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Die Magd des Gutsherrn – 9783986950590

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© 2016 Gerth Medien in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Berliner Ring 62, 35576 Wetzlar 1. Auflage der Jubiläumsausgabe 2024 Bestell-Nr. 821059 ISBN 978-3-98695-059-0 Umschlaggestaltung: Maren Habla Umschlagfoto: Getty Images, George Dunlop Leslie Satz: Apel Verlagsservice, Celle Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany www.gerth.de


Für Niklas



1864/1865 • In jeder Nacht, die mich umfängt, darf ich in deine Arme fallen, und du, der nichts als Liebe denkt, wachst über mir, wachst über allen. Du birgst mich in der Finsternis. Dein Wort bleibt noch im Tod gewiss. Jochen Klepper



Prolog Der Sturm rüttelte an den geschlossenen Fensterläden und brachte das Gebälk des Gutshauses zum Knacken, vermochte jedoch nicht das nicht mehr enden wollende Schreien und schmerzvolle Schluchzen zu übertönen. Mehrere Tischlampen rußten unbeachtet vor sich hin, und die Flammen darin warfen ein unruhiges Licht auf die junge Frau in dem großen, von einem hellen Baldachin überspannten Bett. Ihre Haare waren nass geschwitzt und lösten sich allmählich aus dem locker geflochtenen Zopf, um wirr über die hölzerne Bettkante hinunterzuhängen. Wieder stöhnte sie laut auf, und ihre Hände fuhren in hastigen Bewegungen über den gewölbten Bauch, als wolle sie das Ungeborene dazu bringen, endlich seinen Weg in das Leben zu finden. Lukas Biber, der die ganze Zeit am Bett seiner jungen Ehefrau gesessen hatte, sprang auf die Beine und entlockte Klara, der Frau des Gutshofbauern, die sich als Hebamme angeboten hatte, durch seine heftige Bewegung einen Schreckensruf. „Es ist genug! Ich hole jetzt den Arzt!“ „Aber Lukas .  .  .“ Der groß gewachsene Mann winkte mit einer herrisch wirkenden Handbewegung ab und wandte sich an seine Frau, die sich zwischen den zerwühlten Decken hin und her wälzte. „Ich gehe den Arzt holen, Marianne. Halte noch ein wenig durch.“ „Der Sturm, Lukas! Der Sturm!“, brachte sie unter Schmerzen hervor und streckte ihm ihre Hand entgegen. Eilig nahm er diese und ließ sich noch einmal auf der Bettkante nieder, die schweißnasse und erschreckend kalte Hand seiner Frau küssend. „Der Sturm kann mir nichts anhaben, meine Liebste. Aber du brauchst einen Arzt“, flüsterte er ihr zu. 13


„Vielleicht ist es tatsächlich an der Zeit“, raunte Klara. Lukas Biber warf einen letzten Blick auf das Profil des geröteten, glänzenden Gesichts seiner Frau und erhob sich ein weiteres Mal, um eilig das Schlafzimmer zu verlassen. Mit weit ausholenden Schritten stürmte er den Flur entlang. Dann donnerten seine Schritte über die Holzstufen in die Eingangshalle hinunter, wo er schnell in seine Stiefel stieg und bereits im Gehen nach dem warmen, mit Fell gefütterten Mantel griff. Als er die Tür öffnete, wurde sie ihm vom Sturmwind aus der Hand gerissen. Mit einem heftigen Krachen schlug sie gegen die Außenwand. Der junge Mann stemmte sich mit weit nach vorne gebeugtem Körper gegen den Wind, während die Schneegraupeln wie unendlich viele feine Nadeln in sein Gesicht stachen. Schnee wirbelte in die kleine Halle hinein, und nur unter Mühen gelang es dem kräftigen Mann, die Tür gegen den Widerstand der Naturgewalten wieder hinter sich zu schließen. Geduckt und ganz dicht an der Hauswand des u-förmig gebauten Gutshauses entlang arbeitete er sich, durch den hohen Schnee stapfend, in Richtung Stallungen vor. Dort angekommen, ließ er sich keuchend vor Anstrengung gegen das derb gezimmerte Holz des Pferdestalles fallen. Heftig atmete er ein und aus. Mit dem Ärmel seines Mantels wischte er sich den Schnee aus dem Gesicht und spürte, wie die Nässe von seinen schwarzen Haaren an seinem Nacken entlang unter den Kragen des Mantels lief. Der Wind pfiff zwischen den Fugen des Nebengebäudes hindurch, und das Holz knackte bedenklich unter der Last, die es in dieser Nacht auszuhalten hatte. Trotz des heulenden Sturmes und des lauten, wilden Rauschens der hinter dem Gutshaus stehenden großen, dunklen Fichten konnte er die Pferde im Inneren des Stalles unruhig rumoren hören. Er entschied, dass es sicherer war, den Weg hinunter in die kleine Stadt ohne ein vom Wetter verängstigtes Pferd zu bewältigen, und setzte sich ein weiteres Mal dem Tosen und Wüten des Schneesturmes aus. Mühsam kämpfte er sich Schritt für Schritt den Hügel hinunter. 14


Unbarmherzig dem Schneegestöber ausgeliefert, versuchte er nicht einmal, den ausgetretenen Pfad zu finden, der an der Kirche vorbei in die Stadt führte. Die Schneedecke war zu dick und das Schneetreiben zu gewaltig, als dass er etwas sehen konnte. Da er bis weit über die Knie im Schnee einsank, kam er nur mühsam voran, doch als er plötzlich den Halt unter den Füßen verlor und eine kleine Böschung hinabrutschte, wusste er zumindest, dass er bereits an der kleinen Kirche vorbeigekommen sein musste, denn der Fluss, in dessen Bett er gerutscht war, führte unterhalb des Gotteshauses vorbei. Die Eisschicht auf dem Wasser brach unter seinem Gewicht ein und sofort sogen sich seine Hose und die Stiefel mit eiskaltem Wasser voll. Angetrieben von der Angst um seine Frau und das ungeborene Kind, stapfte er weiter, arbeitete sich auf allen vieren die Böschung am gegenüberliegenden Ufer wieder hoch und versuchte sich zu orientieren, doch außer den umherwirbelnden Schneeflocken konnte er in der Dunkelheit nichts erkennen. Mit zusammengepressten Lippen, den Kopf wieder gesenkt, wandte er sich ein wenig nach links. Weiter stapfte er in die Nacht hinein und eine innere Stimme trieb ihn immerfort zur Eile an.

• Völlig entkräftet stolperte Lukas die Treppe hinauf. Eilig rappelte er sich wieder auf und taumelte gegen die schwere hölzerne Eingangstür des Arzthauses. Mit beiden Fäusten hämmerte er schließlich gegen das Holz. Als ihm endlich geöffnet wurde, fiel er mitsamt einer Unmenge Schnee und einer wild aufheulenden Windbö in den Flur des Hauses. Erschrocken sprang der Arzt zurück, bemühte sich jedoch sofort darum, die Tür hinter dem Mann zu schließen. Er nahm eine 15


Petroleumlampe von einem Tisch neben der Tür und hielt sie in die Höhe, um das Gesicht des Besuchers erkennen zu können. „Lukas Biber? Bist du das? Meine Güte, was treibt dich bei diesem Schneesturm hierher? Ist etwas mit Marianne?“ Lukas rollte sich auf die Seite und schob sich mühsam auf die Beine. Er zitterte. Erst jetzt spürte er die eisige Kälte, die tief in seine Glieder gekrochen war. „Sie hat Wehen, Dr. Städler. Schon seit über sechzehn Stunden und das Kind kommt einfach nicht.“ „Sie bekommt ihr erstes Kind, Lukas. So schnell geht das nicht.“ „Irgendetwas stimmt nicht.“ Lukas blickte in das runde, von Bartstoppeln überzogene Gesicht des Arztes. „Bei Frauen geht das nicht so reibungslos wie bei deinem Vieh, Lukas. Du bist Veterinär. Überlass die Menschen lieber mir.“ „Deshalb bin ich ja hier“, stöhnte der werdende Vater. Wenig zusammenhängend, vor Kälte zitternd und noch immer vollkommen außer Atem berichtete er vom Zustand seiner Frau. Der Arzt runzelte erst die Stirn und schüttelte dann langsam den Kopf. „Ich ziehe mich rasch an, und dann versuchen wir, den Weg zurück auf euren Hügel zu finden“, murmelte er schließlich und stapfte in seinen karierten Hausschuhen davon. Erleichtert schloss Lukas die Augen. Er spürte tiefe Müdigkeit in sich aufziehen. Endlos lange Minuten verharrte der junge Mann in dem nur spärlich beleuchteten Flur, und obwohl die Kälte und die Schmerzen immer mehr Besitz von ihm ergriffen, flogen seine Gedanken zu Marianne zurück. Er presste die geballten Hände gegen seine eiskalte Stirn und flehte Gott um Hilfe an.

• Über eine Stunde hatten die beiden Männer benötigt, bis sie endlich das Gutshaus erreicht hatten. Nun saß Lukas in zwei Decken gewickelt und mit einem leeren Schnapsglas in den Händen in der Wohnstube. Den Kopf gegen die Lehne des Sofas gelegt, 16


­ estürmte er Gott erneut, seine Frau und das ungeborene Kind b zu retten. Nach geraumer Zeit stand Lukas schließlich auf, stellte das Glas beiseite, hielt mit beiden Händen die Decken um seinen Leib und begann auf und ab zu gehen. Abgesehen von den heftigen Geräuschen des Sturmes war es im Südflügel des Hauses beängstigend ruhig. Klara war inzwischen zu ihrer Familie nach Hause gegangen und den Arzt hatte er nicht mehr zu Gesicht bekommen. Unwillkürlich zog es ihn zum Kamin hinüber, in dem ein langsam niederbrennendes Feuer vor sich hinknackte. Auf dem Sims des aus rotem Stein erbauten Kamins stand ihr Hochzeitsfoto. Mit einem stechenden Schmerz in seinem Inneren betrachtete er die beiden fröhlich lachenden Menschen, die ihm auf dem leicht verschwommenen Schwarz-Weiß-Foto entgegenstrahlten. Ein eiskalter Schauer durchfuhr ihn. Würde er Marianne am Ende verlieren? Mit einer heftigen Bewegung wandte er sich um und nahm seinen unruhigen Gang wieder auf. „Lukas?“ Er fuhr herum. Im Türrahmen stand Dr. Städler mit einem in ein weißes Tuch gewickelten Bündel. Unfähig, sich zu rühren, blieb Lukas stehen und beobachtete mit geballten Fäusten, wie der Arzt mit sorgenvollem Blick auf ihn zukam. War das Kind etwa tot? Marianne hatte sich doch so sehr auf ihr Kleines gefreut. Schweigend hob er seine Hände, als Dr. Städler ihm das Bündel entgegenstreckte. Das Neugeborene war federleicht und seine Haare standen wild von dem winzigen Kopf ab. Einzelne Strähnen waren blutverkrustet, während das rundliche, bleiche Gesichtchen bereits gewaschen worden war. Es lebte! Ein Lächeln legte sich auf Lukas’ Gesicht. Mit einem überschwänglichen Glücksgefühl betrachtete er das Kind in seinen Händen, das Gott nicht vollendeter hätte schaffen können und das ein Beweis der tiefen Liebe zwischen ihm und Marianne war. 17


Der Arzt räusperte sich. „Marianne .  .  . sie hat es nicht geschafft, Lukas“, sagte er. „Es tut mir sehr leid.“ Lukas’ Kopf fuhr ruckartig in die Höhe. Sein Lächeln verschwand, als er den ruhig vor ihm stehenden, erschöpften Arzt musterte. Er drückte ihm das Kind in den Arm, lief aus der Wohnstube in die Halle und donnerte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe in den ersten Stock hinauf. Wenige Momente später hallte ein lauter, schmerzgepeinigter Schrei durch den Südflügel des Gutshauses, der jedes noch so laute Heulen des Sturmes, welcher den Schwarzwald in eine dicke Schneedecke hüllte, übertönte.

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1866 • Und ich will ihnen ein anderes Herz geben und einen neuen Geist in sie geben und will das steinerne Herz wegnehmen aus ihrem Leibe und ihnen ein fleischernes Herz geben. Hesekiel 11,19



Kapitel 1 Thomas Wieland drückte sich gegen die Wand des alten Gemäuers und schob sich ein wenig weiter auf die Tür zu. Die Stimmen im Inneren des Gebäudes wurden lauter, und doch konnte er noch immer nicht verstehen, worüber die beiden Männer sich so sehr erregten. Der junge Mann atmete tief ein und aus und beobachtete, wie die Atemwolke in der Dunkelheit verschwand. Er zitterte leicht. Dieser Auftrag war weitaus brisanter als alle, die er bisher bekommen hatte. Es galt, das Gespräch zwischen einem preußischen Spion und einem österreichischen Offizier zu belauschen und die erhaltenen Informationen an das Außenministerium weiterzugeben. Schritt für Schritt tastete er sich weiter an die einen Spaltbreit offen stehende Tür heran, bis er direkt daneben stand. Er presste seinen Rücken gegen das kalte Gemäuer, schloss die Augen und versuchte, den stetig zunehmenden Wind und die Geräusche, die dieser verursachte, zu ignorieren und sich ganz auf die aufgeregten Worte des Preußen und des Mannes mit dem deutlichen Wiener Akzent zu konzentrieren. „Sie kennen das Abkommen von Wien?“ „Was denken Sie denn?“, brummte der Österreicher. Thomas hoffte, dass der Preuße noch mehr zu bieten hatte als die Information über den sogenannten Frieden von Wien, der ohnehin bereits über ein Jahr alt war. „Preußen will mehr als die Annexion Schleswig-Holsteins von den Dänen und die von Preußen und Österreich verwalteten Herzogtümer.“ „Was wissen Sie?“ „Die Gerüchte besagen, dass Graf von Bismarck Gespräche mit 21


Napoleon III. aufgenommen hat, um sich mit diesem zu verbünden oder sich zumindest Frankreichs Neutralität versichern zu lassen.“ „Weshalb?“ „Können Sie sich das nicht denken? Erklärt Frankreich seine Neutralität gegenüber Preußen, kann Österreich bei einem Krieg nicht auf die Hilfe der Franzosen rechnen. Wenn sich auch noch die Russen auf die Seite der Deutschen schlagen, kann Bismarck Schleswig-Holstein und weitere Herzogtümer einfordern.“ „Wie sicher sind diese Gerüchte?“ „Gerüchte – wie sicher sind die schon?“, lachte der Preuße. „Was soll ich also tun?“, fragte der Österreicher in seinem weichen Akzent. „Halten Sie die Ohren offen. Sobald Bismarck und Napoleon zu einem einvernehmlichen Ergebnis kommen, werde ich Sie informieren. Und dann möchte ich von Ihnen wissen, ob irgendwelche beunruhigenden oder warnenden Gerüchte oder Gespräche bis nach Wien vordringen. Graf von Bismarck und König Wilhelm würden es nicht gerne sehen, wenn ihre Pläne aufgrund einer Intervention Österreichs vereitelt werden.“ Thomas entschied, dass er genug gehört hatte, und trat den langsamen, leisen Rückweg an. Erst als er sich mehrere Meter von dem Gebäude entfernt hatte, wandte er sich um und begann zu laufen, um innerhalb von Sekunden zwischen den dicht stehenden Bäumen des Waldes zu verschwinden.

• Thomas verließ das Außenministerium und begab sich auf den Heimweg. Er war missmutig gestimmt, da sein direkter Vorgesetzter ihn nur kurz angehört hatte und die Informationen, die Thomas erlangt hatte, längst nicht so beunruhigend fand wie er selbst. Doch jetzt freute er sich erst einmal auf ein Frühstück, und so nahm er eine Droschke und ließ sich bis vor das große Anwesen nahe des 22


Wienerwalds fahren, auf dem er mit seinen Eltern und seinen beiden jüngeren Schwestern lebte. Nachdem er sich gewaschen und umgezogen hatte, sprang er die breite, leicht geschwungene Treppe, die in die weitläufige Eingangshalle führte, hinunter und betrat das Esszimmer. Seine Schwester Marika stand am Fenster, eine Tasse Tee in den Händen, und blickte tief in Gedanken versunken in den Garten. Thomas lächelte und näherte sich ihr leise von hinten. Die Wintersonne war inzwischen so hoch gestiegen, dass sie ihre freundlichen Strahlen zu den hohen Fenstern des Esszimmers hereinschickte und die kunstvoll am Hinterkopf aufgesteckte rotbraune Lockenpracht der jungen Frau in ein Flammenmeer zu verwandeln schien. „Hallo, Feuerkopf “, brummte Thomas der Frau in den Nacken. Diese fuhr erschrocken zusammen und drehte sich so hastig um, dass der cremefarbene Rock heftig um ihre Beine tanzte. „Tommy, wie kannst du mich so erschrecken?“ „Ich kann, wie du bemerkt haben dürftest, sehr gut“, lachte der junge Mann und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. Die junge Frau quittierte seine Frechheit mit einem leichten Klaps gegen seine Brust. Dann ging sie zum Tisch hinüber und setzte sich. „Wieder zurück von deinen heimlichen Spionageausflügen?“, fragte sie und betrachtete mit leicht zur Seite geneigtem Kopf prüfend sein Gesicht. Erschrocken blickte der junge Mann zu den beiden offen stehenden Türflügeln hinüber. „Nicht so laut, Marika, bitte. Du weißt, dass ich außer dir niemanden eingeweiht haben möchte.“ „Das verstehe ich nur zu gut. Du könntest dir bei Vater gewaltigen Ärger einhandeln und Mutter würdest du unsäglich ängstigen.“ „Dann sei doch bitte etwas leiser, ja?“ „Alle anderen schlafen doch noch, Tommy. Erzählst du mir ein wenig von deiner Nacht?“ Thomas ging zu den beiden Türen und schloss sie sorgfältig, ehe 23


er sich einen Kaffee und eine Scheibe Brot mit Käse vom Büfett holte und sich neben Marika an den Tisch setzte. Er berichtete kurz von dem Gespräch, das er mit angehört hatte, nachdem er zuvor die halbe Nacht dem Preußen gefolgt war. Marika kniff die Augen zusammen und schüttelte leicht den Kopf. „Und dein Vorgesetzter hat deinem Bericht keine Bedeutung beigemessen?“ „Nein, offenbar hielt er die Informationen für zu vage.“ „Mir macht es Angst“, entgegnete die junge Frau. „Was macht dir Angst?“ „Das weißt du genau.“ „Sag es mir.“ „Wenn sich die Preußen bei den Franzosen und Russen um Neutralität bemühen mit dem Ziel, sich Schleswig-Holstein und andere vom Deutschen Bund und Österreich verwaltete Gebiete einzuverleiben, könnte das Krieg bedeuten. So einfach werden sich die Österreicher nicht dieser Gebiete berauben lassen. Und wenn ich dich richtig verstanden habe, gibt es einige Fürstentümer und Königreiche innerhalb des Deutschen Bundes, die sich mit Österreich gegen den immer größer werdenden Einfluss Preußens stellen würden. Sollte es so weit kommen, würde der Deutsche Bund auseinanderfallen, die preußischen Korps der Bundesarmee würden gemeinsam mit ihren nördlichen Verbündeten gegen Österreich und deren Verbündeten kämpfen, und somit hätten wir einen Bürgerkrieg ähnlich dem, wie er in den Vereinigten Staaten von Amerika getobt hat.“ Thomas schwieg. „Und weshalb ist dein Vorgesetzter im Außenministerium nicht daran interessiert?“ Wieder blickte sich Thomas unbehaglich um. „Das weiß ich nicht“, flüsterte er und stand auf, um sich ein weiteres Brot an den Tisch zu holen. Als er zurückkam, sah er seine Schwester eindringlich an. „Kann ich mich denn darauf verlassen, dass du unseren Eltern nichts erzählst?“ 24


„Ich habe es dir doch versprochen, Tommy. Denkst du, ich will miterleben, wie Vater dir den Hosenboden versohlt? Und Mutter würde weinen, weil du dich mit deiner Tätigkeit den Österreichern zur Verfügung stellst, während dein Herz doch für ihre Heimat Ungarn schlagen sollte.“ „Ungarn ist im Moment nicht das Problem.“ „Ungarn könnte sehr schnell ein Problem für dich werden. Es ist ebenso unsere Heimat. Wie wirst du dich entscheiden, wenn du vor die Wahl gestellt wirst? Ungarn oder Österreich?“ „Ich lebe seit vielen Jahren in Österreich“, murmelte Thomas, fühlte aber eine tiefe Unruhe in sich aufsteigen. Marika hatte recht. Sie waren ebenso Ungarn wie Österreicher, und ihr Vater bemühte sich in seiner Funktion als österreichischer Botschafter seit Jahren um eine friedliche politische Beziehung zwischen den beiden Ländern, doch das war nicht immer einfach. Während Thomas noch seinen Gedanken nachhing, stand Marika auf. „Ich muss los, damit ich meine Schützlinge für den Unterricht fertig machen kann. Am Freitagabend bin ich wieder hier.“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. Thomas blickte ihr lächelnd nach, wie sie mit fliegendem Rock aus dem Zimmer stürmte, um die Kinder einer am österreichischen Hofe lebenden Herzogsfamilie zu betreuen. Nachdenklich und übermüdet ließ er sich auf seinen Stuhl zurückfallen und rieb sich mit den Handflächen über das Gesicht. Einer der Hausbediensteten erschien im Esszimmer und reichte ihm eine schriftliche Nachricht. „Von einem Ihrer Studienkollegen, Herr Wieland“, erklärte der livrierte Diener ihm. „Er wartet draußen in einem Landauer auf Sie.“ „Danke“, erwiderte Thomas und öffnete das gefaltete Papier. Wie er vermutet hatte, war der Mann, der draußen auf ihn wartete, keiner seiner Studienkollegen, sondern ein Mitarbeiter des Außenministeriums. In der schriftlichen Nachricht bat er ihn mitzukommen, um an einer dringenden Besprechung teilzunehmen. 25


Thomas zerknüllte das Papier und warf es in die Flammen des offenen Kamins, von denen es sofort restlos aufgefressen wurde.

Kapitel 2 Obwohl es bereits Ende März war, wehte ein eiskalter Wind durch die Straßen Wiens. Marika Wieland hielt mit einer Hand ihren Hut fest, während sie mit der anderen den sechsjährigen Konrad förmlich hinter sich herzog. Sie ließen die neue Staatsoper hinter sich und bogen in das Wohnviertel ein. „Mir ist so kalt, Marika!“, rief der kleine Junge an ihrer Seite und zog sich sein vornehmes rotes Jackett ein wenig fester um seine magere Brust. „Ich weiß, Konrad. Mir auch. Aber wir sind gleich zu Hause. Dann kannst du dich aufwärmen.“ „Aber es hat Spaß gemacht“, lachte der Junge auf und drückte die Hand seiner Erzieherin ein wenig fester. Munter begann er, von den Instrumenten zu plaudern, die er hatte ausprobieren dürfen. „Dein Bruder hat genauso rote Haare wie du, Marika“, lachte er und begann übermütig zu rennen. Die junge Frau zog eine Grimasse. Die Reaktion ihres Schützlings zeigte deutlich, dass er wusste, wie ungern sie ihre Haare als rot betitelt haben mochte. „Und er nannte dich Feuerkopf “, rief Konrad über seine Schulter zurück. „Ich habe es genau gehört.“ „Du hörst immer all die Worte, die nicht für deine Ohren bestimmt sind!“, lachte Marika. Auch sie ging ein wenig schneller, um mit dem Jungen mithalten zu können. Ihr Kleid wogte dabei um ihre Beine und behinderte sie ein wenig beim Gehen, doch da sie erbärmlich fror, war sie erleichtert, dass der Junge zu laufen begonnen hatte. Seine älteren Schwestern hatten an diesem Vormittag Schulprü26


fungen zu schreiben, und so hatte sie sich entschlossen, den Jungen auf einen kleinen Ausflug mitzunehmen, sodass die Mädchen die nötige Ruhe hatten. Sie waren bei der noch im Bau befindlichen neuen Universität und in der Staatsoper gewesen, um dort einer Probe beizuwohnen. Ihr Bruder, der zu einem Ensemble gehörte, das dort spielte, hatte ihnen diesen Besuch ermöglicht. Endlich erreichten sie das herrschaftliche Haus und wurden von der Wache mit einem freundlichen Nicken durch das hohe schmiedeeiserne Tor in den wunderbaren parkähnlichen Garten eingelassen. Marika führte ihren Schützling um das Haupthaus herum, um durch einen der Seiteneingänge den Wohntrakt zu betreten. Das Kindermädchen blieb im Flur an einen der großen Fenstersimse gelehnt stehen, als Konrad wie auch seine vier älteren Schwestern in ihren Zimmern verschwanden, um sich für die anstehende Mittagsmahlzeit angemessen zu kleiden. Sie selbst würde später im Bedienstetentrakt ihr Essen bekommen. Sie hatte kurz nach ihrer Einstellung vor mehr als fünf Jahren darauf bestanden, ihre Mahlzeiten nicht gemeinsam mit der Familie einnehmen zu müssen. Die strenge, fast kalte Atmosphäre während des Essens hatte ihr zu Beginn ihrer Tätigkeit beinahe Angst gemacht. Ihre Mutter hatte sie damals davor gewarnt, sich in dieser Weise gegen die Wünsche ihrer Arbeitgeber zu stellen, doch sie setzte meist ihren Kopf durch – mal auf höflichem, diskretem Weg, nicht selten jedoch auch mit ausgesprochen großer Energie und viel Temperament und Konfrontationsbereitschaft. Das war neben den roten Haaren ein weiterer Grund, weshalb ihr Bruder sie gerne Feuerkopf nannte. Minuten später ging sie mit den fünf Kindern den langen, von vielen Ahnenbildern geschmückten Flur entlang und die breite geschwungene Treppe hinunter in die riesige Eingangshalle. Von dort aus betraten sie den festlich geschmückten Speiseraum, in welchem trotz des hellen Tageslichts unzählige Kerzen entzündet worden waren. 27


„Herzlichen Dank, Fräulein Wieland“, wurde Marika von der Frau des Hauses empfangen. Die Mädchen gingen zu ihr hinüber, um ihre Mutter zu begrüßen. Marika hielt den Jungen mit einer Hand an der Schulter zurück und flüsterte: „Vergiss nicht: Unser kleiner Ausflug bleibt unser beider Geheimnis.“ „Ich vergesse es schon nicht, Feuerkopf “, erwiderte er frech, wo­ raufhin Marika ihm einen leichten Klaps auf den Rücken gab. Konrad warf ihr ein breites, fröhliches Lächeln zu, ehe auch er langsam und gesittet zum Tisch ging, um seine Eltern zu begrüßen. Das Kindermädchen wandte sich um, verließ leise den Raum und zog die große Tür ein wenig mühsam hinter sich zu. „Na warte, Bursche“, murmelte sie vor sich hin. „Meinten Sie mich, Fräulein Wieland?“ Marika schrak zusammen. Sie hatte den jungen Mann in Uniform nicht gesehen, der nun vor ihr stand und sie mit einem amüsierten Lächeln bedachte. Sie kannte ihn, wusste, dass er der Sohn eines militärischen Beraters am österreichischen Hof war und offenbar in dessen Fußstapfen treten wollte. „Keineswegs“, erwiderte sie und blickte neugierig zu dem Mann hinauf, der sich leicht verbeugte.

• Thomas ballte seine Hände zu Fäusten, als er die beiden aus dem Haus in den Garten treten sah. Die junge Frau war unverkennbar seine Schwester und der Mann neben ihr zweifellos der Wiener, den er in regelmäßigen Abständen zu überwachen hatte. Misstrauisch beobachtete er, wie der Wiener sich zu seiner zierlichen Schwester hinunterbeugte und auf sie einsprach, während sie ihm ein fröhliches Lächeln schenkte. Thomas runzelte die Stirn. Selbstverständlich hatte Marika in diesem Haus hin und wieder Kontakt zu mehr oder weniger wichtigen Militärs und Politikern, 28


und doch war es ungewöhnlich, dass einer von ihnen sie auf ihrem Weg vom Haupthaus zum Bedienstetentrakt begleitete. Thomas betrachtete seine Schwester mit ihrem kindlich wirkenden, hübschen Gesicht und den rotbraunen Haaren, die sich nur widerspenstig in ihre hochgebundene Frisur einfügten. Es war keinesfalls verwunderlich, dass sich die Männer für Marika interessierten, der es jedoch mit ihrem temperamentvollen Wesen bislang immer gelungen war, alle Bewerber in die Flucht zu schlagen. Thomas zog die Augenbrauen in die Höhe, als die beiden, nachdem sie gemächlich über die Parkwiese geschlendert waren, vor dem Nebeneingang ankamen. Sie unterhielten sich offenbar angeregt, und wieder konnte er sehen, wie seine Schwester fröhlich auflachte, woraufhin der Uniformierte ihre rechte Hand in seine nahm und an seine Lippen führte. Der heimliche Beobachter brummte ungehalten vor sich hin. Endlich betrat die junge Frau das Haus und ihr Begleiter wandte sich mit einem eigentümlichen Lächeln auf den Lippen zackig um. Eigentlich hätte Thomas dem Mann augenblicklich folgen müssen, doch da er wusste, wo der Österreicher für gewöhnlich seine Mittagsmahlzeiten einnahm, wagte er es, ihn erst einmal ziehen zu lassen. Ungesehen huschte er zum Bedienstetentrakt und verschaffte sich unerlaubt Eintritt. Er ging über den breiten Flur zu der ausgetretenen Holztreppe hinüber, sprang diese hinauf und lief den oberen Flur entlang, bis er vor der Tür zu Marikas Zimmer stand. Da er nicht gesehen werden wollte, huschte er ohne anzuklopfen hinein und entlockte Marika damit einen erschrockenen Ausruf. „Ich bin es nur“, zischte Thomas und schloss eilig die Tür hinter sich. „Das sehe ich. Aber erschreckt hast du mich trotzdem. Was machst du hier? Wenn dich hier jemand sieht, werde ich entlassen!“, schimpfte sie und zog vorsichtshalber die beiseitegeschobenen Gardinen zu. „Was hast du mit diesem Mann zu schaffen?“, zischte Thomas. 29


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