstand; denn dann könnte nur einer von beiden Berichten richtig sein und der andere müsste falsch sein; vielmehr handelt es sich um Texte, die grundlegende Wahrheiten über Gott, den Menschen und die Welt in begreifbare Bilder fassen wollen.
Wenn man die in der Bibel dokumentierte Geschichte des Volkes Israel Revue passieren lässt, entdeckt man einen Gott, der sich und den Seinen Zeit lässt – Zeit um sich zu entwickeln: Von der Berufung Abrahams ausgehend, sozusagen der ersten kleinen Glaubenszelle, entwickelt sich der Glaube immer weiter – über Blütezeiten (David und Salomon) und schwere Krisen (babylonisches Exil) hinweg – bis zur Krone des Ganzen, der Fülle der Offenbarung in Jesus Christus. Eine vergleichbare Entwicklung kann auch jeder Christ im eigenen Glauben beobachten: Am Anfang ist der Glaube noch klein und unreif, aber dann, durch die Kämpfe, Zweifel und Erfahrungen, wächst und reift der Glaube.
Man sieht, wenn man Bibel und Glaube ernst nimmt, bietet sich ganz automatisch das Bild eines Gottes an, der sich für seine Schöpfung Zeit nimmt und der deshalb die Fülle des Lebens durch Evolution schafft. Wie genau Gott die Lebewelt durch Evolution geschaffen hat, kann der Rez. nicht beantworten. Aber eines ist klar: Gott hat es sicher nicht durch die wunderbare Schöpfung der ersten Hunde, Katzen und Pferde gemacht, wie es uns Junker & Scherer nahelegen wollen; denn Gott hat nicht ein Universum mit wohldurchdachten und beständigen Regeln, den Naturgesetzen, geschaffen, um dann – viele tausend Male – in der Schaffung eines neuen Grundtyps, diese Regeln wunderbarerweise außer Kraft zu setzen. Eine derartige „Flickschusterei“ ist typisch für Menschen, aber Gott und seine Wege sind größer und anders (Jesaja 55,9).