www.fgks.org   »   [go: up one dir, main page]

Das Esel-Prinzip – 9783986950446

Page 1

DAS

ESELPRINZIP Den Herausforderungen des Lebens durch Resilienz und innere Stärke die Stirn bieten

RACHEL ANNE RIDGE Aus dem Amerikanischen übersetzt von Eva Weyandt



Für Ivy, Heidi, Hazel, August und Caroline Mögt ihr stets euer tapferstes, ehrlichstes und bestes Leben leben.



Inhalt Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Gib dir die Erlaubnis, Dinge zu hinterfragen Kapitel 1

Stelle Fragen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Warum nicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tiefer graben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was wäre, wenn? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tiefer graben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wann wird es sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tiefer graben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29 32 33 37 38 41

Lebe, als ob jemand das Tor offengelassen hätte. Kapitel 2

Anstreben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Tiefer graben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Dein Bestes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Tiefer graben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57


Mutig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Tiefer graben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

Offenbare deine Geschichte Kapitel 3

Ehre zuerkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Deine Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tiefer graben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deine Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tiefer graben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deine Leute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tiefer graben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70 74 75 78 79 82

Kapitel 4

Vermutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Nicht als gegeben voraussetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Tiefer graben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Niemals als gegeben voraussetzen . . . . . . . . . . . . . . . 94 Tiefer graben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Immer als gegeben voraussetzen . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Tiefer graben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

Lege den Schwerpunkt auf deine einzigartigen Stärken Kapitel 5

Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

Widerstandsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Tiefer graben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113


Einfallsreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Tiefer graben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Entschlossen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Tiefer graben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

Kapitel 6

Verblüffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

Unwahrscheinlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Tiefer graben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Bemerkenswert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Tiefer graben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Unvergesslich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Tiefer graben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

Definiere dein Tempo Kapitel 7

Aufsteigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

Das Tempo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Tiefer graben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Präsenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Tiefer graben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Innehalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Tiefer graben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166



Einführung Die „Jungs“ warteten am Tor auf mich. Flash und Henry, meine beiden Esel, wissen, wie es läuft: Wenn sie in den Gar­ ten wollen, wo das „gute Gras“ wächst (ihre Ansicht, nicht meine!), dann müssen sie ruhig stehenbleiben und sich zu­ erst die Hufe auskratzen lassen. In meiner Tasche hatte ich eine Handvoll Vollkorncracker, die ich in mundgerechte Stücke zerteilen wollte, nachdem sie bereitwillig ihre Hufe gehoben hatten, aber natürlich konnten sie es wieder ein­ mal nicht abwarten und schnüffelten ungeduldig an meiner Tasche in der Hoffnung, vielleicht doch schon vorher einen kleinen Happen ihres Lieblingssnacks zu ergattern. „Ihr kennt die Regeln“, ermahnte ich sie lachend. Henry drängte sich vor. Er wollte es als Erster hinter sich bringen. Sein gedrungener Körper stand unmittelbar vor Flash. Das Gewicht hatte er bereits so verlagert, dass ich seinen rech­ ten Vorderhuf hochheben und mit einem kleinen Metall­ werkzeug den Schmutz auskratzen konnte. „Das machst du prima, Kumpel“, lobte ich ihn, während ich mir nacheinander seine vier Hufe vornahm. Seine wei­ chen Lippen kitzelten meine Handfläche, als er geschickt den Cracker nahm und genüsslich zermalmte. Henry fand, 11


er hätte seine Sache so gut gemacht, dass er noch eine zusätzliche Belohnung verdient hätte. „Du hast ja recht, Henry“, gab ich nach, während ich noch ein Stück Cracker für ihn abbrach. Ungeduldig wartete Flash darauf, dass er an die Reihe kam. Die Ohren hatte er angelegt und die Lippen zusammengekniffen, um seinem Missfallen darüber Aus­ druck zu verleihen, dass er noch auf seine Belohnung war­ ten musste. „Ist schon gut, Flash. Jetzt bist du ja an der Reihe.“ Ich hatte es an diesem Tag etwas eilig, weil ich mein Flugzeug bekommen musste. Trotzdem ließ ich mir Zeit für die Pro­ zedur. Ich strich Flash über seine mehrfarbige Mähne und streichelte über seine auffällige, kreuzförmige Zeichnung. Während ich seine Hufe säuberte, staunte ich darüber, wie hart sie waren, perfekt geeignet für steinige Pfade in der Wildnis. Meine Hände glitten über Flashs kräftige Beine. Und nachdem er schließlich sein wohlverdientes Leckerli bekommen hatte, streichelte ich noch ein letztes Mal über seinen Rumpf. Dann wurde es Zeit, mich auf die Socken zu machen. Ich war als Sprecherin zu einer Podiumsdiskussion einge­ laden worden. Bei dieser Veranstaltung sollten die Leistun­ gen von Frauen gewürdigt werden. Alle Diskussionsteilneh­ merinnen sollten ihre Sichtweise von Erfolg darlegen und von ihren Erlebnissen auf dem Weg zum Erfolg berichten. So seltsam das klingen mag, meinen Erfolg verdankte ich diesen beiden Eseln, die sich jetzt mit dramatischem Ohren­ schütteln und Grunzen um den letzten Cracker zankten. 12


Ihre Geschichten und das, was ich durch sie gelernt habe, flossen ein in meine Bücher und halfen mir, meiner beruf­ lichen Laufbahn eine andere Richtung zu geben. Ich war ziemlich sicher, dass sich mein Weg von dem der anderen Diskussionsteilnehmerinnen unterscheiden würde, aber ich war auch davon überzeugt, dass das Publikum viele Aspekte meiner einzigartigen Geschichte nachvollziehen könnte. Meine künstlerische Laufbahn begann, als ich zum aller­ ersten Mal einen Pinsel zur Hand nahm. Zu diesem Zeit­ punkt war ich bereits fünfunddreißig Jahre alt. Viele Jahre lang hatte ich nicht den Mut aufgebracht, kreativ zu arbei­ ten. Mein Kunstlehrer in der neunten Klasse hatte mir ge­ raten, seinen Kurs lieber zu verlassen. Ich hätte kein T ­ alent. Seine kritische Bemerkung war niederschmetternd für mich, und die Vorstellung, dass ich in dem, was ich wirklich tun wollte, nicht gut war, machte mir schwer zu schaffen. In tiefer Verzweiflung meldete ich mich in meinem Hei­ matort schließlich für einen Malkurs im Bastelgeschäft an. Malen wurde meine Leidenschaft, und von da an bemalte ich in meinem Haus alles, was nicht weglaufen konnte: ­Möbel, Schränke, Wände, Decken. Bevor ich noch wusste, wie mir geschah, wurde mein Hobby zu meinem Beruf. Zwanzig Jahre lang arbeitete ich als Wandmalerin und Oberflächendesignerin und entwarf Kunst für Firmen und Privatkunden. Der Aufbau meiner kreativen Karriere war nicht leicht – tatsächlich war er manchmal eher ein mühsamer Kampf ums Überleben. Ich hatte kein abgeschlossenes Kunststudium 13


vorzuweisen. Auch nicht viel Geld, um meinen Traum zu verwirklichen. Und keine Ahnung vom Geschäft, was für ein solches Unterfangen eigentlich dringend nötig ist. Um diesen Weg trotzdem zu gehen, brauchte ich also fol­ gende Eigenschaften: Widerstandskraft und Einfallsreich­ tum, die Fähigkeit, schnell auf sich verändernde Bedürf­ nisse und wirtschaftliche Herausforderungen zu reagieren, die demütige Bereitschaft zu lernen und die nötige Ent­ schlossenheit, nicht aufzugeben, wenn die Dinge schwie­ rig wurden. Flash, mein erster Esel, den ich gerettet hatte, war an einem der tiefsten Punkte meiner beruflichen Laufbahn (buchstäblich!) vor unserer Hauseinfahrt erschienen. In unserem Alltagsstress war er eigentlich eine Störung, eine zusätzliche Komplikation, aber meine Familie und ich nahmen ihn trotzdem auf. Esel stehen für Widerstands­ kraft und harte Arbeit, für Dienstbereitschaft, Charme und Loya­lität. Das durfte ich im Zusammenleben mit ihnen er­ kennen. Und im Laufe der Zeit fing ich an, Flash als mein persönliches Vorbild für Stehvermögen und Entschlossen­ heit zu sehen. Ich lernte, meinen eigenen „inneren Esel“ zu akzeptieren und zu umarmen und meisterte so meinen steinigen Lebenspfad als Unternehmerin. Außerdem ent­ deckte ich die Charakterstärke und Entschlossenheit, die ich brauchte, um in dieser Welt eine sinnvolle Arbeit zu tun. Das Ergebnis? Mit fünfzig schrieb ich mein erstes Buch! „Das Glück hat lange Ohren: Was mich ein heimatloser Esel über das Leben, den Glauben und zweite Chancen lehrte“ 14


war überraschend erfolgreich und soll möglicherweise so­ gar verfilmt werden. Es folgten noch weitere Bücher und Illustrationsprojekte, bevor mein kreativer Weg noch eine Wendung nahm: Ich wurde landesweit zu Vorträgen einge­ laden, und ich begann, Lebensberatung für Einzelpersonen und Gruppen anzubieten. Eine Art, meinen Traum zu leben, auf die ich selbst nie gekommen wäre. Aber diese A ­ rbeit hatte mir auch die Einladung zur bevorstehenden Podiums­ diskussion eingebracht. Nach dem Flug und einem kurzen Aufenthalt im Hotel stand ich in dem neuen Outfit, das ich mir eigens für die­ sen Anlass gegönnt hatte, in der Veranstaltungshalle. Ich nahm auf dem Podium Platz, und meine Aufregung wuchs. Das Publikum im Zuschauerraum verstummte und die Büh­ nenlichter flammten auf. Wie der Zufall es wollte, kam ich bei der Vorstellungsrunde der Diskussionsteilnehmerin­ nen als Letzte an die Reihe, und das war der Punkt, an dem mein Selbstvertrauen ins Wanken geriet. Mein Mund wurde trocken. Ich lauschte den beeindruckenden Biogra­ fien der anderen Diskussionsteilnehmerinnen. Mein Ma­ gen krampfte sich zusammen und mein Gesicht lief rot an. Die anderen Frauen auf dem Podium konnten beeindru­ ckende Bildungsabschlüsse vorweisen, bekleideten hohe Positionen in unterschiedlichen Firmen, hatten Auszeich­ nungen bekommen und gehörten den verschiedensten Gre­ mien und Ausschüssen an. Meine eigene Biografie war da­ gegen entsetzlich farblos. WARUM nur hatte ich geglaubt, 15


ich sei einer solchen Veranstaltung gewachsen? Innerhalb von wenigen Minuten verwandelte sich meine Begeisterung in pure Verlegenheit. Ich gehöre nicht hierher. Ich fühle mich so dumm. Dumm, dumm, dumm. Wie konnte ich nur denken, ich hätte bei dieser Veranstaltung etwas zu sagen? In diesem Augenblick hätte ich mich am liebsten in einem Loch auf der Bühne verkrochen. Leider konnte ich keine Falltür entdecken und überlegte, wie ich mich aus dem Staub machen könnte. Ich könnte das Telefon aus mei­ ner Tasche ziehen, die Hand heben, um einen Notfall an­ zudeuten, und aus dem Saal stürzen! Das ist es! Das mache ich. Meine Finger krallten sich um das Telefon, doch in die­ sem Augenblick hörte ich meinen Namen. Jetzt war ich an der Reihe. Es war zu spät. Ich fühlte mich wie ein struppiger Esel unter den erst­ klassigen Rassepferden auf dieser Bühne. Schäbig. Lang­ sam. Lächerlich. Unwürdig. Neben den Rennpferden dieser Welt verblassten die Höhepunkte meiner beruflichen Lauf­ bahn, ja, sie wirkten geradezu erbärmlich. Ich tat einen tiefen, zitternden Atemzug, und das war der Augenblick, wo mich der Gedanke durchzuckte: Umarme deinen inneren Esel. Steh zu der Geschichte, die dich hierhergeführt hat. Ich dachte an all die Menschen im Saal, die die beeindruckenden Biografien meiner Vorgängerinnen 16


gehört hatten und sich und ihren eigenen etwas struppi­ gen Lebens­weg damit verglichen. Vielleicht ging es ihnen wie mir, vielleicht hatten auch sie das Gefühl, nicht zu ge­ nügen. Die, die es geschafft haben, und die, die es nicht gebacken bekommen haben. Die Strahlenden und die Schäbigen. Ihr seid meine Leute. Wir geben doch alle unser Bestes, um die harten Rückschläge zu verbergen – die Verletzungen und Enttäuschungen, die steinigen Pfade, die wir überwin­ den mussten, um an den Punkt zu kommen, an dem wir ste­ hen. Jeder von uns ist bemüht, seine Geschichte im besten Licht erscheinen zu lassen und hofft, dass niemand auf die Idee kommt, nachzubohren und zu viele Fragen zu stellen. Nur zu gern beschönigen wir unsere Biografie – hier ein wenig und da ein wenig. An irgendeinem Punkt in unserem Leben sind wir offensichtlich zu der Überzeugung gekom­ men, dass alle anderen mühelos und ohne Hindernisse ihre Ziele erreichen, während sich unsere Reise anfühlt wie ein mäandernder Ritt auf einem struppigen Esel, der sich hum­ pelnd fortbewegt und es nur mit Ach und Krach über die Ziellinie schafft. Wir vergessen die erstaunliche Tapferkeit und Ausdauer, die wir aufbringen mussten, um unseren bis­ herigen Weg zu finden – über Stock und Stein und durch unwegsames, unmarkiertes Gelände. Mein Blick glitt über die Gesichter der Menschen im Pub­ likum, und mir kam der Gedanke, dass sich vermutlich viele als Außenseiter fühlen, oder dass sie vielleicht auch noch nicht so recht wissen, was für sie dran ist und noch auf die Gelegenheit warten, ein kreatives, sinnvolles und erfülltes 17


Leben zu führen. Es fällt uns schwer, uns vorzustellen, wie es wäre, allen Ballast abzuwerfen, fröhlich durchs Leben zu gehen, Träume zuzulassen und zu spüren, dass unsere eigene Kraft uns voranträgt. Wir wünschen uns tiefere Be­ ziehungen, wollen gern bessere Führungspersönlichkeiten sein und eine klare Vorstellung von unserem Lebens­ziel haben, aber wir haben den Eindruck, dass so etwas nur den „Reichen“ und „Schönen“ vorbehalten ist. Wenn wir unsere Social-Media-Accounts anschauen und uns mit den wun­ derschönen Influencern vergleichen, fühlen sich unsere Beiträge viel zu gewöhnlich an, nicht der Beachtung wert und total langweilig. Wenn wir ehrlich sind, kommen wir uns gelegentlich vor wie ein Esel in einer Welt voller Rennpferde. Als ich dann ans Rednerpult trat, hatte ich mein Selbst­ vertrauen wiedergefunden. Es zeigte sich sehr bald, dass mein aufrichtiges Ich keinen beeindruckenden Lebenslauf brauchte, um in der Welt etwas zu bewirken. Der Kreis mei­ ner Geschichte schloss sich tatsächlich bei meinen beiden Eseln, denn durch sie weiß ich, wie viel Kraft und Inspira­ tion in einer simplen Metapher liegen kann. Mir wurde klar, dass Flash und Henry tatsächlich ein Sinnbild für die Ge­ staltung eines erfüllenden Lebens waren, für eine bessere Einstellung und für einen dauerhaften Erfolg. Durch ihre Bescheidenheit, Widerstandsfähigkeit und ihre Fähigkeit, auch schwieriges Gelände zu meistern und Dürre auszuhalten, sind Esel die Verkörperung einer dienenden Haltung, mit der man auch schwierige Zeiten 18


überstehen kann. Ich hatte die Stärke meines „inneren Esels“ für mich genutzt und die Kraft, Entschlossenheit, Freude und, ja, auch ein klein wenig den notwendigen Starrsinn gefunden, so zu leben, wie ich mir das immer gewünscht hatte … und ich wusste, dass auch andere das schaffen könnten. Während ich darlegte, wie ich Erfolg de­ finiere, spürte ich, wie das Publikum immer mehr und bei­ nahe greifbar in Beziehung zu mir trat. Nach der Veranstaltung bildeten sich vor meinem Tisch lange Schlangen von Zuhörerinnen, die mir ihre eigenen Erfahrungen als „Esel“ in einer Welt voller Rennpferde an­ vertrauen wollten. Mit Tränen in den Augen gestanden einige, wie gut ihnen meine Geschichte getan hätte und wie viel Hoffnung sie ihnen geben würde.

Die Wahrheit ist: Das Leben ist keine Rennstrecke, die nur den schnellsten und schönsten Rassepferden vorbehalten ist, die um einen unerreichbaren Preis wetteifern. Ganz und gar nicht. Das Leben – dein Leben – ist vielmehr eine 19


Goldmine, in der die Schätze geradezu darauf warten, von dir gehoben zu werden. Kostbares Gold liegt für alle bereit, die dranbleiben; für alle, die bereit sind, immer wieder in die Tiefe zu gehen, um das Gold dieser Mine aus der Dun­ kelheit ans Tageslicht zu befördern. So albern es auch sein mag, sich einen Esel auf einer Ga­ lopprennbahn vorzustellen, genauso lächerlich wäre es, ein Rennpferd in einer Goldmine arbeiten zu lassen. Als „Esel“ können wir aus diesem endlosen Kreislauf des Wettbewerbs aussteigen und den Weg und die Aufgabe finden, die am bes­ ten zu uns passen und in der wir mit unseren Gaben wahr­ haftig ein Segen sein können für die Welt. Es ist diese Art von Gold, die Reichtum im besten Sinne des Wortes schafft.

Diesen Gedanken nenne ich das „Esel-Prinzip“:

Wenn du zu deinem inneren Esel stehst, ihn akzeptierst und umarmst, wirst du die sinnvolle Arbeit finden, für die du geschaffen wurdest, und darin erfolgreich sein. 20


Mit anderen Worten: Hör auf, dich auf den Wettbewerb ein­ zulassen und fang an zu graben! Die beiden bezaubernden Wesen auf meiner Weide und die Gattung, zu der sie gehören, haben mich zur Formulie­ rung dieses Prinzips inspiriert. Das Gerüst dieses Prinzips bildet sich aus dem Akronym GOLD: Gib dir die Erlaubnis, Dinge zu hinterfragen. Offenbare deine Geschichte. Lege den Schwerpunkt auf deine einzigartigen Stärken. Definiere dein Tempo. In diesem Buch wirst du immer wieder Eseln begegnen: Historische Geschichten über Esel, Esel aus der Literatur oder Erlebnisse mit Eseln aus der heutigen Zeit, die dich, so hoffe ich, überraschen und erfreuen werden und mein Konzept veranschaulichen sollen. Zum weiteren Nachden­ ken habe ich am Ende jedes Kapitels Fragen zum Tiefergra­ ben angefügt und dir Raum gelassen, um die „Goldstücke“ zu notieren, auf die du unterwegs stößt. In dieses „EselPrinzip“ ist meine ganze Liebe geflossen, und ich habe es niedergeschrieben, um dein Bewusstsein zu wecken für das, was wirklich wichtig ist. Ich hoffe und wünsche mir, dass es dir hilft, die Kraft des Eigensinns in dir zu entdecken, und ich bin sicher, dass es dir helfen wird, deine ganz persön­ liche Definition von Erfolg zu finden. Das Esel-Prinzip ist der Schlüssel dafür, das Langstrecken­ rennen, das unser Leben nun mal ist, gut zu bewältigen. 21



Gib dir die Erlaubnis, Dinge zu hinterfragen



Kapitel 1

Stelle Fragen! Das Telefon auf meinem Nachttisch reißt mich mit seinem beharrlichen Klingeln aus dem Schlaf. Es ist Samstag und noch sehr früh am Morgen. Die Stimme meiner Nachbarin klingt entschuldigend, doch seltsam amüsiert, aber ich bin noch zu verschlafen, um das genau zu unterscheiden. „Entschuldige, Rachel, dass ich dich aufwecke“, erklärt Priscilla. „Aber ich bin auf dem Weg ins Fitnesscenter, und da laufen zwei Esel über die Straße, und, nun … sie sehen Flash und Henry wirklich sehr ähnlich.“ Oh, lieber Gott, was läuft hier? Ich wecke meinen Mann Tom auf, und in Windeseile sind wir angekleidet und draußen. Von der Koppel nehmen wir Halfter und einen Eimer mit Futter mit. Jemand hat das hin­ tere Gattertor offengelassen. Und mit „jemand“ meine ich mich. Ich war es gewesen. Ich habe vergessen, das G ­ atter am Abend zuvor zu schließen. Flash, der Esel, der mich „gerettet“ hat, und Henry, der Mini-Esel, den ich adoptiert habe, damit er Flash Gesell­ schaft leisten kann, hatten mein Versäumnis vermutlich 25


erst bei Tagesanbruch bemerkt. Aber dann … Niemand brauchte sie zweimal zu bitten! Ich stelle mir vor, wie Flash – der normal große, braungraue Esel – über die Schulter zurückblickt zu Henry, dem stämmigen, schokoladenbraunen Mini-Esel mit einer etwas zerzausten Mähne und einem etwas alber­ nen Schwanz. Und dann deutet er mit dem Kopf zum Tor: „Wollen wir?“ „Warum nicht?“, stimmt Henry ihm zu. Mit aufgestellten Ohren und geblähten Nüstern können sie ihre Neugier auf das, was sie hinter dem Tor erwartet, kaum zurückhalten. „Wie es sich wohl anfühlt, frei herumzulaufen?“, ruft Flash dem kleineren Esel zu, der sich anstrengen muss, mit ihm Schritt zu halten. „Vermutlich ganz ähnlich wie das hier!“ Henrys stämmige kurze Beine drängen vorwärts, sein Hinterteil buckelt vor Aufregung, als hätte es einen eigenen Willen. Hinter der von Bäumen gesäumten Allee und dem Teich drosseln die beiden flüchtigen Esel ihr Tempo und trotten jetzt zügig auf die geteerte Straße am Ende der Zu­ fahrt zu. „Was hast du vor?“ Henry blickt, wie immer, erwartungs­ voll Flash an, denn Flash ist der Anführer. „Wir haben nicht viel Zeit“, antwortet Flash mit einem tiefen Atemzug durch die wulstigen Lippen. „Wir müssen sie gut nutzen!“ Vier Paar Hufe erreichen die geteerte Straße und wen­ den sich, als hätten sie sich abgesprochen, nach Westen. Eine halbe Meile von unserem Haus entfernt befindet sich in dieser Richtung ein großes, nicht eingezäuntes Feld, das 26


sie lockt. In ihrer Vorstellung werden sie dort hohes Gras, wilde Blumen und vielleicht sogar ein Fleckchen Erde fin­ den, auf dem sie sich wälzen können. Sie beginnen zu galop­ pieren, mit flatternden Ohren, wippenden Schwänzen und lautem Schnauben – und ganz und gar unbekümmert. Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich das alles nicht wirklich beobachtet habe, aber ich kann mir sehr gut vor­ stellen, wie das abgelaufen ist. Als Tom und ich die beiden Ausreißer erreichen, sind sie in Schweiß gebadet, stehen bis zum Bauch im Frühlingsgrün und sind ganz und gar nicht daran interessiert, ihren Ausflug in die Wildnis von Texas zu beenden, die unsere kleine Farm umgibt. „Lebe so, als ob jemand das Tor offengelassen hätte!“ Das Bild der beiden Esel, die früh am Morgen einen klei­ nen Ausflug machen und die Gelegenheit für ein Abenteuer nutzen, bringt mich zum Lachen, wann immer ich daran denke. Begierig. Draufgängerisch. Getrieben von Neugier – und einer unendlichen Wissbegier in Bezug auf absolut alles. Neugier – und dazu gehört auch der Hang, sich einzumi­ schen und ein ausgeprägtes Interesse an allen Vorgängen in seiner Umgebung – ist die Grundlage des Esel-Prinzips. Neugier schaut hinter die Zäune, die wir um unser Denken herum errichtet haben. Neugier bringt den Mut auf, jenseits des Tellerrands nach neuen Informationen, neuen Erfah­ rungen und Lösungen zu suchen. Neugier öffnet das Tor zu mehr Vorstellungskraft und zu langfristiger Freude am Entdecken und Staunen. 27


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.