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Alexandre Kantorow

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Alexandre Kantorow Quatuor Modigliani Victor Julien-Lafferière, Aurélien Pascal, Liya Petrova, Svetlin Roussev, Paul Zientara



Inhaltsverzeichnis Table of Contents 4 Montag, 1. Mai 2023 Alexandre Kantorow 18 Dienstag, 2. Mai 2023 Alexandre Kantorow & Quatuor Modigliani 32 Mittwoch, 3. Mai 2023 Alexandre Kantorow & Gäste

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Einführungstexte von Wolfgang Stähr Program Notes by Katy Hamilton Wolfgang Stähr, geboren 1964 in Berlin, schreibt über Musik und Literatur. Er verfasste ­Buchbeiträge zur Bach- und Beethoven-Rezeption sowie über Haydn, Schubert, Bruckner und Mahler und publizierte Essays und Werkkommentare für die Festspiele in Salzburg, ­Grafenegg, Luzern, Würzburg und Dresden, Orchester wie die Berliner und die Münchner Philharmoniker, für Rundfunkanstalten, Schallplattengesellschaften, Konzert- und ­Opernhäuser. Katy Hamilton is a writer and presenter on music, specializing in 19th-century German ­repertoire. She has published on the music of Brahms and on 20th-century British concert life and appears as a speaker at concerts and festivals across the UK and on BBC Radio 3.


ALEXANDRE KANTOROW Montag 1. Mai 2023 19.30 Uhr Alexandre Kantorow Klavier


Johannes Brahms (1833–1897) Klaviersonate Nr. 1 C-Dur op. 1 (1852–53) I. Allegro II. Andante. Nach einem altdeutschen Minnelied III. Scherzo. Allegro molto e con fuoco IV. Finale. Allegro con fuoco – Presto agitato ma non troppo

Pause

Franz Schubert (1797–1828) / Franz Liszt (1811–1886) Der Wanderer D 489 Der Müller und der Bach D 795 Nr. 19 Frühlingsglaube D 686 Die Stadt D 957 Nr. 11 Am Meer D 957 Nr. 12 Bearbeitungen für Klavier

Franz Schubert Fantasie für Klavier C-Dur D 760 „Wandererfantasie“ (1822) Allegro con fuoco ma non troppo – Adagio – Presto – Allegro

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Wehklagende und lautjubelnde Stimmen Klaviermusik von Brahms, Liszt und Schubert

Wo l f g a n g S t ä h r

Die Geschichte sei nun aus Als unbekannter Musiker von 20 Jahren, die jüngsten Werke im Reisegepäck, stellte sich Johannes Brahms im Herbst 1853 bei Robert und Clara Schumann in Düsseldorf vor – und versetzte das prominente Künstlerpaar in helle Aufregung: „Er trug, auch im ­Aeußeren, alle Anzeichen an sich, die uns ankündigen: das ist ein Berufener“, vermeldete Robert Schumann alsbald der staunenden Öffentlichkeit. „Am Clavier sitzend, fing er an wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere Kreise hineingezogen. Dazu kam ein ganz geniales Spiel, das aus dem Clavier ein Orchester von wehklagenden und lautjubelnden Stimmen machte. Es waren Sonaten, mehr verschleierte Symphonien.“ Zu diesen bahnbrechenden und raumgreifenden Sonaten, die Brahms seinen Gastgebern vorspielte, gehörte auch die „vierte“ in C-Dur: Brahms zählte sie später als Erste und publizierte sie (dank Schumanns Fürsprache) noch im selben Jahr 1853 als sein Opus 1. Dieses Debüt strotzt vor Selbstbewusstsein und Tatendrang. Brahms fällt geradezu mit der Tür ins Haus, wenn er am Beginn das fanfaren­artige Leitmotiv aus Beethovens „Hammerklaviersonate“ imitiert. Das wirkt dann gar nicht mehr so kleinlaut wie die viel­ zitierte verzagte Äußerung des jungen Brahms: „Du hast keinen ­Begriff davon, wie es unsereinem zu Mute ist, wenn er immer so ­einen Riesen (Beethoven) hinter sich marschieren hört.“ In seiner C-Dur-Sonate aber beweist er selbst Riesenkräfte und treibt mit den

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letzten Sätzen, dem Scherzo und dem Finale, alle beide „con fuoco“, mit Feuer zu spielen, nicht nur seine Interpret:innen, sondern gleich noch den Flügel an die Grenzen der Belastbarkeit. Das ein­leitende Allegro hingegen, bei aller Wucht der aufgetürmten ­Themen, ­entfacht einen Sog in die Stille, wenn sich die Musik nach dem ­fulminanten Aufbruch immer tiefer in sich zurückzieht, langsam verschwindet, allmählich verstummt. Das Herzstück der Sonate ist das Andante, das Brahms schon 1852 vor den anderen drei Sätzen komponierte: Variationen über ein „altdeutsches Minnelied“. Brahms schreibt sogar die wortlos vertonten Verse in die Noten: „(Vorsänger) Verstohlen geht der Mond auf. (Alle) Blau, blau Blümelein. (Vorsänger) Durch Silberwölkchen führt sein Lauf. (Alle) Blau, blau Blümelein, Rosen im Thal, Mädel im Saal, o schönste Rosa!“ Doch setzt Brahms viele Fermaten, ­beklemmende Pausen, sein Liebeslied tönt fahl und unheimlich wie ein Begräbnisgesang oder wie die Erinnerung an eine unendlich ferne Vergangenheit. Einem Freund verriet er, dass er auch im ­Finale, in der a-moll-Episode, ein Gedicht versteckt habe: „Mein Herz ist im Hochland“ des schottischen Lyrikers Robert Burns. Als Brahms über 40 Jahre später eine Sammlung mit 49 Deutschen Volksliedern herausgab, stellte er das Minnelied wie einen Abschiedsgruß an den Schluss und fragte seine lebenslange Freundin Clara Schumann in einem Brief: „Ist Dir wohl aufgefallen, daß das letzte der Lieder in meinem opus 1 vorkommt? Ist Dir auch etwas ein­ gefallen dabei? Es sollte eigentlich was sagen, es sollte d. Schlange vorstellen die sich in den Schwanz beißt, also symbolisch sagen: die Geschichte sei nun aus, der Kreis geschlossen.“ Tränen und Flammen entströmen Dir „Unsere Pianisten ahnen kaum, welch herrlicher Schatz in den Klavierkompositionen Schuberts zu heben ist“, klagte Franz Liszt 1868: ein Missstand, für den er selbst wahrlich nicht die geringste Verantwortung trug. Als Kind hatte Liszt mit seinen Eltern im Wien Franz Schuberts gelebt, aber persönlich begegnet sind sie sich nie. Später stellte der begnadete Virtuose und tollkühne Komponist ­seinen europaweiten Ruhm in den Dienst des 1828 verstorbenen Schubert. Liszt betätigte sich als Herausgeber ausgewählter Klavierwerke Schuberts, er befasste sich mit dem Projekt einer Schubert-­ Biographie; er orchestrierte Schubert’sche Klaviermusik, darunter

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die „Wandererfantasie“ (für Klavier und Orchester). Und er spielte dessen Lieder in eigenen, freien und fantasievoll ausufernden Übertragungen auf dem Klavier, in reicher Auswahl: nachmals berühmte Lieder wie Der Wanderer, Der Müller und der Bach aus der Schönen Müllerin oder Frühlingsglaube, die er international bei den verschiedensten Verlagen auch im Druck veröffentlichte, zum Nachspielen für Wagemutige. „O mein trauter Heros des Jugendhimmels!“, schwärmte Liszt. „Wohlklang, Frische, Kraft, Anmuth, Träumerei, Leidenschaft, Besänftigung, Tränen und Flammen entströmen Dir aus Herzens-Tiefen und Höhen, und fast lässt Du die Grösse Deiner Meisterschaft vergessen ob dem Zauber Deines Gemüths!“ Aber Liszt transkribierte auch den späten Schubert, die Gesänge aus dem Todesjahr 1828 nach Gedichten von Heinrich Heine, die postum als Schwanengesang erschienen, darunter Die Stadt und Am Meer: radikale letzte Werke, selbstquälerische Monologe, monotone Rezitationen über amorphen, in puren Klang aufgelösten Klavierfigurationen. Ich bin ein Fremdling überall Schwung und Unberechenbarkeit einer Improvisation, Freiheit von metrischen Zwängen, eine kühne und überraschende Harmonik, Subjektivismus und Empfindsamkeit – das waren die Kennzeichen der „freien Fantasie“ für Klavier in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wie sie insbesondere der Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel auslebte: Stunden über Stunden konnte er wie in Trance in die Tasten greifen, sich völlig entrückt seinen momentanen Gefühlen und ­Eingebungen überlassen. Im Zustand des Wachbewusstseins jedoch schränkte er die Freiräume der Fantasie wieder ein, indem er sie den Formprinzipien der Sonate unterwarf und seine überbordenden Einfälle vorausschauend in geregelte Bahnen lenkte. Dieser An­ näherungsprozess zwischen den verwegenen und den vernünftigen Kräften der Musik erfolgte aber auch aus der Gegenrichtung: Ludwig van Beethoven versah seine beiden unter der Opuszahl 27 vereinten Klaviersonaten im Titel mit dem warnenden Zusatz „quasi una ­Fantasia“. Umgekehrt bezeichnete Franz Liszt später sein Klavierstück Après une lecture du Dante als „Fantasia quasi Sonata“: ein Untertitel, der zuvor bereits Schuberts C-Dur-Fantasie D 760 hätte zieren ­können. Denn einerseits lassen sich die vier Abschnitte dieses Werks als Sätze einer Sonate interpretieren: das Allegro con fuoco als ­(unvollständiger, vor der Reprise abbrechender) Sonatenhauptsatz,

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das Adagio als langsamer Variationensatz, das Presto als Scherzo und das Allegro als Finale. Andererseits aber können diese „Sätze“ ihrerseits auch als Formteile eines Sonatensatzes gedeutet werden: etwa mit dem Adagio als Durchführung, dem Scherzo als einer Art Reprise und dem abschließenden Allegro als Coda. Der Sonatensatz als vollständige Sonate – der Sonatenzyklus in nur einem Satz. Neigt sich Schuberts Fantasie von 1822 folglich ganz entschieden auf die Seite der Sonate, so erweist sie sich doch in der Hinsicht ­wiederum als eine typische Fantasie, dass sie eine leidenschaftliche, persönliche, wenn nicht gar autobiographische Sprache spricht. Im Adagio zitiert und variiert Schubert ein eigenes Lied, Der Wanderer D 489, ein Schlüsselwerk, weil es das Selbstverständnis des Kom­ponisten als heimat- und glückloser Wanderer reflektiert. Und weil es einen überaus einprägsamen Rhythmus herausstellt: eine Viertel, zwei Achtel, lang – kurz – kurz. Egal ob man diesen Rhythmus nun als antiken Versfuß, als Daktylus, deutet oder als Tanzschritt, Trauermarsch, Litanei – in der Musik Franz Schuberts spielt er eine derart prominente Rolle, dass er sogar als „Personalrhythmus“ des Komponisten benannt wird: ein Künstlermonogramm. Im Lied ­begleitet er im Klavier die Worte des Wanderers: „Die Sonne dünkt mich hier so kalt, / Die Blüte welk, das Leben alt, / Und was sie ­reden leerer Schall, / Ich bin ein Fremdling überall.“ Auf genau ­diesen für das Lied so aussagekräftigen und zentralen ­Takten basiert auch das Variationenthema der C-Dur-Fantasie – dem das Werk ­seinen Beinamen „Wandererfantasie“ verdankt. Der Schubert’sche „Personalrhythmus“ liegt jedoch nicht allein dem Adagio, sondern auch den übrigen drei Abschnitten zugrunde: dem Haupt- und dem Seitenthema des einleitenden Allegro con fuoco, in Abwandlung auch dem Scherzo und schließlich dem ­Fugenthema des Finales. „Einheit in der Vielfalt“ könnte man dieses satzübergreifende Kompositionsprinzip nennen, das den tieferen ­inneren Zusammenhang, die formale Logik des Werks begründet. Mit anderen Worten: Die „Wandererfantasie“ ist gewiss eine der besten Klaviersonaten, die Schubert je geschrieben hat.

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New Paths Piano Works by Brahms, Liszt, and Schubert

Katy Hamilton

When 20-year-old Johannes Brahms was welcomed into the home of Robert and Clara Schumann on October 1, 1853, the very first piece he played—getting only a few moments into it before Robert stopped him in order to bring Clara to listen as well—was his Piano Sonata in C major. Despite the opus number, it is not quite the earliest of Brahms’s surviving works: that honor goes to the Scherzo in E-flat minor, written shortly after his 18th birthday. But it is his first surviving multi-movement composition, and since the autograph manuscript is headed “Vierte Sonata,” it is clear that Brahms had already adopted his lifelong tendency to destroy projects he deemed inadequate. Of the predecessors of this work, no trace survives. The Sonata was composed in two stages, the slow movement in April 1852, and the rest the following spring—and both Scherzo and part of the Sonata were played through, at sight, by Franz Liszt when Brahms found himself in the Weimar home of the great p­ ianist in the summer of 1853. Liszt was impressed; Schumann was overwhelmed. “Visit from Brahms,” he wrote in his diary, “a genius.” He set about helping Brahms find both a publisher and a public: the first leading to the publication of the Sonata in ­December 1853 by Breitkopf & Härtel, the second resulting in his famous article Neue Bahnen (“New Paths”), announcing his young friend’s musical brilliance to the world. What had Schumann heard in this, and Brahms’s other early ­efforts? The C-major Sonata is a monumental work, fiendishly ­virtuosic in the manner of Beethoven’s most heroic writing.

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Its opening gesture is a clever combination of the beginning of the “Hammerklavier” Sonata and Schubert’s “Wanderer” Fantasy, the first movement full of rapid modulations and dense chords. The second movement also unites influences from these two ­composers: song and symphony. Brahms based this variation set on a folksong, “Verstohlen geht der Mond auf.” But it is presented alongside multiple, insistent appearances of the knocking rhythm of Beethoven’s Fifth Symphony, which also returns in the jaunty Scherzo. In its dramatic combinations of fiery chordal play and dreamy lyricism (where Chopin, and Schumann himself, seem to hover in the background), the Sonata presents a vast canvas at once full of reference points to important models, and strongly individual in its treatment of material. Schubert’s influence pervades Brahms’s First Sonata, as it does so many of his later works. (He also orchestrated a handful of Schubert’s lieder and edited dances and symphonies for publication.) Indeed, it is easy to forget that the impact of Schubert’s music on the wider world was more gradual than it had been for a figure such as ­Beethoven, since so much of the younger man’s music was only published posthumously. Schubert remained a “new” influence, therefore, for many decades.

Long before Brahms sat in a grand Weimar salon and watched Liszt sight-reading his Sonata, the Hungarian pianist-composer had begun his own exploration of Schubert’s music. As a brilliant improviser and dazzling virtuoso, Liszt first produced transcriptions of Schubert lieder in the 1830s, choosing famous songs (Sei mir ­gegrüsst and Erlkönig, for example) which, like his contemporary operatic paraphrases, allowed the opportunity to show off his ability to elaborate while basing his display on a familiar and memorable melody. Yet with Schubert, Liszt was often far more restrained that he was with themes from Rigoletto or Robert le Diable. He later ­transcribed selections from all three of Schubert’s cycles—Die schöne Müllerin, Winterreise, and Schwanengesang, several of which are ­included in tonight’s program. He even orchestrated Schubert’s “Wanderer” Fantasy in 1851, and although the result is rather ­overblown for 21st-century tastes, it provided Liszt with a crucial opportunity to study the work’s ingenious form. It is this piece that

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provided him with the necessary blueprint for his own Sonata in B minor in 1853. Among the most understated of Liszt’s Schubert transcriptions is Frühlingsglaube: the pianist is simply allowed to “sing” the melody as well as render the original accompaniment. The trick, so to speak, is actually in the business of adding in the vocal line to the already busy piano writing. Der Wanderer cleverly reassigns the singer’s strident recitative to the keyboard, and this time the texture grows to an orchestral breadth as the song reaches its climax. And the ­consoling exchange of Der Müller und der Bach (from Die schöne Müllerin) begins as a pianistic conversation between tenor and soprano, as if the brook is taking the faithless miller girl’s place. In two numbers from Schwanengesang Liszt gives freer rein to his skills as a virtuoso improvisor and pianistic orchestrator: the ominous rumblings of Die Stadt and the gruff heartbreak of Am Meer.

Which brings us to the man whose music provided such i­nspiration to both Brahms and Liszt. Schubert’s so-called “Wanderer” Fantasy, composed in November 1822, was dedicated to a rich and talented pianist, Emanuel Karl Liebenberg de Zsittin. At its center is a quotation from Schubert’s setting of Georg Phillip Schmidt von Lübeck’s poem Der Wanderer D 489, which had appeared in print the year before and was rivalled only by Erlkönig as his most popular song during his lifetime. It is the second verse of the song, which appears in the Fantasy’s Adagio: “Here the sun seems so cold, / The blossom faded, life old, / And men’s words mere hollow noise; / I am a stranger everywhere.” This minor-key Adagio theme is not directly quoted in the ­surrounding sections of the Fantasy; instead, it is the dactylic rhythm of the song’s accompaniment (long, short-short) that ­permeates the piece. This is first presented as the energetic theme of the opening Allegro, and it is this theme (rather than the song quotation) that is then transformed into the repeated refrain of the 3/4 Presto and the final Allegro fugue. Although each section dissolves into the next in a flurry of virtuosic chords and arpeggios— as one would expect with a fantasy—the overall construction of this innovative work has strong links to sonata form. It is compact and cyclic, with each section serving as a part of a single, larger

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structure: one commentator describes the faster sections as “a sort of sonata-form sandwich” around the “filling” of the Wanderer Adagio. Quite aside from such structural ingenuity is Schubert’s extraordinarily vivid use of a multitude of keys: the piece’s home key is C major, yet the Adagio is cast in C-sharp minor and major. And a whole range of tonalities provide both dramatic contrasts between themes and flashes of color as the pianist races through them in the fantasie passages between sections. In the space of 20 minutes, we are led, pushed, and thrown through a tremendous range of dances, counterpoint, lyrical melodies, ominous tremolos, and thundering chords—with the song providing the one still point in the drama. Liebenberg de Zsittin must have been a prodigiously talented ­pianist to warrant the dedication of such a piece; it is notable that the first public performance was given by the virtuoso Karl Maria von Bocklet, in 1832. Schubert’s close friend, the painter Leopold ­Kupelwieser, recalled that when Schubert played the “Wanderer” Fantasy to his friends, he “broke down in the last movement… he sprang up from his seat with the words: ‘Let the devil play the stuff!’”

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ALEXANDRE KANTOROW & QUATUOR MODIGLIANI Dienstag 2. Mai 2023 19.30 Uhr Alexandre Kantorow Klavier Amaury Coeytaux Violine Loïc Rio Violine Laurent Marfaing Viola François Kieffer Violoncello


Anton Webern (1883–1945) Langsamer Satz für Streichquartett (1905) Langsam, mit bewegtem Ausdruck

Franz Schubert (1797–1828) Streichquartett C-Dur D 46 (1813) I. Adagio – Allegro con moto II. Andante con moto III. Menuetto. Allegro – Trio IV. Allegro

Pause

Johannes Brahms (1833–1897) Sonate für Violine und Klavier A-Dur op. 100 (1886) I. Allegro amabile II. Andante tranquillo – Vivace III. Allegretto grazioso, quasi andante

Erich Wolfgang Korngold (1897–1957) Klavierquintett E-Dur op. 15 (1921–22) I. Mäßiges Zeitmaß, mit schwungvoll blühendem Ausdruck II. Adagio. Mit größer Ruhe, stets äußerst gebunden ­­ und ausdrucksvoll III. Finale. Gemessen, beinahe pathetisch – Allegro giocoso

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Nachtgedanken, Liebeslieder Kammermusik von Webern, Schubert, Brahms und Korngold

Wo l f g a n g S t ä h r

Zwei Seelen waren trunken „Sag, wie kommst Du zum Komponieren?“, fragte der eine Schönberg-Schüler den anderen. „Bei mir ist es so“, schrieb Anton Webern an Alban Berg: „Ein Erlebnis geht so lange in mir um, bis Musik daraus wird, mit ganz bestimmter Beziehung auf dieses Erlebnis. Oft bis in Details.“ Im Juni 1905 wanderte Webern um die Pfingsttage durch das niederösterreichische Waldviertel, durch Wiesen und Wälder, und konnte sein Glück kaum fassen: „Leuchtend blau der Himmel! So immer zwischen Blumen hin zu wandeln, die Liebste neben sich, sich so ganz mit dem All verwachsen zu fühlen, sorglos frei, wie die Lerche droben im Äther, o welche Herrlichkeit!“ Die Liebste an seiner Seite war Weberns Cousine Wilhelmine „Minna“ Mörtl, Tochter eines Wiener Notars, für die er seit Jahren schon schwärmte und die seine begleitende Tagebuchprosa un­ weigerlich ins Visionäre abdriften ließ. Denn Vetter und Base liefen nicht bloß von Rosenburg nach Allentsteig, sie schwebten durch ­einen ekstatisch erhellten Kosmos: „Als es Nacht war, da weinte der Himmel bitterlich, doch ich wanderte auf einer Straße mit ihr. Ein Mantel schützte uns beide. Unsre Liebe stieg auf in unendliche ­Höhen und erfüllte das All! Zwei Seelen waren trunken!“ Noch im selben Monat komponierte Webern einen langsamen Satz für Streichquartett, dessen verzückter und entrückter Ton kaum einen Zweifel erlaubt, welches Erlebnis hier, und zwar ziemlich prompt, zu Musik wurde, mit illuminiertem Streicherklang und weit­ gespannten Kantilenen.

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Schaurige Stoffe, Grab und Gruft Als der 16-jährige Franz Schubert sein Streichquartett in C-Dur D 46 niederschrieb, an wenigen Tagen im März 1813, scheint er zu Beginn noch keineswegs gewusst zu haben, wohin die Reise geht. Die Adagio-Introduktion notierte er zunächst nur auf zwei Systemen, als wollte er eine Fuge für Klavier entwerfen: Erst nach 25 Takten weitet sich die Niederschrift zur Quartettpartitur. Den Anfang aber bezeichnet, so oder so, der „Passus duriusculus“, ein ­barocker Lamentobass, dessen chromatisch absteigende Tonfolge vom Cello aufwärts durch die vier Stimmen mäandert und wie ein düsteres Motto (oder Omen) den gesamten Hauptsatz, das flotte Triolenspiel des Allegro con moto, untergründig lenkt und kon­ trolliert. Als Ostinato liegt der „Passus duriusculus“ beispielsweise dem Crucifixus der Bach’schen h-moll-Messe oder der Sterbeszene der Königin aus Purcells Dido and Aeneas zugrunde – ein Memento mori. Aber der junge Schubert bewies ohnehin eine so auffallende Vorliebe für schaurige Stoffe, Nacht und Tod, Grab und Gruft, dass selbst sein C-Dur-Quartett makabre Züge verrät: die befremdlich klaffenden Generalpausen im ersten Satz oder der gespenstische ­Einfall, das Menuett bis zur Unhörbarkeit auszudünnen, staccato und pianissimo und dann noch einmal decrescendo. Mit dem Finale jedoch wird die gute Musizierlaune gerettet: Dieses Allegro gleicht einer Aufforderung zum Tanz und entzündet einen Überschwang, als könne es nie ein Ende haben. Willst du mich noch einmal sehn Bei der Sonate für Klavier und Violine in A-Dur op. 100, die Johannes Brahms im Sommer 1886 während eines Urlaubs in Hofstetten am Thunersee schrieb, handelt es sich, wie sein Freund und Biograph Max Kalbeck sagt, um „eine echte Liedersonate“. Die Auswahl der Lieder, die Brahms in den Ecksätzen aufgreift, deutet einen außermusikalischen, ja autobiographischen Bezug an. Das Hauptthema des vielsagend mit „Allegro amabile“ überschriebenen ersten Satzes beschwört die Klaus-Groth-Vertonung Komm bald ­herauf, und im Refrain des Finalrondos klingen die Schlusszeilen von Immer leiser wird mein Schlummer an, mit der übereinstimmenden Aussage: „Willst du mich noch einmal sehn, / Komm, o komme bald.“ Obendrein steht auch das Seitenthema des Allegro amabile

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e­ inem Lied nahe, erinnert es doch an die bogenförmige Anfangsphrase von Wie Melodien zieht es, ebenfalls nach einem Gedicht von Klaus Groth. Mit Groth verband Brahms die Schwärmerei für die junge Altistin Hermine Spies, die einige der schönsten Brahms-­ Lieder inspirierte (darunter das besagte Komm bald). Sie ist offenbar die Adressatin der intimen Mitteilungen in der Violinsonate, die durch einen Seitenblick in das Liedschaffen leicht zu enträtseln sind. Damals kursierten sogar Gerüchte über eine bevorstehende Hochzeit, doch dazu kam es nicht. Über die Ernsthaftigkeit der Gefühle bei Brahms – und umgekehrt auch bei Hermine Spies, die scherzhaft von ihrer „Johannespassion“ sprach – sagt das überhaupt nichts aus. Als sie im Sommer 1886 den Komponisten in der Schweiz besuchte, legte er ihr zwei noch ungedruckte Lieder vor, die sie dann im ­engen Kreis zu seiner Begleitung vortrug: Es waren – wie sollte es anders sein – Immer leiser wird mein Schlummer und Wie Melodien zieht es. Nur wenige Jahre später, 1893, erhielt Brahms die erschreckende Nachricht vom Tod der gerade einmal 36-jährigen Hermine: Er fühlte sich in diesem Moment „fast ohne Gedanken, dann mit ­wirbelnden“. Das dunkle Tal der ungeweinten Tränen Als ein Wunderkind, wie es die Welt seit Mozart und ­ endelssohn nicht mehr gesehen hatte, wurde der 1897 geborene M Erich Wolfgang Korngold bestaunt und beargwöhnt. „Das erste ­Gefühl, das einen überkommt, wenn man hört, daß dies ein elf­ jähriger Junge geschrieben hat, ist Schrecken und Furcht, daß ein so frühreifes Genie auch die normale Entwicklung nehmen möge, die ihm so innig zu wünschen wäre“, gestand Richard Strauss. Aber da es der Vater, der Wiener Kritiker Julius Korngold, der als Nachfolger des legendären Eduard Hanslick das Musikreferat der Neuen Freien Presse leitete, mit der Propaganda für den phänomenal begabten Sohn stark übertrieb, wurde der sensationelle Aufstieg des Jungstars unweigerlich von Missgunst und übler Nachrede durchkreuzt. Mit seiner Oper Die tote Stadt jedoch, einem zwischen ­Décadence, Traumdeutung und schwarzer Romantik changierenden Psychodrama, gelang Korngold 1920 ein Welterfolg, an dem jede Polemik abprallen musste. Giacomo Puccini rühmte den 40 Jahre jüngeren Kollegen als „die stärkste Hoffnung der neuen deutschen Musik“ und erklärte in einem Interview: „Wenn sich

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dieser junge Wiener von dem Ballast freimacht, den er manchmal noch mitschleppt, dann wird er ein Musiker allerersten Ranges sein.“ Doch ausgerechnet in dieser Zeit des internationalen Durchbruchs und der höchsten Anerkennung schlug die Stimmung um, in einer kaum entwirrbaren Wechselwirkung zwischen dem ­Komponisten und seinem Publikum. Wie eine selbsterfüllende ­Prophezeiung schrieb Korngold Anfang der 1920er Jahre die vier tief pessimistischen, um Tod und Trennung kreisenden Lieder des ­Abschieds op. 14, die atmosphärisch und motivisch auch das gleichzeitig entstandene Klavierquintett E-Dur op. 15 durchdringen. ­Dessen zentraler Satz, das Adagio, umschließt neun Variationen über Korngolds drittes Lied: „Mond, so gehst du wieder auf / Über’m dunklen Tal der ungeweinten Tränen! / Lehr, so lehr’s mich doch, mich nicht nach ihr zu sehnen.“ Die wortlos zitierten Verse sandten eine verschwiegene Botschaft an die ferne Geliebte Luzi von Sonnenthal, die Korngold erst Jahre später und gegen den Widerstand der Eltern heiraten sollte. Aber natürlich bekennt sich Korngold musikalisch zu einer Wiener Wahlverwandtschaft mit Schubert, Brahms und Mahler, die in ihren Sonaten, Streichquartetten und Symphonien ebenfalls eigene (oder angeeignete) Lieder paraphrasiert und variiert hatten. Im Adagio des Quintetts klingt auch das bittere und resignative Sterbelied aus Opus 14 nach: „Lass, Liebste, wenn ich tot bin, / Lass du von Klagen ab. / Statt Rosen und Zypressen / Wächst Gras auf meinem Grab.“ Gleichwohl erdachte Korngold für sein Klavierquintett keine ­depressive oder morbide Musik, im Gegenteil, das Werk steigert sich unablässig ins Hyperaktive, in überreizten Ausdruck, in ein ­gespanntes, exaltiertes Melos, es fällt sich andauernd selbst ins Wort, verdoppelt und vervielfacht seine Aufschwünge. Korngold schreibt eine überaus moderne, nervöse, zersplitterte und expressi­ onistische Musik, die etwas Wütendes, Bilderstürmerisches, ja Selbstzerstöre­r isches an sich hat. Und die tatsächlich einen Abschied bezeichnet. In den folgenden Jahren beschäftigte sich Korngold mit Operettenbearbeitungen und komponierte (überaus erfolgreich) Filmmusik, reiste dafür nach Hollywood, zunächst freiwillig, ab 1938, nach dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich, als Emigrant auf der Flucht vor den eigenen Landsleuten. Doch die zeitweilige Rückkehr in die alte Heimat Wien brachte ihm in den Nachkriegsjahren nichts als Enttäuschungen. Gerechtigkeit ist Korngold erst lange nach seinem Tod

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widerfahren. Aber es fällt auch schwer, diesem Komponisten gerecht zu werden, der nie das war oder wurde, was die Mit- und Nachwelt von ihm erwartete.

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Youthful Masters and a Wise Elder Chamber Music by Webern, Schubert, Brahms, and Korngold

Katy Hamilton

It is always fascinating to hear the earliest works of composers whose mature efforts are well-known: it provides a rare glimpse into the “workshop,” as these musicians seek out their own paths and styles. Tonight’s program draws together youthful projects by Anton Webern, Franz Schubert, and Erich Wolfgang Korngold, along with a mature work of Johannes Brahms. Anton Webern was just 22 when he composed the so-called Langsamer Satz (slow movement). Still a student in musicology at the University of Vienna, Webern had begun lessons with Arnold Schoenberg in the autumn of 1904. Although he had already ­composed a number of songs and some chamber music, the impact of Schoenberg’s teaching brought new clarity and refinement to Webern’s writing. Composed after an idyllic walking holiday in Lower Austria, the piece radiates a Mahlerian lyricism and passion (Webern had spent his holiday with his cousin Wilhelmine, with whom he fell deeply in love and whom he married several years later), and its sleek unfolding of ideas betrays a debt to Brahms, no doubt via Schoenberg. It seems profoundly unfair to conceive of Webern, a year into his composition lessons and still in his early 20s, as a “late bloomer.” But in comparison to Franz Schubert, he was exactly that. The first of Schubert’s compositions to be included in Otto Erich Deutsch’s mighty chronological catalogue was written in 1810, when the composer was 13. Schubert’s earliest pieces are, unsurprisingly, for the musical forces he encountered in his own home: piano solo and duet, voice and piano, and string quartet. His family regularly

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played quartets together, and in this way he came to know the chamber music of Haydn and Mozart, and later Beethoven. His own early efforts were thus shaped by these important predecessors, showing him the possibilities nascent in a single theme or motif as he grappled with the problems of building large-scale forms of his own. At least seven quartets predated the piece heard tonight, the String Quartet in C major D 46 composed by the 16-year-old in just five days in March 1813. It is fascinating to hear Schubert “in progress” in this Quartet, learning, as biographer Brian Newbould so beautifully puts it, from “a combination of inexperience and a try-anything approach.” The Adagio introduction of the first movement seems to channel the chromatic instability of Mozart’s “Dissonance” Quartet, and this sinuous opening line reappears later in the movement, long after the briskly energetic Allegro is underway. The slow movement is notable for its theme, which is only seven (rather than the usual eight) bars long—a question unanswered, so to speak, until it is rounded up to eight bars at the movement’s close. A cheery minuet in B flat follows, a curious decision in the middle of so much C major! The finale returns us to the home key for a sunny, bustling conclusion, with a seven-bar second subject: as if Schubert wishes to tell us that he really did mean to have such an unusual feature in his slow movement, as here, whatever his elders may think proper.

After these two youthful efforts, we come to a piece written by a mature artist confident in his craft and enjoying international fame and prestige. Johannes Brahms was 52 years old when he set off for the Swiss town of Thun in 1886, and enjoyed a rich and ­productive summer which yielded a handful of songs (including the famous Wie Melodien zieht es Op. 105 No. 1) as well as his C-minor Piano Trio Op. 101, the Second Cello Sonata Op. 99, and two Violin Sonatas Opp. 100 and 108. Still, Brahms was ferociously ­self-critical, both as a young man and a mature composer. Many works were burned or otherwise destroyed over the course of his career—anything that was deemed not good enough. He may have grown more compositionally confident and assured as the years passed, but Brahms never lost his sense that every note he wrote must be rigorously tested and critiqued.

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The A-major Violin Sonata, Brahms’s biographer Max Kalbeck tells us, was composed “in anticipation of the arrival of a dear friend”—namely the alto Hermine Spies, who was studying with Brahms’s colleague Julius Stockhausen. Spies and Brahms seem to have become close friends in the 1870s, and the composer sent her manuscripts of several songs, as well as accompanying her in concert. Since Spies also gave the first known performances of Wie Melodien zieht es, the song was clearly closely connected with her in Brahms’s mind. The Sonata is in three movements rather than four, with the second serving as both slow movement and scherzo in alternation. The opening Allegro amabile (sweet, loving) unfurls a beautifully long-breathed melody for both players, and it is here that we ­encounter a fragment of the song, as the second theme. Brahms’s close friend, the pianist Elisabeth von Herzogenberg, described this movement as “a real caress,” and while it has its moments of drama, the gentleness of that description seems entirely apt. The Andante tranquillo, singing and untroubled, eventually gives up its secret: a stamping, fun-filled Vivace dance lurks within it, and the two tempi alternate across the movement. Gracious, warm, and expansive writing greets us again in the finale.

That Erich Wolfgang Korngold, born in the year of Brahms’s death, was a child prodigy, was presumably a matter of great satisfaction to his parents, who had evidently expected great things in bestowing such a distinguished middle name. Korngold composed his first orchestral piece at 14 and two one-act operas at 17, wowing such grand contemporaries as Arthur Schnabel, Richard Strauss, Giacomo Puccini, and Jean Sibelius. His Piano Quintet in E major is a work of Korngold’s mid-20s, and like Webern’s Langsamer Satz, is intimately bound up with falling in love. The actress, writer, and musician Luzi von Sonnenthal married Korngold in 1924—but their courtship was complicated by the end of World War I, the subsequent devaluing of Korngold’s savings, and Luzi’s mother banning meetings between the young couple until he could afford to marry her. Between 1920 and 1921, he wrote a set of four Lieder des Abschieds (“Songs of Farewell”) Op. 14, mourning their parting and using a brief, swooping musical

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motif that was to pervade his later works, a “Luzi” theme based on her speaking voice. The third of these songs, Mond, so gehst du wieder auf, is used as the theme for a set of free variations in the second movement of the Quintet, begun in summer 1921 and ­premiered to great acclaim in Hamburg in 1923. There is an almost orchestral richness to this Quintet, with its sliding, sweeping string writing and often dense, wide-ranging piano writing—not to mention the frenetic, highly varied textures of the finale. Yet there is real intimacy too: quiet, glistening ­moments in the first movement and dreamy, heart-twisting lyricism in the Adagio. Korngold constantly varies both time signatures and tempi (he is highly precise in his marking of rubato and tempo variation), and it is this extreme care and attention to detail that leaves the listener with such a sense of fluidity, freedom, and breath of line.

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ALEXANDRE KANTOROW & GÄSTE Mittwoch 3. Mai 2023 19.30 Uhr Alexandre Kantorow Klavier Svetlin Roussev Violine (Mahler, Bartók) Liya Petrova Violine Paul Zientara Viola Victor Julien-Laferrière Violoncello (Mahler, Bartók) Aurélien Pascal Violoncello


Gustav Mahler (1860–1911) Klavierquartett a-moll (Fragment) (1876) I. Nicht zu schnell

Dmitri Schostakowitsch (1906–1975) Klaviertrio Nr. 2 e-moll op. 67 (1943–44) I. Andante – Moderato II. Allegro con brio III. Largo IV. Allegretto – Adagio

Franz Schubert (1797–1828) Adagio für Klaviertrio Es-Dur D 897 ­„Notturno“ (1827)

Pause

Béla Bartók (1881–1945) Klavierquintett B-Dur BB 33 (1903–04) I. Andante – Allegro II. Vivace scherzando III. Adagio – IV. Poco a poco più vivace – Vivace molto

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Vergangene Zukunft Kammermusik von Mahler, Schostakowitsch, Schubert und Bartók

Wo l f g a n g S t ä h r

Die Sonne versinkt, ein Stern geht auf In seiner Jugend, in seiner Wiener Studienzeit, hatte sich Gustav Mahler noch als Komponist in der Kammermusik versucht, über die er später wie über einen überwundenen Standpunkt der Musikgeschichte sprach. Als 16-Jähriger hatte er ein Klavierquartett begonnen, das lange als verschollen galt. Bis eines Tages, Ende der 1960er Jahre, der Hamburger Komponist Peter Ruzicka in den USA auf das Manuskript des ersten Satzes stieß und dazu noch ein Scherzo-­Fragment von nur 35 Takten für dieselbe Besetzung entdeckte. Beides hat Ruzicka 1973 herausgegeben und der Musikwelt damit den jungen Gustav Mahler präsentiert, wie ihn noch keiner kannte. Der besagte Kopfsatz des Klavierquartetts taugt allerdings weder zum beliebten Musikologenquiz – an wen erinnert dieses Werk, an Schubert, Schumann, Brahms? – noch und erst recht nicht zu rückwärtsgewandter Prophetie. Beim besten Willen nicht ließen sich aus der kraftvollen Talentprobe von 1876 irgendwelche Vor­ ankündigungen der späteren Lieder und kommenden Symphonien, des „eigentlichen“ Mahler, heraushören oder hineingeheimnissen. Dieser thematisch fokussierte Sonatensatz gleicht eher einem auf ­Pathos und Passion ausgelegten Salonstück, romantisch-düster und jugendlich-dramatisch, einer „Pièce élégiaque“, die ganz aus der Dynamik und Dramaturgie lebt, einen gewaltigen Steigerungsbogen beschreibt, bis zum bitteren Ende, das (nach einer unerwarteten ­Violinkadenz) keinen furiosen, sondern einen fatalen Schluss setzt, ein Versinken und Verlöschen, den Sonnenuntergang der Musik. Anders als der Mahler der Symphonien oder der Wunderhorn-Lieder,

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der eine trennscharfe, charakteristische, überpointierte, zuweilen groteske Instrumentation liebte, hält es der Nachwuchskomponist vom Wiener Konservatorium mit den satten Farben, dunklen ­Resonanzen und sonoren Klängen. Wie Musik sein soll Dmitri Schostakowitschs Klaviertrio in e-moll op. 67 steht in einer besonderen Tradition der russischen Musik: Tschaikowsky hatte sein einziges Klaviertrio „Dem Andenken eines großen ­Künstlers“ gewidmet und damit seinen verstorbenen Förderer, den Pianisten und Moskauer Konservatoriumsdirektor Nikolai Rubinstein geehrt. Tschaikowskys Tod im Jahr 1893 veranlasste wiederum ­Sergej Rachmaninow, den Verlust des Freundes und Ratgebers in seinem d-moll-Trio op. 9 zu betrauern, das er Trio élégiaque nannte. Es war folglich kein Zufall und auch kein eigenwilliger Entschluss, dass Schostakowitsch 1944 als Memorial und Tombeau für seinen besten Freund, den Musikgelehrten Iwan Sollertinski, gerade ein Klaviertrio komponierte, sein zweites, auf das kein drittes mehr ­folgen sollte. Vier Sätze schrieb Schostakowitsch, nach dem Schachbrettmuster der barocken, im Gottesdienst gespielten Sonata da chiesa: langsam – schnell – langsam – schnell. Ein knappes, kratzbürstiges Scherzo, eine Mischung aus Etüde und Chasse, steht an zweiter, eine Passacaglia an dritter Stelle, doch sind die beiden Ecksätze ungleich ausgiebiger bemessen, vor allem der letzte. Selten ist eine derart selbstquälerische Musik erdacht worden, erstarrte Akkorde, ergraute Zwiegesänge, sarkastische Erinnerungen an die in Russland längst ausgemerzte Moderne – alles ist Gleichnis, Abbild und Folge einer von Sinnlosigkeit, Absurdität und leerer Mechanik ausgehöhlten Welt, einer ­vergangenen Zukunft. Im Finale legt Schostakowitsch über das Tick-Tack der verrinnenden Zeit die schweren Tanzschritte einer imaginären Folklore, die wie festgebannt scheinen in ihren endlosen Wiederholungen. Ist es jüdische Volksmusik, die hier zitiert wird? Und die der Komponist erklärtermaßen in einer tiefen Seelen­ verwandtschaft liebte, mehr als jede andere: „Sie kann fröhlich erscheinen und in Wirklichkeit tief tragisch sein. Fast immer ist es ein Lachen durch Tränen. Diese Eigenschaft der jüdischen Volksmusik kommt meiner Vorstellung, wie Musik sein soll, sehr nah.“ 1944, im Jahr des Klaviertrios, vollendete Schostakowitsch die Oper

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­ othschilds Geige seines jüdischen Studenten Venjamin Fleischman, R der als Freiwilliger schon in den ersten Kriegstagen gefallen war. Die Oper geht auf Tschechows gleichnamige Erzählung zurück: Rothschilds Geige singt so klagend und klingt so traurig, dass alle weinen müssen, die ihr zuhören, unweigerlich. 1944 aber hatte Schostakowitsch auch von den Verbrechen der deutschen Besatzer erfahren, von dem planmäßigen Mord an den Juden, den Erschießungen, den Lagern, dem Rauch aus den Krematorien. Wie sollte die Musik je wieder lachen unter so vielen Tränen? Lange nach seinem Tod Franz Schubert hat im Laufe seines kurzen Lebens eine beachtliche Zahl an Streichquartetten und Klaviersonaten geschrieben. Mit der Komposition von Klaviertrios dagegen hielt er sich auffallend zurück. Es existiert ein Einzelsatz aus dem Sommer 1812, doch von diesem Jugendwerk abgesehen, schrieb Schubert nicht mehr als zwei – allerdings außerordentlich bedeutende – Beiträge zu dieser Gattung: die Trios in Es-Dur D 929 und in B-Dur D 898. In den zeitlichen und entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang dieser beiden einzigen Hauptwerke gehört auch der Triosatz Es-Dur D 897. Das mit der Bezeichnung „Adagio“ versehene Autograph ist er­ halten, aber undatiert; wahrscheinlich entstand es zwischen Oktober 1827 und März 1828, möglicherweise als ursprünglicher langsamer Satz für das B-Dur-Trio. Wie unter hypnotischem Zwang ereignet sich die merkwürdig gebannte, in sich kreisende Musik dieses Adagios. „Appassionato“ lautet die erste Vortragsbezeichnung, und eine verhaltene Leidenschaftlichkeit prägt den Hauptteil im langsamen Allabreve-Takt. Zweimal wechselt er mit einem Seitensatz im Dreivierteltakt in E-Dur bzw. C-Dur/Es-Dur, dessen eigentümliche Spannung aus der Konfrontation des (doppelt) punktierten Rhythmus mit rastlosen, moto-perpetuo-artigen Sechzehnteltriolen im Klavier resultiert: ­Bewegung, die auf der Stelle tritt. Das Stück erschien erst lange nach Schuberts Tod, 1846, im Wiener Verlagshaus A. Diabelli & Co. ­unter der Opuszahl 148 und dem vom Verleger gewählten Titel „Notturno“.

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Der letzte Csárdás Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verließ der Ungar Béla Bartók die Komponierstube und wanderte aus der Stadt aufs Land, um dort die „wahre Volksmusik“ zu hören und zu erforschen. Diese Exkursionen bescherten dem Komponisten ein künstlerisches Erweckungs­ erlebnis – und ein kreatives Paradox. Denn die Werke, die er fortan zu schreiben begann, führten ihn nicht etwa „zurück zur Natur“: Bartók zog vielmehr aus der ältesten Musik die radikalsten Konsequenzen, barbarisch und bilderstürmerisch, wenn es sein musste, um zugleich mit intellektueller Strenge und wissenschaftlicher Präzision die Spielräume der Tonkunst neu zu definieren. Im Sommer 1904, den Bartók auf dem Landgut Gerlice puszta verbrachte (heute liegt es in der Slowakei), sang ihm eine junge Frau aus Transsylvanien, dem Land hinter den Wäldern, ungarische Volkslieder vor, unverfälschte, ungeschönte Lieder, die „schlichtweg unbekannte ungarische Bauern­ musik“, wie Bartók sie nannte. Er sprach sogar von einer musikalischen Wiedergeburt. Aber es gab eine ungarische Musik vor der ­ungarischen Musik. Ausgerechnet im selben Sommer 1904, am selben Ort, ­vollendete Bartók ein Klavierquintett, das wie eine ausufernde Abschiedsfeier von der urbanen Salonkultur der „Ungarischen Rhapsodien“ und „Ungarischen Tänze“ klingt, ein letzter Triumph der magyarischen Nationalromantik: ein allerletzter Csárdás. Bartóks kaum älterer Mentor und Landsmann Ernő Dohnányi hatte für sein Klavierquintett 1895 von Brahms ein Lob erhalten, das einem Meisterbrief gleichkam: „Das hätte ich selbst nicht besser ­machen können.“ Weshalb jetzt auch Bartók mit brennendem ­Ehrgeiz Klavierquintette schrieb: Vom ersten fehlt jede Spur, vom zweiten gibt es nichts als Fragmente, Tonscherben; das dritte aber zeigt den Absolventen der Königlich-Ungarischen Musikakademie in Budapest, wie er das ohnehin schon opulente Opus seines ­Freundes Dohnányi noch zu überbieten versucht. Alles an diesem Quintett ist maßlos: die Spieldauer, der üppige orchestrale Sound, das theatralische Temperament, die Schwelgerei in Schönklang, die fiebrigen Gefühlsausbrüche; aber auch die (von Schuberts ­„Wandererfantasie“ inspirierte) Hybridform eines Sonatensatzes in vier Sätzen, die Metamorphosen des einen, alle Teile umklammernden Themas, die vielfach gespiegelte, labyrinthische Architektur. Dem jungen Bartók standen alle Wege offen: Er hätte eine Art ­„ungarischer Richard Strauss“ werden können oder ein pathetischer Nationalkomponist oder ein weitschweifig komponierender Fin-de-

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siècle-Symphoniker. Aber er entdeckte im Sommer auf dem Lande das Volkslied, draußen in der ungarischen Puszta, und er entdeckte in sich den Volksliedforscher, den Wissenschaftler, im Innersten ­seiner puristischen Seele.

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From Trio to Quintet Chamber Music by Mahler, Shostakovich, Schubert, and Bartók

Katy Hamilton

Gustav Mahler was 15 when he began his studies at the ­ onservatory of the Gesellschaft der Musikfreunde in Vienna, in C the autumn of 1875. Already a talented pianist, he studied with the noted virtuoso Julius Epstein and won the Conservatory’s piano competition the following summer. In that same summer of 1876, he was also awarded first prize in the composition competition, with a piece that he later identified as a “Quintet.” However, it seems possible that the work in question might in fact have been the movement for piano quartet that opens tonight’s program, a work that his friend, the violinist Natalie Bauer-Lechner, recorded as having “excited a good deal of enthusiasm” amongst Mahler’s professors and fellow students. The Quartet is, in any case, Mahler’s earliest surviving composition, and his only extant work for instrumental chamber ensemble. Perhaps the most striking feature of this movement is the curiously magnetic power of its three themes. None stray far from the home key, but Mahler weaves them into long, imitative strands that provide a compelling sense of continuity and dramatic flow. The texture is relatively light and lyrical to begin with; the climax, when it comes, is achieved as much by increasing the density of the musical lines—powerful piano octaves, thicker chords, string parts leaping across the stave—as through harmonic tension. The violin is granted a brief cadenza just before the movement’s coda, a striking device that quietens the music in its final pages. The last two chords are plucked by the strings and played as just two notes in the alto register of the piano: there was clearly more to be said. There is a further surviving fragment of a scherzo in 6/8, probably

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intended as the next movement in a full quartet. After two dozen bars of continuous music, the manuscript becomes patchy, disappears under increasingly dense pencil scribbles, and finally breaks off altogether.

Many years later, the musicologist, critic, and linguist Ivan Sollertinsky was to become a staunch advocate of Mahler’s music in the Soviet Union—given his position as a professor at the Leningrad Conservatory and artistic director of the Leningrad Philharmonic, he was certainly well-placed for such a project. But Sollertinsky’s name is best known to us in connection with his contemporary, Dmitri Shostakovich: the two men were extremely close friends and Shostakovich enormously valued Sollertinsky’s views on his works. On February 11, 1944, a few days after introducing several performances of Shostakovich’s Eighth Symphony in Novosibirsk, Sollertinsky suffered a fatal heart attack at the age of just 41. ­Shostakovich was inconsolable. His next major composition bore a dedication in memory of his friend—this was the Piano Trio No. 2 in E minor Op. 67. A bare, bleak opening fugue places the cello high above the violin as the piece begins, a whistling line of ghostly harmonics. The tempo eventually picks up, the opening motif still present to bind the whole together as the music becomes increasingly frantic before unexpectedly petering out. The second movement, all energetic swirls and obsessive repetition, was described by Sollertinsky’s sister as “an amazingly exact portrait of Ivan Ivanovich, whom Shostakovich understood like no one else. That is his temper, his polemics, his manner of speech, his habit of returning to one and the same thought, developing it.” After such liveliness, the ­passacaglia slow movement feels funereal: a moment of mourning for all that energy lost, perhaps? It leads directly into the finale, ­infused with the punchy rhythms of klezmer—but ending with that passacaglia progression of the Largo, the cellist returning to those ethereal harmonics with which the work began. This return brings with it a sense of closure and release, a quiet major-key conclusion after so much sadness. Completed in the summer of 1944, the Trio was premiered in Leningrad alongside Shostakovich’s Second String Quartet with the leader and cellist of the Beethoven Quartet;

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Shostakovich himself took the piano part. The piece was a great success and subsequently won a Stalin Prize.

From the music of one man in his 30s, the program turns to that of another: Franz Schubert. Much ink has been spilled in trying to trace the origins of his single-movement “Notturno” D 897. It was probably composed in the autumn of 1827 or in 1828, when Schubert was beginning to work on two substantial compositions for the same combination of instruments: the Piano Trios in B-flat major D 898 and E-flat major D 929. That the “Notturno” bears a Deutsch number adjacent to that of the B flat–major Trio is no accident—for Otto Erich Deutsch believed it to have been a rejected slow movement from that work. Indeed, several scholars have argued that the format of the manuscript score and its simple “Adagio” heading make it most likely that Schubert initially ­intended it as part of a larger, multi-movement work. If this piece was indeed destined to be part of the D 898 Trio, the most likely reason for its removal is its sheer length (it is almost twice as long as the Trio’s first movement). Schubert’s form is simple enough—two contrasting ideas presented in alternation. The first is serene and almost like a lullaby, the second majestic and fiery, with excursions into some rather unexpected keys on the way. The manuscript bears the title “Nocturne”—but not in Schubert’s hand—and it was the Italian version of this that the music publisher Anton Diabelli chose as the piece’s title when he published it in 1846, 18 years after the composer’s death, as Schubert’s Opus 148. Tonight’s program ends as it opened: with a glimpse of a nowfamous composer as emerging artist. Béla Bartók’s Piano Quintet in B-flat major was begun in the autumn of 1903, five months after he graduated from the Royal Academy of Music in Budapest. By this time he was traveling around Europe in an attempt to establish himself as a concert pianist and started writing the Quintet while in Berlin (where he became friends with Leopold Godowsky and also met Ferruccio Busoni). The Quintet was completed by the ­following July in Hungary and premiered that November in Vienna at the Ehrbar-Saal—a space that had seen early performances of works by the likes of Brahms, Bruckner, and Mahler. And, listening to this piece, it is clear that figures such as Brahms,

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along with Richard Strauss, Liszt, and Wagner, are among Bartók’s principal influences. The Andante introduction brims with ­Romantic passion and Lisztian virtuosity, and only with the arrival of the Allegro do we start to get a glimpse of the more familiar Bartók. (This piece pre-dates his first folksong-collecting trip by a year, though he was already keenly aware of some published folk sources and keen to explore a nationalist idiom.) The Vivace trips along in phrases of three, rather than four, bars—a distinctive rhythmic device that adds a charming, waltz-like lilt to the more “normal” phrase lengths when they come. Hungarian rhythms and harmonies are unmissable in the Adagio—rather Lisztian in their presentation, but with distinctly more modern chromatic ­inflections. And the finale, following after a seamless transition, channels the Hungarian idiom of Brahms in its lively dances and muscular piano writing.

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