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Ein Gott, der mich sieht – 9783986950323

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Mary DeMuth

sieht

Was wir von den Schicksalen biblischer Frauen über Heilung, Neuanfänge und einen Gott lernen können, der uns nie aufgibt

Aus dem Englischen von Elke Wiemer


Originally published in the U. S. A. under the title: The Most Misunderstood Women of the Bible by Salem Books, an Imprint of Regnery Publishing, a Division of Salem Media Group Washington, D. C. www.SalemBooks.com Copyright © 2022 by Mary DeMuth © der deutschen Ausgabe 2024 by Gerth Medien in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Berliner Ring 62, 35576 Wetzlar Published by arrangement with Regnery Publishing. Wenn nicht anders angegeben, wurden die Bibelzitate der folgenden Übersetzung entnommen: Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM R. Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen Weitere verwendete Bibelübersetzungen: Neue Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen, Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft (NGÜ ) Gute Nachricht Bibel, durchgesehene Neuausgabe, © 2018 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (GN) Hoffnung für alle® Bibel. Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung von Fontis – Brunnen Basel. Alle weiteren Rechte weltweit vorbehalten. (Hfa) Willkommen daheim. Übertragung des Neuen Testaments, übersetzt von Fred Ritzhaupt, © 2009 by Gerth Medien in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Wetzlar (WD) 1. Auflage 2024 Bestell-Nr. 821032 ISBN 978-3-98695-032-3 Umschlaggestaltung: Mareike Schaaf Umschlagfoto: Shutterstock / Wirestock Creators Bearbeitung: Nicole Schol Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany www.gerth.de


Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 1 Eva – der Sündenbock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Kapitel 2 Hagar – die Vergessene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Kapitel 3 Lea – die Ungeliebte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Kapitel 4 Rahab – die Hure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

Kapitel 5 Noomi – die Trauernde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Kapitel 6 Batseba – die Misshandelte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143


Kapitel 7 Tamar – die Missbrauchte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Kapitel 8 Die Frau aus Sprüche 31 – die Vollkommene . . . . . . . . . . . . . 197 Kapitel 9 Maria aus Magdala – die Besessene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Kapitel 10 Phöbe – die Unbekannte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Schlusswort Nie mehr missverstanden und verkannt . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267


Für Rebecca Carrell, Dr. Sandra Glahn und Kelley Mathews. Danke, dass ihr mir beigebracht habt, die mutigen Frauen der Bibel durch die Brille der Bibel zu betrachten. Dieses Buch ist beeinflusst und geprägt von euch und euren Gedanken. Ich bin sehr dankbar für unsere gemeinsamen Mittagessen.



Einleitung Es ist schon mehr als zehn Jahre her, dass ich einer Freundin Ängste gestand. Diese gingen auf eine Erfahrung mit einem lei­ tenden Mitarbeiter zurück, der ein völlig falsches Bild von mir gehabt hatte. All das Selbstmitleid strömte nur so aus mir heraus. „Er hat mir Motive unterstellt, die ich überhaupt nicht habe“, sagte ich. „Und seine Einschätzung meiner Person war nicht nur ungerecht, sondern lag völlig daneben.“ Sie sah mich besorgt an und nickte. Ich überlegte angestrengt, ob ich auf den Mann zugehen und ihn zur Rede stellen sollte. Ich zählte wichtige Aspekte auf und überschlug schon beinahe im Kopf, wie recht ich hatte. Doch dann hielt ich inne. Ich holte tief Luft und sagte schließlich: „Ich glaube nicht, dass Gott mich dazu berufen hat, meinen Ruf zu verteidigen. Ich sollte ihm vertrauen, auch wenn ich missverstanden werde oder jemand eine falsche Einschätzung von mir hat.“ In diesem Augenblick wurde die Saat für dieses Buch in mein Herz gepflanzt. Meine Freundin sah mich an und meinte dann: „Wusstest du, dass Jesus derjenige war, der am häufigsten miss­ verstanden und verkannt wurde?“ 9


Ich schwieg. In diesem stillen Moment ging ich in Gedanken hastig das Leben von Jesus durch: Mit zwölf lehrte er im Tempel, wäh­ rend seine Eltern ihn panisch suchten und dann zurechtwiesen. Er hinterfragte die religiöse Elite, die angeblich die Schlüssel zum Königreich besaß (obwohl er der König über alles war). In seinen Gleichnissen äußerte er sich positiv über diejenigen, die verachtet und ausgestoßen wurden, während die Pharisäer, die „drin“ waren und geachtet wurden, die Rolle der Schurken übernahmen. Er sprach an einem Brunnen mit einer samarita­ nischen Frau, während seine Jünger verwirrt zusahen. Obwohl Jesus von den Menschen offensichtlich missverstanden wurde, äußerte er sich meist nicht dazu. Er ertrug es. Er zog sich in die Berge zurück, um seinem Vater davon zu erzählen. Und dann schüttelte er den Staub von seinen Sandalen (und von seinem Herzen) und machte den nächsten Schritt in Richtung König­ reich. Er erfüllte seinen Auftrag, obwohl er ständig hinterfragt wurde. Und weil er das tat, sollten wir versuchen, seinem Vor­ bild zu folgen. Die Frage meiner Freundin eröffnete mir eine völlig neue Wahrheit: Jesus weiß, was es heißt, missverstanden und ver­ kannt zu werden. Und weil er selbst ertragen hat, missverstan­ den und verkannt zu werden, hat er auch Mitgefühl für Men­ schen, denen es ebenso ergeht. Im 12. Kapitel des Hebräerbriefs finden wir eine ermutigende Botschaft, die der Verfasser gleich nach den Versen darüber, dass Jesus den Tod am Kreuz erduldet hat, einflechtet: „Denkt an alles, was er durch die Menschen, die ihn anfeindeten, ertragen hat, damit ihr nicht müde werdet und aufgebt“ (Hebräer 12,3). Ich bin inzwischen an einem Punkt in meinem Leben an­ gelangt, an dem wichtige Lektionen langsam Form annehmen, 10


und das ist eine davon: Missverstanden und verkannt zu werden, gehört zum Schwierigsten, was wir Menschen in diesem Leben ertragen müssen. Was aber nicht bedeutet, dass wir bis zu unse­ rem Tod stumm zuschauen oder Strategien entwerfen müssen, wie wir unseren Ruf schützen können. Es gibt eine kraftvollere, dynamischere Art zu leben. Meine Freundin hat mir zwar eine wichtige Erkenntnis über Jesus vermittelt, aber wenn wir einen Blick in die Bibel werfen, merken wir, dass es darin noch viele andere Berichte von Men­ schen gibt, die es ertragen mussten, missverstanden, verkannt oder in irgendwelche Schubladen gesteckt zu werden. Ich glau­ be, gerade in den Geschichten der biblischen Frauen kommt das noch stärker zum Ausdruck – und mit vielen dieser Berichte sind wir eben nicht vertraut, denn in den Gottesdiensten wird nur selten auf das wahre Leben dieser Frauen eingegangen. Und wenn es dann doch mal mit ausgeblichenen Filzfiguren dar­ gestellt wird, werden diese Frauen oft in eine Schublade gesteckt oder verunglimpft. Eva trägt den Zorn der gesamten Menschheit auf ihren Schul­ tern. Hagar spielt nur die zweite Geige. Leas Herzschmerz wird mit einem vermeintlichen „Sehfeh­ ler“ abgetan und nicht genauer erforscht. Rahab ist bloß als Rahab, die Hure, bekannt. Ihr mutiger Glaube wird unterschätzt. Noomi, die Verbitterte aus dem Buch Rut, begegnet uns nur als depressiv Zurückschauende. Batseba taucht in Predigten nur als Verführerin auf, ohne dass man dabei auch das Machtgefüge in Betracht zieht. Über Tamars grausame Vergewaltigung liest man in 2. Samuel 13 schnell hinweg oder lässt sie gar links liegen. 11


Die Frau aus Sprüche 31 wird an diverse kulturelle Nor­ men angepasst, ohne dass man sich dabei ehrlich mit dem Text oder dem Kontext auseinandersetzt, in dem dieses Kapitel ent­ stand. Maria aus Magdala wird (fälschlicherweise) oft als ehemalige Prostituierte bezeichnet. Und Phöbe, von der viele Theologen glauben, dass sie den Römerbrief nach Rom gebracht hat, ist bloß eine Fußnote der Geschichte. Und das sind nur eine Handvoll Frauen in der Bibel, die miss­ verstanden oder verkannt werden. Wir können viel von ihnen lernen – in Bezug auf Entschlossenheit, Standhaftigkeit, Durch­ haltevermögen und Hoffnung. Sie sollen in diesem Buch unse­ re Lehrmeisterinnen sein, während wir uns mit dem Gedanken und der Realität dessen beschäftigen, was es bedeutet, missver­ standen und verkannt zu werden. Ich werde versuchen, jede dieser Frauen literarisch zum Le­ ben zu erwecken, sie als echten Menschen zu präsentieren (denn genau das waren sie). Wir lesen die Bibel oft so, als handelten die Berichte bloß von irgendwelchen schematischen Figuren, die eben mal kurz in der Menschheitsgeschichte aufgetaucht sind. Aber diese Frauen? Sie haben wirklich gelebt. Sie hatten so wie wir alle ihre schmerzlichen Geheimnisse, sind unter dem Druck, der auf ihnen lastete, und an den gleichen Dingen zerbrochen wie wir heute. Sie haben versucht, ihren Alltag zu bewältigen, haben um Rat gefragt, wenn sie nicht weiterwussten, und haben sich Gedanken über ihre Rolle im Leben gemacht. Sie haben Op­ fer gebracht, mit anderen mitgelitten und waren mit Krankhei­ ten, Ungewissheit und dem Tod konfrontiert. Sie sind wir. Wir sind sie. Ich werde meinen Autorinnen-Hut aufsetzen und auf den 12


Seiten dieses Buches jede dieser Frauen für dich lebendig wer­ den lassen. Ich werde ihre jeweilige Geschichte in Überein­ stimmung mit der Bibel und theologischen Erkenntnissen aus­ schmücken, und zwar so, dass du ihnen – vielleicht zum ersten Mal – wirklich begegnest. Nachdem ich ihre Geschichten erzählt habe, werde ich erklären, wie sie damit umgegangen sind, miss­ verstanden oder verkannt zu werden. Dabei werde ich auch auf andere Bibelstellen hinweisen, die uns ein besseres Verständnis davon vermitteln, wie wir ganz praktisch in dem Bewusstsein leben können, dass Gott uns ein für alle Mal errettet und einen Neuanfang ermöglicht hat. Dieses Buch wird dir zwar neue Er­ kenntnisse vermitteln, aber ich habe es nicht nur für deinen Ver­ stand, sondern auch für dein Herz geschrieben (und gewisser­ maßen für deine Füße). Paulus erinnert uns in Philipper 2,12 daran: „Meine geliebten Schwestern und Brüder, ich weiß, dass ihr mir nicht nur gehorcht, wenn ich bei euch bin, sondern auch jetzt während meiner Abwesenheit. Darum möchte ich euch noch einmal von Her­zen ermahnen, mit allem Ernst und aller Entschiedenheit auf dem Weg der Erlösung durch Christus zu bleiben“ (WD). Ich glaube, dass wir lernen können, besser da­ mit umzugehen, missverstanden und verkannt zu werden – und durch diesen Lernprozess immer mehr in der Lage zu sein, so zu handeln wie Jesus – mit viel Durchhaltevermögen. Du musst dein Leben nicht länger von der Meinung anderer bestimmen lassen. Wenn Freunde oder Angehörige schlecht über dich reden oder Wildfremde im Internet ihrer vorgefassten Meinung Luft machen, soll dir die Botschaft dieses Buches helfen, dich nicht von deinem Weg abbringen zu lassen. Ich bete dafür, dass dieses Buch wie ein frischer Wind durch dein Leben weht und dir dabei hilft, jeden Tag erwartungsvoll anzugehen – obwohl das Stimmengewirr in unserer Gesellschaft 13


dir das vielleicht nicht gerade leicht macht. Denn auch wenn es sich sehr real anfühlt, so bestimmt doch das falsche Bild, das an­ dere von dir haben, nicht, wer du bist. Die Person, die am meis­ ten missverstanden und verkannt wurde, bestimmt das.

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Kapitel 1

Eva – der Sündenbock Ihr Name klingt, als würde man tief Luft holen und dann be­ sorgt wieder ausatmen. Chavvah. Ein und aus … Evas Atemzüge kamen unter dem strahlend blauen Himmel langsam zur Ruhe. Adam hatte ihr nach dem finstersten Tag ihres Lebens, dem Tag der Nacktheit, der Selbsterkenntnis und des Gerichts, diesen Na­ men gegeben – Lebenspenderin. Dieses Leben war ein unglaub­ liches Geschenk von Jahwe, nachdem ihre eigene Entscheidung zum Tod geführt hatte. Wenn sie diesen Griff zur Frucht doch nur rückgängig machen könnte! Die Vorstellung, genauso viel Erkenntnis zu besitzen wie Gott, war zu verlockend gewesen. Aber manche Dinge konnte man eben nicht mehr in Ordnung bringen. Jetzt besaßen Adam und Eva Begriffe, die die Zeit bestimm­ ten – jetzt gab es ein „Vorher“ und ein „Nachher“. Vorher, das war die glückliche Zeit. Die Bäume trugen saftige Früchte. Der Boden brachte mühelos die Ernte hervor. Die Tiere schüttelten einander freundschaftlich die Pfoten. Kein Tod. Kein Verfall. Keine Scham. Kein bisschen Fleisch. Nur das Leben, das Leben im Überfluss. Als Eden, der große Garten, noch jung war, hatte sie keinen 15


Namen gehabt. Während Adam damit beschäftigt war, die Ge­ schöpfe zu benamsen, kam Gott zu ihm (zumindest hatte er ihr das später so erzählt) und ließ ihn einschlafen. Und während er schlief, entnahm ihm der Herr einen Knochen aus dem Brust­ korb und formte daraus eine Gefährtin – eine ezer kenegdo. Sie – jemand, der dort stark war, wo er schwach war, eine Retterin an seiner Seite. Diese beiden Worte sollten sich später einmal auf Gott beziehen, der, der immer auf einer geheimen Rettungsmis­ sion war, auch wenn alles verloren schien. Aber diese Kreatur vor ihm verwirrte Adam, und so gab er ihr keinen Namen. Statt­ dessen beschrieb er sie gewissermaßen. „Männin“, nannte er sie. Ishah, weil sie ein Teil von Ish, dem Mann, war. Sie entsprach ihm und passte perfekt in seine Umarmung. Das war das Vorher. In der Kühle des Tages hatten sie sich immer unter die ande­ ren Wesen begeben, hatten nach Belieben Nahrung gesammelt und sich an ihrer gemeinsamen Unterhaltung erfreut. Sie lern­ ten die Vorlieben des anderen kennen, während sie neben Gott hergingen, der ihnen selbstlose Liebe vorlebte. Lerne dein Ge­ genüber kennen. Finde heraus, was den anderen zum Lächeln bringt. Freue dich über den anderen. Gib, gib, gib. Das Zischen dieser Kreatur verfolgte sie im Nachher noch in ihren Albträumen. Verführerisch. Klüger, als ihr Schlangen­ dasein vermuten ließ. Clever. Plausibel. Auch dieses Wesen woll­ te wie Gott sein, wollte durch den Garten wandeln – und es tat dies mit einer trügerischen Neugier, als sei es auf einer Mission. Eva war gerade in der Nähe des verbotenen Baumes gewesen, als die Schlange sich zu ihr gesellte, obwohl Adam in der Nähe war. Der Baum hatte ihre Neugier geweckt, denn Adam hatte ihr eines Nachmittags – es war kurz nachdem sie zum ersten Mal die Augen geöffnet hatte – davon erzählt, dass dieser tabu 16


war. Und da stand dieser Baum nun, stattlich, mit zum Him­ mel gereckten Ästen und Wurzeln, die sich tief in die Erde krall­ ten. Mit einer eigenartigen Majestät erhob er sich hoch über alle anderen Bäume und die Tauben sangen Liebeslieder in seinen Zweigen. Sie nahm das alles tief in sich auf und atmete dann aus. „Hat Gott wirklich gesagt, dass ihr die Früchte, die an den Bäumen des Gartens wachsen, nicht essen dürft?“, fragte die Schlange lächelnd. Die Frage brachte sie aus dem Gleichgewicht. Was? Hatte Gott das wirklich gesagt? Sie dachte an Adams Worte zurück – nein, alle Bäume waren erlaubt, nur für einen galt das schreckliche Verbot. Sie sah zu Adam, aber dieser antwortete nicht. Obwohl er ne­ ben ihr stand, schien er weit weg zu sein. „Selbstverständlich dürfen wir die Früchte von den Bäumen essen, die in diesem Garten wachsen.“ Ihr Blick glitt über die grünen Bäume, die die Hügel und die Täler überzogen. Dann deutete sie auf den einen Baum, dessen Früchte unter dem blauen Himmel rubinrot leuchteten. „Nur die Früchte von dem Baum in der Mitte des Gartens dürfen wir nicht essen.“ Bei die­ sen Worten bewegte eine sanfte Brise die Zweige des Baumes, sodass die Früchte zu tanzen schienen – und ihren Blick fessel­ ten. Dann fand sie ihre Stimme wieder: „Gott hat gesagt: ‚Esst sie nicht, ja berührt sie nicht einmal, sonst werdet ihr sterben.‘ So hat Adam es mir gesagt. Stimmt doch, Adam, oder?“ Doch Adam blieb stumm und in seinen Augen war weder Sorge noch Beunruhigung zu sehen. Sie waren so ruhig wie ein See am frühen Morgen. In der Zeit des Vorher kannte Eva die Bedeutung des Wortes „Tod“ nicht. Es gab nichts, woran sie dieses Wort festmachen konnte. Es klang auf jeden Fall bedrohlich, vor allem abends, 17


wenn ihre Gedanken darum zu kreisen schienen: Tod. Aber war Gott nicht der Schöpfer allen Lebens? Wer war er wirklich? War er nicht ihr liebevoller Gefährte, voller Energie und Kraft und Leidenschaft? Hatte er ihnen nicht zu verstehen gegeben, dass er nur ihr Bestes im Sinn hatte? Die Schlange erhob sich, blickte ihr in die Augen und lachte. „Ihr werdet doch nicht sterben!“ Der Wind legte sich. Die Bäume waren vollkommen still. Die Luft war wie zum Schneiden, ganz ungewöhnlich. Die Lüge schmeckte süß, zumindest erinnerte sie sich im Nachher so an die Worte der Schlange. „Im Gegenteil, Gott weiß nämlich ganz genau, dass euch dann die Augen aufgehen werden und ihr genauso wie er wissen werdet, was gut und was böse ist.“ Gott ist knauserig, dachte sie. Er enthält mir etwas vor, das mich klug machen würde. Ist er wirklich gut? Oder ist er selbstsüchtig und behält all die Weisheit und Macht für sich? Als sie spä­ ter beklagenswerterweise die Weisheit besaß, nach der sie sich gesehnt hatte, erkannte sie, dass dies die Gedanken einer Ver­ rückten gewesen waren. Mit dem leidenschaftlichen Verlangen nach mehr blickte sie zum Baum hinauf. Der Duft der Früchte zog ihr in die Nase – es war eine Mischung aus Rosen, Eukalyptus und Zitrusblüten. Wenn man diesen Duft trinken könnte, würde sie es tun. In die­ sem Augenblick wollte die Frau nur eines – diese Frucht, die so himmlisch duftete und die Gott ihr selbstsüchtig vorenthielt. Sie stellt sich noch einmal die Frage: Ist Gott wirklich gut? Wa­ rum würde ihnen ein guter Gott eine so verlockende Frucht vor­ enthalten? Was hielt er sonst noch vor ihr und Adam zurück? Er hatte immer entgegenkommend und freundlich gewirkt – und auch mächtig. Aber verbarg sich hinter dieser Fassade vielleicht 18


ein Geheimnis? Und würde sie die Welt besser verstehen, wenn sie diesem Geheimnis auf die Spur kam? Obgleich der Garten faszinierend war, war er doch zugleich auch kompliziert. Viel­ leicht würde dieser Baum der Weisheit ihr ein tieferes Verständ­ nis davon ermöglichen, wie die Dinge wuchsen, wie sie die Tiere unter ihrer Obhut am besten hütete. All diese Fürsorge für die Pflanzen und Tiere war ermüdend. Ein Sonnenstrahl fiel auf eine einzelne runde Frucht. Sie ging darauf zu. Sie sog ihren betörenden Duft ein. Sie schaute noch einmal zu Adam zurück – der weiterhin keinen Ton von sich gab. Ein Biss konnte doch nicht schaden! Ihr Magen knurrte. Mit einer einzigen, schrecklich geschickten Bewegung griff sie nach der runden Frucht mit der roten, geschmeidigen Haut und biss hinein. Das Fruchtfleisch tropfte blutrot von ihren Lippen, und noch bevor sie den Geschmack wahrnehmen konnte, hielt sie auch schon Adam die angebissene Frucht hin, der ebenfalls einen großen Bissen davon nahm. Rückblickend erinnerte sie sich daran, wie sich der Ge­ schmack der Frucht von berauschend und süßlich in bitter wie Galle verwandelte. Sie wollte ihn aus ihrem Körper entfernen, aber das Gift war schon in ihre Gedanken vorgedrungen. Eine tiefe Traurigkeit durchdrang sie. Und auch der erste Anflug von Grauen – zum ersten Mal machte sie die Bekanntschaft von Be­ dauern, das sich dann in Scham verwandelte. Sie sah auf ihren Oberkörper hinunter, ein Körper, über den sie nie nachgedacht hatte, und erkannte plötzlich, dass sie nackt war. Sie atmete has­ tig, während sie und Adam Blätter sammelten, um ihre Körper zu bedecken, und die Schlange wie verrückt lachte. Den Rest des Tages verbrachten sie mühsam damit, sich zu bedecken und Feigenblätter in Kleidung zu verwandeln. Obwohl beide dachten, wenn sie schnell etwas zusammenschneiderten, 19


würde das ihre schicksalhafte Entscheidung ungeschehen ma­ chen, kamen Verwundbarkeit und Panik in ihnen hoch. Bei einer so schlimmen „Verletzung“ würden solche äußerlichen Maßnahmen nicht helfen. Sie wurden beide von Angst gepackt, die sich in ihre einst so wunderbare Beziehung schlich. Adam warf Eva Anschuldigungen an den Kopf. Und sie erwiderte sie prompt. Doch als sich die Dämmerung über Eden legte, zog sich Evas Magen zusammen. Gott würde bald kommen und sie mussten ihm in die Augen sehen. Wo war denn die Schlange hin ver­ schwunden, als Gottes Schritte durchs Unterholz drangen? Sie hatte sich verkrümelt, hatte ihren Job erledigt. Adam zog die Frau hinter die Bäume und bedeutete ihr, sich zu verstecken. Drei Worte drangen durch den Garten. Wo … … bist … … du? Adam trat mit Blättern bedeckt zwischen den Ästen hervor, hinter denen sie sich versteckt hatten. „Ich habe gehört, dass du kommst, da habe ich mich geschämt, weil ich ja nackt bin. Da­ rum habe ich mich versteckt“, sagte er und hatte seine Stimme wiedergefunden. Da bemerkte sie den traurigen Blick des Herrn – Enttäu­ schung, heiliger Zorn, Trauer, Wut … und doch? Ruhe. „Wer hat dir denn gesagt, dass du nackt bist?“, wollte der Herr, Gott, von Adam wissen. Warum hatte er nicht zuerst sie angesprochen? War sie es denn nicht gewesen, die alles ruiniert hatte? Warum richtete Gott seine Anschuldigungen gegen Adam, den großen Schwei­ ger? 20


Gott fuhr fort: „Hast du etwa von dem Baum gegessen, von dem zu essen ich euch ausdrücklich verboten hatte?“ Wieder war seine Frage an Adam gerichtet. Sie erinnerte sich daran, wie schweigsam ihr Mann gewesen war, dass er die Entscheidung ganz ihr überlassen hatte. Sie hatte sich unter den durchdringenden Blicken der Schlange so hilflos gefühlt. Und obwohl der Allmächtige sie noch nicht angespro­ chen hatte, wollte sie schon mit einer Entschuldigung heraus­ platzen, aber Adam war schneller. „Die Frau, die du mir an die Seite gestellt hast, hat mir die Frucht gegeben. Nur deshalb habe ich davon gegessen.“ War mit der Erkenntnis von Gut und Böse etwa das gemeint: Schuldzuweisungen? Verrat? Dass man plötzlich nur noch „die Frau“ war? Aber tief in ihr rührte sich eine noch größere Sorge: Wertlosigkeit. Vorher hatte sich der Boden unter ihren Füßen fest angefühlt. Sie hatte ihren Platz gekannt, er hatte ihr Gewicht verliehen. Ihre Füße hatten auf dem Felsen der Wertschätzung, des Gewolltseins, des Geliebtseins gestanden. Aber schon beim ersten Biss in die Frucht schlich sich der Argwohn ein und ließ sie an der Güte Gottes und an der liebevollen Zuneigung ihres Mannes zweifeln. Und jetzt, als Adams Schuldzuweisungen an ihre Ohren drangen, fühlte sie die Erde unter ihren Füßen plötz­ lich wanken, und ihre innere Ausgeglichenheit verwandelte sich in Chaos. Gott sah Eva in die Augen, die nun von Falten umgeben wa­ ren und die Last der ganzen Welt widerspiegelten. Sie konnte seine Traurigkeit nicht ertragen. Sie wandte den Blick ab und schluckte, um ihre Tränen zu unterdrücken. „Stimmt das? Hast du das getan?“, fragte Er. Zuerst schwieg sie. Sie sah zu ihrem engsten Gefährten, ih­ rem Vertrauten, aber Adam betrachtete sie nur mit einem 21


höhnischen Grinsen. Sie seufzte voller Bedauern. Zu gern hätte sie gesagt, dass es ihr leidtat, aber diese Worte klangen in ihren Ohren so bedeutungslos. Vielleicht konnte sie Gott erklären, was passiert war, dass sie hereingelegt worden war. „Die Schlange hat mich dazu verleitet“, entgegnete sie des­ halb. „Deshalb habe ich von der Frucht gegessen.“ Und als sie das Wort „Schlange“ aussprach, wand sich die Schlange mit einem siegreichen Ausdruck in ihren kalten Au­ gen. Das Tier richtete sich zu seiner vollen Größe auf, aber ne­ ben dem Herrn wirkte es winzig, sowohl im Hinblick auf seine Statur als auch auf seine Güte. Mit heiligem Zorn sprach Gott: „Weil du das getan hast, sollst du unter allen zahmen und wilden Tieren verflucht sein. Dein Leben lang sollst du auf dem Bauch kriechen und Staub fressen.“ Bei diesen Worten schrumpfte die Schlange und glitt zum Bo­ den hinab. Sie würde sich nie wieder erheben. Dann wandte sich Gott Eva zu. „Von nun an wird zwischen dir und der Frau sowie deinen Nachkommen und ihren Nach­ kommen Feindschaft herrschen. Während sie dich am Kopf fas­ sen werden, wirst du versuchen, nach ihrer Ferse zu schnappen.“ Im Nachher dachte sie oft über diese Worte nach, bewegte sie in Gedanken, konnte aber ihren Sinn nicht durchdringen. Als das Licht der Sonne über dem Horizont versank, sprach Gott: „Ich werde deine Geburtsschmerzen verschlimmern. In Zukunft wirst du unter großen Mühen und Schmerzen Kinder zur Welt bringen. Du wirst deinen Mann kontrollieren wollen, doch er wird über dich herrschen.“ Und auch über diese Worte würde sie während ihres Daseins auf der Erde oft nachdenken. Als sie sie zum ersten Mal hörte, verstand sie noch nicht, dass sie in Zukunft das würde durch­ machen müssen, was auch alle anderen Lebewesen im Garten 22


erlebten: Schwangerschaft und Geburt. Keines dieser Wesen winselte dabei, aber sie sollte heulen und stöhnen, wenn ihre Zeit gekommen war. Das Miteinander zwischen ihr und Adam war unwiderruflich zerrüttet. Sie waren nicht länger Gefährten, sie kämpften gegeneinander, aber wegen seiner zähen Stärke ge­ wann er immer die Oberhand. Die Schlange hatte die Wahrheit mit Lügen vermischt, als sie ihre leeren Versprechungen geflüs­ tert hatte. Ja, sie kannte jetzt den Unterschied zwischen Gut und Böse, aber sie musste nun erleben, wie das Böse in ihr und in Adam am Werk war. Die angebliche Weisheit hatte ihr schluss­ endlich nur eines gebracht: Einsamkeit. Gott wandte sich nun zu Adam und sagte: „Weil du auf deine Frau gehört und von der verbotenen Frucht gegessen hast, soll der Ackerboden deinetwegen verflucht sein.“ Eva konnte hören, wie Adam aufstöhnte. Ihr gesegneter Boden war verflucht – was würde das bedeuten? Doch Adam schwieg auch in diesem Augenblick; es war genau wie früher am Tag bei der Schlange. „Dein ganzes Leben lang wirst du dich abmühen müssen, um dich davon ernähren zu können“, fuhr der Herr fort. „Dornen­ gestrüpp und Disteln überwuchern deinen Acker, von dem du dich ernähren musst. Im Schweiße deines Angesichts wirst du zukünftig dein Brot essen, bis du selbst zu dieser Erde zurück­ kehrst. Denn von ihr bist du genommen, du bist nur Staub, und genau in den wirst du dich wieder verwandeln.“ Da trat sie prüfend in den Erdboden. Bevor sie von der ver­ botenen Frucht abgebissen hatte, war es fetter, schwarzer Humus gewesen, aber jetzt? Sie wirbelte nur trockenen Staub auf und musste husten. Alles schien verloren. Bis Adam sich zu Wort meldete. 23


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