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Über Entscheidungsunterstützung mittels Praxissoftware in der Allgemeinmedizin Wolfgang B. Lindemann, Cabinet de médecine générale, 67 rue du Maréchal Foch F – 67113 Blaesheim docteur@blaesheim-medical.fr Simon Krause, (B.Sc. Elektro- und Informationstechnik), Forschungszentrum Informatik, Karlsruhe (11 / 2014 bis 1 / 2015) Hintergrund und Studienfrage Prävention und Früherkennung (P&F) sind eine wichtige Säule allgemeinärztlicher Tätigkeit. Viele Krankheiten können in Abhängigkeit von patientenspezifischen Variablen (eigene und familiäre Vorerkrankungen, Vitalparameter, Lebensstil, Laborwerte ...) vermieden oder rechtzeitig erkannt werden. Früherkennungsprogramme wie ADECA zum Coloncarcinom geben Hausärzten sogar per Merkblatt einfache Algorithmen [1]. Allerdings erschweren fachliche wie praktische Hindernisse optimale Prävention und Früherkennung: – P&F sind definitionsgemäß niemals dringend und müssen neben dem aktuellen Behandlungsanlass und der Behandlung einer chronischen Erkrankung geleistet werden. – Es sollten möglichst alle vermeidbaren oder früherkennbaren Krankheiten einbezogen werden, von denen viele dem Allgemeinpraktiker so selten begegnen, dass er mit ihnen nicht wirklich vertraut werden und daher keine diagnostischen und therapeutischen „Routineprozeduren“ memorisieren kann. – wohlbekannt ist, dass der „Neurocomputer Gehirn“ wenig geeignet ist, Listen oder repetitive Aufgaben abzuarbeiten und „an alles zu denken“: Assoziationen zwischen lexikalischen Informationen zu finden [2]. Sowohl aus fachlichen wie praktischen Gründen stößt der Hausarzt also selbst bei einer großzügig bemessenen Sprechzeit von 20 Minuten pro Patient rasch an theoretisch nicht überwindbare Grenzen, wobei die Hindernisse in die Kernkompetenz eines Computers fallen. Hier werden die erste Entwicklungsstufe eines Zusatzmoduls für ein Arztpraxisinformationssystem (AIS) vorgestellt, das patientenspezifisch P&FMaßnahmen anzeigt sowie weitere Überlegungen zu deren Inhalt und Formulierung. Material und Methoden Am „Forschungszentrum Informatik“ in Karlsruhe wurde im Bereich „Eingebettete Systeme und Embedded Security“ (Leitung bis März 2015: Dr. Stephan Heuer) nach den Vorgaben von WL durch SK eine lauffähige Demonstrationsversion eines Programmes erstellt, das letztlich z.B. als Add-On zu bestehenden AIS patientenspezifische Vorschläge zu P&F machen soll. Dabei ist von ärztlicher Seite festzulegen, welche konkreten Diagnosemaßnahmen in Abhängigkeit von welchen konkreten Patientenvariablen einzuleiten sind. Es ist nicht trivial, einige Dutzend basale Vital- und Laborparameter in optimalem zeitlichem Abstand bei einem konkreten Patienten zu überwachen. Ein Algorithmus zur Häufigkeit der Bestimmung eines Vitalparameters ist grundsätzlich: Wenn (Messwertalter > Messhäufigkeit) dann „Messung jetzt“. Andernfalls „Messung in (Messhäufigkeit - Messwertalter)“ (gerechnet in Monaten)'. Die Messhäufigkeit wird aus den Patientenvariablen ermittelt. Der Abstand zwischen 2 Wiegungen eines Patienten kann mit 2 grundsätzlichen Algorithmen bestimmt werden: 1. Möglichkeit: Die Messhäufigkeit ist der kleinste Wert von allen patientenabhängigen Messhäufigkeiten. 2. Möglichkeit: Die Messhäufigkeit ist kleiner als der kleinste Wert von allen patientenabhängigen Messhäufigkeiten, d.h. die Patientenvariablen werden miteinander „verrechnet“. So legt eine Diagnose aus den ICD-10 Gruppen A00 - A09 (Infektiöse Darmerkrankungen), E00E90 (Endokrine- und Stoffwechselerkrankungen I00 - I99 (Erkrankungen des Kreislaufsystems) oder N17 - N19 (Niereninsuffizienz) oder eine Medikation aus den „Rote Liste“-Hauptgruppen 01 (Antidiaposita), 12 (Antidiabetika), 31 (Corticoide), 36 (Diuretika), 56 (Laxantia) oder 71 (Psychopharmaka) eine häufigere Wiegung nahe, als es etwa nur Alter und Geschlecht verlangen würden. In der Klinik können Ärzte mit dem HL7-Standard zur medizinischen Wissensrepräsentation (Arden-Syntax) Regeln zur Entscheidungsunterstützung erstellen („doctors as programmers“ ([3], Bild 3), die dadurch zwischen Krankenhausinformationssystemen portabel werden. Geläufige AIS unterstützen HL7 nicht [4]. Eine andere Möglichkeit ist die Regeldarstellung in (Pseudo)Pascal (Bild 4): Das als Lehrsprache entwickelte Pascal [5] ermöglicht gut lesbare Formulierung komplexer Algorithmen zur Entscheidungsunterstützung und wird zudem von jedem Informatiker verstanden. Diskussion Ein AIS hat eine Fülle von Informationen über jeden Patienten erfasst, nutzt dieses Potential aber nur ungenügend aus und beschränkt sich im wesentlichen auf den Ersatz der VorgängerTechnologie „Papierakte“ [5]. Die Idee, den Computer patientenspezifisch Vorschläge zu Diagnose und Therapie machen zu lassen, ist nicht neu [2, 6], und es gibt Bestrebungen, AIS flächendeckend in die Kontrolle kardiovaskulärer Risikofaktoren einzubinden [7] oder mittels eines drahtlosen Tablet-Computers einen Teil der allgemeinen wie patientenspezifischen Anamnese zu erheben [8]. Die Verwendung von Erinnerungsfunktionen („Reminders“) in AIS ist in Frankreich unüblich [4], in Deutschland dort realisiert, wo ein wirtschaftlicher Anreiz besteht (IGeLEmpfehlungen durch geläufige Programme wie Albis oder Turbomed), aber in manchen Gesundheitssystemen weiter fortgeschritten, auch wenn der Inhalt der verwendeten Regeln üblicherweise nicht publiziert wird ([8 – 10]. Wo sie explizit erwähnt werden, ähneln sie dem hier vorgetragenen Ansatz, unterscheiden sich aber durch die geringe Verwendung bereits im AIS vorhandener Informationen sowie ihr automatisches und interruptives, den Arzt zu Reaktionen zwingendes Auftreten [10]. Bild 1: Der Regeleditor des Programmes „Hausarztassistenz“. Programmiert ist eine Regel zur Häufigkeit des Wiegens eines Patienten. Im Hintergrund die Daten eines Musterpatienten in einer Excel-Tabelle, die „Hausarztassistenz“ einliest und auf ihn die Regeln anwendet. Realisierbarkeit und Wirksamkeit solcher Ansätze sind seit langem bekannt [2, 6, 11]. Bereits elementare logische Operationen erlauben sinnvolle, den Hausarzt entlastende „Reminder“, deren Erarbeitung wie Darstellung den Rahmen eines Posterbeitrages aber um Größenordnungen übersteigen. Ergebnisse Das Programm „Hausarztassistenz“ (Bild 1) ist in C# mit dem Microsoft Visual Express Developerstudio geschrieben (Bild 2). Die Patientendaten werden in der ersten Entwicklungsstufe aus einer Microsoft Excel Datei übernommen. Die Regeln werden mit dem Programm mitgeliefert, können aber auch vom Anwender im Fenster „Regeleditor“ (Bild 1, 2) erstellt werden. Der einzelne Hausarzt hat sicher nicht die Ressourcen, für seine Praxis komplexe logische Regeln zu kreieren, auch wenn ihm dazu die grundsätzliche Möglichkeit gegeben werden sollte. Daher wird der Regeleditor in erster Linie vom Programmeditor verwendet werden. Eine Regel verknüpft Patientenvariablen logisch miteinander und gibt gegebenenfalls eine frei formulierbare Empfehlung aus. Es können Patientenzustände und quantitative Patientendaten sowie deren Wertalter miteinander verglichen werden. Der Vergleich beschränkt sich derzeit auf „kleiner als“, „gleich“, „ungleich“, „größer als“ sowie die logischen Verknüpfungen „und“ bzw. „oder“. Elementarer als P&F – aber auch deren Teil – ist die Überwachung von Vitalparametern wie Gewicht, Blutdruck, Peak Flow oder basalen Laborwerten wie Nierenclearance, Lipide, Ionogramm oder Glykämie. Bild 3: In Arden-Syntax verfasste Regel zu einem Warnhinweis bei Hypoglykämie. Literatur 1 ADECA. Algorithme de dépistage du cancer colorectal en Alsace. 2014, BP 30593 F – 68008 Colmar Cedex 2 McDonald CJ. Protocol-based computer reminders, the quality of care and the non-perfectibility of man. NEJM 1976; 295 (24): 1351-1355 3 www.hl7.org 4 Darmon D, Sauvant R, Staccini P et al. Which functionalities are available in the electronic health record systems used by French general practitioners? An assessment study of 15 systems. Int J Med Inf 2014; 83: 37-46 5 Widmeyer P. Programmierung mit Pascal. Teubner 2004 6 Shea S, DuMouchel W, Bahamonde L. A meta-analysis of 16 randomized controlled trials to evaluate computer-based clinical reminders systems for preventive care in the ambulatory setting. J Am Med Inform Assoc 1996; 3:399-409 7 Catalán-Ramos A, Verdú JM, Grau M et al. Population prevalence and control of cardiovascular risk factors : what electronic medical records tell us. Aten Primaria 2014; 46(1): 15-24 8 Anand V, McKee S, Dugan TM, Downs SM. Leveraging electronic tablets for general pediatric care-a pilot study. Appl Clin Inf 2015; 6:1 – 15 Bild 2: Der Regeleditor vor dem Hintergrund des Codes im Microsoft Visual C# Developerstudio. 9 Wright A, Sittig DF, Joan SA, Sharma S, Pang JE, Middleton B. Clinical decision support capabilities of commercially-available clinical information systems. J Am Med Inform Assoc 2009; 16: 637-644 Beitrag 179 49. Kongress DEGAM 18. 9. 2015 in Bozen Dieses Poster, dessen Präsentation und eventuelle Folgeartikel sind auf www.researchgate.net „Wolfgang B. Lindemann“ verfügbar. 10 Saleem JJ, Patterson ES, Militello L et al. Exploring the barriers and facilitators to the use of computerized clinical reminders. J Am Med Inform Assoc 2005; 12: 438-447 11 Balas EA, Weingarten S, Garb CT et al. Improving preventive care by prompting physicians. Arch Intern Med 2000; 160: 301-308 Bild 4: Entwurf eines Algorithmus zur Häufigkeit der Gewichtsmessung in (Pseudo-)Pascal-Code.