Buchbesprechung von Wolfgang B. Lindemann, Sprachenreden oder
Zungenreden. Untersuchung eines weitverbreiteten charismatischen
Phänomens. Bernardus-Verlag Mainz 2010, 260 S., Paperback, ISBN-10: 38107-0092-4, ISBN-13: 978-3-8107-0092-6. EUR 14.80
Verfasst von H.H. Prof. Dr. theol. Manfred Hauke
Erschienen in Forum Katholische Theologie 2014; 30: 77-80 (1/2014)
Die Glossolalie oder das Zungenreden gilt als das typischste Kennzeichen der Gebetsgruppen,
die seit dem Anfang des 20. Jahrhundertes im Gefolge der Pfingstbewegung entstanden sind. Sie
wird oft einfachhin gleichgesetzt mit dem von Paulus im Ersten Korintherbrief als Reden in
„Zungen“ beschriebenen Charisma. Die Deutung der einschlägigen Phänomene der
apostolischen Zeit geht freilich ebenso verschiedene Wege wie die Bewertung des
„Zungenredens“ in der Pfingstbewegung und der Charismatischen Erneuerung. Angesichts dieser
Situation scheint es interessant, die Überlegungen eines Arztes und Psychotherapeuten zur
Kenntnis zu nehmen, der zwar kein Theologe ist, wohl aber selbst einschlägige Erfahrungen mit
der Charismatischen Erneuerung (CE) gesammelt hat (speziell in der „Gemeinschaft der
Seligpreisungen“) und nun darüber, mit dem Blick auf die Heilige Schrift und die Kirche, kritisch
reflektiert.
Lindemann möchte keineswegs einen „Generalangriff“ auf die CE durchführen (S. 11), meint
aber, dass diese Bewegung bezüglich des Zungenredens „am meisten auf dem berühmten
Holzweg ist“ (S. 12). Er vertritt die These, „dass das biblische Sprachenreden, heute gemeinhin
als Zungenreden bezeichnet (…) ein völlig anderes Phänomen ist als das, was in charismatischen
Gruppen unter dieser Bezeichnung praktiziert wir“ (S. 13). Die Kritik geschieht „auch im
Interesse der Neuevangelisierung: Wir dürfen den Menschen beim Weg zum Evangelium keine
unnötigen Hindernisse in den Weg legen“ (S. 14).
Das erste von zehn Kapiteln beschreibt das „charismatische Zungenreden“ und ihren (sic WL)
geschichtlichen Kontext (S. 15-33), ausgehend von der vorgeblichen „Taufe im Heiligen Geist“
beim Wirken des Pastors Charles Fox Parham (1901) und der Aufnahme der protestantischen
Pfingstbewegung an der katholischen Duquesne-Universität in Pittsburgh (1967). Die in der
„Gemeinschaft der Seligpreisungen“ praktizierte Glossolalie erscheint Lindemann als schlicht
natürlicher Lernprozess und als „Gabe“, die er jederzeit von sich aus in Gang setzen könnte (falls
er es wollte) (S. 30f). Wichtig ist der Hinweis auf die Bedeutung der Auslegung des Zungenredens
beim hl. Paulus (1 Kor 14, 5.27f): „Ich habe es nie erlebt, dass irgendjemand das sogenannte in
„Zungen“Geredete auslegte, wie Paulus es in der Gemeinde von Korinth voraussetzt […] Der
Hirte fing an, singend zu lallen, die anderen fielen betend ein, der Hirte hörte wieder auf, die
anderen auch. Fertig (S. 31).
Das zweite Kapitel versucht eine anthropologische Orientierung, die sich am Lehramt der Kirche
und den klassischen Aussagen des hl. Thomas von Aquin orientiert: „Die Natur des Menschen“
(S. 34-68). In der Konklusion betont Lindemann, „dass es keine größere Pervertierung der Natur
des Menschen geben kann, als das Erkenntnisvermögen einzuschränken oder gar ‚abzuschalten‘“
(S. 68), wie dies bei manchen „charismatischen“ Phänomenen geschieht.
Das dritte Kapitel befasst sich mit dem Pfingstereignis als Gegenbild zur Sprachverwirrung von
Babel (S. 69-86). Lindemann betont zu Recht, dass es sich beim Sprachenwunder zu Pfingsten
nicht um ein singendes Lallen gehandelt habe, sondern um ein Sprechen in fremden Sprachen
(die von fremdsprachigen Hörern verstanden wurden) (S. 82).
Seine These entwickelt er dann im vierten Kapitel: „Es gibt nur einen Typ von Sprachenrede“,
nämlich die Rede in fremden Sprachen, wie sie beim Pfingstfest geschah (S. 87-103). In 1 Kor
14,21f werde „dasselbe Phänomen“ beschrieben „wie das in Apg 2, 10 und 19 beschriebene“ (S.
90). Diese Erklärung findet sich schon in der alten Kirche und ebenfalls bei modernen Autoren,
auch wenn Lindemann die einschlägige exegetische und patristische Fachliteratur hierzu nicht
zitiert. Er hätte hier fündig werden können beispielsweise in dem mehrbändigen und reich
dokumentierten Kommentar zum Ersten Korintherbrief von Wolfgang Schrage: Der erste Brief
an die Korinther (1 Kor 11,17-14,40) (EKK VII/3), Zürich etc. 1999, vor allem kurz gefasst S.
157-162; 197-200. Schrage weißt zu Recht darauf hin, dass Paulus von „Arten des Zungenredens“
spricht (1Kor 12, 10.28) (géne glossôn). Damit wird „angedeutet, dass Glossolalie kein
homogenes Phänomen ist, es vielmehr eine Pluriformität von Erscheinungsformen
glossolalischer Bestätigung gegeben hat“ (Schrage aaO., 160). Von daher ist es fragwürdig,
jedwede Art von Glossolalie ohne Weiteres mit dem Sprachenwunder des Pfingstfestes
gleichzusetzen.
Richtig ist freilich die Betonung Lindemanns, dass sich die von Paulus eng beschränkte
Glossolalie in Korinth nicht mit einem unförmigen Lallen gleichsetzen lässt: 1 Kor 14,36 scheint
vorauszusetzen, „dass der Beter selber verstand, was er sagte […]“ (S. 92). Deutlicher wäre hier
der Hinweis auf 1 Kor 14,5 gewesen: „höher steht, der prophetisch Redende als der in Zungen
Redende, es sei denn, dass er die Auslegung gibt, damit die Gemeinde Erbauung empfange“.
Wenn der Zungenredner als Ausleger fungiert, dann ist zumindest in diesem Fall ein Verstehen
seines Redens vorausgesetzt (vgl. Schrage aaO., S. 389f). Wie Lindemann zu Recht erwähnt (S.
94), durften in Korinth nach den Anweisungen des hl. Paulus nur zwei oder drei Zungenredner
sprechen, und zwar nacheinander und mit einer Auslegung (vgl. 1 Kor 12,27).
Im fünften Kapitel betont der Autor: „Die Sprachenredner beherrschten die Fremdsprachen
aktiv“ (S. 104-116). „Dem Heiligen Geist eine Fähigkeit zuzuschreiben, bei der alle Vernunft
ausgeschaltet ist, heißt ihn abzuwerten und Seinen Dienst in der Gemeinde lächerlich zu machen
[…]“ (S. 112). „Die ‚Ausleger‘ der Sprachengabe verstanden diese ebenfalls“ (Kap 6, S. 117-133).
Dass es sich beim echten Charisma der Glossolalie nicht um ein Versinken in Emotionen gehen
kann (sic WL) und ein Abschalten von Vernunft und Willen, wird in der alten Kirche schon
gegen die pseudo-charismatische Bewegung des Monatismus geklärt, der die „amentia“ der
Ekstase zum Kriterium der „neuen Prophetie“ machte (so der in die Sekte des Montanismus
abgeglittene Kirchenschriftsteller Tertullian), De anima 5,8). Dies ist bei einer beim Neuen
Testament verweilenden Exegese noch nicht ganz eindeutig, wie etwa die nicht genügend
differenzierten Bemerkungen von Schrage, aaO., 158f zur Ekstase zeigen. Die Schlussfolgerung
ergibt sich aber aus einer ganzheitlichen Perspektive, welche die biblischen Zeugnisse im Licht
der Klärungen der Väterzeit betrachtet (bei der Überwindung des Montanismus). Auch Schrage
betont, Paulus denke bei der Glossolalie „nicht an ein bloßes Lallen und Stammeln mit
inhaltlicher Unbestimmtheit“ (Schrage aaO., 161). Die Urchristenheit hat im Zungenreden „nicht
Trümmer menschlichen Sprechens“ ohne phonetische Struktur, „sondern übermenschliche
Sprache vernommen“ (H. Greeven, „Propheten, Lehrer und Vorsteher bei Paulus“, in ZnW 44,
1952-53, 1-43 hier 17, zitiert bei Schrage aaO., S. 161, Anm 262). Dies zeigt sich vor allem in dem
Vergleich mit der „Sprache der Engel“ (1Kor 13, 1).
Ein siebtes Kapitel widmet sich wissenschaftlichen Untersuchungen des Zungenredens (S. 134161). Der Blick auf die Sprachwissenschaften wird von der eigenen Erfahrung ergänzt: der Autor
habe „niemals selber eine Form von Zungenreden erlebt […], das auch nur den Verdacht
aufkommen ließ, es sei eine echte Sprache (S. 138). Ein unartikuliertes Zungenreden findet sich in
der Antike etwa bei der Pythia, der Priesterin des Orakels von Delphi, und in der Gegenwart
beispielsweise im Spiritismus (S. 138). Die Verbindung zwischen Trance und Zungenreden ist
typisch für viele heidnische Rituale, wobei Glossolalie als erlerntes Verhalten erscheint (S. 140 f).
Neurophysiologische Studien zeigen, dass dabei „die willentliche Selbstkontrolle […] teilweise
‚ausgeschaltet‘ wird und stattdessen die unteren Leidenschaften der menschlichen Psyche die
Kontrolle übernehmen“ (S. 146).
Das achte Kapitel behandelt das Thema der Ekstase (S. 161-182). Kennzeichnend ist hier die
Zitation des hl. Thomas über die prophetische Schau: Das „Entfernen von den Sinnen“ ist „bei
den Propheten nicht von einer Verwirrung und Unordnung in ihrer sinnlichen Natur begleitet
(wie bei den Besessenen und ähnlichen), sondern es vollzieht sich kraft einer natürlichen,
geordneten Ursache, […] Schlaf, oder […] Betrachtung […], oder eine unmittelbare mit
göttlicher Kraft fortreißende […]“ (STh II-II q. 173 a.3) (S. 164). Abzulehnen ist eine Ekstase,
die das Bewusstsein und den freien Willen einschränkt (S. 176). Die authentische christliche
Ekstase schaltet den Verstand nicht aus, sondern erhebt ihn zur Schau einer übermenschlichen
Wirklichkeit; verbunden ist sie stets mit Frieden und Ruhe (vgl. S. 178). „Statt des mehrdeutigen
Wortes ‚Ekstase‘ wird für echtes katholisches prophetisches Schauen besser das Wort
‚Verzückung‘ gebraucht. In der Verzückung erhebt Gott Menschen in Seine Nähe, ohne ihre
Person irgendwie zu beeinträchtigen oder aufzulösen. Satan dagegen will Menschen wie willenund geistlose Gegenstände missbrauchen“ (S. 182).
Nach der treffenden Unterscheidung von echter gottgewirkter und dämonischer Ekstase befasst
sich der Autor mit „Sprachenreden und Zungenreden heute“ (Kap. 9, S. 183-193). Lindemann
bemerkt einen krassen Gegensatz zwischen den Anweisungen des hl. Paulus und der nach seiner
Erfahrung gelebten in der gegenwärtigen Charismatischen Erneuerung: „es reden alle zusammen
und nicht nacheinander höchstens zwei oder drei“, es ist oft, wenn nicht meistens kein
Übersetzer da “ (S. 183).
Beschrieben wird dann der Gottesdienst in Übereinstimmung mit der Natur des Menschen“
(Kap. 10, S. 194-226). Die Gottesverehrung muss der Leibgeistnatur des Menschen entsprechen.
Wichtig ist die Wahl der liturgisch angemessenen Musik, wobei der Autor die Vorzüge des
Gregorianischen Chorals herausstreicht (S. 197-207). Auch die sakrale Sprache wird betont (S.
214-223). „Auf den Punkt gebracht: Gregorianischen Choral statt Zungenreden“. Für den Weg
zum Glück sind aktive Betätigung und Opfer unverzichtbar.
Bei den Schlussfolgerungen (Kap 11, S. 227-248) setzt sich Lindemann mit eigenwilligen
Deutungen des Frankfurter Jesuiten und großen Freundes der CE Robert Baumert auseinander
(S. 228-233). Im Sinne des hl. Thomas betont er, „dass die ‚Abschaltung‘ des Verstandes völlig im
Gegensatz zur gottgeschaffenen Natur des Menschen steht“ (S. 236). Dies spüren nach
Lindemann auch viele Menschen, die mit der in der CE praktizierten Glossolalie in Verbindung
kommen. Schwer wiegt das Zeugnis des großen Kenners der Charismen der Heiligen, Wilhelm
Schamoni: Für das Zungenreden, wie es im 20. Jh. Auftritt, habe er im Leben der Heiligen und in
der Geschichte der katholischen Mystik nicht das geringste gefunden (S. 239). Referiert wird auch
die kritische Beurteilung der CE bei Kardinal Ratzinger im Jahre 1977 (S. 240). Lindemann
vergleicht am Ende die Aufgabe der Kirche gegenüber der CE mit der Reinigung der Legionäre
Christi: die Wurzel sei schlecht, aber es gelte die glaubenstreue Substanz zu retten (S. 241). Die
konkreten Vorschläge bezüglich der „Gemeinschaft der Seligpreisungen“ (S. 245-247) wurden
mittlerweile von Seiten der Ordenskongregation unter Kardinal Rodé in ganz ähnlicher Weise
verwirklicht.
Abgeschlossen wird das Buch von Literaturangaben zur CE (S. 249-252) sowie von einem
Anhang über die Zitation der Bibel und die Erklärung medizinischer Fachbegriffe (S. 253-260).
Auch wenn die fachtheologische Ausstattung ausbaufähig ist und manche Deutungen nicht
differenziert genug erscheinen, so bietet das Werk doch eine hilfreiche Einführung in ein
umstrittenes Phänomen. Der Arzt und gläubige Katholik Lindemann hilft den Theologen und
Seelsorgern bei einer wichtigen „Unterscheidung der Geister“.
Manfred Hauke
Via Roncaccio7
CH-6900 Lugano
Buchbesprechung von Prof. Dr. Manfred Hauke in: Forum Katholische Theologie 2014 :
30; 77- 80 (1/2014)