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Und die Frau schweige (nicht) – 9783986950491

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((Seite 3 von Cover übernehmen)) Sarah Bessey

UND DIE FRAU SCHWEIGE NICHT

Und die Frau schweige (nicht)

Was uns entgeht, wenn wir die Gaben und Erfahrungen von Frauen beim Bau von Gottes Reich ignorieren Aus dem Englischen von Karoline Kuhn

((Gerth-Logo))

Was uns entgeht, wenn wir die Gaben und Erfahrungen von Frauen beim Bau von Gottes Reich übergehen Aus dem Englischen von Karoline Kuhn



Für Brian Wir sind einfach füreinander bestimmt.


Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lasst uns Frauen sein, die lieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung: Ein Lagerfeuer am Ufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 1: Jesus hat eine Feministin aus mir gemacht . . . . . . . .

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Kapitel 2: Wege in die Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 3: Verschlungene Wurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

Kapitel 4: Die schweigenden (?) Schwestern von Paulus . . . .

67

Kapitel 5: Tanzende Kriegerinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 6: S chutzheilige, geistliche Hebammen und „biblisches“ Frausein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Kapitel 7: Der Neubeginn einer Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Kapitel 8: Die Gemeindefrauen zurückerobern . . . . . . . . . . . . . . . 138


Kapitel 9: Berge versetzen – einen Stein nach dem anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Kapitel 10: Sein Reich komme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Kapitel 11: Vertrauter Aufruhr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Kapitel 12: Die Aussendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Ein paar Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Dankeschön . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Zum Nachdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Quellenangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229


Vorwort

Die Dichterin Maya Angelou sagte einmal: „Es gibt keine grö­ ßere Qual, als eine unerzählte Geschichte in dir zu tragen.“ Für Frauen, die die Geschichten des Patriarchats in sich tragen, be­ ginnt die Freiheit mit dem Erzählen; sie beginnt mit den ersten Worten, die liebevollen laut ausgesprochen oder zu Papier ge­ bracht werden: „Als ich ein kleines Mädchen war …“, „Ich erin­ nere mich, wie …“, „Damals …“ Ich lausche, als an vielen Tischgruppen solche Geschichten miteinander geteilt werden. Brot und Wein stehen zwischen uns, die Butter wird weich, und die Kerzen brennen herunter, wäh­ rend wir bis in die Nacht hinein reden. Eine junge Seminaristin erzählt von der Enttäuschung, vor einem leeren Saal zu sprechen, als sie ihre erste Predigt hielt und keiner ihrer männlichen Kom­ militonen erschien. Eine Pastorin berichtet, dass ein Mann in der zweiten Reihe seinen Stuhl umdrehte, als sie sich auf einer Kon­ ferenz dem Rednerpult näherte – damit er sie nicht anschauen musste. Eine lebhafte junge Frau beschreibt die Erleichterung, die sie empfand, als sie und ihr Mann, mit dem sie seit zehn Jahren verheiratet war, erkannten, dass sie als gleichberechtigtes Team zusammenarbeiten können und ihrer Beziehung nicht irgend­ welche hierarchischen Geschlechterrollen auferlegen müssen. Eine junge Mutter berichtet leise von dem sexuellen Missbrauch, den sie im Namen der „Unterordnung der Frau“ erlitten hat. 8


Ich erzähle, wie ich vor der Jugendgruppe meiner High­ school stand, um mein erstes öffentliches Zeugnis abzulegen. Ich war damals gerade sechzehn Jahre alt und gab aufgeregt die altbekannte Geschichte von mir – verloren und dann gefunden, blind und dann sehend, elend und dann wiedergeboren. Als ich fertig war, setzte ich mich neben einen Klassenkameraden, der sich daraufhin zu mir umdrehte und sagte: „Du bist wirklich eine gute Rednerin, Rachel. Schade, dass du ein Mädchen bist.“ Auf all diese Geschichten folgen Stöhnen, Lachen, T ­ ränen, Mitgefühl und oft auch heiliges Schweigen. Sie werden in Wohnzimmern, Kirchen, Kleingruppen, Cafés, auf Camping­ plätzen, in Dörfern, auf den Straßen der Städte und in Chat­ rooms auf der ganzen Welt miteinander getauscht. Gemeinsam finden Frauen ihre Stimmen, teilen unsagbare Erlebnisse mit­ einander und singen das Lied der Freiheit. Eine Bewegung ist im Gange, eine heilige Unruhe erwächst. Und die Dinge werden nie wieder so sein wie zuvor. In dieser Bewegung aus Familienmamas und Bibelwissen­ schaftlerinnen, Geschäftsführerinnen und Geflüchteten, Künst­ lerinnen und Aktivistinnen ist Sarah Bessey schnell zu einer mei­ ner Lieblingsstimmen geworden. Ich verfolge sie nun schon seit einigen Jahren, und was ich an ihrer Arbeit am meisten liebe, ist die ruhige Stärke, mit der sie an die Sache herangeht, die Art und Weise, wie sie zeigt, dass man nicht wütend und hart sein muss, um unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Ich be­ trachte Sarah als eine große Schwester im Glauben, eine Frau, deren Weisheit und Reife mich herausfordern und deren Ehr­ lichkeit und Verletzlichkeit mich daran erinnern, dass sie auf diesem Weg an meiner Seite ist, einen Arm um meine Schulter gelegt. 9


In ihrem Blog und in diesem wunderbaren Buch tut Sarah das, was alle guten Geschichtenerzähler tun: Sie gibt uns die ­Erlaubnis zu lachen, die Erlaubnis, Dinge zu hinterfragen, die Erlaubnis, etwas langsamer zu machen, die Erlaubnis zuzuhö­ ren, die Erlaubnis, uns unseren Ängsten zu stellen, die Erlaub­ nis, unsere eigenen Geschichten mit mehr Mut und Liebe zu teilen. Oder um es mit ihren Worten zu sagen: „Da ist mehr Platz! Es gibt mehr Platz! Es gibt Platz genug für uns alle!“ Mit jedem Wort befreit Sarah uns von der Mühsal, unsere Geschich­ ten allein zu tragen, damit wir Jesus (meinem Lieblingsfeminis­ ten) mit mehr Freiheit und Freude folgen können. Ich bin so dankbar. Rachel Held Evans, Autorin (1981–2019)

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Lasst uns Frauen sein, die lieben Von Idelette McVicker1

Lasst uns Frauen sein, die lieben. Lasst uns Frauen sein, die ihre schneidenden Worte, die strengen Blicke, das ignorante Schweigen und die hochmütige Haltung ablegen und die Erde mit verschwenderischer Liebe füllen. Lasst uns Frauen sein, die lieben. Lasst uns Frauen sein, die Platz schaffen. Lasst uns Frauen sein, die ihre Arme öffnen und andere in eine ehrlich gemeinte, großzügige und herrliche Umarmung ziehen.

Lasst uns Frauen sein, die einander tragen. Lasst uns Frauen sein, die von dem abgeben, was sie haben. Lasst uns Frauen sein, die sich trauen, die herausfordernden Dinge zu tun, die unerwarteten Dinge und die notwendigen Dinge. Lasst uns Frauen sein, die für den Frieden leben. Lasst uns Frauen sein, die Hoffnung verströmen. Lasst uns Frauen sein, die Schönes hervorbringen. Lasst uns Frauen sein, die lieben.

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Lasst uns ein Heiligtum sein, in dem Gott wohnen kann. Lasst uns ein Garten sein für empfindsame Seelen. Lasst uns ein Tisch sein, an dem sich andere an der Güte Gottes laben können. Lasst uns ein Schoß sein, in dem Leben wachsen kann. Lasst uns Frauen sein, die lieben.

Lasst uns die großen Fragen unserer Zeit stellen. Lasst uns die Ungerechtigkeiten dieser Welt ansprechen. Lasst uns die Berge der Angst und Einschüchterung versetzen. Lasst uns die Mauern niederreißen, die trennen und entzweien. Lasst uns die Erde mit dem Wohlgeruch der Liebe erfüllen. Lasst uns Frauen sein, die lieben.

Lasst uns auf die hören, die zum Schweigen gebracht wurden. Lasst uns diejenigen ehren, die entehrt wurden. Lasst uns „Es reicht!“ sagen zu Missbrauch, Verlassenwerden, Herabsetzung und Heimlichtuerei. Lasst uns nicht ruhen, bis alle Menschen frei und gleich sind. Lasst uns Frauen sein, die lieben.

Lasst uns Frauen sein, die klug, intelligent und weise sind. Lasst uns Frauen sein, aus denen das Licht Gottes strahlt. Lasst uns Frauen sein, die Mut fassen und das Lied in ihren Herzen singen. 12


Lasst uns Frauen sein, die Ja sagen zu der wunderschönen, einzigartigen Bestimmung, die in ihrer Seele schlummert. Lasst uns Frauen sein, die das Lied im Herzen eines anderen Menschen hervorlocken. Lasst uns Frauen sein, die ihren Kindern beibringen, das Gleiche zu tun. Lasst uns Frauen sein, die lieben.

Lasst uns Frauen sein, die lieben trotz der Angst. Lasst uns Frauen sein, die lieben trotz ihrer Geschichte. Lasst uns Frauen sein, die laut, schön und heilig lieben. Lasst uns Frauen sein, die lieben.

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Kapitel 1

Jesus hat eine Feministin aus mir gemacht Jesus hat eine Feministin aus mir gemacht. Das stimmt. Ich kann mich nicht da rausreden, auch wenn ich weiß, dass „Jesus“ und „Feministin“ zwei Etiketten sind, die fast jeden irgendwie befremden. Ich verstehe das – wirklich. Ich weiß, dass der Feminismus vor allem in der evangeli­ kalen Szene ein großes Problem darstellt. In den Köpfen vie­ ler gibt es die üblichen Stereotypen: Feministinnen – das sind diese schrillen Spaßverderberinnen, Männerhasserinnen, gei­ fernde Abtreibungsbefürworterinnen, Hardcore-Lesben, von denen wir überall lesen und hören müssen und die sich über Mutterschaft und Hausfrauendasein lustig machen. Der Fe­ minismus wurde schon für den Zusammenbruch der Kernfa­ milie, Probleme mit der Kinderbetreuung, körperlichen und sexuellen Missbrauch, Wirbelstürme, das Ende der „richtigen Männer“, den Niedergang der christlichen Kirche in der west­ lichen Welt und spektakulär schlechtes Fernsehen verantwort­ lich gemacht. Allerdings ist das meiste von dem, was uns als Feminismus verkauft wurde, bloß Fehlinformation, die uns Angst machen soll. 24


In manchen Kreisen ist die Verwendung des Wortes „femi­ nistisch“ das Äquivalent zu einer Stinkbombe, die in die Kir­ che geworfen wird – eine Beleidigung, etwas, über das man sich empört. Wahrscheinlich sehen einige Leute dieses Buch und denken, sie wüssten genau, welche Art von Autorin hinter den hier geschriebenen Worten steckt: eine verbitterte Män­ nerhasserin, die behauptet, dass es zwischen Männern und Frauen keine erkennbaren Unterschiede gibt, eine grimmige und humor­lose Zeitgenossin vielleicht. Und so ist es kein Wun­ der, dass sie beim Anblick des Namens „Jesus“ im Umfeld von „Femi­nismus“ reagieren, als hätte jemand mit langen Finger­ nägeln über eine Kreidetafel gekratzt. Wer könnte ihnen das auch verübeln, wenn man bedenkt, was man uns über Feminis­ tinnen erzählt? Ich gehe ein Risiko ein, wenn ich das Wort „Feminismus“ hier in diesem Buch verwende – ich weiß. Aber ich möchte, dass du dieses Risiko gemeinsam mit mir eingehst. Was mit mir ist? Ich mag das Wort „Feministin“, auch wenn es die Leute ner­ vös macht oder gar einen kleinen Aufstand verursacht. Der Be­ griff „Feminismus“ macht mir keine Angst und beleidigt mich nicht; ich würde es sogar begrüßen, wenn die Kirche ihn (wie­ der) für sich beanspruchen würde. Manche werfen Christinnen und Christen, die für Feminis­ mus eintreten, vor, auf peinliche und fehlgeleitete Weise vor der säkularen Gesellschaft zu kapitulieren. Es mag Feministinnenund Christenhasser gleichermaßen überraschen zu erfahren, dass die Wurzeln des Feminismus bis zum großen Engagement christlicher Frauen in der Abstinenzbewegung, den Frauen­ rechtsbewegungen und – vor allem in den USA und in Eng­ land – in den Abolitionismus-Bewegungen des 19. Jahrhunderts 25


zurückreichen. Bis heute gibt es einen Pro-Life-Feminismus.1 Der christliche Feminismus ist älter als die Werke der säkula­ ren feministischen Schriftstellerinnen der zweiten und dritten Welle wie Betty Friedan, Simone de Beauvoir, Gloria Steinem, Rebecca Walker und Naomi Wolf. Feminismus ist ein komplexes Gebilde und sieht für jeden Menschen anders aus, und das ist ja auch beim Christentum nicht anders. Man muss nicht alle unter­ schiedlichen – und teils gegensätzlichen – Meinungen innerhalb des Feminismus teilen, um sich als Feministin zu bezeichnen. Der Feminismus hat durch „säkulare“ Werke und Forschung an Popularität gewonnen, aber es sind Menschen, die hier eine Grenze zwischen „heilig“ und „weltlich“ gezogen haben. Da Gott die Quelle aller Wahrheit ist, dür­ Im Kern geht es bei Feminismus einfach fen Christinnen und Christen Gott durchaus für nur um die ­radikale all die guten Errungenschaften danken, die mit Vorstellung, dass dem Feminismus einhergegangen sind, wie zum auch Frauen Beispiel die Tatsache, dass Frauen vor dem Ge­ ­Menschen sind. setz als „Personen“ gelten, sowie das Wahlrecht, das Recht auf Eigentum und die strafrechtliche Verfolgung von häuslicher Gewalt und Vergewaltigung. Der ka­ nadische Theologe Dr. John G. Stackhouse jr. sagt: „Christliche Feministen können jede Art von Feminismus feiern, der der Welt mehr Gerechtigkeit und menschliches Wohlergehen beschert, ganz gleich, wer dies bewirkt, da wir in allem, was gut ist, die Hand Gottes erkennen.“2 Der moderne christliche Feminismus ist quicklebendig – er reicht von Organisationen, die sich für so­ ziale Gerechtigkeit einsetzen, über christliche Hochschulen und Gemeinden bis hinein in die Wohnzimmer dieser Welt. Im Kern geht es bei Feminismus einfach nur um die radikale Vorstellung, dass auch Frauen Menschen sind. Feminismus 26


bedeutet lediglich, dass wir die Würde, die Rechte, die Fähig­ keiten und das Wohlergehen von Frauen für genauso wichtig halten wie die von Männern – nicht wichtiger, aber auch nicht weniger wichtig – und dass wir die Diskriminierung von Frauen ablehnen.3 Als ich vor einigen Jahren anfing, mich als Feministin zu be­ zeichnen, zogen einige Christen die Augenbrauen hoch und fragten: „Was für eine Art von Feministin genau?“ Ich lachte und sagte spontan: „Oh, eine Jesus-Feministin!“ Irgendwie ge­ fiel mir diese kecke Formulierung, und jetzt bezeichne ich mich bewusst als Jesus-Feministin, denn für mich bedeutet der Zu­ satz, dass ich gerade wegen meines lebenslangen Engagements für Jesus und seinen Weg eine Feministin bin. Das Patriarchat ist nicht Gottes Traum für die Menschheit. Ja, ich will es noch einmal sagen, lauter. Oder, nein, ich will mich neben unser kleines Lagerfeuer stellen und es laut heraus­ schreien. Ich werde so laut rufen, dass ich damit die Seesterne am Strand und die Mächtigen gleichermaßen erschrecke: Das Patriarchat ist nicht Gottes Traum für die Menschheit. Das war es nie und wird es nie sein. Stattdessen sind wir, weil wir zu Jesus gehören und wegen dem, was er für uns getan hat, eingeladen, am Reich Gottes teilzuhaben – sowohl Männer als auch Frauen. Wir sind eingeladen, uns Gottes Mission der Wiederherstellung anzuschließen, die zu immer mehr Gleichheit und Freiheit führt. Wir können uns dafür entscheiden, uns gemeinsam mit ihm für Gerechtigkeit und Heilung einzusetzen, oder wir können uns dafür entschei­ den, die kaputten Strukturen dieser Welt zu unterstützen, in­ dem wir Ungerechtigkeit und Machterhalt in fromm klingende 27


Sprache verpacken. Feminismus ist nur eine Möglichkeit, wie wir an dieser Erlösungsbewegung teilnehmen können. Meist werden zwei Adjektive verwendet, um die Rolle und die Stellung der Frauen in der Kirche zu beschreiben, und zwar im Guten wie im Schlechten: egalitär und komplementär. Im Grunde, so die Theologin Carolyn Custis James, „glau­ ben Egalitaristen, dass Leitung nicht durch das Geschlecht be­ stimmt wird, sondern durch die Gaben und die Berufung durch den Heiligen Geist, und dass Gott alle Gläubigen aufruft, sich einander unterzuordnen“. Im Gegensatz dazu „glauben Kom­ plementaristen, dass die Bibel die Autorität des Mannes über die Frau festschreibt und damit die männliche Führung zum bi­ blischen Standard macht“.4 Beide Seiten verstehen sich darauf, die Bibel als Waffe zu gebrauchen. Auf beiden Seiten gibt es Fundamentalisten und Dogmatiker. Man versucht, den anderen mit Belegstellen und Apologetik zu übertrumpfen – und jemand hat mal gesagt, dass es keinen hasserfüllteren Menschen gibt als einen Christen, der glaubt, dass sein Gegenüber theologisch im Irrtum ist. In unserem Begehren, recht zu haben, lernen wir Argumente aus­ wendig und sind bereit, sie jederzeit von uns zu geben. Trau­ rigerweise verdrehen wir die manchmal durchaus schlüssigen Argumente der anderen und werfen ihnen vor, ein „Feind des Evangeliums“ zu sein. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass manche Leute es lie­ ben, die Erklärungen der Gegenseite zu durchlöchern, auf Ungereimtheiten hinzuweisen und mit Bibelversen, wissen­ schaftlichen Zitaten und Religionsgeschichte um sich zu wer­ fen. Einige machen das richtig gut, sind freundlich-geschickt und respektvoll und erinnern dabei an kampflustige Boxer, 28


die umeinander tänzeln. Andere sind eher wie Wrestler, die in Blogs oder Facebook-Kommentaren, an Vorstandstischen oder in Klassenzimmern, in Cafés oder christlichen Buchhandlun­ gen mit viel Empörung gegeneinander antreten – alles in dem Bemühen, herauszuarbeiten, warum der andere unrecht hat; Theologie ist für sie ein Kampf auf Leben und Tod. Und das ganze Volk rief: „Das ist doch anstrengend.“ Könnten wir uns also kurz auf eine Sache einigen, bevor ich fortfahre? Ich bin davon überzeugt, dass Gottes Familie groß und vielfältig, herrlich und weltumspannend ist. Dogmatische Kategorien sind zwar manchmal nützlich, wenn es um Diskus­ sionen in Büchern und im Unterricht geht, aber sie sind nicht unbedingt die richtigen Werkzeuge, wenn wir es mit dem all­ täglichen Leben oder mit Beziehungen zu tun haben. Die meisten von uns bewegen sich irgendwo zwischen diesen beiden Polen. Einigen wir uns, zumindest für den Moment, darauf, dass vermutlich beide Seiten sowohl falsch- als auch richtigliegen. Ich liege wahrscheinlich falsch, du liegst wahrscheinlich falsch, aber auch das Gegenteil ist wahr, denn wir sehen immer noch unvollkommen wie in einem trüben Spiegel.5 Deshalb möchte ich mich Gottes Mysterien und den individuellen Erfahrungen des Menschseins mit Staunen und Demut und einer offenen Haltung nähern. Ich versuche, mich nicht länger um die Streitigkeiten zwi­ schen Komplementären und Egalitaristen zu scheren. Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Aufgabe hier auf Erden nicht darin besteht, Wortgefechte zu gewinnen oder irgendwelche theologischen Verrenkungen zu betreiben, um jemanden zu be­ eindrucken. Ich glaube nicht, dass ausgefeilte Argumente Gott 29


verherrlichen, wenn man damit auf den anderen losgeht, als seien es Waffen. Außerdem bezweifle ich sehr, dass dieses kleine Buch einer fröhlichen, blauäugigen, Jesus liebenden kanadi­ schen Mama diese Debatte beenden wird, wenn Ich lese schon seit so viele gelehrtere und klügere Leute als ich wei­ vielen Jahren die ter debattieren und streiten. Darum geht es mir auch gar nicht. Evangelien und auch den gesamten Ich lese schon seit vielen Jahren die Evange­ Kanon der Bibel und lien und auch den restlichen biblischen Kanon habe dabei eines und habe dabei eines über Jesus und die Frauen über Jesus und die gelernt: Er liebt uns. Zu unseren eigenen Be­ Frauen gelernt: dingungen. Er behandelt uns genauso wie die Männer um ihn herum; er hört zu; er setzt uns Er liebt uns. nicht herab; er ehrt uns; er fordert uns heraus; er lehrt uns; er schließt uns ein – er macht deutlich, dass wir alle geliebt sind. Das widerspricht auf wunderbare Weise den kulturellen Erwartungen seiner Zeit – selbst unserer Zeit. David Joel Hamilton bezeichnet die Aussagen und das Handeln von Jesus gegenüber Frauen als „kontrovers, provokativ, ja, sogar revolutionär“.6 Jesus liebt uns. In einer Zeit, in der Frauen in der Literatur fast gar nicht vorkamen, bejaht und feiert die Bibel sie. Frauen hatten an der Lehre von Jesus teil, waren Teil seines Lebens. Frauen waren bei allem dabei. Maria, seine Mutter, war ein junges Mädchen in einem be­ setzten Land, als sie mit dem Friedensfürsten schwanger wurde. Laut Rachel Held Evans betont die Bibel, dass Maria aufgrund ihres Gehorsams würdig war, aber „nicht des Gehorsams gegen­ über einem Mann, nicht gegenüber einer Kultur, nicht einmal 30


gegenüber einer Sache oder einer Religion, sondern gegenüber dem schöpferischen Wirken eines Gottes, der die Demütigen erhebt und die Hungrigen mit Gutem beschenkt“.7 Selbst Marias „Magnificat“ ist erstaunlich subversiv und kühn, nicht wahr?8 Trotz gegenteiliger Beweise singt sie davon, dass sie gesegnet ist, dass Gott die Niedrigstehenden erhöht, die Hungrigen mit guten Dingen sättigt und die Reichen leer ausgehen lässt. Wenn ich die Evangelien lese, dann kann ich dort sehen, dass Jesus Frauen nicht anders behandelt hat als Männer, und das gefällt mir. Wir sind nicht zu zartfühlend für klare Worte oder empfindlich wie feines Porzellan. Wir bekommen keinen Freifahrtschein und Jesus äußert auch keine leisen Zweifel an unserer Fähigkeit, zu verstehen, etwas beizutragen oder uns zu engagieren. Frauen sind nicht zu weich oder schwach, um den Heiligen Geist zu empfangen, und auch nicht zu eifersüchtig oder zu unsicher, um das Reich der Finsternis zurückzudrän­ gen. Jesus bevormundet sie nicht und behandelt sie auch nicht herablassend. Frauen brauchen genau wie Männer Erlösung. Wir alle brau­ chen das, was Jesus am Kreuz für uns getan hat, und sind einge­ laden, ihm auf dem Weg zu ewigen Leben nachzufolgen. Wenn wir die Botschaft von Jesus lesen und das verfolgen, was er ge­ tan hat und wie es in der Bibel festgehalten ist, dann können wir sehen, wie „nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht Mann noch Frau“ im wahren, realen Leben aussieht.9 Während seiner Zeit auf der Erde unterlief Jesus die ge­ sellschaftlichen Normen, die vorschrieben, wie ein Rabbi mit Frauen zu sprechen hatte, mit den Reichen, den Mächti­ gen, der Hausfrau, der Schwiegermutter, der Verachteten, der 31


Prostituierten, der Ehebrecherin, den Geisteskranken und Dä­ monenbesessenen, den Armen. Er sprach direkt zu den Frauen und nicht über den damals gängigen Umweg ihrer männlichen „Oberhäupter“, was der damaligen Ordnung widersprach (und sogar einigen religiösen Gruppierungen von heute). Nein, hier war nur er, die menschgewordene Dreieinigkeit in einer Person. Frauen waren von der Gemeinschaft mit Gott nicht ausgeschlossen. Die Frauen standen auf ihren eigenen Seelenbeinen vor Gott, und er rief uns, sammelte uns um sich, weil wir zu ihm gehören. Als sie die Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war, zu Jesu Füßen in den Staub schubsten und versuchten, ihn mithilfe ihrer Schande in eine Falle zu locken, ging er erst gar nicht auf ihre Unterscheidung zwischen Sünde allgemein und Ehebruch im Besonderen ein. Wahrscheinlich können die meisten Frauen sich lebhaft vorstellen, wie sie dort stand, entblößt, ausgenutzt, trotzig oder gebrochen – oder auch beides –, gedemütigt. Aber er richtete sie wieder auf, vergab ihr, stellte sich schützend vor sie, zog mit seiner staubigen Fingerspitze einen Schild der Gnade um sie, und ihre Ankläger verschwanden. „Geh“, sagte er, „und sündige nicht mehr.“10 Als die Frau, die seit Jahren unter starken Blutungen litt, die Hand ausstreckte, um den Saum seines Gewandes zu berühren, reagierte Jesus nicht mit Frustration oder gar Ablehnung. Nein, er berührte sie auch, lobte ihren Glauben und heilte sie, ohne von ihrer Krankheit abgestoßen zu sein.11 Als Jesus die verkrümmte Frau heilte, tat er dies in der Syna­ goge, vor aller Augen. Er bezeichnete sie als „Tochter Abra­ hams“, was wahrscheinlich eine Schockwelle durch den Raum sandte; es war das erste Mal, dass diese Bezeichnung jemals 32


ausgesprochen worden war. Die Menschen hatten bisher nur von „Söhnen Abrahams“ gehört – nie von Töchtern. Aber als Jesus die Bezeichnung „Tochter Abrahams“ aussprach, gab er ihr einen Platz neben den Söhnen, vor allem neben jenen, die gerade empört zuschauten, weil sie sich auf ihre vorrangige Stellung etwas einbildeten. Wenn du zu Jesus gehörst, bist du Teil der Familie; du warst immer Teil der Familie.12 Als Maria aus Bethanien zu seinen Füßen saß, war das die Haltung eines Toraschülers. Männer und Frauen saßen selten zusammen, schon gar nicht bei der religiösen Unterweisung. Aber hier war sie, zu seinen Füßen. Sie lernte ganz offiziell von ihm, so wie die Söhne Abrahams es immer getan hatten – die Töchter hatten diesen Platz nie einnehmen können. Selbst als Marta versuchte, sie an ihre Pflichten und Verantwortlichkeiten gegenüber den Gästen zu erinnern, verteidigte Jesus ihr Recht, als seine Jüngerin zu lernen; er erkannte ihre Wahl als die rich­ tige an und sagte: „Ich werde es ihr nicht nehmen.“13 Als Marta, die Schwester von Lazarus, Jesus nach dem Tod ihres Bruders Vorwürfe machte, weinte er. Tatsächlich lehrte er sie unter vier Augen eine der Kernaussagen unseres Glaubens – dasselbe, was er auch Petrus lehrte: „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ –, und Petrus war immerhin der „Fels, auf den er seine Kirche baute“.14 Also war auch Marta eine Empfängerin dieser Lehre; sie glaubte ihm, und wo wären wir heute, wenn sie das, was sie aus dem Mund ihres geliebten Freundes und ­Erlösers gehört hatte, nicht weitergegeben hätte? Als die samaritanische Frau am Brunnen Jesus begegnete, behandelte er sie wie jede andere durstige Seele, die lebendiges Wasser braucht.15 Sie führte ein Leben, das ihr wahrscheinlich Ablehnung, Schande und böse Blicke einbrachte. Sie gehörte zu 33


den am wenigsten geschätzten und am meisten entehrten Men­ schen ihrer Zeit. Dennoch führte Jesus ein ernsthaftes theolo­ gisches Gespräch mit ihr; tatsächlich ist es das längste persön­ liche Gespräch mit Jesus, das in der Bibel festgehalten ist. Es war auch das erste Mal, dass Jesus bestätigte, dass er der Messias ist, und sie wurde zur Evangelistin. Sie erzählte anderen, was sie mit Jesus erlebt hatte, und daraufhin wurden viele gerettet. Als die Jünger ihre Überraschung über diese Wendung zum Aus­ druck brachten, war Jesus ganz pragmatisch: Das ist einfach der Lauf der Dinge. Als Jesus eines Tages seine Predigt in einer Synagoge been­ dete, rief eine Frau aus dem Publikum: „Glücklich ist deine Mutter, die dich zur Welt brachte und an Obwohl das Wort einer ihren Brüsten nährte!“ Und Jesus antwortete auf diesen damals verbreiteten Segensspruch Frau vor Gericht nicht mit: „Ja, aber glücklich sind alle, die das Wort als hinreichender Beweis galt, war Maria Gottes hören und danach leben.“16 Frauen werden nicht einfach oder nur dadurch ge­ Magdalena die Erste, die den ­auferstandenen segnet, dass sie etwas hervorbringen, das Christus traf, und wiederum großartig ist; nein, wir alle werden gesegnet, wenn wir die Botschaft von Jesus auch die Erste, die die hören und entsprechend leben. Wir sind ­Botschaft seiner Aufernicht auf Segnungen aus zweiter Hand ange­ stehung verbreitete. wiesen. Wir finden in den Evangelien auch sieben Frauen, die mit dem griechischen Verb diakoneo beschrieben werden, was so viel bedeutet wie „dienen“. Es ist dasselbe Verb, das verwen­ det wird, um die sieben Männer zu beschreiben, die in der frü­ hen Kirche zu Leitern ernannt wurden.17 Bei diesen Frauen handelte es sich um die Schwiegermutter von Petrus; Maria 34


Magdalena; Maria, die Mutter von Jesus; Salome, die Frau von Zebedäus und Mutter der „Donnersöhne“ Johannes und Jako­ bus; ­Johanna, die Frau von Chuza; Susanna sowie Marta, die Schwester von Maria und Lazarus.18 Obwohl das Wort einer Frau vor Gericht nicht als hinreichen­ der Beweis galt, war Maria Magdalena die Erste, die den aufer­ standenen Christus traf, und auch die Erste, die die Botschaft seiner Auferstehung verbreitete. Jesus befahl ihr, zu seinen Brü­ dern, den Jüngern, zu gehen und ihnen mitzuteilen, dass er zu „meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott“ zurückkehren werde. Noch bevor die männlichen Jünger wussten, dass er wieder lebte, sandte Jesus schon eine Frau aus, um die Gute Nachricht zu verbreiten: „Er ist auferstanden!“19 Die Letzten werden die Ersten sein, und das immer wieder. Die Frauen, denen wir in den Evangeliumsberichten begeg­ nen, dienten Jesus, und sie dienten mit ihm. Dass unter den zwölf Jüngern keine Frauen waren, ist ebenso wenig eine Vor­ schrift oder ein Präzedenzfall für den Ausschluss von Frauen, wie die Wahl von zwölf jüdischen Männern nicht jüdische Män­ ner von der Leitung ausschließt. Wir übersehen leicht die erstaunliche Schönheit des Gan­ zen, weil es in der Bibel keine Fanfaren gibt. Doch Frauen waren einfach da, sie waren Teil der Revolution der Liebe, manchmal namenlos, manchmal im Hintergrund, manchmal als die Emp­ fangenden, manchmal als die Gebenden – genau wie auch jeder Mann in der Bibel –, und das als eigenständige Persönlichkeiten, die in ihrer jeweiligen Lebenswelt von Gott berufen wurden. Für Jesus sind eben auch Frauen Menschen.

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Die größte Herausforderung in der Welt von heute mit all ihren herzzerreißenden Nöten ist also: Sind die, die man „Christen“ nennt, bereit, Jünger – Schüler, Lehrlinge, Ausübende – ihres Herrn zu werden? Werden sie sich darauf einlassen zu lernen, wie man das Reich Gottes bis in die hintersten Winkel der menschlichen Existenz trägt? Dallas Willard: Jünger wird man unterwegs

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