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Rupert Gaderer

Der Artikel rekonstruiert den Begriff „Aufschreibesysteme“ und unterzieht Friedrich Kittlers These einer kritischen Prüfung, dass technische Medien das alte Büchermonopol zerschlagen und neuen Speichersystemen zum Durchbruch verhelfen.... more
Der Artikel rekonstruiert den Begriff „Aufschreibesysteme“ und unterzieht Friedrich Kittlers These einer kritischen Prüfung, dass technische Medien das alte Büchermonopol zerschlagen und neuen Speichersystemen zum Durchbruch verhelfen. Dabei wird ein Schwerpunkt auf die Historizität von Praktiken gelegt, deren Verbindung und Kombination die Schriftkultur sowohl in der Sattelzeit um 1800 als auch im späten 19. Jahrhundert prägten. Ausgehend von diesem medien- und literaturhistorischen Befund untersucht der Beitrag, inwiefern intermediale Konstellationen und digitale Vernetzungssysteme für die Autofiktion „Die Welt im Rücken“ (2016) von Thomas Melle relevant sind. Sie beginnt mit dem Ende des gedruckten Wortes, genauer mit der Verlustgeschichte der eigenen Bibliothek, und der Erzählung über die paranoische Erkrankung aufgrund einer „Reaktionsmaschine“. Ein Element dieses intermedialen Ensembles ist der Blog, der als Medium des Dokumentierens an der ästhetischen Darstellung von Ereignissen, Handlungen und Figurenkonstellationen partizipiert.
Der Beitrag untersucht das Verhältnis zwischen Kulturtechniken, Dingen und Medien des Rechts in Ingeborg Bachmanns Erzählung „Ein Wildermuth“ (1961). Dabei stellt sich die Frage, inwiefern dem Streit-Ding in der Erzählung eine... more
Der Beitrag untersucht das Verhältnis zwischen Kulturtechniken, Dingen und Medien des Rechts in Ingeborg Bachmanns Erzählung „Ein Wildermuth“ (1961). Dabei stellt sich die Frage, inwiefern dem Streit-Ding in der Erzählung eine Akteursbeschaffenheit und dem Recht eine Vernetzungsleistung von Menschen, Akten und Texten zugeschrie- ben wird. Die Erzählung thematisiert ein epistemologisches Problem, das von einem Streit-Ding ausgehend in unterschiedlichen Varianten durchgespielt wird: Wie ist es möglich, einen Zugang zur (juristischen) Wahrheit zu erlangen, wenn es bereits außerordentlich schwierig ist, etwas über die Identität eines Knopfes auszusagen? Bachmann bezieht sich auf literarische Diskurse der sprachlichen Urteilskraft über Dinge (H. v. Hofmannsthal) und verbindet diese mit der Frage nach juristischen Wahrheitsformen. Dabei zeigt sich die Wahrheitssuche als eine Recherche in den Abgrenzungen eines pädagogischen, juristisch-bürokratischen und sexuellen Dispositivs.


The article investigates the relationship between cultural techniques, things and the law in Ingeborg Bachmann’s novella „Ein Wildermuth“ (1961). The main question in this context concerns the agency of a thing and the network of people, files and texts. Starting with the dispute over a button, the novella takes off and debates a profound epistemological dilemma: How can one find truth if already the origin of a button is indeterminable? Bachmann draws on literary discourses of linguistic judgment over things (H. v. Hofmannsthal) and connects them with the question of legal forms of truth. Wildermuth’s quest for the truth reveals the boundaries of a pedagogical, legal- bureaucratic and sexual dispositive.
Das Unheimliche wird in Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“ (1995) radikal ausbuchstabiert. Der Roman spielt in einer Berglandschaft, die sich zu Beginn als eine horrorhafte Lebensumwelt der Untoten, Doppelgänger, Vampire und anderer... more
Das Unheimliche wird in Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“ (1995) radikal ausbuchstabiert. Der Roman spielt in einer Berglandschaft, die sich zu Beginn als eine horrorhafte Lebensumwelt der Untoten, Doppelgänger, Vampire und anderer grauenerregender Gestalten erweist. Dabei ist auffällig, dass in der bisherigen Auseinandersetzung mit dem Roman Jelineks Appropriation literarischer Muster antiker Mythen eine untergeordnete Rolle spielte. Der Umstand ist umso erstaunlicher, da bei Jelineks Aufnahme und Weiterführung des Konzepts des Unheimlichen typischerweise antike Elemente immer wieder auftauchen. Das kulturell Imaginäre der Antike ist nicht lediglich ein Stichwortgeber, sondern wird in die Raum- und Zeitstruktur des Romans aufgenommen und als etwas Vergangenes in die Nachbarschaft aktueller Themen gestellt. Dieses poetische Konzept ist mit drei Gestalten aus der antiken Mythologie verbunden, die zu den wichtigsten Figuren der Mediengeschichte zählen: Hermes, Diana und Narziss.
Am 3. Juni 1835 tötete ein junger Bauer namens Pierre Rivière seine Mutter, seine Schwester und seinen Bruder mit einer Hippe. Nach der Mordtat flüchtete er und irrte ziellos durch die großen Wälder und kleinen Städte der Normandie – bis... more
Am 3. Juni 1835 tötete ein junger Bauer namens Pierre Rivière seine Mutter, seine Schwester und seinen Bruder mit einer Hippe. Nach der Mordtat flüchtete er und irrte ziellos durch die großen Wälder und kleinen Städte der Normandie – bis er sich der Polizei freiwillig stellte und festgenommen wurde. Kurz nach der Verhaftung begann er in seiner Gefängniszelle seine rund sechzig Seiten umfassenden Memoiren aufzuschreiben, die mit den Worten beginnen: „Ich, Pierre Rivière, Mörder meiner Mutter, meiner Schwester und meines Bruders [...]“ Der Historiker Michel Foucault wurde aufgrund seiner psychiatriehistorischen Studien auf den Fall aufmerksam und publizierte im Jahr 1973 im Pariser Gallimard Verlag die Memoiren sowie Urkunden, Zeugenaussagen, Protokolle, Zeitungsberichte und Flugblätter des Mordprozesses. Basierend auf diesen Dokumenten und in Austausch mit Foucault adaptierte der Regisseur René Allio das ausführliche Dossier über Rivière für das Kino: ICH, PIERRE RIVIÈRE, DER ICH MEINE MUTTER, MEINE SCHWESTER UND MEINEN BRUDER GETÖTET HABE (FRA 1976, René Allio) wurde nahe am Ort der damaligen Ereignisse bei Aunay im Département L’Orne gedreht. Das Film-Team bestand aus den Drehbuchautoren Pascal Bonitzer, Jean Jourdheuil und Serge Toubiana und dem Regieassistenten Nicolas Philibert. Letzterer produzierte 30 Jahre später den Dokumentarfilm RÜCKKEHR IN DIE NORMANDIE (FRA 2006, Nicolas Philibert) und kehrte dafür an den Ort der damaligen Dreharbeiten zurück.
Diese Gemengelage von unterschiedlichen medialen Formaten – Memoiren, Protokolle, Zeugenaussagen, Gutachten, Zeitungsberichte sowie deren filmische Adaption – wirft mehrere medial-historiographische Problemfelder auf, die im Zentrum des Beitrags stehen: Erstens wird der mediale Entstehungskontext der dokumentarischen Kollektivarbeit hinsichtlich des philologischen Umgangs mit historischen Dokumenten, der Kommentierungspraxis und der Fassung einer Vielzahl heterogener Dokumente untersucht. Neben dieser Frage nach der Sichtbarmachung (und dem Verbergen) der dokumentarischen Arbeit stehen zweitens Fragen nach dem Reenactment und den damit verbundenen politischen Perspektiven in Allios Film im Mittelpunkt. Drittens wird der Meta-Diskurs in Philiberts Dokumentarfilm betrachtet, wenn dieser die Medien des Historikers Foucault, das mediale Setting des Filmregisseurs Allio und die Produktions- und Distributionsbedingungen des eigenen filmischen Dokumentierens herausstellt.
Der Titel des Themenhefts – Bachmanns „Ein Wildermuth“. Kulturtechniken, Medien und Recht –führt in nuce zur inhaltlichen und theoretischen Ausrichtung dieser Ausgabe von Sprache und Literatur 48,2 (2019). Bachmanns Erzählung,... more
Der Titel des Themenhefts – Bachmanns „Ein Wildermuth“. Kulturtechniken, Medien und Recht –führt in nuce zur inhaltlichen und theoretischen Ausrichtung dieser Ausgabe von Sprache und Literatur 48,2 (2019). Bachmanns Erzählung, veröffentlicht im Erzählband Das dreißigste Jahr (1961), zählt sicherlich zu den von der Bachmann-Forschung vernachlässigten Werken der Autorin. Das Ziel des Themenheftes darin, die Verbindung zwischen Recht und Literatur sowie den Zusammenhang zwischen Techniken der Wahrheitsfindung und Medien und Dingen des Rechts zu untersuchen.
At the end of the 18th century, reports were made of unusual and curious legal cases in which the plaintiffs were moved by a self-destructive obsession. These excessive desires expressed themselves in the fact that these people were... more
At the end of the 18th century, reports were made of unusual and curious legal cases in which the plaintiffs were moved by a self-destructive obsession. These excessive desires expressed themselves in the fact that these people were involved in countless lawsuits and vied in vain for their rights in court. These plaintiffs were people who studied the law obsessively, meticulously filed suit after suit, and continuously troubled civil servants with unjustified legal demands. The Prussian bureaucracy gave these plaintiffs a name: ›Querulanten‹ (from Latin: queri, to complain). This paper deals with the history of these troublemakers, and more particularly, with the goal of understanding the source, development, and the continuing existence of querulency as a connection between media, knowledge, and emotions.
Der „Shitstorm“ bezeichnet das Phänomen, dass Personen, Unternehmen und Institutionen mittels digitaler Technologien beleidigt und herabgesetzt werden. Die Empörungswellen beginnen mit dem Zorn einzelner Personen und entwickeln sich... more
Der „Shitstorm“ bezeichnet das Phänomen, dass Personen, Unternehmen und Institutionen mittels digitaler Technologien beleidigt und herabgesetzt werden. Die Empörungswellen beginnen mit dem Zorn einzelner Personen und entwickeln sich aufgrund ihrer medientechnologischen Bedingungen zu einem Konflikt der vielen Adressen. Trotz der Tragweite des ,Symptoms‘ sind medienkulturwissenschaftliche Analysen äußerst selten. Angesprochen ist damit ein in diesem Artikel verfolgter Zugang, der erstens die Historizität digitaler Phänomene, zweitens die technologischen Infrastrukturen und drittens die damit verbundenen Operationen als ,Hetzschwarm‘ untersucht.
Sich zu beschweren gehört zu den üblichsten Formen der Alltagssprache. Zugleich ist das Vorbringen von Beschwerden ein zentrales Element der Aushandlung sozialer Systeme. In beiden Fällen changieren Beschwerden zwischen konstruktivem... more
Sich zu beschweren gehört zu den üblichsten Formen der Alltagssprache. Zugleich ist das Vorbringen von Beschwerden ein zentrales Element der Aushandlung sozialer Systeme. In beiden Fällen changieren Beschwerden zwischen konstruktivem Engagement und destruktivem Exzess. Die Beiträger*innen aus der Literatur- und Medienwissenschaft untersuchen die Strukturlogik des Beschwerdeführens in Literatur, Film und anderen Medien und decken auf, wie dessen grundlegende Ambivalenz die Verhandlung von Sachfragen bestimmt. Dabei liegt der Fokus nicht nur darauf, über was, sondern auch darauf, wie Beschwerde geführt wird.
Ende des 18. Jahrhunderts wird zum ersten Mal der Typus des „Querulanten“ beschrieben. Es handelt sich um einen devianten Kläger, der mit unzähligen Schreiben die bürokratische Kommunikation stört, die Arbeitskapazität der Gerichte... more
Ende des 18. Jahrhunderts wird zum ersten Mal der Typus des „Querulanten“ beschrieben. Es handelt sich um einen devianten Kläger, der mit unzähligen Schreiben die bürokratische Kommunikation stört, die Arbeitskapazität der Gerichte erschöpft und nötigenfalls mit Waffengewalt um sein Recht kämpft. In dieser Zeit wird das Querulantentum in unterschiedlichen Wissensfeldern virulent. Ausgehend von institutionellen Verordnungen, juristischen Diskussionen und psychiatrischen Falldarstellungen rekonstruiert die Studie erstmals eine systematische Medien- und Literaturgeschichte des Querulierens von der Aufklärung bis in die Gegenwart.
Manche Krankheitsbilder haben sprechende Namen: das Hiob-Syndrom bezieht sich auf die alttestamentarische Gestalt und bezeichnet eine Hauterkrankung; das Undine-Syndrom verweist auf das mythologische Wasserwesen und beschreibt eine... more
Manche Krankheitsbilder haben sprechende Namen: das Hiob-Syndrom bezieht sich auf die alttestamentarische Gestalt und bezeichnet eine Hauterkrankung; das Undine-Syndrom verweist auf das mythologische Wasserwesen und beschreibt eine Störung der Atemregulation; das Felix-Krull-Syndrom rekurriert auf Thomas Manns fabulierenden Hochstapler und verdeutlicht den pathologischen Lügner; und das Truman-Syndrom verknüpft die Filmfigur Truman Burbank mit einer paranoischen Störung. Die Bezeichnung solcher und anderer Syndrome leitet sich nicht wie üblich aus der Ätiologie oder der Pathogenese ab. Die literarischen und filmischen Narrative entwickeln eine derart starke Dynamik, dass sie Elemente eines medizinischen Wissens werden.

Jeder Beitrag des Bandes stellt ein Syndrom in den Mittelpunkt, um das Nachleben eines historischen, literarischen und medialen Wissens in der medizinischen Nomenklatur zu untersuchen. Dabei wird deutlich, inwiefern Literatur und Film einen Zugang zu Akteuren, Leiden und Erleben einer Krankheit ermöglichen. Offensichtlich wird aber auch, inwiefern die Geschichte der ‚literarischen‘ und ‚filmischen‘ Syndrome eine Geschichte der Überinterpretation, Irrwege und Missverständnisse ist.