www.fgks.org   »   [go: up one dir, main page]

Eva Merg: Dein Gestern bestimmt nicht dein Morgen – 9783863343569

Page 1

EVA MERG

n r e t s e G n e g r o M Dein

bestimmt nicht dein

Meine Heilungsreise zu Liebe, Versöhnung und echter Lebensfreude



Inhalt Vorwort 7 Prolog 11 Teil I Ein glücklicher Start in die Lebensstraße 15 Krebs und der Feind allen Lebens und aller Freude 18 Das letzte Einhorn 27 Lagerfeuer und die Stimme Gottes 38 Glaube und Verzweiflung 45 Metal, Satanismus und ein großer Bahnhofsvorplatz 70 Abitur mit meiner kleinen Schwester 91 Teil II Kleine Insel, große Freiheit 111 Versorgungswunder 125 Heilung und afrikanische Tänze 141 Ein Jahr für Gott 156 Encounter, Seelsorge und Panikattacken 165 Das Beste kommt zum Schluss 176 Nachwort 181 Danksagung 189



Vorwort Manche werden sich vielleicht fragen, wie eine junge Frau in ihren Dreißigern dazu kommt, ein autobiografisches Buch zu schreiben. Nun, es hängt sehr viel damit zusammen, dass kaum jemand, der mich heute kennt, sich im Geringsten vorstellen kann, durch welche Tiefen ich in meinem Leben bereits gegan­ gen bin. Wenn ich davon erzähle, dass ich ein Buch über mein bisheriges Leben schreibe, werde ich oft sehr überrascht ange­ schaut: „Oh, worum geht es denn darin?“ Ich schaue die Per­ son dann durchdringend an und sage: „Es geht um die Lebens­ krisen, durch die ich mit meiner gesamten Familie gegangen bin und wie der Glaube mein ganzes Leben verändert hat und unser Familienleben wiederhergestellt hat. Wir haben eine sehr innige und freundliche Beziehung zueinander, und das war nicht immer so. Ich weiß, man sieht es mir heute nicht mehr an, aber ich bin durch viele Extreme gegangen. Ich war depressiv, selbstmordgefährdet, bin mit Punks, Gothics und Metalheads durch die Straßen gezogen. Ich hatte viele flüchtige Beziehun­ gen, One-Night-Stands, Alkoholexzesse und habe mich einige Zeit lang sehr aktiv mit Satanismus beschäftigt.“ Dann herrscht Stille. Die häufigste Reaktion, die danach folgt, ist: „Oh, das hätte ich wirklich nicht vermutet, so wie ich dich kenne. Du bist so ein lebensfroher Mensch und du stehst wirklich fest im Leben. Das ist sehr erstaunlich – wann kommt dein Buch? Ich möchte es lesen!“

7


Wie kam es zu diesem Buch? Vor ein paar Jahren wurde mir bewusst, wie wichtig es ist, auch über die Tiefpunkte im Leben zu sprechen. Es gab zu viele Dinge, über die ich lange nicht ge­ sprochen hatte. Zu viele Dinge, die es wert waren, erzählt zu werden. Ein Schmerz, von dem ich wusste, dass ihn nur allzu viele Menschen kennen. Für diese Menschen könnte das reine Erzählen meiner Geschichte bereits wie eine Erlösung sein. Sie sollten wissen, dass sie nicht allein in ihren Tiefen sind. Und noch mehr: dass es eine Antwort auf ihre Fragen gibt. Eine Er­ mutigung zum Leben. Also fasste ich einen Entschluss. Ich wollte schreiben. Ich sprach ein tiefes Herzensgebet aus, dass Gott meine Geschichte dazu verwenden sollte, vielen Menschen eine Stimme zu schen­ ken, die nicht gehört und gesehen werden. Ich bat ihn, sich ihnen zuzuwenden und ihnen eine himmlische Begegnung zu schen­ ken. Dann begann ich zu schreiben. Es floss nur so aus meinen Fingern. Erinnerungen wurden lebendig vor meinen Augen. Es war wie Magie, doch viel stärker und reiner. Gott hat so viel in meinem Leben getan und ich musste es einfach aufschreiben. Nun, es ist nicht leicht, über die schweren Kapitel im Leben zu schreiben. Auch wenn die Erlebnisse schon einige Jahre zurück­ liegen. Ich habe während des Schreibprozesses professionelle Hilfe und Unterstützung in Anspruch genommen und war für einige Zeit in einer Klinik, um alte Schmerzen aufzuarbeiten, die dabei zutage gefördert wurden. Besonders bei Menschen mit traumatischen Erfahrungen könnte meine Geschichte an manchen Stellen existenzielle Gefühle hervorrufen und wie ein Trigger wirken. Mein Wunsch ist, dass meine Geschichte bei der Aufarbeitung von Erlebnissen unterstützt und nicht ret­ raumatisiert. Falls also negative Gefühle hervorgerufen wer­ den, bitte ich alle Lesenden, sich Hilfe zu holen und nicht zu ver­suchen, die Situation allein durchzustehen. 8


Eine meiner wichtigsten Erfahrungen war zu erkennen, dass es Hilfe gibt. Auch wenn ich immer wieder Momente hatte, in denen ich mir sehr sicher war, dass mich kein Mensch auf dieser Welt wirklich verstehen könnte – so hat es doch immer Men­ schen gegeben, die ein offenes Ohr für mich hatten. Manchmal gibt es nicht direkt eine Lösung für die konkrete Situation, aber in einem vertrauten Umfeld von den eigenen Gefühlen zu er­ zählen, kann vieles verändern und verbessern. Also, meine Ermutigung gleich vorneweg: Trau dich, dich zu öffnen und zu erzählen. Und sollte dir eine Person einre­ den, dass du von einem bestimmten Geschehnis nichts ver­ raten darfst, dann möchte ich dir sagen: Höre auf dein Herz. Wenn es sich für dich nicht gut anfühlt, dann spricht das da­ für, dass diese Person dein Vertrauen missbraucht. Es wird dir guttun, wenn du dich jemandem anvertraust. Am besten einer Person, die dir den Eindruck vermittelt, dass sie fest im Leben steht und gut mit anderen Menschen umgehen kann. Du musst nicht von jedem Detail erzählen, das dir passiert ist, aber er­ zähle bitte von deinen Gefühlen. Das ist wichtig für dich und kann dir sehr weiterhelfen. In meinem Buch erzähle ich auch davon, wie verletzt ich von dem Verhalten meiner Familienmitglieder war. Mir ist es wichtig, einen offenen Umgang damit zu haben, denn nur so wird sichtbar, wie groß das Wunder ist, dass wir trotz einer so verfahrenen Vergangenheit wieder zueinandergefunden haben. Ich habe meine Familienmitglieder in alles mit hineingenom­ men, was ich in diesem Buch geschrieben habe. Sie sind einver­ standen, dass ich offen von unserer Vergangenheit erzähle, und sprechen seit vielen Jahren ebenfalls sehr offen darüber. Meine Eltern ermutigen andere Eltern in ihrem Umkreis, wenn diese Schwierigkeiten in der Beziehung zu ihren Kindern erleben, darauf bin ich sehr stolz.

9



Prolog Es ist schwer zu sagen, was genau für eine Szene es war, der ich in dieser großen Stadt begegnete. Linksradikale Skinheads tum­ melten sich mit Skatern, mit Metalheads, mit Punks. Emos mit dicken Eyelinern und ihrem Pony im Gesicht tranken ihr Bier mit nietenumgürteten Irokesenträgern. Ich konnte es einfach nicht fassen, dass es so viele Menschen gab, die das lebten, wo­ nach ich mich sehnte: das Gefühl, anders zu sein, nach außen zu tragen. Sich nicht anzupassen, sondern auszubrechen. Ich spürte, dass all diese Jugendlichen, die ich dort sah, Außenseiter waren – und gleichzeitig waren sie für mich die bewunderns­ wertesten Menschen auf dem Planeten. Ich spürte einen neuen Wind, eine Kraft und eine Freiheit. Insgeheim wusste ich, dass ich hier, in der Gemeinschaft mit diesen Leuten, einen Ort ge­ funden hatte, an dem ich mich für nichts schämen müsste. Und genau so war es auch. Als ich das erste Mal dort war, saugte ich all die Einflüsse wie ein Schwamm auf und war völlig aufgeregt. Es wurde viel getrunken, auch wenn keiner wirklich Geld dafür hatte. Es be­ rührte mein Herz, wie alle das teilten, was sie hatten. Wenn je­ mand eine Kiste Bier hatte, teilte er sie mit allen. Es war keine Schande, wenig zu besitzen. Abgetragene Kleider wurden ge­ feiert. So manch einer leistete sich ein Bandshirt seiner Lieb­ lingsband oder ein Nietenarmband. Manche, die arbeiten gin­ gen, ließen sich Tattoos stechen oder piercen. Andere steckten sich Sicherheitsnadeln in die Ohren, die sie vorher mit einem Feuerzeug erhitzt hatten. 11


Ich lernte sehr schnell Leute kennen. Aber um 23:30 Uhr war der Zauber zu Ende. Das war die Zeit, zu der der letzte Bus nach Hause fuhr. So bald wie möglich fuhr ich wieder hin, lernte mehr Leute kennen und saugte den Lifestyle weiter auf. Unsere Gespräche waren erfüllt von Sarkasmus, Selbstironie und – das war neu für mich – auch von Hass. Es wurde eine Wut kundge­ tan über „das System“, über Scheinheiligkeit, über biedere Fami­ lienverhältnisse, die nicht das halten konnten, was sie verspra­ chen. Über aufgehübschte Außenfassaden und tiefgreifenden Schmutz im Inneren von Menschenleben. Es war für mich eine große Erleichterung, Raum zu finden, Worte für etwas zu fin­ den, was ich die ganze Zeit tief in meinem Herzen trug. Zu Beginn dieser Zeit war ich noch sehr gewissenhaft, was den letzten Bus nach Hause anging. Aber in mir regte sich der Wunsch, genauso frei zu sein wie meine neuen Freunde. Also blieb ich einfach dort, ohne zu wissen, wo ich schlafen sollte, und sagte meinen Eltern am Handy, dass ich bei Freunden un­ terkommen würde. Dann verbrachte ich meine erste Nacht mit dem „Gesöcks“ in der Tiefgarage. Es war schweinekalt und ich konnte nicht schlafen. Es stank nach Autoabgasen und Urin, aber es war unvergesslich. Am nächsten Morgen tranken wir Bier und holten uns einen Kaffee bei McDonald’s. Jedes Mal, wenn ich dort war, tranken wir, was das Zeug hielt. Es war mir ein großer Spaß, betrunken vom Bahnhofsvor­ platz in die Stadt zu laufen und dabei das Gefühl zu haben, dass die Häuser neben mir flüssig wurden und ich schnell war wie ein Windhund. Doch viel zu trinken, war teuer und kaum je­ mand von uns hatte viel Geld. Ich ließ mich gerne einladen, was nicht selten in einem Flirt oder auch mehr endete. Ich lernte Menschen kennen, die mir die Haare festhielten, wenn ich mich am Straßenrand übergab, solche, die mich auf mein nächstes Getränk einluden, und solche, die mir ihre Überlebensstrate­ gien in der Szene zeigten. 12


In mir gab es einen Hunger, der immer mehr wuchs: Ich wollte ein Teil dieser Szene sein. Ich wollte, dass die anderen wussten, wie ich bin. Ich wollte einen Namen haben.

13



Teil I Ein glücklicher Start in die Lebensstraße

Mein Leben begann so harmonisch, dass ich es heute selbst kaum begreifen kann. Mit meinen Eltern wohnte ich in einer kleinen Seitenstraße meines Heimatortes, in der kaum ­Autos fuhren. Nicht nur das: Überall konnte man Kinder spielen sehen und hören. Kleine Fahrräder, Bobbycars und ein Rudel lachender Kinder gehörten zum täglichen Bild unserer klei­ nen Welt. Die Nachbarn kannten sich nicht nur, nein, sie lebten enge Freundschaften. Einer half dem anderen. Mehrmals im Jahr trafen sich alle Familien zu großen Straßenfesten. Mitten auf der Straße standen die Bierbänke und jeder brachte einen Salat mit, dann wurde der Grill angeworfen. Es war ein freundliches Umfeld, in dem ich auf die Welt kam. Meine Eltern wünschten sich ein Kind und es gab ein großes Fest, als meine Mama mit mir als frisch geschlüpftem Würm­ chen nach Hause kam. Meine Eltern pflegten einen engen Kon­ takt zu meinen Großeltern mütterlicherseits. Jedes Wochen­ ende waren wir dort. Wir haben mit unseren Cousinen und Cousins im Garten gespielt, sind gerutscht, haben geschaukelt und im Planschbecken getobt. Diese Wochenenden waren wie eine Feier unseres Lebens für mich. Ganz besonders schön waren dann noch unsere Ge­ burtstage. Meine Schwester und ich hatten viele Kinder und unsere große Verwandtschaft zu Besuch. Meine Mama war an 15


Kreativität nicht zu schlagen und dachte sich die spannendsten Spiele für uns aus. Sie konnte eine Schar von Kindern sehr gut in ihren Bann ziehen und steckte alle mit Freude und Aben­ teuerlust an. Auch Musik war zu dieser Zeit oft zu hören. Zusammen mit unserer Mama sangen wir Lieder, die aussagten, dass Gott sich schon auf uns gefreut hat – noch bevor wir eigentlich geboren wurden. Meine Mama war stolze Mutter und Hausfrau und hat Dienste in unserer Kirchengemeinde übernommen. Die freie Zeit, die meine Mama hatte, nutzte sie, um jeden Tag gesund zu kochen, mit uns schöne Dekorationen zu basteln oder Ausflüge zu machen, uns Dinge beizubringen und uns zu versorgen, wenn wir krank waren. Oder auch, um einfach mal Quatsch mit uns zu machen. Mein Papa war sehr verspielt und freiheitsliebend. Unsere schönsten Momente hatten wir mit ihm, wenn wir uns auf dem Sofa an ihn gekuschelt haben, während er Zeitung gele­ sen hat oder wenn er uns herumgetragen hat. Ich glaube, den häufigsten Satz, den er in der Zeit gehört hat, war: „Noch­ mal, Papa, nochmal!“ Er hat wirklich viel gelacht und hatte viele verrückte Ideen. Eine seiner großen Leidenschaften war es, mit der ganzen Familie in Schwimmbäder, Tierparks oder Freizeitparks zu fahren. Wir haben noch Tausende Fotos aus dieser Zeit. Er arbeitete in einer Firma als Außenhandelskauf­ mann und liebte seinen Beruf sehr. Er war mit allen Kollegen und seinem Chef per Du und fuhr ab und zu mit einigen von ihnen Motorrad. Eine der schönen Erinnerungen, die ich habe, ist die Erinne­ rung an unsere Dorfgemeinschaft. Jeder im Ort kannte meinen Namen. An Sankt Martin oder Fastnacht gab es große Events, bei denen wir uns alle versammelt haben und wir Kinder Süßig­ keiten bekommen haben. Wenn ich durch die Straße gelaufen 16


bin, haben die Leute mich gegrüßt und gesagt: „Ach guck, dat is doch et Bopste1 Eva! Wie, is dat awer groß woor!“

1

Der Rufname entstand aufgrund desjenigen, der das Haus gebaut hatte, in dem man lebte. In dem Fall „Papst“, also „Bobste“.

17


Krebs und der Feind allen Lebens und aller Freude

Ich brauche wohl kaum zu sagen, dass diese Idylle in meiner Kindheit nicht lange gehalten hat. Sonst wäre ich nicht die Per­ son, die ich heute bin, und dieses Buch wäre nie entstanden. Es begann damit, dass meine Oma immer öfter ins Kranken­ haus musste. Sie hatte einen bösartigen Tumor, der so versteckt in einer Dünndarmschlinge lag, dass die Ärzte ihn viel zu spät entdeckten. Er hatte bereits gestreut. Dennoch versuchte man es mit Bestrahlungstherapie. Nun stellte sich die Frage, wer aus unserer Familie meine Oma pflegerisch unterstützen konnte, und die Wahl fiel auf meine Mutter. Meine Tante kam wegen eigener gesundheitlicher Belastungen nicht infrage, mein O ­ nkel wohnte für eine so aufwendige Pflege viel zu weit weg und hatte ein Weingut zu verwalten. Deswegen zogen wir, als ich sechs Jahre alt war, in das Mehr­ generationenhaus meiner beiden Omas um. Oma, Opa und Uroma im Erdgeschoss, wir in der Mitte und über uns meine Tante und ihre beiden Kinder. Meine Freunde wohnten mit einem Mal sehr weit entfernt. Weit weg von meinem gewohn­ ten Umfeld und losgelöst von den spielerischen Zeiten mit den Großeltern in der Vergangenheit, begann ich, die Umge­ bung im Haus meiner Großeltern anders wahrzunehmen. In unserer Nachbarschaft wohnten alte Menschen und wirklich furchteinflößende Landwirte mit einem sehr bissigen Hund, der jedes Mal gegen den stark nach außen gewölbten Zaun sprang, wenn wir vorbeiliefen. Es schepperte gewaltig und 18


meine kleine Schwester und ich waren uns nie sicher, ob der Zaun dieses scheinbar seelenlose Geschöpf überhaupt aufhalten konnte. Unsere Nachbarn hassten Kinder und drohten uns mit der Mistgabel, wenn wir zu nah an ihr Grundstück kamen. Die Straße vor unserem Haus war die Hauptstraße des Dorfes. Dort fuhren die Autos sehr schnell vorbei und es gab immer Verkehr. Ich war mit der Situation überfordert und fühlte mich ein­ sam. Die Stimmung im Haus war nun mehr bedrückend als einladend. Von der fröhlichen Atmosphäre, die ich als kleines Kind mit meinen Großeltern erlebt hatte, schien nicht mehr viel übrig zu sein. Dennoch gestaltete meine Mama mit aller Liebe unser Kinderzimmer. Wir hatten ein Hochbett, eine wun­ dervolle Wandbemalung mit Tieren, die mit einem Fahrrad über einen Regenbogen fuhren, und eine Hängematte. Es gab viele Kisten mit schönen Spielsachen und Papa hatte eine Tel­ lerschaukel an die Decke unseres Zimmers montiert, mit der wir wie wild im Raum umherschaukeln konnten. Diese kleine Idylle war wie eine Insel in dem stürmischen, unbarmherzigen Meer, in dem ich mich nun befand. Immer häufiger wurde ich gebeten, mich um meine kleine Schwester zu kümmern. Und auch meine Hausaufgaben galt es zu erledigen, doch es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Mama saß oft bis spätabends mit mir an den Aufgaben. Doch sonst war sie immer schwerer für mich zu erreichen. Manch­ mal hatte ich eine Frage und ging auf die Suche und fand sie einfach nicht. Der Stress durch die Pflege ihrer eigenen Mutter begann sich in meiner Mama immer deutlicher zu zeigen. Irgend­ wann sprach er aus ihr heraus. Sie war ungeduldig mit mir. Sie band mich immer mehr in Verantwortlichkeiten ein, hatte aber gleichzeitig keine Zeit, um mir zu erklären, was sie von mir forderte. Ich war häufig verunsichert darüber, was ich zu tun hatte. Es gab keinen festen Plan oder Absprachen, alles 19


musste spontan irgendwie funktionieren. Sie kam oft herein und ­ärgerte sich über etwas. Wie etwa, wenn die Spülmaschine nicht ausgeräumt oder das Zimmer nicht aufgeräumt war. Es war, als erwartete sie von mir, ihre Gedanken und Wünsche zu kennen, ohne sie vorher ausgesprochen zu haben. Dann war sie enttäuscht, wenn sie nicht das gewünschte Ergebnis vorfand. Das konnte schon bei scheinbar unbedeutsamen Kleinigkeiten so sein. Manchmal machte ich Dinge nicht, weil ich nicht daran gedacht hatte oder weil ich dazu eine Frage hatte. Aber für Fra­ gen war keine Zeit. Es musste einfach irgendwie weitergehen. Meine Mama hatte selbst nicht richtig gelernt, Bedürfnisse zu kommunizieren. Das fehlte uns nun im Umgang miteinander. Ich wurde unruhig. Fixierte mich mehr und mehr auf meine Mama, versuchte sie zu verstehen, ohne ihre Anweisungen, ihre Wünsche und Bedürfnisse überhaupt zu kennen. Das verur­ sachte eine gewaltige innere Unruhe in mir, die von nun an zu meinem Alltag gehörte und lange Zeit unbemerkt blieb. Nachdem dieser Zustand einige Monate anhielt, entwickelte ich Aller­gien und Ticks. Ich träumte in der Schule und träumte zu Hause. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich wieder einmal mit meiner Mama noch bis um 6 Uhr abends an den Hausaufgaben gesessen hatte. Wir hatten gleich nach dem Mit­ tagessen damit begonnen. „Mama, wieso kann ich nicht mit den anderen Kindern spie­ len gehen?“, fragte ich. „Das hier ist viel wichtiger als die Zeit mit anderen Kindern, Eva! Erstmal musst du diese Aufgabe verstehen, danach kannst du etwas anderes machen.“ Ich gab mein Bestes, versuchte, mich auf die Aufgaben zu konzentrieren. Doch wie sehr ich mich auch bemühte, ich las Sätze durch und wusste nicht mehr, was darin gestanden hatte. In der Schule hörte ich die Lehrerin sprechen, doch es war wie 20


ein Rauschen für mich. Ich hatte keinen Zugang zu dem, was sie mir sagen wollte. Manchmal war ich so unaufmerksam, dass ich nicht einmal mitbekam, dass sie mich aufgerufen hatte. Ich hatte aber eine ausgeprägte Fantasie und verbrachte viel Zeit mit meinen Kuscheltieren, mit denen ich Abenteuer durchspielte. Meine Schwester und ich bauten uns Höhlen aus ­Decken und Kissen. Doch auch sie war nicht immer erreich­ bar für mich. Meinen Papa sah ich in dieser Zeit noch weniger. Er war ar­ beiten. Wenn er nicht arbeiten war, traf er sich oft mit Freun­ den. Bei Anliegen innerhalb der Familie orientierte er sich sehr an meiner Mama. Wenn ihr etwas nicht passte, war er auch unzufrieden. Wenn sie etwas einforderte, pflichtete er ihr bei. In dieser Zeit vermisste ich es, Menschen um mich herum zu haben, die wirklich zu mir hielten oder sich für meine Be­ dürfnisse einsetzten. Wenn ich mich einmal verletzte oder mir etwas fehlte, reagierten meine Eltern häufig mit Sätzen wie: „Ach, ist doch nicht so schlimm.“ Oder: „Stell dich nicht so an.“ Meinem Vater fiel es nicht leicht, mich zu fragen, was ich auf dem Herzen hatte. Es kam vor, dass es Spannungen gab, die so weit gingen, dass mein Papa mir mit Schlägen drohte. Da­ durch fühlte ich mich sehr schlecht und wurde ängstlich. Auch wenn ich verträumt war als Kind, war ich dennoch nicht gänzlich in mich gekehrt. Ganz im Gegenteil, ich konnte sehr ausdrucksstark sein. Ich hatte eine sehr sensible und empfind­ liche Wahrnehmung und konnte sie gut zu Papier bringen, in­ dem ich Geschichten schrieb oder malte. Mein Lachen war schon früh sehr durchdringend und kraftvoll, weshalb ich in der Zeit, in der wir mit meinen Großeltern im Haus lebten, oft Zurückweisung durch sie erfuhr. Auf der Suche nach Gemein­ schaft ging ich zu meiner Oma und Uroma. Begann zu erzäh­ len, zu singen, zu lachen. Doch sie hatten dafür nicht viel übrig. 21


Die beiden, oder auch meine Mama, wiesen mich in solchen Momenten regelmäßig scharf zurecht: „Geh raus! Wir können dich hier nicht gebrauchen!“ Wenn sie es auch genossen hatten, mich und die anderen Kinder unserer Großfamilie im Klein­ kindalter um sich herum zu haben, so waren sie nun völlig we­ sensverändert und abweisend. Diese Abweisungen rissen eine tiefe Wunde in mir auf, die sehr lange brauchen sollte, um zu heilen. Noch viele Jahre später war sie mein ständiger Beglei­ ter. Es sollte eine Zeit kommen, in der ich alles daransetzte, um die Anerkennung von jungen Männern zu bekommen, damit ihre Nähe ein Balsam auf dieser Wunde werden konnte. Doch mit jeder Begegnung wurde die Wunde nur noch größer. Aber davon erzähle ich später. Die Luft im Haus meiner Großeltern war mittlerweile so dick, dass man darin kaum atmen konnte. Jede Freude wurde gleich im Keim erstickt. Dabei hatte ich immer wieder kreative Ideen. Ich mochte es, mit meinen kleinen Cousins und Cousinen Raubtier zu spielen oder unseren Garten in einen Wasserspielplatz zu ver­ wandeln. Das stieß aber auf ärgsten Widerstand bei den Er­ wachsenen. „Du hast ja nur Dummheiten im Kopf! Du bist zu nichts zu gebrauchen! Kannst du denn nicht mal ein Vorbild für die Kleineren sein?! Du bist ja die Schlimmste von allen zusammen!“ Sie konnten nicht verstehen, warum ich nicht etwas in ihren Augen Sinnvolles tat. Zum Beispiel im Haus zu arbeiten. Für meine Spielereien und Fantastereien hatten sie nicht viel übrig. Doch ich war nicht die Einzige, die mit Ablehnung konfron­ tiert war. Auch mein Vater war in den Augen meiner Oma und Uroma ein Anstoß. Und selbst meine Mutter musste sich – trotz ihres großen Einsatzes – ständig Nörgeleien und Vorwürfe an­ hören. Meine Oma drangsalierte sie regelrecht und forderte sie ständig auf, etwas für sie zu tun. Wenn ihr etwas nicht passte, 22


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.