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The Chosen: Bei mir findest du Ruhe – 9783957349774

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Aus dem Englischen von Karoline Kuhn

Für Greg Thornton

Urteilt nicht über andere, damit Gott euch nicht verurteilt.

Denn so wie ihr jetzt andere richtet, werdet auch ihr gerichtet werden.

Und mit dem Maßstab, den ihr an andere anlegt, werdet ihr selbst gemessen werden.

Matthäus 7,1–2

TEIL 1 Heimkehr

Kapitel 1

„NENN MICH NICHT ABBA“

Kapernaum, 24 n. Chr.

Matthäus fürchtet sich vor dem Tag, der vor ihm liegt.

Als aufsteigender Stern innerhalb der römischen Behörde unter Prätor Quintus hat er seinen Wirkungsbereich erweitert. Obwohl er der jüngste Steuereintreiber in seiner Heimatstadt war, ist er jetzt für die Vollstreckung von Strafen für alle jüdischen Bürger zuständig, die ihren Tribut an Rom nicht entrichten. Er ist bekannt für seinen Geschäftssinn und seine Fähigkeit, den Menschen in seinem Bezirk noch den letzten Schekel abzuknöpfen. Matthäus hat schnell alle Tricks seines Handwerks gelernt.

Um sein ohnehin großzügiges Gehalt noch weiter aufzubessern, steckt er alles ein, was er den Menschen über ihre eigentliche Steuerschuld hinaus abpressen kann. Wenn jemand es bemerkt und sich beschwert, deutet er an, dass er ihm gewisse Vergünstigungen ermöglichen kann, wenn er das Verlangte zahlt – nicht in der Form, das weniger zu zahlen wäre, aber in Form von mehr Zeit, bis die Steuer fällig wird. Er geht sorgfältig vor, um Rom zufriedenzustellen und gleichzeitig sein Einkommen auf lange Sicht beträchtlich zu steigern.

Diese Praktiken haben Matthäus seine Villa im exklusivsten Viertel der Stadt eingebracht, ganz zu schweigen von den feinsten

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importierten Kleidern, Schuhen, Parfüms und Schmuckstücken. Die Ironie des Ganzen ist, dass er den Neid seiner Mitbürger auf sich zieht, während er sich eigentlich nach Unsichtbarkeit sehnt. Er weiß, dass ihm die Feinheiten von Sarkasmus und bissigem Humor entgehen, aber er versteht die Verachtung, die ihm überall entgegenschlägt, wo er erkannt wird – sie äußert sich in Flüchen und Spucken. Matthäus kann sich nicht erinnern, wann ihm das letzte Mal ein Lächeln geschenkt wurde. Er lebt für die flüchtige Bewunderung, die ihm von den Römern entgegengebracht wird, die den Kopf schütteln über die Summen, die er seinen eigenen Leuten entlocken kann.

Meine eigenen Leute, denkt er. Er hat keine jüdischen Freunde, abgesehen von dem einen oder anderen aus dem Kreis der Steuereintreiber. Alle anderen betrachten ihn eindeutig als den ultimativen Verräter, Blutsauger, Überläufer. Nicht genug, dass sie unter der eisernen Faust Roms leiden. Nein, diese Faust wird von dem merkwürdigen, milchgesichtigen Sohn von Alphäus und Elisheba geführt – Juden, die so gläubig sind, dass sie Matthäus jahrelang Levi nannten, weil sie überzeugt waren, dass er eines Tages dem einen wahren Gott als Priester seines Volkes dienen würde.

Doch von dieser irrigen Annahme befreite der Junge sie sehr bald. Matthäus war klug, aber auch sehr eigenartig. Er wurde in der Schule von den gleichaltrigen Jungen beschimpft und gehänselt. Er war schmächtiger als die meisten und hatte einen stockenden, unbeholfenen Gang. Er sah nur zu, wie sich die anderen prügelten, denn er achtete sehr darauf, seine Tunika nicht schmutzig zu machen. Und er hielt sich von allen fern, die sich über seine Eigenheiten lustig machten. Er verstand seine Besessenheit von Präzision und Ordnung selbst nicht. Seine Schriftrollen, Papiere, Schreibgeräte und dergleichen mussten auf eine ganz bestimmte Art vor ihm auf dem Tisch angeordnet sein. Seine Begabung für Zahlen und Berechnungen machte Matthäus noch mehr zu einem Sonderling. Und während seine Mitschüler

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mühsam die Thora auswendig lernten, wurde er mit älteren Schülern in den Mathematikunterricht geschickt.

Er nahm an, dass die anderen ihn beneideten, auch wenn sie es nicht zugaben und auch wenn sie ihn nicht akzeptierten. Nun, er würde es ihnen zeigen und sie alle in den Schatten stellen. Und als seine Begabung dafür, die Verachtung seiner Landsleute auf sich zu ziehen, ihn auch in seiner steilen Karriere als Steuereintreiber nicht verließ, sagte er sich, dass er Reichtum und Status jederzeit ihrer Akzeptanz vorziehen würde. Selbst seine am Boden zerstörten Eltern mussten doch seine einzigartigen Leistungen anerkennen, nicht wahr?

Heute, während er seine komplizierte Morgenroutine absolviert, geht ihm mehr durch den Kopf als nur die Frage, wie er die Blicke und Flüche seiner jüdischen Mitbürger vermeiden kann. Bei der Auswahl seiner Kleidung, seines Schmucks und seines Parfums muss er jedes Stück anfassen, bevor er sich dann doch wieder für das entscheidet, was er jeden Tag anzieht. Und die ganze Zeit spielt er im Kopf durch, wie er seine bisher heikelste Aufgabe bewältigen wird.

Heute ist der Tag, an dem er sein Steuerhäuschen geschlossen lässt und diejenigen zu Hause aufsucht, die mit ihren Zahlungen im Rückstand sind. Mit dabei hat er den Zenturio Lucius, einen der bedrohlichsten Schergen seiner eigenen Garde. Lucius’ bloße Anwesenheit schüchtert die meisten schon so ein, dass sie sofort zahlen. Selbst die, die Matthäus normalerweise dafür anprangern würden, dass er den Römern als Kettenhund dient, halten in der Regel den Mund, wenn sie Lucius sehen.

Der Tag der Abrechnung ist zwar immer unangenehm und anstrengend, aber auch lukrativ. Doch am heutigen Tag ist für Matthäus nichts Verlockendes in Aussicht, denn er hat seinen schwierigsten Fall zuerst angesetzt. Er hat Lucius die Aufgabe zugewiesen, den Steuerschuldner herauszurufen und die Forderung zu stellen. Matthäus wird in Hörweite, aber außer Sichtweite bleiben.

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„Ich regle das“, sagt Lucius zu Matthäus. „Ich liebe Arbeit dieser Art.“

„Sieh einfach zu, dass er bezahlt – heute noch.“

„Oh, er wird bezahlen, so oder so.“

Matthäus zeigt dem Soldaten den Namen auf seiner Schreibtafel und deutet auf das Haus. Lucius schreitet in seinem roten Umhang zur Tür; mit seinem klirrenden Metall-Brustpanzer und dem knarrenden Leder zieht er die Blicke der anderen auf der Straße auf sich. Er stellt sich breitbeinig hin und klopft viermal laut.

„Ich komme!“

Als die Tür aufschwingt, löst sich der neugierige Blick des Bewohners in Erschrecken auf. Bevor der Mann etwas sagen kann, brüllt Lucius: „Alphäus bar Joram?“

„Ja …“, antwortet der Mann in zögerlichem Ton.

„Du hast die Frist für die Zahlung des Quartalsbeitrags um zwanzig Tage überschritten. Dein Eintreiber hat deinen Fall an die römische Behörde weitergeleitet. Bist du in der Lage, die Strafe jetzt zu bezahlen?“

Alphäus ist aschfahl geworden. „Ich habe eine Fristverlängerung beantragt …“

„Das verstehe ich als ein Nein. Auf Anordnung von Quintus, dem ehrenwerten Prätor von Kapernaum, muss ich dich in Gewahrsam nehmen.“

Matthäus wird blass. Er hatte nicht erwartet, dass Lucius so schnell zu solchen Mitteln übergehen würde. Sicherlich wird Alphäus schnell einen Weg finden zu bezahlen.

„Es tut mir sehr leid“, sagt Alphäus. „Ich habe nicht gewusst …“

Lucius nimmt einen Lederriemen von seinem Gürtel ab. „Dreh dich um!“

Das reicht, beschließt Matthäus.

„Herr“, jammert Alphäus, „ich wusste das nicht. Darf ich um eine Verlängerung von nur fünf Tagen bitten?“

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Jetzt hofft Matthäus inständig, dass Lucius der Bitte nachkommt. Fünf Tage sind nichts. Es ist ja nicht so, dass der Mann ein Verbrecher ist.

Aber Lucius packt Alphäus am Arm. Und von drinnen kommt der klagende Ruf einer Frau. „Alphäus, wer ist da?“

Oh, nein!, denkt Matthäus. Die Sache gerät außer Kontrolle.

„Es ist alles gut, Elisheba!“, ruft Alphäus, der deutlich zuversichtlicher klingt, als er aussieht. An Lucius gewandt, flüstert er: „Bitte, ich flehe dich an …“

Lucius reißt Alphäus zurück und stößt ihn gegen den Türrahmen.

„Adonai im Himmel!“, schreit Alphäus.

„Der ist nicht hier“, bellt Lucius und beginnt, Alphäus die Hände auf dem Rücken zu fesseln.

Das ist mehr, als Matthäus ertragen kann. Rasch kommt er näher. „Ich werde das klären, Lucius. Es liegt ein Irrtum vor.“

Lucius schaut schockiert. „Was meinst du? Du hast mir gesagt …“

„Ich bin mir dessen bewusst, aber es ist deutlich geworden, dass die Abgabetermine falsch berechnet wurden. Ich werde das aufklären.

Danke dir.“

„Du hast dich verrechnet? Das ist noch nie passiert!“

„Mir lagen falsche Informationen vor, aber das wird jetzt korrigiert. Ich werde mich darum kümmern. Am besten gehst du schon zum nächsten Haus, und wir treffen uns in einer Stunde am Steuerhäuschen.“

Lucius blickt Alphäus an, schüttelt den Kopf und stapft davon. Alphäus starrt Matthäus mit zusammengekniffenen Augen an. „Bist du jetzt mein …“

„Es ist nicht ratsam, das jetzt zu besprechen, Abba. Wir haben nicht viel Zeit.“

„Erst die Schande deiner Berufswahl und jetzt bist du tatsächlich mein Steuereintreiber?“

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„Matthäus?“, ruft Elisheba von der Tür aus. „Was machst du denn hier?“

„Dein Sohn ist unser Steuereintreiber!“, sagt Alphäus verächtlich.

„Matthäus, nein“, sagt sie und schlägt entsetzt die Hand vor den Mund.

„Er hat einen Soldaten in unser Haus geschickt!“, fügt Alphäus hinzu.

„Es tut mir leid“, sagt Matthäus schnell. „Ich wollte nicht, dass du es weißt. Ich habe mir diesen Bezirk nicht ausgesucht.“

„Du hast dir diese Arbeit ausgesucht!“, schreit Alphäus. „Die Römer haben dich nicht dazu gezwungen. Du hast dich dazu entschieden. Du hast dich entschieden, dein Volk zu verraten …“

„Im Gegensatz zu dir, Abba, habe ich mich für eine sichere Zukunft entschieden.“ Matthäus bereut die Worte, sobald sie aus seinem Mund gekommen sind.

Seine Mutter sagt: „Du sollst von ganzem Herzen auf Adonai vertrauen und dich nicht auf deinen eigenen Verstand verlassen.“

„Ich habe vertraut!“, sagt Matthäus. „Aber kannst du mir eine Sache nennen, die Adonai in den letzten hundert Jahren für unser Volk getan hat? In fünfhundert?“

„Ein Verräter und ein Gotteslästerer!“ Alphäus spuckt die Worte geradezu aus.

Ist ihnen denn nicht klar, dass ich ihr Schicksal in der Hand habe?, denkt Matthäus. „Nun“, sagt er, „ihr schuldet eurer Regierung den Tribut für zwei Monate.“

Alphäus presst die Lippen aufeinander. „Ich werde am Ende der Woche die Zahlung leisten.“

„Du hast zwei Zahlungen versäumt. Ich hatte gehofft, Lucius würde dich überzeugen, aber ich kann dich nicht länger schützen.“

„Ich will deinen Schutz nicht!“

Wie kann er das sagen? Nun, wenn er es so will … „Dann hast du vierundzwanzig Stunden Zeit, Abba.“

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„Nenn mich nicht Abba.“

Jetzt fleht Elisheba: „Alphäus, bitte …“

Matthäus weiß, er hätte wissen müssen, dass es hierzu kommen würde, aber es trifft ihn trotzdem.

„Eli“, sagt Alphäus, „verhänge die Fenster und leg deinen Schleier an. Wir werden sieben Tage lang Schiwa sitzen.“

Schiwa sitzen? Die Totenklage?

„Ich habe keinen Sohn“, fügt Alphäus hinzu, schiebt seine klagende Frau zurück ins Haus und schlägt die Tür zu.

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Kapitel 2

TRÄNEN

Die Hochebene von Korazim Sieben Jahre später

Soweit

Matthäus weiß, haben seine Eltern ihm noch immer nicht verziehen, geschweige denn ihn akzeptiert. In den Augen seines Vaters ist er nicht existent. Deshalb kommen die Worte von Jesus, dem Mann, dem Matthäus sein ganzes Leben und seine Zukunft anvertraut hat, ihm so vor, als würden sie ihn überströmen und jede Faser seiner Seele baden.

Sein Rabbi spricht zu einer großen Menschenmenge, die den ganzen Hügel füllt, und Matthäus hatte das Privileg, bei der Ausarbeitung der Predigt von Jesus einbezogen worden zu sein. Lautlos spricht er die Worte mit, die sein Rabbi verkündet. „Wie ihr wisst, wurde unseren Vorfahren gesagt: ‚Du sollst nicht töten. Wer einen Mord begeht, der muss vor Gericht.‘ Aber ich sage euch: Wer auch nur zornig auf einen anderen ist, gehört ebenso vor Gericht.“

Was hat dieser Mann an sich, dass er gleichzeitig mit so viel Autorität und so tiefem Mitgefühl spricht? Matthäus kann gar nicht anders, als seine Worte förmlich zu trinken.

Jesus fährt fort: „Wenn du also deine Opfergabe zum Altar bringst und dir fällt dort ein, dass jemand dir etwas vorzuwerfen hat, dann lass dein Opfer am Altar zurück, geh zu deinem Mitmenschen …“

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Ein Kloß steigt in Matthäus’ Hals auf. Jesus spricht Worte, die seine Vergangenheit heilen und ihm Hoffnung für die Zukunft zu geben vermögen.

„… und versöhne dich mit ihm. Erst danach bring Gott dein Opfer dar.“

Matthäus fragt sich, wie die anderen Anhänger des Messias wohl gerade darauf reagieren. Doch er kann seine Augen nicht von Jesus abwenden.

Judas steht etwas weiter entfernt. So etwas hat er noch nie gehört. Er ist so angetan von der Botschaft von Jesus, seinem radikalen Ansatz, ja sogar von der Art und Weise, wie er seine Rede vorträgt, dass sein bisheriger Beruf im Vergleich dazu verblasst. Noch nie hat er daran gedacht, das lukrative – wenn auch moralisch nicht ganz einwandfreie – Geschäft zu verlassen, das er mit seinem Partner betreibt, aber plötzlich fühlt er eine Sehnsucht in sich, sich diesem Mann anzuschließen! Habe ich den Verstand verloren? Die zerlumpte Schar der Jesusschüler scheint gar nichts zu besitzen. Bekommen sie überhaupt regelmäßig zu essen? Neue Kleider könnten alle gebrauchen.

„Darum sage ich euch: Macht euch keine Sorgen um euren Lebensunterhalt, um Nahrung und Kleidung …“

Spricht dieser Mann direkt zu Judas, kann er irgendwie seine Gedanken lesen?

„Bedeutet das Leben nicht mehr als Essen und Trinken, und ist der Mensch nicht wichtiger als seine Kleidung? Seht euch die Vögel an! Sie säen nichts, sie ernten nichts und sammeln auch keine Vorräte. Euer Vater im Himmel versorgt sie. Meint ihr nicht, dass ihr ihm viel wichtiger seid?“

Bin ich das? Wie sehr sehnt sich Judas danach, auf diese Weise gesehen zu werden!

Tamar, die Ägypterin, hat keinen Zweifel an der Identität dieses Lehrers. Sie weiß ohne jede Frage, dass er der Messias ist, denn sie hat

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gesehen, wie er Wunder vollbracht hat. Sie hat gesehen, wie er sich einem Aussätzigen nicht nur genähert und ihn berührt, sondern ihn sogar umarmt hat. Und ihn auf der Stelle geheilt hat! Deshalb hatte sie die anderen überredet, ihren gelähmten Freund nach Kapernaum zu bringen und ihn, um zu Jesus zu gelangen, durch das Dach eines Hauses hinabzulassen, in dem Jesus redete, weil der Eingang durch zu viele Menschen versperrt war. Der Rabbi hatte auch ihn geheilt, sogar im Beisein der Pharisäer, die ihn einen Gotteslästerer und falschen Propheten nannten.

„… und wenn ihr euch noch so viel sorgt, könnt ihr doch euer Leben um keinen Augenblick verlängern.“

Diese Aussage trifft auch Andreas, der nicht leugnen kann, dass er sich wegen fast allem Sorgen macht.

Besonders seitdem sein erster Rabbi, Johannes der Täufer, im Gefängnis gelandet ist. Andreas fürchtet um das Leben von Johannes, um das Leben seines Bruders Simon, um Jesus und auch um sich selbst.

„Weshalb macht ihr euch so viele Sorgen um eure Kleidung? Seht euch an, wie die Lilien auf den Wiesen blühen! Sie mühen sich nicht ab und können weder spinnen noch weben. Ich sage euch, selbst König Salomo war in seiner ganzen Herrlichkeit nicht so prächtig gekleidet wie eine dieser Blumen. Wenn Gott sogar die Blumen so schön wachsen lässt, die heute auf der Wiese stehen, morgen aber schon verbrannt werden, wird er sich nicht erst recht um euch kümmern?

Vertraut ihr Gott so wenig?“

Sieht Jesus mich an? Vertraue ich ihm so wenig?

Obwohl Jesus Maria aus Magdala von ihren Dämonen befreit und ihr vergeben hat, kann sie nicht umhin, wegen ihres eigenen geringen Vertrauens an sich selbst zu zweifeln – an Jesus zweifelt sie nicht. Aber sie traut sich selbst nicht. Warum ist sie wieder vom Weg abgekommen, nach allem, was Jesus für sie getan hatte?

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„Macht euch also keine Sorgen und fragt nicht: ‚Werden wir genug zu essen haben? Und was werden wir trinken? Was sollen wir anziehen?‘ Nur Menschen, die Gott nicht kennen, lassen sich von solchen Dingen bestimmen. Euer Vater im Himmel weiß doch genau, dass ihr das alles braucht. Setzt euch zuerst für Gottes Reich ein und dafür, dass sein Wille geschieht. Dann wird er euch mit allem anderen versorgen.“

Das ist alles, was ich will – das Reich, von dem Jesus spricht. Der junge Pharisäer Yussif schwitzt in der Sonne und hört diesem Mann zu, der seinem Mentor Shmuel nichts als Ärger eingebracht hat. Doch Yussif hat selbst Dinge erlebt, die ihn alles infrage stellen lassen, was man ihn gelehrt hat. Er hat gesehen, wie dieser Prediger Wunder getan hat, oder zumindest Tricks, die wie Wunder wirkten. Und nun spricht er mit einer solchen Sicherheit, als ob er tatsächlich der Auserwählte sein könnte, der – nein, das kann nicht möglich sein. Oder doch?

Yussif hat Jesus aus Nazareth wegen einiger Dinge angegriffen, die er gesagt und getan hat, und doch empfindet er eine gewisse Sympathie für den Mann und seine Anhänger. Was geschieht hier mit ihm? Es ist eine Sache, einen Mann zu kritisieren, weil er behauptet, jemand zu sein, der er nicht ist; weil er am Schabbat arbeitet; weil er zu sagen wagt, er könne Sünden vergeben. Aber es ist eine andere Sache, zu leugnen, was deine eigenen Augen gesehen haben – eine verwandelte Frau und einen geheilten Mann.

„Urteilt nicht über andere, damit Gott euch nicht verurteilt. Denn so wie ihr jetzt andere richtet, werdet auch ihr gerichtet werden. Und mit dem Maßstab, den ihr an andere anlegt, werdet ihr selbst gemessen werden. Warum siehst du jeden kleinen Splitter im Auge deines Mitmenschen, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht? Wie kannst du zu ihm sagen: ‚Komm her! Ich will dir den Splitter aus dem Auge ziehen!‘, und dabei hast du selbst einen Balken im Auge! Du Heuchler! Entferne zuerst den Balken aus deinem Auge,

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dann kannst du klar sehen, um auch den Splitter aus dem Auge deines Mitmenschen zu ziehen.“

Der kleine Jakobus, Nathanael und Thaddäus wurden damit beauftragt, für Ordnung in der Menge zu sorgen, obwohl sie zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen sind. Doch diese Leute brauchen keine ordnende Hand, denn sie alle scheinen von den Worten von Jesus wie gebannt zu sein.

„Behandelt die Menschen stets so, wie ihr von ihnen behandelt werden möchtet. Denn das ist die Botschaft des Gesetzes und der Propheten.“

Matthäus bemerkt, dass Maria aus Magdala Tränen in den Augen hat, ebenso wie einige der anderen Schüler. Mutter Maria tritt zu ihm und flüstert: „Wie läuft es?“

Matthäus kann kaum sprechen. „Was, die Predigt?“

Maria nickt.

Er blickt auf seine Schreibtafel. „Die Worte sind dieselben, die geschrieben stehen, aber …“

„Aber jetzt sagt er sie.“

Matthäus laufen die Tränen über die Wangen, als er den Zuspruch hört, den Jesus jetzt seinen Zuhörern zuteilwerden lässt – ganz offensichtlich ist niemand davon ausgenommen.

„Glücklich sind, die erkennen, wie arm sie vor Gott sind, denn ihnen gehört sein himmlisches Reich.

Glücklich sind, die über diese Welt trauern, denn sie werden Trost finden.

Glücklich sind, die auf Frieden bedacht sind, denn sie werden die ganze Erde besitzen.

Glücklich sind, die Hunger und Durst nach Gerechtigkeit haben, denn sie sollen satt werden.

Glücklich sind, die Barmherzigkeit üben, denn sie werden Barmherzigkeit erfahren.

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Glücklich sind, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott sehen.

Glücklich sind, die Frieden stiften, denn Gott wird sie seine Kinder nennen.

Glücklich sind, die verfolgt werden, weil sie nach Gottes Willen leben; denn ihnen gehört sein himmlisches Reich.

Glücklich könnt ihr euch schätzen, wenn ihr verachtet, verfolgt und verleumdet werdet, weil ihr mir nachfolgt. Ja, freut euch und jubelt, denn im Himmel werdet ihr dafür reich belohnt werden! Genauso hat man die Propheten früher auch schon verfolgt.“

Matthäus notiert auf seiner Tafel, dass dieses Plateau von nun an „Berg der Segnungen“ genannt werden sollte. Aber das klingt ihm zu alltäglich. Was Jesus gerade sagt, ist zu tiefgründig und zu berührend, zu feierlich, um als bloße Segnungen durchzugehen. Es stimmt ihn froh, glücklich. Vielleicht eher doch „Berg der Glückszusagen“? Oder nein, er fühlt sich geradezu beseligt. „Berg der Seligpreisungen“ – das ist es. Eines Tages, wenn er seinen umfassenden Bericht über alles schreibt, was er mit Jesus erlebt hat, wird er diesen Ort auf jeden Fall als den Schauplatz einer ganz besonderen Predigt, als den „Berg der Seligpreisungen“, verewigen.

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