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Religionen im Kreuzverhör – 9783986950439

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Aus dem Englischen von Jokim Schnöbbe

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen. Alle Beispiele in diesem Buch beruhen auf tatsächlichen Geschehnissen. Um die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen zu schützen, wurden Namen und charakteristische Umstände geändert.

Originally published in English under the title: Religions on Trial Copyright ©2023 by William Mark Lanier, Published by InterVarsity Press, 430 Plaza Drive, Westmont, IL 60559, USA . All rights reserved. www.ivpress.com. © 2024 der deutschen Ausgabe Gerth Medien in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Berliner Ring 62, 35576 Wetzlar Bibelzitate sind entnommen aus der Übersetzung Neues Leben. Die Bibel, © 2002 / 2006 / 2017 SCM R. Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Max-Eyth-Str. 41, 71088 Holzgerlingen. Die mit „ELB “ vermerkten Bibelzitate stammen aus der Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/ Holzgerlingen. Verzeichnis der Abbildungen: Abbildung 5.1. Merneptah-Stele 2022, Ägyptisches Museum: Foto von Onceinawhile / Wikimedia Commons Abbildung 6.1. Die Kaaba in Mekka: Foto von Aiman titi / Wikimedia Commons Abbildung 6.2. Karte der Ausbreitung des Islam, Urheberrecht Mark Lanier 1. Auflage 2024 Bestell-Nr. 821043 ISBN 978-3-98695-043-9 Umschlagfoto: Collage unter Verwendung von Shutterstock Umschlaggestaltung: Mareike Schaaf Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany www.gerth.de

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Ich widme dieses Buch meinen Enkelkindern Kathryn Ebba und Francis Samuel; John Henry, Lydia Alexandra und Abigail Louise; Chloe Mikayla, Mia Isabelle, Violet Millie und Caleb James. Die großen Gedanken der Welt liegen vor euch. Lernt und findet die Wahrheit!

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INHALT

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Ein Blick hinter die Kulissen der Gerichte . . . . . . . . . . . 15 2 Eröffnungsplädoyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Teil I: Mystische Religionen 3 Der Hinduismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 4 Der Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Teil II : Historische Religionen 5 Das Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 6 Der Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Teil III : Moderne religiöse Strömungen 7 Die säkulare Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 8 Das säkulare Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 9 Abschlussplädoyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

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EINLEITUNG Ich saß mit meinem Team in einem Konferenzraum mei­ ner Büroräumlichkeiten im Zentrum von Manhattan zusam­ men. Wir befanden uns in einem Dilemma. Wir vertraten eine Reihe von Frauen, die unter den furchtbaren Folgen von Eier­ stockkrebs litten – einer Krankheit, die für fast 50 Prozent der Frauen mit dieser Diagnose tödlich verläuft. Wir hatten diese Fälle in der Überzeugung übernommen, dass das von diesen Frauen verwendete Talkum oder Talkum­ puder den Eierstockkrebs verursacht oder zumindest begüns­ tigt hatte. Das Problem, vor dem wir standen, war: Wie? Die Studien waren sich hier nicht einig; einige ergaben eine 95-pro­ zentige Sicherheit, dass die Verwendung von Talkumpuder das Risiko verdoppelte, an Eierstockkrebs zu erkranken; andere Studien waren weniger eindeutig. Ich hatte mein Team zusammengerufen, um nach Antworten zu suchen. Warum wiesen einige Studien auf eine Verbindung zwischen Talkumnutzung und Eierstockkrebs hin, während andere dies nicht so eindeutig belegten? Welche medizinischen und wissenschaftlichen Erklärungen gab es dafür, wie Talkum Eierstockkrebs verursachen konnte? Wanderte die Substanz durch den Fortpflanzungstrakt? Wenn ja, warum waren die Eier­stöcke besonders anfällig für eine krebserzeugende Wir­ kung? Verursachte das Talkum auch in anderen Organen Krebs, mit denen es auf dem Weg zu den Eierstöcken in Kontakt kam? Angesichts zahlreicher unbeantworteter Fragen war mir klar, dass es eine Antwort geben musste, aber wir mussten

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sie erst einmal finden! Also gingen wir zusammen die Fak­ ten durch und versuchten, sie auf eine Weise zu verstehen, die den Studien Sinn verlieh. Ich begann mit dem Talk selbst. Talk ist „ein natürlich vorkommendes Mineral, das aus der Erde abgebaut wird und aus Magnesium, Silizium, Sauer­ stoff und Wasserstoff besteht. Chemisch gesehen ist Talkum ein wasserhaltiges Magnesiumsilikat mit der chemischen Formel Mg3Si4O10(OH )2.“1 Das rief eine Erinnerung in mir wach. Seit fünfundzwanzig Jahren hatte ich mit Fällen von Meso­ theliom (einer Tumorerkrankung des Weichteilgewebes) und anderen Asbest-bedingten Erkrankungen zu tun. Mir war be­ kannt, dass Asbest ebenfalls ein „wasserhaltiges Magnesium­ silikat“ ist. Die am häufigsten verwendete Form von Asbest („Chrysotil“) hat eine chemische Formel, die der von Talkum sehr ähnlich ist – Mg3Si2O5(OH )4. Mir wurde klar, dass diese eng verwandten Minerale häufig in denselben Vorkommen ge­ funden werden. Von da an begann sich die Wahrheit herauszukristallisieren. Die Talkminen enthielten Asbestadern. Aufgrund der Abbau­ technik – man sprengte Felsen und sammelte anschließend den Talk – konnte man eine Asbest-Kontamination nie ausschlie­ ßen. Zudem war das Asbest so winzig und in solch geringen Mengen vorhanden, dass nur sehr spezialisierte Tests eine Ent­ deckung ermöglichten. Wir besorgten uns Proben von Babypuder und anderen Tal­ kumpudern und sandten sie weltweit führenden Testexperten. Diese Experten brachten die Wahrheit ans Licht: Die in den Läden verkauften Puder enthielten Asbest. Nun bestand kein Zweifel mehr. Asbest ist eine bekannte und erwiesene Ursache für Eier­stockkrebs.

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Einleitung | 11

Unsere weiterführenden Untersuchungen brachten die un­ appetitliche Wahrheit ans Licht, dass der größte Anbieter von Babypuder in den USA und weltweit von der Asbesthaltigkeit gewusst und diese Tatsache vertuscht hatte. Die Verantwortli­ chen hatten gegenüber den Behörden und der akademischen Gemeinschaft versichert, dass kein Asbest im Talkum sei – ob­ wohl die eigenen Tests der Unternehmen das Vorhandensein nachgewiesen hatten.2 Nachdem die Beweise der Jury vorgelegt wurden, war die Wahrheit unwiderlegbar. Das Urteil sprach zweiundzwanzig außergewöhnlichen und mutigen Frauen 4,69 Milliarden US Dollar Schadenersatzzahlung zu. Das Unternehmen legte Be­ rufung ein, ging bis zum Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, doch die Berufungsgerichte zeigten kein Erbarmen. Das Berufungsgericht äußerte sich deutlich zum skandalösen Verhalten des Unternehmens, das zu Recht Geschworene und Richter gleichermaßen schockierte.3 (Eine Entscheidung über die Zuständigkeit reduzierte das Urteil in der Berufung auf etwa 2,12 Milliarden US -Dollar.) Das Unter­nehmen stellte zu­ dem die Verwendung seiner berühmten Talkum-Formel ein und ersetzte sie durch ein auf Maisstärke basierendes Produkt. Als Anwalt ist es meine Aufgabe, in komplizierten Sachlagen die Wahrheit aufzuspüren und zu verstehen. Seit fast vierzig Jahren habe ich in ganz Amerika Fälle vor Gericht verhandelt und die Wahrheit aufgespürt. Meine tägliche Routine besteht daraus, Fakten zu sammeln, zu ordnen, Muster zu erkennen und übereinstimmende Themen zu finden, die ein kohärentes Ganzes ergeben. Das ist ein kurzer Einblick in meinen Beruf als Anwalt. Doch in religiösen Fragen und im Blick auf meinen Glauben folge ich ähnlichen Prinzipien. Ich bin Christ, doch das bedeutet nicht,

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dass ich den Überzeugungen folge, die oft viel Medienaufmerk­ samkeit erregen. Mein Glaube gründet auf einem Verständnis von Gott und dieser Welt, das eine persönliche Beziehung zum Göttlichen zulässt. Ich bin Christ, weil der Kern des christli­ chen Glaubens die Indizien, die ich in den Menschen und in der Welt finde, sinnvoll erklärt. Trotzdem faszinieren mich alle religiösen Überzeugungen. Seien es offiziell anerkannte Religionen oder auch nicht tradi­ tionelle spirituelle Überzeugungen – beides findet mein Inte­ resse. Ein Teil dieser Faszination ist sicher in meiner Persön­ lichkeit begründet – ich habe Freude daran, Neues zu lernen. Aber ein großer Teil meiner Vorliebe dafür, die spirituellen Vorstellungen anderer kennenzulernen und zu verstehen, hat seine Wurzeln in meinen eigenen religiösen Überzeugungen.4 Es ist eine Grundannahme des christlichen Glaubens, dass wir in der uns umgebenden Welt der Wahrheit Gottes auf die Spur kommen und sie darin erkennen können. Ich glaube, dass Gottes Eigenschaften und das Wesen seines Gottseins sowohl in der Welt als auch im Leben eines Menschen deutlich erkenn­ bar sind (Römer 1,18 – 20). Deshalb wird das aufrichtige Be­ mühen, das Göttliche zu erkennen, uns Aspekte der Wahrheit finden lassen, auch wenn größere Wahrheiten dem Suchenden verborgen bleiben können. Daher erwarte ich, in jeder Art von Glauben oder religiö­ ser Überzeugung einige Aspekte von Gottes Wahrheit zu ent­ decken. Ich sollte also Aspekte der Wahrheit im Buddhismus ebenso finden können wie im Hinduismus, im Islam oder so­ gar in der sogenannten „säkularen Spiritualität“, also einer Spi­ ritualität, die sich in kulturellen Wahrheiten manifestiert und die von vielen nicht religiösen Menschen angenommen wird, die aber dennoch spirituell sein möchten.

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Doch zugleich mit der Erwartung, dass andere religiöse Systeme und Glaubenssätze Facetten der Wahrheit enthalten, beinhaltet das christliche Wirklichkeitsverständnis auch die Annahme, dass diesen Systemen wichtige Aspekte der Wirk­ lichkeit fehlen. Wenn das christliche System als stimmige Er­ klärung der Wahrheit gelten soll, müssten bei einer fairen Untersuchung der unterschiedlichen Glaubenssysteme diese beiden Aspekte aufzuzeigen sein. Etwas ist wichtig zu betonen: Natürlich kann ich in diesem Buch nicht sämtliche Aspekte der behandelten Glaubensrich­ tungen untersuchen. Das würde viele Bände erfordern. Doch eine solch umfassende Untersuchung ist auch gar nicht not­ wendig. Lassen Sie mich erklären, warum. In fast jedem Gerichtsverfahren setzen die Richter den An­ wälten zeitliche Grenzen, ähnlich wie die Grenzen dieses Bu­ ches mich auf eine begrenzte Seitenzahl festlegen. Vor Kurzem haben mein Freund Pete Weinberger und ich (mit einem enor­ men Unterstützerteam von Hunderten Anwälten, einschließlich meiner Tochter Rachel!) sich mit dem ersten Schwur­gerichts­ prozess des Landes zur Frage der nationalen Opioid-Epidemie (Missbrauch von Schmerzmitteln) befasst. Der Richter legte eine bestimmte Anzahl von Verhandlungsstunden fest, die wir nach Belieben einsetzen konnten. Die Beklagten hatten viele Sachverständige als Zeugen benannt. Und wir hatten nur eine begrenzte Zeit, diese Zeugen ins Kreuzverhör zu nehmen. Einer der Zeugen war ein Schmerztherapeut aus Kalifornien. Als der Anwalt der Gegenseite ihn befragte, stand zu be­ fürchten, dass der Arzt die Jury positiv beeindrucken würde: Er hatte die kalifornische Bräune, das kalifornische ­Lächeln, die kalifornische Ausstrahlung und wirkte wie ein aus­gewiesener Experte. Seine Qualifikationen wurden der Jury in seinem

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Lebenslauf und dem beruflichen Werdegang eindrucksvoll präsentiert. Am liebsten hätte ich ihn tagelang ins Kreuzverhör genom­ men, doch ich hatte nur wenige Stunden zur Verfügung. Daher musste ich mich auf Wesentliches konzentrieren. Wie bei einer Seeschlacht musste ich nur ein paar Treffer gut platzieren, um das Schiff zu versenken. Ich hatte keine Zeit, das Schiff Stück für Stück auseinanderzunehmen. Mein Kreuzverhör begann mit seinem Lebenslauf. Ich brachte Belege dafür vor, dass dieser offensichtliche Unwahr­ heiten enthielt, Bereiche, in denen er sich als etwas darstellte, das er nicht war. Nachdem seine Glaubwürdigkeit erschüttert war, konnte ich ein paar gezielte Schüsse abgeben, die auch seine Ansichten als falsch erwiesen. Ich musste ihn nicht Stück für Stück auseinandernehmen. Sein Schiff ging bereits unter. Wenn ich also in einem Glaubenssystem einige Schlüssel­ ideen als falsch erkenne, muss ich nicht auch die übrigen De­ tails dieser Glaubensrichtung analysieren. So ist es möglich, auch in einem kurzen Band wie diesem Schlussfolgerungen zu ziehen, die eine solide Basis haben; man muss keine dreißig Bände dazu schreiben. Mit diesem Wissen im Hintergrund lade ich Sie ein, meiner Untersuchung zu folgen. Prüfen Sie selbst, ob ich das Beweis­ material fair bewerte und die Einzelbefunde zu einem stim­ migen Ganzen zusammenfüge. Wenn die christliche Prämisse zutrifft, werde ich in jedem religiösen System Facetten der Wahrheit finden. Ebenso werde ich Bereiche entdecken, die nicht mit der Realität übereinstimmen. Mit diesem Vorgehen werde ich also auf den folgenden Seiten unterschiedliche reli­ giöse Überzeugungen und Glaubensrichtungen einer gründli­ chen Untersuchung unterziehen.

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Teil I

MYSTISCHE RELIGIONEN

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Kapitel 3

DER HINDUISMUS Mein Freund Jim Thompson ist ein exzellenter Autor. Als erstklassiger Reporter einer renommierten Zeitung verfasste er Arti­kel mit einer messerscharfen Schreibweise. Vor einigen Jahren tauchte sein Name in einer anderen Rubrik der Zei­ tung auf. Anstelle als Autor des Leitartikels auf der Titelseite findet man seinen Namen jetzt … in der Bestsellerliste. Jims kreativer Geist und seine fesselnde Erzählkunst brachten ihm Erfolge als Roman­autor ein. Seine Spionageromane um eine faszinierende Hauptfigur wurden Bestseller, und inzwischen ist es seine Hauptbeschäftigung, diese Romane zu schreiben. Eines Tages rief Jim mich an, um über einen möglichen Fall zu sprechen. Es schien, dass eine populäre Fernsehserie un­ rechtmäßig einige von Jims Handlungssträngen übernommen hatte. Jim berichtete, dass die Autoren und Regisseure ihn und seine Romane bestens kannten. Sie hatten ihn sogar eingela­ den, um über verschiedene Ideen zu sprechen. Anstatt ihm jedoch einen Auftrag zu erteilen oder für die Nutzung seiner bereits veröffentlichten Ideen zu bezahlen, hatten sie diese ein­ fach übernommen. Jim verlangte Gerechtigkeit. Wir konnten Jims Fall erfolgreich klären. Was ihn da­ ran am meisten getroffen hatte, war der Ärger darüber, dass seine Ideen ohne Anerkennung seiner Autorschaft verwendet

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wurden. Und das ist nachvollziehbar. Leider ist diese Art von „Anleihe“, bei der man die Ideen anderer zu einem neuen Gan­ zen vermengt, recht üblich und Grund für viele Rechtsstreitig­ keiten. Denken Sie etwa an die ähnliche Klage wegen George Harrisons Lied „My Sweet Lord“. Diese Klage hat eine ironi­ sche Note, wenn man die hinduistischen Texte des Liedes be­ rücksichtigt. Das Lied erschien auf Harrisons 1970er-Album All Things Must Pass. Harrison hatte zunächst gezögert, das Lied in das Album aufzunehmen, aber es wurde ein weltweiter Hit und stürmte schnell Platz eins der Charts in Großbritannien, den USA und anderen Ländern. Es war die erste Nummer-einsSingle von einem der Ex-Beatles. Die Klage gegen Harrison betraf Urheberrechtsverletzun­ gen. In der Klageschrift wurde behauptet, dass Harrison Ele­ mente der Melodie des Songs „He’s So Fine“ von Ronnie Mack, das durch die Chiffons bekannt wurde, übernommen habe. Harrisons Verteidigung bestritt jedoch, dass „He’s So Fine“ die Quelle sei. Stattdessen gab Harrison an, das christliche Lied „O Happy Day“ als melodische Inspiration verwendet zu haben. Da „O Happy Day“ nicht mehr urheberrechtlich geschützt war, wäre es für Harrison legal gewesen, Aspekte dieser Melodie zu verwenden. Das Urteil befand Harrison für schuldig, unbewusst „He’s So Fine“ plagiiert zu haben. Das Urteil birgt eine gewisse Iro­ nie. „My Sweet Lord“ ist eine Hommage an den Hinduismus. Eines der zentralen Merkmale des Hinduismus ist die Assi­ milation anderer Glaubensrichtungen. Mit anderen Worten: Während Harrison von einem Glauben sang, der andere Glau­ benssysteme problemlos integriert, schrieb er einen Song, der die Melodie anderer Lieder „integrierte“.

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Eine zweite Ebene der Ironie zeigt sich, wenn man „My Sweet Lord“ textlich analysiert und die Botschaft des Liedes betrachtet. Das Lied ist ein hinduistisches Lob- und Gebetslied für den Gott Krishna. In dem Lied sind Gebete aus den Veden, den hinduistischen Schriften, eingeflochten. Das Lied enthält auch den hebräisch-christlichen Refrain „Halleluja“, eine pas­ sende Verschmelzung in der synkretistischen Denkweise des Hinduismus. Synkretismus wird definiert als „die Verschmel­ zung oder der Versuch der Verschmelzung verschiedener Re­ ligionen, Kulturen oder Denkschulen“.1 Synkretismus ist ein Markenzeichen des Hinduismus. Das macht es schwer, den Hinduismus zu definieren. Das Fehlen einer festen Struktur, eines Glaubensbekenntnisses oder einer festgelegten orthodoxen Lehre im Hinduismus ermöglichen es dieser Religion, fast jede Weltanschauung oder Philosophie zu integrieren. Man findet praktizierende Hindus, die Athe­ isten sind, Hindus, die an einen Gott glauben, Hindus, die an drei Götter glauben, Hindus, die an Millionen von Göttern glauben, Hindus, die an einen Gott glauben, der viele Götter ist, und vieles mehr. Ein guter Schulfreund von mir beschrieb einmal seinen Glauben als Erwachsener und erklärte: „Ich bin ein jüdischer Hindu!“ Im hinduistischen Denken führen alle Philosophien letzt­ endlich zum selben Ziel, sodass die Religion fast alles auf­ nehmen kann. Eine solche Herangehensweise ist für viele Menschen anziehend. Prominente wie Julia Roberts, George Harrison, Russell Brand und Jerry Garcia, der Fußballspieler Ricky Williams und der Schriftsteller J. D. Salinger haben sich alle für irgendeine Form des Hinduismus begeistert.

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Was ist Hinduismus? Bevor ich den Hinduismus als Deutungsrahmen für die Rea­ lität untersuche, muss ich die Frage klären: „Was ist Hinduis­ mus?“ Man könnte meinen, dass diese Frage einfach zu beant­ worten ist, aber das ist nicht der Fall. Ich begann meine Beschäftigung mit dem Hinduismus Ende der 1970er-Jahre mit Richard Alperts Buch Be Here Now, das unter seinem Hindu-Namen (Baba) Ram Dass veröffentlicht wurde. Schnell wurde mir klar, dass ich mit der Untersuchung des Hinduismus ein weitläufiges und vielfältiges Gebiet betrat. Das Wort „Hindu“ stammt aus dem Persischen und bezeich­ net im Singular den Fluss Indus und im Plural Menschen, die jenseits des Indus-Flusses leben, also die Bewohner des heu­ tigen Indien (und Teilen des heutigen Pakistan und Nepal). Es verwundert daher nicht, dass der Hinduismus eng mit der altindischen Sanskrit-Sprache verbunden ist, der Sprache der alten Bewohner dieser Region. Zwar ist der Hinduismus eine weltweite Religion, findet aber seine größte Verbreitung in In­ dien und Nepal. Der hinduistische Glaube existierte bereits jahrtausende­ lang, in denen er nicht als Hinduismus bezeichnet wurde. Die­ ser Begriff ist erst in den letzten tausend Jahren entstanden und bezeichnete ursprünglich eher eine Volksgruppe als einen Glauben. Wenn man den Hinduismus als Glauben der HinduVölker betrachtet, ist es nicht überraschend, dass er sich im Laufe der letzten fünftausend Jahre vielfältig verändert und weiterentwickelt hat. Die hinduistischen Überzeugungen eines Menschen, der sich Hindu nennt, können sich stark von denen eines anderen Vertreters dieser Religion unterscheiden und ihnen sogar

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widersprechen. Es gibt keine festgelegten Glaubenssätze, keine Orthodoxie, keine nationale oder internationale Struktur oder Hierarchie, keine klar festgelegten heiligen Schriften2 und kei­ nen Gründer. Im Grunde sind für Menschen, die sich zum Hinduismus zählen, fast alle Arten von Glaubensinhalten mög­ lich. Der erste indische Premierministers Jawaharlal Nehru (1889–1964) hat es so ausgedrückt: Der Hinduismus als Glaube ist vage, amorph, vielseitig und für jeden etwas anderes. Es ist kaum möglich, ihn zu definieren oder tatsächlich festzustellen, ob es sich um eine Religion im üblichen Sinne des Wortes handelt. In seiner heutigen Form und auch in der Vergangen­ heit umfasst er viele Überzeugungen und Praktiken, von den höchsten bis zu den niedrigsten, die nicht selten einander entgegengesetzt sind oder sich widersprechen.3 Wenn wir über den Hinduismus sprechen, müssen wir in be­ trächtlichem Ausmaß mit Verallgemeinerungen arbeiten und darauf achten, keine absoluten Aussagen zu treffen. Das be­ deutet jedoch nicht, dass man über den Glauben nicht spre­ chen kann, denn gerade die Tatsache, dass eine Religion jedem Menschen das sein kann, was er sucht oder braucht, weist auf ein grundlegendes Prinzip hin, das sich genauer anzuschauen lohnt. Es gibt zudem einige allgemeine Überzeugungen, die für die überwiegende Mehrheit der Anhänger des Hinduismus zu­ treffen. Genau diese Überzeugungen werde ich hier betrachten. Glaubenspraxis ist wichtiger als Glaubensinhalt Im Hinduismus gibt es ein Sanskrit-Wort, Dharma, das eine Vielzahl von Bedeutungen hat.4 Es bezieht sich auf Wahrheit,

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Ordnung, Gesetz, Pflicht und sogar Religion. Es beschreibt so­ wohl den Istzustand als auch den Idealzustand der Dinge.5 Die Beachtung des Dharmas ist keine Frage des Glaubens, sondern eine Frage des Verhaltens. Ein bemerkenswertes Merkmal des Hinduismus ist, dass das Handeln über dem Glauben steht. Was ein Hindu tut, ist wichtiger als das, was er glaubt. Der Hinduis­ mus ist keine Glaubensgemeinschaft im engeren Sinne. Daher besteht die Befolgung des Dharmas nicht in der Annahme bestimmter Überzeugungen, sondern in der Ausübung oder Erfüllung bestimmter Pflichten.6 Deshalb hat der Hinduismus Raum für viele verschiedene Got­ tesbilder. Ein Gott, drei Götter, Millionen von Göttern oder keiner – das Verständnis Gottes ist nicht so wichtig wie der Fokus auf dem eigenen Handeln. Gott beziehungsweise Götter Nachdem wir festgestellt haben, dass Handeln wichtiger ist als Glauben, und angesichts der großen Unterschiede in den hin­ duistischen Vorstellungen von Gott, sollte doch etwas mehr über die gängigeren Vorstellungen bezüglich eines Gottes oder einer Vielzahl von Göttern gesagt werden. Die hinduistischen Vorstellungen über die Götterwelt erin­ nern mich ein wenig an ein Buffet in einem „Nahost“-Restau­rant bei mir um die Ecke. Ich setze Nahost in Anführungszei­chen, weil das zwar der Anspruch und das Thema des Restaurants ist, das Essen am Buffet aber weit über das hinausgeht, was ich als nahöstlich klassifizieren würde. Es ist so, als hätte das Res­ taurant als Nahost-Restaurant begonnen, aber dann wurden

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nach und nach weitere Speisen in der Karte aufgenommen, um den Geschmack der Gäste zu treffen, und dieser Vorgang fand kein Ende. Schließlich hatte dieses „Nahost“-Buffet Pizza, chi­ nesisches Essen, typisch amerikanische Speisen und mehr zu bieten. So konnte der Kunde wählen, was er wollte, und hatte gewöhnlich eine ziemlich bunte Auswahl auf dem Teller. In ähnlicher Weise hat der Hinduismus eine Art Kunden­ orientierung im Blick auf die Auswahl der Götter entwickelt. Im Laufe der fünftausend Jahre indischer Religion, die die heu­ tigen Konzepte des Hinduismus geprägt haben (und wie gesagt, dieser Begriff wird erst in den letzten tausend Jahren verwen­ det), wurden die Vorstellungen über die Götter weitaus häu­ figer erweitert als die Buffet-Optionen in meinem örtlichen Restaurant. In den frühen Gottesbildern gab es eine Art Dreiheit. Die hinduistische Mythologie berichtet von einem Schöpfergott namens Brahmā (Sanskrit für „Großvater“).7 Zusammen mit ihm existierten Vishnu, der erhaltende Gott, und Shiva, der zer­ störende Gott. Brahmā wird eher selten verehrt, es gibt in In­ dien nur eine Handvoll Tempel, die ihm gewidmet sind. John­ son führt dies auf die Tatsache zurück, dass Brahmā unfähig ist, Menschen zu retten.8 Es ist bezeichnend, dass Erlösung im hinduistischen Verständnis die Aufnahme in die absolute oder universelle Seele bedeutet (Reinkarnation). Brahmā verleiht die Gabe der Unsterblichkeit. Er ist der Schöpfer der ewigen Seele, kann jedoch die Menschheit nicht aus ihrer menschli­ chen Existenz befreien. Die Dreiheit selbst (Trimurti genannt) ist kein theologisches Konzept, sondern eher eine künstlerische Idee, die hilft, der Er­ fahrung der Spannung bei der Suche nach Einheit inmitten gro­ ßer Vielfalt Ausdruck zu verleihen. In meiner Buffet-Analogie

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könnte es die Spannung zwischen dem Mittagessen und einzel­ nen Gerichten wie Hühnchen, Spaghetti, Reis oder Borschtsch sein. In der späteren Entwicklung des Hinduismus gibt es eine unübersehbare Vielzahl von Göttern. Oftmals gibt es Fami­ liengötter, Dorfgötter und mehr. Wenn man bedenkt, dass es allein in Indien und Nepal über siebenhundert Millionen Hin­ dus gibt, kann das schon eine ganz hübsche Vielzahl von Göt­ tern bedeuten! Karma, Reinkarnation und Erlösung Tief verwurzelt im Wesen des Hinduismus ist der Gedanke, dass das Leben in dieser Welt wesentlich von Leid geprägt ist. Hunger, Krankheit, soziale Unruhen und der Kampf ums Überleben sind für viele Menschen historische Tatsachen. Die hinduistische Erklärung für dieses Leid findet sich in den Kon­ zepten von Karma, Reinkarnation und dem Streben nach Er­ lösung. Diese drei Ideen hängen eng miteinander zusammen. Sie bilden einen ineinandergreifenden Kreislauf, der sich auf die Stellung und den Stand jedes Einzelnen in seinem gegen­ wärtigen Leben auswirkt. Sie sind das Ziel und der Antrieb für ein heiliges und tugendhaftes Leben. Im Zentrum dieser Lehre steht die Idee des Karmas, ein Sanskrit-Wort für eine Tat oder Handlung. Das Gesetz des Karmas ist eine hinduistische Erklärung für die Existenz von Geburt und Leid. Menschen leiden aufgrund ihrer schlechten Taten, sei es in diesem oder in einem früheren Leben. Karma begleitet die Menschen durch all ihre Verkörperungen oder Inkarnationen. Durch ein tugendhaftes Leben können sie eine bessere Position im nächsten Leben sicherstellen, die weniger Leid mit sich bringt als das vorherige.9

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Karma ist der Schlüssel zum Verständnis des hinduisti­ schen Kastensystems. Obwohl das Wort Kaste eigentlich por­ tugiesischen Ursprungs ist, wird es häufiger, insbesondere im Westen, verwendet, um auf das Jati, die durch Geburt zuge­ wiesene gesellschaftliche Position, zu verweisen. Der Glaube an Karma festigte eine Struktur in der indischen Gesellschaft, die für die höheren Klassen sehr gut funktionierte. Die Lehre besagt, dass der Mensch seine Position im Leben aufgrund des Karmas oder der Taten in einem früheren Leben zugewiesen bekommt. Daher waren die höheren Klassen „reiner“ und er­ hielten aufgrund ihrer moralischen Leistungen in einem frü­ heren Leben Positionen, die weniger Leid bedeuteten, wäh­ rend diejenigen in den unteren Klassen, die ein leidvolleres Leben hatten, für ihre moralische Verunreinigung in früheren Existenzen büßen mussten. Einige untere Kasten waren zum Dienst an der höheren Kaste geboren. Unterhalb der Diener­ kaste gab es Kasten der niedrigeren Berufe wie Wäscherinnen oder Friseure. Noch unter dieser Kaste gab es eine Gruppe von Unberührbaren, die für die Entsorgung von Abwässern und Müll, das Beseitigen von Leichen und dergleichen zuständig waren. Dieses Kastensystem zementierte eine hierarchische Gesell­ schaft, in der die Armen sich damit abfinden mussten, arm zu sein; schließlich war es ihr verdientes Los im Leben. Wenn die Armen ihren „unreinen“ Status akzeptierten und ein gutes, ethisches Leben führten, konnten sie in ihrer Wiedergeburt im Kastensystem aufsteigen. Andererseits könnte jemand, der sich auflehnt oder versucht, sich ein Leben außerhalb seiner Kaste aufzubauen, im nächsten Leben noch schlechter dran sein, vielleicht sogar in einer der Höllen landen, von deren Existenz man ausging.

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Das Ziel oder die Erlösung im hinduistischen Denken be­ steht darin, den Kreislauf der Wiedergeburt in ein leidvolles Leben durch die Erlösung (Mukti) zu durchbrechen, indem man in die absolute oder universelle Weltseele eingeht. Diese Erlösung wird einem Menschen dann zuteil, wenn er ein ge­ wisses Maß an Güte erreicht hat. Was diese Erlösung wirklich bedeutet, hängt davon ab, welche Variante hinduistischen Glaubens man vertritt. Für den Atheisten könnte es das völlige Erlöschen der eigenen Exis­ tenz bedeuten. Für diejenigen, die an Götter (oder einen Gott) glauben, könnte es bedeuten, mit der kosmischen Seele zu ver­ schmelzen oder eine persönliche Beziehung zu den Göttern/­ dem Gott zu haben. George Harrisons Lied „My Sweet Lord“ spricht diese Sehnsucht an: „I really want to see you … really want to be with you … but it takes so long, my Lord.” („Ich möchte dich wirklich sehen … möchte wirklich bei dir sein …, aber es dauert so lang, mein Herr.“)

Eine Einschätzung des Hinduismus Als Weltanschauung bietet der Hinduismus vieles, was ich schätze, und ich finde darin etliche wertvolle Wahrheiten. Mei­ nes Erachtens scheitert er aber als systematische Erklärung der Realität. Er ist wie der sprichwörtliche quadratische Pflock in einem runden Loch. Lassen Sie mich dies anhand der sechs zu­ vor aufgestellten Fragen analysieren.

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Der Hinduismus | 59

Steht die Weltsicht des Hinduismus objektiv im Einklang mit der Realität? (Kriterium 1) Spiegelt der Hinduismus die Welt so wider, wie sie tatsächlich ist? In seiner Vielgestaltigkeit ist der Hinduismus so offen für unterschiedliche Ansichten, dass eine Übereinstimmung mit vielen Gegebenheiten dieser Welt leicht möglich ist. Dennoch habe ich in dieser Hinsicht einige Bedenken.

Synkretismus. Die objektive Stimmigkeit geht im „alles umfas­ senden Schoß des Hinduismus“ verloren. Mohandas Gandhi, besser bekannt unter dem Ehrentitel „Mahatma“, was „vereh­ rungswürdig“ bedeutet, schrieb: Mein Hinduismus ist nicht ausgrenzend. Er umfasst alles, was ich im Islam, Christentum, Buddhismus und Zoroastrismus für das Beste halte. […] Wahrheit ist meine Religion.10 Genau hier sehe ich ein Problem. Wahrheit ist absolut. Zwei plus zwei ergibt vier in dem Sinne, dass, wenn ich zwei ­Äpfel habe und Sie mir zwei weitere geben, ich dann vier habe. Ich finde keine Wahrheit in einem System, das mir erlaubt, nahezu alles zu glauben, was ich möchte, während es jedem anderen ebenfalls gestattet, nahezu alles zu akzeptieren, was er möchte. Der Ansatz wird besonders problematisch, wenn ich die Über­ zeugungen, beispielsweise des christlichen Glaubens, damit vergleiche. (Ähnliches könnte gesagt werden, wenn ich mich zum muslimischen oder traditionellen jüdischen Glauben be­ kennen würde. Unter all diesen Glaubenssystemen versagt der Synkretismus des hinduistischen Denkens.)

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