Jahrgang 3 (2020)
Sebastian Holtzhauer
Die Destruktion der Wunderzeit in Hieronymus
Rauschers ›Papistischen Lügen‹ (1562)
Abstract: An repräsentativen Fallbeispielen aus den ›Papistischen Lügen‹ wird aufgezeigt, wie der protestantische Theologe Hieronymus Rauscher die Zeitvorstellungen
(spät)mittelalterlicher Legenden- und Mirakelerzählungen in polemisch-rationaler
Manier kommentiert. Dies geschieht ausschließlich in den Paratexten (Randglossen
und ›Erinnerungen‹) seines Werks, wo Rauscher an einer linearen ›Handlungszeit‹
ausgerichtete Maßstäbe von Plausibilität und Wahrscheinlichkeit an die erzählte Zeit
der von ihm ausgewählten Wunder ansetzt. Durch ihre eigentümliche Kritik an der
›Wunderzeit‹ distanzieren sich die weithin rezipierten ›Papistischen Lügen‹ nicht
nur vom Wunderglauben der Katholiken, sondern zugleich auch von einer vormodernen Erzählweise.
Begutachteter Beitrag, publiziert im November 2020.
Die ›Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung‹ erscheinen online im BIS-Verlag der
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND
4.0, d. h. die in ihr publizierten Beiträge dürfen unverändert zu nicht-kommerziellen Zwecken
unter Angabe von Autor und Publikationsort weitergegeben und veröffentlicht werden.
Herausgeber: PD Dr. Anja Becker (München) und Prof. Dr. Albrecht Hausmann (Oldenburg)
http://www.erzaehlforschung.de – Kontakt: herausgeber@erzaehlforschung.de
ISSN: 2568-9967
1. Einleitung
Überblickt man die wenigen literarhistorischen und narratologisch ausgerichteten Forschungsarbeiten, die sich intensiver mit dem protestantischen
Theologen Hieronymus Rauscher befassen, stellt man schnell fest, dass ihm
bisher kein besonders positives Urteil beschieden war. Von seinen zahlreichen gedruckten Schriften, zu denen vor allem Predigten gehören, seien
nach Derron (2004, Sp. 365) für die Erzählforschung allein die ›Papistischen
Lügen‹ von Bedeutung, die von Rauschers Einsatz im protestantischkatholischen Legendenstreit zeugen (einen aktuellen Überblick über das
Werk Rauschers bieten Knedlik/Kipf 2016). Bei den ›Papistischen Lügen‹,
die Rauscher 1562 als pfalzgräfischer Hofprediger in Neuburg an der Donau
wenige Jahre vor seinem Tod im Jahr 1565 1 abfasste, handelt es sich um
eine Zusammenstellung von 100 (daher auch die alternative Bezeichnung
›Centurien‹) meist kürzeren ›Lügen‹. 2 Der ausschweifende Titel des Spätwerks lautet in aller Vollständigkeit:
Hundert auserwelte / grosse / vnuerschempte / feiste / wolgemeste /
erstunckene / Papistische Luͤgen / welche aller Narren luͤgend / als des Eulenspiegels / Marcolphi / des Pfaffen vom Kalenbergs / Fortunati / Rollenwagens
etc. weit vbertreffen / damit die Papisten die f uͤrnempften Artickel jrer Lere
verteidigen / Die armen Christen aber verblenden / vnd in abgrund der Hellen
verfuͤren / Auss jren eigenen Scribenten zusamen gezogen / vnd besondere
Erinnerung zu jeglicher gestellet. (›PL1‹, Titelblatt)
Diese Sammlung stellt gewissermaßen ein ›Florilegium‹ dar, eine Blütenlese aus spätmittelalterlichen Legendaren, Mirakel- und Exempelerzählungen, die Rauscher entweder selbst übersetzte oder aus Vorlagen herausschrieb.3 Dem Titel des Werks ist schon zu entnehmen, dass er dies »in
polemischer Absicht« (Knedlik/Kipf 2016) tat, denn er kommentierte jede
einzelne dieser Erzählungen mit einer ›Erinnerung‹ (vgl. zum Begriff
Anm. 40) und oftmals zusätzlich mit Randglossen. Vor allem in diesen
Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
paratextuellen Kommentaren kommt seine – dann aber um so heftiger ausfallende – Distanzierung gegenüber dem gesammelten Material zum Ausdruck: Er diskreditiert die Marien- und Heiligenverehrung der Katholiken,
indem er sie vorgeblich für sich selbst sprechen lässt, dann aber qua Kommentierung als unglaubwürdig hinstellt und sie so der Lächerlichkeit preisgibt.4 Da Rauscher bisher zumeist eher als ›Luther-Epigone‹ behandelt
wurde, fehlen nach wie vor einschlägige philologische und hermeneutische
Studien, die zunächst wertneutral Alleinstellungsmerkmale der ›Papistischen
Lügen‹ im religiös-literarischen Traditionsgeflecht des 16. Jahrhunderts
herausgearbeitet hätten. 5
Im Folgenden kann aufgezeigt werden, dass Rauscher in ebenjenen
›Papistischen Lügen‹ ein innovatives narratives Potenzial entfaltet, und
zwar genau dort, wo es um die Wahrscheinlichkeit bzw. Unwahrscheinlichkeit des Erzählten geht. Dass dies kulturgeschichtlich betrachtet zuvorderst aus rein religiös-ideologischen Gründen geschehen sein dürfte,
spielt dabei zunächst keine Rolle, insofern Literatur immer auch ›kulturelle
Arbeit‹ (vgl. Sablotny 2019, S. 154) ist. Bereits ein halbes Jahrhundert vor
Cervantes, dessen ›Don Quichote‹ Harald Haferland als Beispiel für eine
aufkommende Kritik an der mittelalterlichen Erzählweise anführt, 6 kann
man bei Rauscher eine ähnliche Praxis beobachten, nur eben stark religiös
aufgeladen und funktionalisiert. Er destruiert konsequent die von ihm aufgegriffenen und in der Übersetzung nacherzählten Legendenwunder und
Mirakel der Catholica, wobei er sich auf die Kategorien Zeit, Raum und
Situation der Erzählhandlung konzentriert. Seine hochgradig rationale
Lesart der ›Legenden‹ bzw. ›Lügenden‹, welche er immer wieder auch mit
einigen im ausführlichen Titel aufgezählten schwankhaften Erzählungen
wie dem ›Eulenspiegel‹ oder dem ›Dialogus Salomoni et Marcolphi‹ vergleicht, hat in erster Linie die Destruktion des katholischen Wunderglaubens
zum Ziel. In der Retrospektive liegt hingegen der Gedanke nicht fern, dass
diese Art der Polemik, die durch Flugschriften und Drucke auch vieler
anderer Autoren weite Verbreitung fand, quasi als Nebeneffekt maßgeblich
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
dazu beigetragen haben könnte, eine spezifisch mittelalterliche Erzählweise – auch außerhalb geistlich bestimmter Gattungen – nicht nur zu diskreditieren, sondern eine neue an ihrer Stelle zu installieren. Dabei werden
im Folgenden von mir insbesondere solche Stellen der ›Papistischen Lügen‹
im Kontext der polemischen katholisch-protestantischen Auseinandersetzungen unter die Lupe genommen, in denen Rauscher gegen jene
Wunder und Mirakel anschreibt, in denen – wie in vielen anderen Erzählungen auch – »die Bedeutung der Zeitbestimmung […] nur bedingt mit der
jeweiligen Alltagsrealität sowie mit einem modernen, primär linearen
Zeitverständnis« korreliert (Drascek 2014, S. 1261). Er stellt wiederholt die
erzählte Zeit des Wunders und damit das Wunder selbst infrage: Der Plot
sei unsinnig, wenn die von ihm bestimmte Zeit für gewisse Ereignisse und
Handlungen nicht den Alltagserfahrungen eines vernunftbegabten Menschen entspreche. Damit setzt Rauscher zwar (noch) keine abstrakte oder
unabhängige Zeitleiste als Maßstab für wahres bzw. richtiges Erzählen an
(vgl. Haferland 2018), er fordert aber für eine bestimmte Textgattung sehr
dezidiert ein an den Regeln der Realität und nicht an denen eines ›Fiktionalitätsvertrags‹ oder Mirakelkonventionen geschultes ›historisches‹ Zeitverständnis ein, dem das narrative Kontinuum zu genügen hat. 7 Dies ist ein
wiederkehrender und womöglich folgenreicher Aspekt seiner Wunderkritik,
der in der Forschung bisher weder zur Kenntnis genommen, geschweige
denn untersucht wurde.
2. Einige Fallstudien zum Zeitverständnis in den ›Papistischen
Lügen‹
Die 24. Bepistische Luͤgen Rauschers schildert ein Marienmirakel und ist
überschrieben mit: Wie die Jungfraw Maria einem / so jm selbst die Zung
vnd Lippen abgebissen / mit jrer Milch geholffen hat. (›PL1‹, S. 76) 8 In
diesem Exempel geht es um einen frommen Menschen, der jeden Tag das
Ave Maria zu Ehren der hl. Jungfrau spricht, der aber auff ein zeit in
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
verzweiffelung fällt und sich daher selbst die Zunge abbeißt. Von einer
weiterreichenden Selbstverstümmelung muss er abgehalten werden, bis
ihm die Jungfrau Maria erscheint und Milch aus ihrer Brust in seinen Mund
laufen lässt, woraufhin seine Lippen und seine Zunge nachwachsen (›PL1‹,
S. 76). Rauschers ›Erinnerung‹ dazu lautet:
Jst das nicht ein grosses Wunderwerck / Ja das ist vil groͤsser / das in so viel
hundert Jaren / die Milch in der Jungfraw Maria Bruͤsten nicht verstocket ist
/ Aber vielleicht wirdt Christus noch ein kleines Kindlin sein / nach der
Bapisten meinung / vnd der Jungfraw Maria Bruͤste noch teglich saugen. Oder
es wird dieselbige ein Seug amme im Himel sein / vnd die verstorbenen
Kindlin seugen / sonst kan sie kein Milch in jren Bruͤsten haben. Sihe lieber
Christ / wie vngereimpt Luͤgen sind das / Aber also muͤssen die Bapisten die
anruffung Marie bestettigen / dieweil sie sonst kein zeugnis der Schrifft haben.
(›PL1‹, S. 76f.)
Rauscher macht sich über die Erzählung lustig: Nicht die Heilung sei das
eigentliche Wunder, sondern die Tatsache, dass die Milch Mariens in all
den Jahren nicht verstockt sei. Wenn sie also im Himmel nicht dem Jesuskindlein noch täglich die Brust gibt, so spinnt Rauscher weiter, müsste sie
die ganze Zeit über verstorbene Kinder stillen. Denn die alltagspraktische
Erfahrung, die hinter dieser Annahme steht, ist, dass ohne stetiges Stillen
der Fluss der Muttermilch versiegt. Rauscher spricht der Erzählung also
jegliche Wahrscheinlichkeit ab, indem er seine rationale Zeitvorstellung,
nämlich dass die erzählte Zeit jederzeit mit ›Handlungszeit‹ 9 korrelieren
muss, auf ein Marienmirakel appliziert. 10 Aus dezidiert narratologischer
Perspektive formuliert führt der Autor den Leserinnen und Lesern vor
Augen, was seiner Meinung nach eben gerade n i c h t erzählt, also aus der
Erzählung herausgelassen wurde. Diese Lücke bzw. Leerstelle muss von
den Rezipierenden potentiell füllbar sein, und das auf eine Weise, die auf
der ›histoire‹-Ebene zeitliche Kohärenz im Sinne Rauschers garantiert. So
käme für ihn ›richtiges Erzählen‹ zustande, und es würde als gewollten
Nebeneffekt den mangelnden Wahrheitsgehalt der gesamten Erzählung
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
offenlegen. Insofern zielt Rauschers Kritik allererst auf die ›discours‹Ebene der Erzählung, um über diese die ›histoire‹-Ebene anzugreifen, also
die historia im engeren Sinne als unwahr herauszustellen. Das bedeutet im
vorliegenden Fall konkret, dass die Leerstellen aufgefüllt werden müssten,
um ›Stimmigkeit‹ herzustellen, das heißt, Maria müsste dem Jesuskindlein
oder anderen toten Säuglingen noch täglich die Brust geben. Doch das wäre
absurd aus der Sicht Rauschers, weswegen die gesamte Erzählung als unwahrscheinlich und mithin als Lüge abgetan werden muss.
Hier kollidieren unterschiedliche narrative Logiken, weil Rauscher –
genau wie Cervantes – die Gesetzmäßigkeiten der betrachteten Erzählwelt
nicht anerkennen will und durch seine konfessionelle Bestimmtheit auch
nicht anerkennen kann, 11 da aus Sicht der protestantischen Theologen in
der Nachfolge Luthers nur Gott als »Herr[] der Zeit und Geschichte« (Gloy
[u. a.] 2004, S. 524) auch zeitliche Wunder zu wirken vermag. Worauf
dieses Mirakel – wie im Übrigen ebenso alle anderen von Rauscher angeführten – referiert, ist ein kategorial anderes Verständnis von Zeit, die ich
hier als ›Wunderzeit‹ bezeichne. 12 Ein Wunder lässt sich mit Dinzelbacher
(2010, S. 414) als »ein unmittelbares und unvorhersehbares Eingreifen der
überweltlichen Mächte in die natürlichen irdischen Geschicke« begreifen.
In Bezug auf die Zeit bedeutet das, dass ihre Linearität durch transzendente
Mächte durchbrochen werden kann, wenn diese in die Immanenz ›einfallen‹. Die grundlegend mythische Konfiguration der christlichen Religion
ermöglicht die Vorstellung von einer ›primordialen Zeit‹ im Sinne Eliades,
gemeint ist damit »eine mythische Vergangenheit, die nichts Historisches
hat« (Eliade 1990, S. 79). Im Mirakel von der Heilung durch Milch erscheint
und hilft dem Gläubigen genau die Maria, die einst das Jesuskind stillte,
eine der linear-historischen Zeit enthobene und eben geheiligte Gottesmutter, und nicht eine mehrere Jahrhunderte alte Maria.13
In seiner Auffassung des Marienmirakels folgt Rauscher damit fundamental anderen Plausibilitätsstrukturen als noch der Verfasser desselbigen, 14 was ihm dadurch erleichtert wird, dass er seine Textvorlage aus
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
ihrem ›religiösen Kommunikationsrahmen‹ (Begriff nach Horn 1989, S. 56)
entfernt.15 Seine Kommentare bringen eine ›rationale Grundhaltung‹ gegenüber Wundern zum Ausdruck, die schon als programmatisch für die
Schwankerzählungen des Spätmittelalters gelten kann (vgl. Schneider 2014,
Sp. 1042). Nicht zufällig knüpft Rauscher daher im Titel (s. o.) sowie in
mehreren Kommentaren ausdrücklich an ebenjene Schwankromane und
-sammlungen an, die laut ihm durch ihre Vorlagen, die Legenden und
Mirakelberichte, bei Weitem an Absurdität überboten würden. 16 Diese Art
der Polemik, die seit Luther in Mode gekommen ist und sich bei Rauscher
größtenteils auf der Ebene paratextueller Kommentierung bewegt, ist mithin auf die explizite Ausbildung einer Kritikfähigkeit der Rezipienten abgestellt, die sich nicht nur unterhalten, sondern auch moraldidaktisch belehrt
fühlen sollten. 17 So appelliert etwa der protestantische Gelehrte Andreas
Hondorff in seinem zuerst 1575 erschienenen ›Calendarium Sanctorum‹,
einer Sammlung von Bekenner- und Märtyrerhistorien, an das Christlich
Iudicium seiner Leser, das sie gebrauchen sollten, und zwar Inmass dann
auch bißweilen / wenn es mit den Historijs Sanctis zu hoch steigen will
(zitiert nach Münkler 2009, S. 46).
Es lassen sich noch weitere Beispiele anführen, die die strikt rationale
Haltung Rauschers zu Mirakeln demonstrieren. Die 35. ›Lüge‹ (Wie ein Lew
Mariam Aegyptiacam begraben hilfft) berichtet von Maria Aegiptiaca, die
17 Jahre lang eine Hure war, bevor sie nach Jerusalem geht, um das hl.
Kreuz anzubeten (vgl. zu den Quellen dieser Erzählung Schenda 1974, S. 244,
Anm. 334). Dort angekommen, kann sie das Kreuz jedoch nicht anbeten
und erkennt dadurch ihre Sünden, fällt vor einem Bildnis Mariens nieder
und bittet die heilige Jungfrau – Keuschheit gelobend – um Hilfe, welche
ihr schließlich zuteil wird:
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
Da sie aber das heilig Creutz angebeten / hat jr einer drey Pfennig geben /
dafuͤr hat sie drey Brot gekaufft / vnd damit inn die Wuͤsten gezogen / hat
daruon 47. Jar gessen / jre Kleider aber sind verfaulet / das sie nackent gehn
hat muͤssen. (›PL1‹, S. 108f.; Randglosse bei ›hat daruon 47. Jar gessen‹: Es
wird jr in acht tagen nicht ein halb quintlein gebuͤrt haben)
Anschließend empfängt sie das Sakrament von dem Abt Lorima, macht ein
Kreuz, geht über den Jordan und stirbt. Derselbe Abt soll sie auf eigenen
Wunsch begraben, was er aufgrund seines Alters und der daraus resultierenden Gebrechlichkeit jedoch nicht kann. Es kommt ein Löwe aus dem Wald,
der dem Abt dabei hilft. Die ›Erinnerung‹ Rauschers folgt stehenden Fußes:
Das heist recht vntereinander gelogen / das man schier nicht weis / wo der
anfang oder das ende ist / man sol aber vmb etlicher wort willen kein L uͤgen
verderben / Es ist ein kunst vber aller Menschen kunst / so in keiner histori
mehr gedacht wirt / das sich ein Mensch mit drey Pfennig werd Brods 47. Jar
erhalten sol / dieweil die Kleider verfaulet. Jst nicht das Brod auch schimlich
worden / Es mus auch ein artiger Lewe sein gewesen / welcher Todtengreber
machen / vnd sie begraben kan / Jn summa der Teuffel ist ein Luͤgner von
anfang gewesen / vnd in der Warheit nicht bestanden / der speiet noch seine
Luͤgen durch die Gottlosen Bapisten vnd Mahometisten aus in die Welt / vnd
wird der mehrer theil der Welt dadurch in abgrund der Hellen verfuͤrt / Der
halben sollen wir vns billich fuͤr jnen huͤten. (›PL1‹, S. 110)
Wieder nimmt Rauscher das Erzählte, ganz wie Eulenspiegel oder Markolf
es tun würden, wortwörtlich, das heißt, er versteht es im rein historischen
Sinn (so in keiner histori mehr gedacht wirt), und rechnet dem Leser unter
völliger Vernachlässigung des spirituellen Gehalts 18 dieses Exempels vor,
dass man sich unmöglich über 47 Jahre von drei Broten ernähren könne.
Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Randglosse,
die besagt, dass Maria in acht Tagen kaum ein halbes Quentchen Brot zur
Verfügung gehabt haben könnte, wenn sie jeden Tag etwas hätte essen
wollen. Diese Angabe ist tatsächlich nicht an den Haaren herbeigezogen –
Rauscher hat das in ›rationaler Manier‹ durchkalkuliert und es lässt sich
noch heute nachprüfen: Vier Quentchen entsprechen als Maßeinheit einem
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
Lot. Setzt man für ein Lot 14 Gramm an (das Gewicht variierte regional und
zeitlich), so entspräche ein halbes Quentchen 1,75 Gramm. Maria hätte so
jeden Tag 0,22 Gramm Brot essen können, was sich in 47 Jahren auf ziemlich genau 3750 Gramm summiert und bei drei Broten nicht ganz unrealistischen 1250 Gramm je Laib entspräche. Da er das Erzählte nicht im intendierten geistlichen Sinn als göttliches Speisewunder begreifen möchte, hält
Rauscher es auch nicht für plausibel, dass sich ein Mensch über solch einen
langen Zeitraum von so wenig Brot ernähren kann. Zudem spricht Rauscher
erneut an, was er als offensichtlichen Widerspruch empfindet und was in
der Erzählung seiner Meinung nach verschwiegen wird, und zwar, dass
Maria in all den Jahren sehr wohl die Kleider vom Leib gefault seien, nicht
aber das Brot verschimmelt sei. Auch hier lässt sich also argumentieren,
dass die Kritik Rauschers in den Paratexten qua ›discours‹- auf die ›histoire‹-Ebene zielt. Der Löwe als Totengräber tut nun sein Übriges, damit
der protestantische Autor zu seinem vernichtenden Urteil gegen die ›gottlosen Papisten‹ ausholen kann, die diese Lügen verbreiten und damit die
ihnen anbefohlenen Seelen der Hölle anheimstellen. 19
Auch die 39. ›Lüge‹ (Von Jacobs Wierth / dem der Becher gestolen)
schildert ein Wunder, an dessen Zeitbegriff sich Rauscher abarbeitet (vgl.
zur Quelle Schenda 1974, S. 222, Anm. 213). Ein Vater pilgert zusammen
mit seinem Sohn nach Santiago de Compostela. In Toulouse kehren sie in
eine Herberge ein, wo ihnen ein hinterlistiger Wirt beim Zechen ohne ihr
Wissen einen silbernen Becher zusteckt. Am nächsten Morgen läuft er
ihnen zeternd hinterher und beschimpft sie lauthals als Diebe. Von dem
silbernen Becher wollen sie nichts wissen. Wenn man aber einen solchen
bei ihnen finde, müsse ihnen das Recht diesbezüglich widerfahren. Schließlich findet man den Becher doch bei ihnen, sie werden vor Gericht geführt
und verurteilt. Sie sollen wählen, welcher von ihnen beiden sterben solle,
denn einer müsse schließlich gehenkt werden, um dem Recht Genüge zu
tun. Da sie sich nicht entscheiden können, wird kurzerhand der Sohn gehenkt und der Vater reist traurig weiter. Als dieser nach 36 Tagen von seiner
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
Pilgerfahrt zurück nach Toulouse kommt und vor seinem gehenkten Sohn
steht, fängt dieser an zu reden und ihn zu trösten. Der hl. Jakob habe ihn
am Leben erhalten und mit Himelischer freude erquicket. Mit Hilfe der Bewohner der Stadt lässt der Vater seinen Sohn dann vom Galgen holen, an
seiner Statt wird der Wirt gehenkt (vgl. ›PL1‹, S. 118–120). Rauscher kommentiert in seiner ›Erinnerung‹:
Wenn bey vns einer ein viertheil stund am Galgen henckt / so verzablet
[gemeint ist ›auszappeln, ruhig werden‹, s. Lexer, Bd. 3, Sp. 315, S. H.] er /
vnd hieng darnach mit einem vmb die Wette daran / So lang er wolt / 36. tag
zu hangen ist ein kunst vnd Mirackel der Heiligen / welcher Papist lust darzu
hat / der mag sich auff die huͤlffe Sanct Jacobs hencken lassen / wenn er so
lang am Galgen erhalten / so wil ich auch etwas in diesem fall von Sanct Jacob
halten / Es wuͤrde aber einem Moͤnche oder Pfaffen / so solches im Bapsthumb
leren vnd die einfeltigen betriegen / am besten anstehen. (›PL1‹, S. 120)
Wieder macht sich Rauscher über das Mirakel lustig, indem er ihm jegliche
Wahrscheinlichkeit im Rahmen seiner eigenen alltagspraktischen Erfahrungen mit Hinrichtungen abspricht. Den 36 Tagen wird eine realistische(re)
Viertelstunde entgegengehalten und so das Wunder, also das Eingreifen
einer transzendenten Macht in die immanente Zeitlichkeit, der der gewöhnliche Mensch unterworfen ist, geleugnet. Die Alternative, die hier auserzählt hätte werden müssen, weil sie ›stimmiger‹ wäre, referiert explizit
auf das Kollektiv der Protestanten, zu denen Rauscher sich zählt (bey vns).
Doch belässt er es diesmal nicht bei der bloßen Feststellung der fehlenden
Plausibilität, er geht einen Schritt weiter und fordert zur aktiven Nachahmung durch etwaige Papisten auf (impliziert wird damit: Protestanten
würden niemals auf diese aberwitzige Idee kommen). Das mag zum Teil
rhetorischer Gestus und im bösen Scherz gemeint sein, aber es kann auch
als Ausdruck einer im 16. Jahrhundert stetig zunehmenden Forderung der
protestantischen Seite nach Empirisch-Faktischem in der Literatur gedeutet werden. 20 Gleichzeitig greift Rauscher damit die Jahrhunderte alte
und gültige imitatio-Tradition an.21
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
Auffällig ist immerhin, dass Rauscher in seiner ›Centuria secunda‹ eine
weitere ›Lüge‹ bringt, der das Erzählmotiv des ›lebenden Gehenkten‹ zugrundeliegt (Ex Sermone Lxxj. Wie ein gehenckter / am Galgen Lept). Ein
zum Tode verurteilter räuberischer Landsknecht hängt am Galgen und
kann nicht sterben. Er wird befragt, wie jm Müglich wer also lang zuͤ
Leben. Er antwortet, dass er zwar ein Sünder gewesen sei, Gott aber täglich
durch zahlreiche Gebete und dergleichen geehrt habe, und zwar darum,
dass man ihn nicht sterben lasse, bis er den Leichnam Christi empfangen
habe. Nachdem man zu diesem Zweck einen Priester holt, stirbt er schließlich. Auch hier läuft die Argumentation Rauschers in seiner ›Erinnerung‹
nach dem gleichen Muster ab:
Dis ist ein Stinckete Bapsitische Lugen / vnd wers nit Glauben will / der mags
versuchen / er mag sich auch verwaren / mit so vill Vatter vnsser / vnd
Auemaria / vnnd sich darauff ann Galgen Hencken lassen / bleipt er ein Stund
oder zwo Lebendig / so wirt ers woll gewar werden. (›PL2‹, ohne Seitenzählung)
Die Erzählung wird ebenfalls als Lüge abgestempelt. Und jeder, der nicht
glaube, dass das eine Lüge sei, sondern den Gehalt für bare Münze nehme,
könne Rauscher durch Nachahmung gern eines Besseren belehren. Als
Beweis für den Wahrheitsgehalt würden Rauscher schon ein oder zwei
Stunden genügen, die der oder die Gehenkte am Galgen überleben würde.
Wieder ist der Zweifel an der ›Wunderzeit‹ das entscheidende Kriterium,
um das Mirakel als ›unhistorisch‹ zu verwerfen. Die mittelalterlichen Erzählungen, die ja oft selbst den Zweifel an den Wundern Gottes thematisierten, zu denen auch die Außerkraftsetzung der linearen Zeit zählt,
wurden das gesamte Mittelalter hindurch in ihrem Wahrheitsgehalt stets
bestätigt, indem sie immer neue Wundererzählungen initiieren, in denen
Gleiches oder Ähnliches berichtet wird. Es entstehen ein enges intertextuelles Geflecht und eine Struktur gegenseitiger narrativer Bestätigung, was
zeitgleich natürlich auch eine Inflation an erzählten Wundern verursacht. 22
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
Die ›Wieder-Holung‹ eines wunderzeitlichen Erlebnisses, etwa von
Konkreszenz im Rahmen von Jenseitsfahrten, wird in diesen Erzählwelten
nicht nur sehr plausibel, sondern geradezu ein konstitutives Moment. 23
Hier, genau wie in den Legenden und Mirakeln, ist ein zeitliches oder wie
auch immer geartetes Wunder ›erwartbar‹ und völlig ›plausibel‹, die
›Wunderzeit‹ ist gewissermaßen eine ›implizite Rahmenbedingung‹ (die
Begriffsbildung folgt Roth 2014, Sp. 1246) dieser Erzählformen. In den Legenden kann das Wunder, »vermittelt durch den Heiligen, […] als ›logische‹
Folge heiligmäßiger Lebensführung interpretiert und damit ›berechenbar‹
gemacht werden« (Feistner 2001, S. 256). Wo das Wunder fehlte, musste
man im Gegenteil eher skeptisch sein 24. Daraus sollte aber im ursprünglichen Sinn der Erzählungen durch die Rezipienten im Umkehrschluss
nicht gefolgert werden, dass das Wunder im Alltag durch jeden x-beliebigen
Menschen überall und zu jeder Zeit empirisch nachzuprüfen wäre. Die
Moral lag denn auch eher darin, seine Glaubensfestigkeit zu bewahren oder
sie (wieder)herzustellen, damit überhaupt Wunder möglich werden, 25 als
darin, diese durch eine theologisch zu verwerfende temptatio Dei zu provozieren, um allererst glauben zu können. Der ersteren Vorstellung unterliegt das Konzept göttlicher Gnade, die nicht vorherzusehen, geschweige
denn einzufordern ist,26 der letzteren hingegen ein mechanistisches und auf
Kausalität beruhendes Konzept. Dieses ist es aber, das Rauscher in einem
bewusst naiven Gestus seinen kommentierten Mirakeln unterschiebt, wenn
er meint, man könne sich gern mit so vill Vatter vnsser vnd Auemaria behüten wie man wolle, dann müsste es doch eigentlich mit dem Lebendigbleiben funktionieren.
Rauschers Bemerkungen in den Randglossen und ›Erinnerungen‹ erstrecken sich, wenn es um die Plausibilität von zeitlichen Abläufen innerhalb der Erzählungen geht, auch auf den Bereich der Skatologie. 27 In seiner
40. ›Lüge‹ gibt er ein Exempel vom heiligen Patrick wieder, wie es schon
im ›Passional‹ steht: Jemand stiehlt seinem Nachbarn ein Schaf, schlachtet
dasselbe und isst es. Patrick aber straft solche Sünden oft in Anwesenheit
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
der Gemeinde. So auch zu jener Zeit, als er demjenigen, der es gestohlen
hat, befiehlt, es wieder zurückzugeben oder Entschädigung zu leisten. Der
Dieb jedoch zeigt sich unbeeindruckt. Als nun wieder die gesamte Gemeinde in der Kirche versammelt ist, befiehlt er beim Namen Jesu Christi
dem Schaf, wo es jemands gefressen hette / das es demselben in seinem
Bauch anfahen solt zu plecken. So kommt es denn auch, der Delinquent
gelobt Besserung vnd andere haben ein Exempel dauon genomen / vnd das
stelen auch gemieden (›PL1‹, S. 120f.). Im Regensburger Druck (vgl.
Anm. 12) findet sich die Randbemerkung: Es ist wunder das ers nicht
lengst wider vnden hinaus geben hat (ohne Seitenzählung). Rauscher
möchte die Erzählung wieder einmal nicht sinnbildlich verstanden wissen,
sondern nimmt sie wörtlich. Wahrscheinlicher ist es doch wohl, dass das
Schaf nicht aus dem Bauch des Diebes heraus blökte, sondern dass er es
bereits wieder ausgeschieden haben müsste. Ein ähnliches Beispiel findet
sich in der ›Zweiten Centurie‹ (Ex Sermone xxvj. De Epiphania): Zwei
Beginen sitzen zur Fastenzeit in einer Hütte zusammen, braten sich ein
Huhn und fangen an, über Gott zu reden, darüber gerietten die zwo / in
soͤlichs / liebliches / suesses / gesprech / daz sy Essens vnd Trinckens vergassen. Rauscher ergänzt am Rand: ouch des stulgiens (›PL2‹, ohne Seitenzählung). Sie verfallen in Verzückung bis zum Ende der Fastenzeit und
merken nicht, dass Ostern bereits herangerückt ist. Erst ein Besucher weist
sie darauf hin. Ein weiteres Mal zweifelt Rauscher das Wunder der spirituellen Speisung an und profanisiert den ganzen Handlungsvorgang. Wenn
sie schon das Essen und Trinken vergessen hätten, dann ja wohl auch den
dazugehörigen Ausscheidungsprozess. Das aber ist genauso wenig anzunehmen wie die Tatsache, dass die beiden sich die gesamte Fastenzeit bis
Ostern überhaupt nicht von leiblicher Speise ernährt hätten.
Explizit wird dieser Argwohn gegenüber dem Speisewunder auch bei der
Erzählung von Maria Magdalena (Ex Sermone xLvij), die ebenfalls in der
›Zweiten Centurie‹ zu verzeichnen ist. Berichtet wird, wie sie nach der Auffahrt Jesu Christi 30 Jahre ohne leibliche Speise in der Wüste verbringt und
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
allein vom täglichen Gesang der Engel ernährt wird: die weil sy den teglich /
mit solchem Koͤstlichen malzeitten erquickt vnnd ersettiget […] / hat sy
gar keiner zeitlichen leiplichen Speiss gebraucht. Diesen Aspekt greift
Rauscher in der ›Erinnerung‹ auf und kritisiert: das sie aber letzlich keiner
leiplichen speis gebraucht hab / wie sy schreiben / das ist ein greiffliche
lugen / dan man findt es in keiner Historia / daz ein leiplicher mensch on
leiplich speis / so vill Jar leben hedt koͤnnen (›PL2‹, ohne Seitenzählung).
Als Bewertungsmaßstab der Wahrheit dienen Rauscher auch hier ›Historien‹, also Aufzeichnungen von Dingen, die sich tatsächlich zugetragen
haben. Diese Historizität spricht er damit im gleichen Atemzug den wundersamen und mirakulösen Berichten, die er anführt, ab. 28 Und natürlich
ist Maria Magdalena, genau wie die Gottesmutter Maria oder Maria
Aegiptiaca auch, für Rauscher als ein ganz gewöhnlicher, will sagen: leiplicher mensch anzusehen. Es besteht zwischen diesen ›historischen‹ Persönlichkeiten und ihm oder seinen Lesern kein kategorialer Unterschied,
weswegen die temporalen Gesetzmäßigkeiten der linearen Zeit auch auf
diese übertragbar sind und sogar übertragen werden müssen. Darin besteht
die ›logische Lücke‹ in dieser Erzählung, die schon vom ursprünglichen
Autor gefüllt hätte werden müssen, um die ›histoire‹ bzw. die historia
›richtig‹ zu erzählen – wodurch sie dann wiederum lächerlich und zur Lüge
gleichermaßen würde, also freilich immer noch ›histoire‹ im erzähltheoretischen Sinn bliebe, aber eben nicht mehr historia im damaligen Gattungsverständnis.
So gehäuft nun diese destruierende Kritik an der ›Wunderzeit‹ bzw. an
den ›Zeitwundern‹ in den ›Centurien‹ vorzufinden ist, 29 so wenig systematisch oder gar auf Vollständigkeit bedacht scheint Rauscher dabei vorzugehen. Die 47. ›Lüge‹, in welcher ein Vogel mit seinem Gesang einen Moͤnch
dreihundert Jar auffhelt, thematisiert die Zeit sogar explizit. Dort heißt es
zu Beginn: Es hat ein Geistlicher Vater von Gott begert / das er in diesem
Spruch / Tausent Jar sind fuͤr dir wie der gesterige tag / so vergangen ist /
offenbaren wolt / wie er zuuerstehen were. (›PL1‹, S. 134; vgl. zu den
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
Quellen Schenda 1974, S. 246, Anm. 354) Die Gnade der Offenbarung wird
ihm dadurch zuteil, dass ihn ein Vogel in einen entlegenen Wald lockt und
dort 300 Jahre, in denen der Mönch jeglicher immanenter Zeit entrückt
wird, für diesen singt. Diese Steilvorlage nutzt Rauscher jedoch weder, um
sich in etwaigen Randglossen über die der Erzählung inhärente Zeitvorstellung lustig zu machen, noch um sie in seiner ›Erinnerung‹ bloßzustellen.
Der Grund dafür könnte in diesem Fall in der biblischen Vorlage, dem
Psalm 90,4, zu suchen sein. Die Heilige Schrift, und nur diese, galt ja für
die Protestanten bekanntermaßen als verbindlich. 30 Sie darf nicht zum
Gegenstand von Spott werden. So kann Rauscher nur die Erzählung als
Ganzes der Lüge bezichtigen, nicht jedoch explizit die darin zum Tragen
kommende Zeitvorstellung, die qua Psalmenzitat direkt auf die Bibel
zurückverweist.
Ähnlich verhält es sich mit einer ›Lüge‹, die in der ›Zweiten Centurie‹
zu finden ist (Ex Sermone Lv. Wie einer / fuer das gericht Gottes gezogen
wirdt). Ein junger Landsknecht, der weder gottesfürchtig ist noch beichten
will, wird eines Nachts vor den Thron Gottes entrückt. Nur das inständige
Bitten seiner tugendhaften und sündenfreien Frau bewahrt ihn gerade
noch vor der Aburteilung in die Hölle. Er gelobt Besserung und darf weiterleben: Zuo Morgens als er aus dem Schlaff erwacht / ist er gantz Graw
auff dem Kopff / sampt einem langen Bart / gefunden worden. (›PL2‹,
ohne Seitenzählung) Anders als beim Mönch, der 300 Jahre entrückt wird
und – körperlich unverändert – in seinem Kloster, in dem die Zeit weitergelaufen ist, nicht erkannt wird, altert der Landsknecht über Nacht um
etliche Dekaden. Auch dabei handelt es sich um ein Wunder, das die lineare
Zeit außer Kraft setzt und dessen zeitliche Implikationen Rauscher überhaupt nicht kommentiert.
Aus heutiger Sicht gehört zur Inkonsistenz Rauschers wohl mindestens
ebenso, dass er die Wunderzeit nicht immer rational zu destruieren sucht,
sondern sie hin und wieder der Macht des Teufels zuschreibt. Da wird in
der ›Zweiten Centurie‹ (Ex Sermone L. Von einer Walfart gen Sant Jacob)
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
eine mirakulöse ›Zeitreise‹ des hl. Jakob zu Pferde, auf welchem er nebst
sich selbst noch zwei Pilger transportiert, durch das Zutun des göttlichen
Widersachers erklärt: Dis muͤss mir ein seltzame Reutterey gewessen sein /
die einer geren het sehen wollen / da jr drey auff einem pferd gesessen /
vnd in einer nacht fuͤnffzehen Tagreiss Geritten seind / es wirdt sy etwa
der Bock gefuͤrt haben / sy hetten sonst so bald nit koͤnnen dahin komen.
(›PL2‹, ohne Seitenangabe) Ob der Kommentar bitterernst gemeint oder
eher mit einem Augenzwinkern zu verstehen ist, kann freilich kaum entschieden werden.
3. Hieronymus Rauscher als ›Rationalist‹?
Das letzte Beispiel dürfte eindrücklich aufgezeigt haben, dass Hieronymus
Rauscher kein systematischer Rationalist war.31 Von der Rigorosität der
späteren Aufklärung mit ihrer generell negativen Bewertung von Wundern,
egal ob kanonisch oder nicht, ist bei Rauscher nichts zu spüren. 32 Dass die
»natürliche Erklärung der Wunder« bei den Protestanten also in dezidiert
»aufklärerischem Sinne« geschehen sei, so Rosenfeld (1982, S. 75), scheint
mir für den hier vorliegenden Fall daher nicht recht zutreffend. 33 Als »Frucht
eines bewußt-methodischen Bemühens« (Schreiner 1966, S. 14) sind sie dennoch zu verstehen. Selbstverständlich waren für die protestantischen Reformtheologen die biblischen ›Historien‹ wahr, nur betrachteten sie alle nicht
zum biblischen Kanon gehörigen Erzählungen mit besonderer Skepsis. Sie
historisierten und profanisierten den Wunderbegriff – und wie Rauscher
auch dessen zeitliche Implikationen – in den Legenden und Mirakelerzählungen, beließen ihn aber auf der anderen Seite in der Heiligen Schrift in
vollkommener Geltung. 34 Natürlich kannte auch Rauscher ein Zeitlich vnd
Ewig straffen (Exemplum Lxxxv, ›PL2‹, ohne Seitenzählung) und bemaß
nicht alles unterschiedslos allein nach nur einer einzigen Zeitauffassung.
Man könnte also sagen, dass Rauscher eine stark ›rational‹ ausgeprägte
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
Perspektive auf dieses Phänomen vertrat, jedoch noch keine ›rationalistische‹, wenn man darunter eine Erkenntnistheorie versteht, die allein das
rationale Denken als Erkenntnisquelle zulässt. Rauscher hat damit wesentlich Anteil an einer Säkularisierung, die mit Harald Haferland »das letzte
Kapitel religiöser Evolution dar[stellt], in dem Religion sich in ihren Alltagspraktiken selbst aufzuzehren beginnt« (Haferland 2014, S. 105). 35
So mögen Reformtheologen gewiss einer rationalistischen Tendenz
Vorschub geleistet haben, da ihre Argumente in einer in ihren Ausmaßen
bis dato nicht gekannten konfessionellen Auseinandersetzung auch und
gerade durch eine breite Öffentlichkeit Gehör fanden. Von einer grundlegenden Historisierung jeglicher Geschichte – auch der Heilsgeschichte –
waren sie selbst jedoch weit entfernt. Überhaupt hinterließ die Ablehnung
der Heiligenwunder sowie der Mirakel in den protestantisch dominierten
Gebieten mentalitätsgeschichtlich betrachtet ein Vakuum, das gefüllt werden
wollte – allen lutherischen und postlutherischen Argumentationen zum
Trotz. So bemerkt Burmeister (1998, S. 197) recht treffend: »Es darf nicht
unterschlagen werden, daß die Protestanten trotz ihrer Ablehnung der
mirakulösen Heiligenverehrung in anderen Bereichen, wie z.B. in der Prodigienliteratur, für wunderbare Erscheinungen sehr empfänglich waren.«
Hinter einer anderen, noch nicht verunglimpften Bezeichnung, dem ›Prodigium‹, verbargen sich also wundersame Phänomene, die denen der Legenden nicht nachstanden (weder in ihrer Quantität noch Qualität) und die
entstandene Lücke zumindest teilweise auszufüllen vermochten. 36 Was sie
nicht ersetzen konnten, war die Funktion der Heiligen als intercessores für
die Gläubigen und damit als mediatores zwischen dem in der Immanenz
verhafteten Menschen und dem transzendenten Göttlichen. 37 Gerade die
Sünderheiligen mit ihren von Wundern gespickten Konversionsnarrativen
erschienen den Menschen wesentlich nahbarer als Gott selbst.
So zielt Rauschers »Ablehnung der mittelalterlichen Erzählwelt der
Wunder und Mirakel« (Brückner 1974, S. 30) nicht nur in ihrer Fundamentalität und Radikalität, sondern vor allen Dingen in ihrer polemisierenden
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
Ausprägung gewiss immer wieder an den sachlich orientierten reformationstheologischen Prämissen und Argumentationslinien seiner Zeit vorbei. 38
Doch dass er seine Kritik an den Erzählungen und ihren Zeitvorstellungen
eben nicht in erster Linie theologisch differenziert und subtil übt, sondern
diese mit den Wahrscheinlichkeits- und Plausibilitätsannahmen der alltäglichen Lebenspraxis konfrontiert, macht ihn allererst zu einem bemerkenswerten Fall für die Erforschung des vormodernen Erzählens. ›Richtiges
Erzählen‹ erfordert für ihn die Beachtung der von ihm aufgezeigten Wahrscheinlichkeits- und Plausibilitätsannahmen, wobei jegliche Konsequenzen
in Hinblick auf den Wahrheitsgehalt des Erzählten in Kauf genommen
werden sollen und müssen. Ein ähnlicher Ansatz ist weder bei Martin Luther
(›Die Lügend von S. Johanne Chrysostomo‹, 1537) noch bei Pietro Paolo
Vergerio (›De Gregorio Papa‹, 1556) oder bei Erasmus Alber (›Alcoran‹,
1542) zu finden – insbesondere diese drei bereiteten für Hieronymus
Rauschers Sammlung »direkt den Boden« (Schenda 1974, S. 193). Die
Glossierungen an den Rändern der legendenkritischen Schriften Luthers,
Vergerios und Albers, die sich im Sprachstand, ihrem Umfang und ihrer
inhaltlichen Ausrichtung doch wesentlich unterscheiden lassen, 39 weisen
jedoch keinerlei Bemerkungen zur Plausibilität zeitlicher Aspekte auf. Dabei
hätte gerade Alber hinreichend Gründe gehabt, die ›Wunderzeit‹ seiner
Vorlage anzugreifen, etwa wenn er im Exempel XIIII seines ›Alcoran‹ die
Wunden des hl. Franziskus anführt:
Denn weil Franciscus seine Fuͤnff wunden / zwey gantzer jar getragen hat / so
het ja faul fleisch drinnen muͤssen wachsen / wo es natuͤrliche wunden gewest
weren / weil sie aber jmmer frisch blieben sind / ergo sequitur / das sie
vbernatuͤrlich sind / vnd Christus hat sie durch Goͤttliche krafft / in Francisci
leib gedruckt. (›Alcoran‹, ohne Seitenzählung)
Durch eine immanente, also innerweltliche Logik, ist die Dauer von zwei
Jahren, in denen der Heilige seine Wunden getragen habe, nicht zu erklären,
denn dieser Logik zufolge hätte nach kurzer Zeit Wundbrand einsetzen
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
müssen. Ergo sequitur sind sie nach mittelalterlicher Auffassung als wunderbare Erscheinung übernatürlichen Ursprungs anzusehen und damit auf die
Macht Gottes zurückzuführen. In einem Kommentar, den es bei Alber nicht
gibt, würde Rauscher das Pferd sicherlich genau andersherum aufgezäumt
haben. Eben gerade die Unwahrscheinlichkeit des vorliegenden Falles hätte
diesen aus seiner Sicht als unwahr, das heißt als ›Lüge‹ ausgewiesen.
4. Mentalitätsgeschichtliche Gründe für die Destruktion der
›Wunderzeit‹ in den ›Papistischen Lügen‹
Durch eine »explizit-reflexive Thematisierung der Zeit als Zeit« – bei
Rauscher ist es die ›Wunderzeit‹ – werden in den ›Centurien‹ »Probleme
der Orientierung in Dimensionen der Zeit […] im Rahmen eines gegebenen
symbolischen Religionssystems« verhandelt (Gloy [u. a.] 2004, S. 518).
Auch bei Hieronymus Rauscher geht es dabei »um die konkurrierende
Etablierung der eigenen Konzeption in der interpretativen Aneignung des
vorgegebenen Religionssystems«, da »das religiöse Diskursfeld dynamisch
und durch konkurrierende Positionen bestimmt ist« (ebd.). 40 Es mag kulturgeschichtliche Gründe dafür geben, warum es ausgerechnet im 16. Jahrhundert zu einem flächendeckenden Paradigmenwechsel im Zeitverständnis
kam, der sich auch in der Auffassung und Bewertung von religiöser Literatur niederschlug. Als ein entscheidender Grund lässt sich die wachsende
Bedeutung der Städte als Zentren der Literaturproduktion und -rezeption
festmachen. Sie werden zum neuen Taktgeber für viele Autoren und literarische Gattungen. Doch wird ihr eigener Takt immer weniger durch die
Kirche bestimmt, sondern folgt säkularen Gesetzmäßigkeiten:
Die urbane Zeit, der Rhythmus der Stadtkultur seit dem 12. Jahrhundert, war
also zunächst der der kirchlichen Zeit – die Glocken der Klöster gaben die
Stunde vor. Erst nach und nach traten eigene Elemente wie Stadtwächterruf
und -horn […] hinzu. Schließlich übernimmt die weltliche Obrigkeit ganz die
Kontrolle über die öffentliche Zeit. […] Zweifellos ist somit die spätmittelalterliche Stadt der Ort der Desakralisierung der Zeit, wie sie auch der Ort der
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
Diffusion der genormten Zeit vom öffentlichen ins private Leben ist, da seit
dem 14. Jahrhundert mechanische Uhren langsam aber sicher in immer mehr
bürgerlichen Wohnungen zu finden sind. (Dinzelbacher 2010, S. 141)41
Die Rationalisierung und Präzisierung der Zeit im Alltag der Stadtbevölkerung hat vermutlich auch eine rationale Wahrnehmung von erzählter Zeit
in der Literatur befördert und damit den »Sinn für Eigenlogiken gestärkt«,
was genau dann passiert, wenn Religion »aus dem individualisierten Gedankenraum hinwegrationalisiert« wird (Haferland 2014, S. 108). So spricht
Dinzelbacher an anderer Stelle die »spätmittelalterliche Profanisierung der
Zeit« als einen »wesentlichen Prozess der Wandlung des Zeitverständnisses
der Neuzeit gegenüber dem des Mittelalters« an (Dinzelbacher 2002, S. 34).
Gerade im städtischen Milieu wurde also eine andersartige Wahrnehmung
der Zeit – eine zunehmend quantitative und quantitierende vs. eine nach
wie vor qualitative – gefördert und gefordert, was wiederum ein verändertes
Verständnis von Zeit begünstigte. 42 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts fielen die kritischen Einwände Rauschers gegen die ›Wunderzeit‹ der
spätmittelalterlichen Legenden und Mirakel vor allem in den urbanen Zentren auf äußerst fruchtbaren Boden. Für ›Der Heiligen Leben‹ (›HL‹) etwa
führt Williams-Krapp an:
Auf dem Hintergrund eines generellen Mißtrauens gegenüber dem Klerus und
seinen Absichten, daß [sic!] vor allem in den Städten Tradition hatte, nimmt
es nicht wunder, daß ein Werk wie das HL über weite Strecken bei Teilen einer
aufgeweckten, aber theologisch ungeschulten städtischen Bildungselite – den
eigentlichen Trägern der Reformation – durchaus als kirchlich initiierte Zumutung für den gesunden Menschenverstand erscheinen konnte. (WilliamsKrapp 1984, S. 705f.)
Die Vorstellung davon, welche erzählte Zeit mehr oder weniger plausibel
war und damit wahr sein konnte, stand damit wohl spätestens in der
zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in bestimmten literarischen Gattungen
vollends zur Disposition. Dabei war die ›Wunderzeit‹ der Legenden und
Mirakelerzählungen mit der ›Zeit der Kaufleute‹ (Dinzelbacher 2002, S. 30),
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
die auf Rationalisierung, Planung und Berechenbarkeit beruhte, kaum vereinbar. Wenn Rauscher seinen Lesern aber haarklein vorrechnet, wieviel
Gramm Brot Maria Aegiptiaca in ihren 47 Jahren in der Wüste zur Verfügung gestanden haben müssten, wenn die Angaben der Legende denn
stimmen sollten, dann destruiert er qua seines auf dem Titelblatt hervorgehobenen Hofpredigeramtes die ›Wunderzeit‹ der Erzählung genau
aus solch einer kaufmännisch perspektivierten Zeitvorstellung heraus, egal
ob die Destruktion in primär polemischer oder doch eher ernster Absicht
geschieht. Dies scheint also die Mentalität zu sein, die in den ›Centurien‹
Rauschers ›sedimentiert‹ ist. 43 Möglicherweise kam es durch die enorme
Breitenwirkung seines Werks auch zu Rückkopplungs- und Verstärkungseffekten, wenn die ›kaufmännische Zeitmentalität‹ der Rezipienten durch
die ›Centurien‹ wieder auf dieselben zurückstrahlte. Alternative Vorstellungen davon, was innerhalb der Hagiographie und dort vor allem in Bezug
auf die erzählte Zeit als plausibel gelten durfte, konnten so normierend
wirken. Denn diese Vorstellungen wurden zum einen von einem anerkannten protestantischen Hofprediger formuliert und fanden zum anderen
in Form von Drucken Verbreitung, die als Schriftmedium die zeitgenössischen Diskurse maßgeblich mitbestimmten. Ebenjene Drucke wiederum
wurden nicht nur von beiden Konfessionen gleichermaßen intensiv rezipiert, sondern auch durch alle sozialen Schichten hindurch zur Kenntnis
genommen. So hat etwa der Drucker Nicolaus Hampel den Nachdruck von
Rauschers ›Centurien‹, den Caspar Finck 1618 verantwortete, durch den
reißenden Erfolg dieses Werks bei hohens und nidriges Stands Personen
begründet (Williams 1986, S. 375).44 Und sogar das Format seines Werks
scheint Hieronymus Rauscher damals in Hinblick auf sein anvisiertes Publikum bedacht zu haben: »Rauschers Kompilationen erschienen, mindestens
teilweise, in Taschenbuchformat. Ob das nicht schon auf die Unterhaltungsfunktion dieser Lügensammlung hinweist? Zünftige Kontroverstheologie
pflegte doch damals das Folioformat zu bevorzugen.« (Schnyder 1979, S. 132,
Anm. 38) Aufgrund all dieser Tatsachen kann man daher annehmen, dass
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
Rauschers Zeitvorstellung spätere Autoren und deren Erzählungen beeinflusste: »Widely distributed in numerous editions, these pamphlets were to
provide a source of inspiration for later storytellers.« (Soergel 1993, S. 646)
Und auch Schenda (1974, S. 199) geht davon aus, dass die polemischen
Reformschriften »zahlreiche primäre und sekundäre Leser« beeinflussten.
Nicht zuletzt auch der Verzicht Rauschers auf jegliche tiefgreifende theologische Debatte in den ›Papistischen Lügen‹ hat zu deren breitem Erfolg
beigetragen. Ein Konzept, dessen sich schon die anonymen Autoren etwa
von ›Der Heiligen Leben‹ bedienten und das zu seinem maßgeblichen Erfolgsrezept wurde. Darin, so Williams-Krapp (1984, S. 701), wurde »die
Vielschichtigkeit des theologischen Wahrheitsanspruches […] gerade einem
immer stärker zur selbständigen Kritik fähigen Publikum nicht vermittelt.
Es nimmt somit auch nicht wunder, wenn dieses Publikum beginnt, die
Glaubwürdigkeit der Texte allein mit rationalistisch geprägtem Denken zu
beurteilen.«
5. Zu Hieronymus Rauschers Status als ›Luther-Epigone‹
Dass die ›Centurien‹ Rauschers, um mit Schenda (1970, S. 43) zu sprechen,
zusammen mit vielen anderen polemischen Schriften der Protestanten und
Katholiken also zum »Abfallhaufen der Reformation« gehören, da sie sich
»weit entfernt von einer Legendendiskussion, weit entfernt von aller Theologie, nur ganz der unterhaltsamen Anekdote und dem leichtfertigen Spott
hingeben«, ist ein Werturteil, das der Funktion dieser Art von Literatur
nicht genug Bedeutung beimisst. 45 So wie es bei der theologischen Vermittlung der biblischen bzw. heilsgeschichtlichen Inhalte schon das gesamte
Mittelalter hindurch einer Übertragung in solche Formen bedurfte, die das
Verständnis von Seiten eher ungebildeter Laienkreise ermöglichte, brauchte
es in der Vermittlung der konfessionellen Konflikte und ihrer teils komplexen Inhalte an die theologisch ungebildeten Laien literarische Formen,
die diese Komplexität auf ein verdaubares Maß herunterbrachen und die
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
Inhalte durch Mittel der konkreten Veranschaulichung zugänglich machten.
In einer Zeit, in der die Lesefähigkeit in der Bevölkerung stetig zunahm,
boten die zum Teil auch polemisch gefärbten Schriften der Protestanten
sowie Katholiken ebensolche Rezeptionsmöglichkeiten. Dabei entfernten
sie sich gezwungenermaßen von den formalen und ästhetischen Vorgaben
einer »zünftigen Kontroverstheologie« (Schnyder 1979, S. 132, Anm. 38).
Dass Rauscher dieses Format jedoch selbstredend beherrschte und sich
also im vorliegenden Fall bewusst gegen dessen Verwendung entschied,
beweisen seine Publikationen jenseits der ›Centurien‹ hinreichend. Auch
die Rolle des ›Boulevardschreibers‹, der seine Leser auf emotionaler Ebene
fessele, ohne sie rational anzusprechen, wie Schenda (1974, S. 215) meint,
kann man Hieronymus Rauscher so pauschal nicht ohne Weiteres zuschreiben. Auch wenn seine Kritik an der ›Wunderzeit‹ der Legenden und
Mirakel hin und wieder verkleidet in beißender Kritik daherkommt, versteckt sich dahinter doch im Kern eine sehr rationale Sicht auf diese Erzählungen. Vielleicht war es genau die Verbindung dieser beiden Momente, die
seinen ›Centurien‹ solch einen Erfolg bescherte. Aus den angeführten Beispielen für Rauschers Destruktion der ›Wunderzeit‹ in den Randglossen
und ›Erinnerungen‹ lässt sich durchaus ein Muster deduzieren, das als
praktische Anleitung und handhabbares Instrument für seine Leser verstanden werden kann, um ihm in seiner Kritik zu folgen.46 In einem in erster
Linie durch diskursive Passagen geprägten Werk, das ansonsten ja nur
›nacherzählt‹, was schon da war, »literarische Qualität« zu erwarten (Derron
2004, Sp. 366), ist dann allem Anschein nach etwas zu viel verlangt.
6. Fazit
Hieronymus Rauschers ›Papistische Lügen‹ aus dem Jahr 1562 wie auch
seine weiteren ›Centurien‹ können als Beleg dafür gewertet werden, dass
bestimmte Formen des Erzählens, die aus heutiger Sicht ›mittelalterlich‹
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
erscheinen, bereits einige Jahrzehnte vor Cervantes’ ›Don Quichote‹ Befremden hervorgerufen haben, wenngleich dieses Befremden anders, nämlich in erster Linie religiös, begründet war. 47 Wie Cervantes auch, leuchtet
Rauscher den Hintergrund der mittelalterlichen Erzählungen, hier der Legenden und Mirakel, ganz bewusst aus und erklärt die im Vordergrund
vernachlässigten Umstände der Erzählungen (vgl. Haferland 2018, S. 138f.),
etwa wenn er gegen seine Vorlagen diverse Verfalls- und menschliche Ausscheidungsprozesse thematisiert. Er nimmt »die erzählte Welt« – und damit
eben auch die erzählte Zeit – »mittelalterlicher Erzählungen beim Wort«,
die seiner Meinung nach »jeder Erfahrung und jeder Wahrscheinlichkeit
Hohn sprechen« (Haferland 2018, S. 138). Ein grundlegender Unterschied
besteht jedoch in den Erzähltraditionen, auf die sich Cervantes und Rauscher
beziehen. Während der eine den mittelalterlichen Roman im Blick hat, ist
es beim anderen die Hagiographie. Und obwohl beide Traditionen hin und
wieder deutliche Überschneidungen in ihren Erzählwelten aufzeigen, gibt
es auch charakteristische Differenzen. Der Held eines Romans kann gleichzeitig Heiliger sein, er muss es aber nicht. Wenn Don Quichote »wochenlang [hungert], weil in den Romanen schließlich auch keine Rede davon ist,
dass die Ritter […] überhaupt regelmäßig Nahrung zu sich nehmen«, so das
Beispiel Haferlands (2018, S. 138), dann ist das etwas anderes, als wenn
Rauscher die drei Brote der Maria Aegiptiaca aufs Korn nimmt, von denen
sie sich 47 Jahre lang ernährt. Entscheidend ist womöglich – und das macht
die beiden Fälle dann doch wieder vergleichbar –, dass sowohl die Ritterromane als auch die Hagiographie in ihren »übergeordneten Erzählorientierungen […] konzeptuell vorgeprägt sind« (Haferland 2018, S. 139) und
dass beide Autoren genau diese Art von Konzeptualität transparent machen
und sie vor den Augen ihrer Leser auf eine komische Art und Weise aufbrechen bzw. destruieren. 48 Beide leuchten den vernachlässigten Hintergrund der Erzählumstände aus: Rauscher, indem er seine Vorlagen paratextuell kommentiert und dadurch ein ums andere Mal eine plausible Erklärung oder einen wahrscheinlicheren Erzählverlauf präsentiert (eine Art
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
ironisches ›Weiter‹- bzw. ›Auserzählen‹, denn das Ergebnis ist absurd);
Cervantes, indem er Don Quichote zur Versuchsfigur eines Erzählexperiments macht, bei dem diejenigen Erzählumstände, die in den von Don
Quichote und den Lesern des ›Don Quichote‹ rezipierten Ritterromanen
üblicherweise im Hintergrund bleiben, regelmäßig und systematisch in den
Vordergrund geholt und mit allen aberwitzigen Konsequenzen für den
Protagonisten kausallogisch auserzählt werden.
Dabei werden die Bedingungen, die die erzählte Zeit innerhalb einer
Erzählung erfüllen muss, damit die Erzählung als Ganzes plausibel und
wahrscheinlich ist, unter veränderten Prämissen neu verhandelt, das heißt
Plausibilität und Wahrscheinlichkeit sind historisch und anderweitigkontextuell variabel. Dass die erzählte Zeit sich nicht an einer abstrakten,
unabhängigen Zeitleiste orientiert und dies dementsprechend auch nicht
mit narrativen Mitteln verdeutlicht wird, obwohl man es durchaus könnte,
nimmt Cervantes zum Anlass für ein bis dato einzigartiges Erzählexperiment. Bei Rauscher hingegen stellt die ›Wunderzeit‹ der Heiligen den entscheidenden Störfaktor dar, da sie von vornherein mit keiner Zeitleiste
vereinbar ist. Eine Zeitleiste setzt die alleinige Gültigkeit linearer Zeit voraus, das heißt, man kann sie »mit der Weltzeit bzw. der christlichen Jahreszählung korrelieren« (Haferland 2018, S. 145). Sie ist zudem kompatibel
mit der ›Handlungszeit‹, deren Zeitauffassung »menschlicher Lebenspraxis«
entspringt und die dadurch »intersubjektiv« ist (Gloy [u. a.] 2004, S. 509).
Wo der temporale Hintergrund der Legende oder Mirakelerzählung schon
durch diese selbst mit entsprechenden Informationen ausgeleuchtet wird,
etwa wenn Maria Aegiptiaca in 47 Jahren drei Brote zur Verfügung stehen,
legt Rauscher dann den Maßstab der ›Handlungszeit‹ im Sinne einer linear
verlaufenden Weltzeit an und muss zwangsläufig Irritationen feststellen.
Dabei ist der Faktor der Absolutheit, also wann dieses oder jenes ›Zeitwunder‹ sich genau zugetragen haben soll, bei Rauscher irrelevant. Dass
sich etwas so oder so zugetragen hat, wenn man der Erzählung folgt, kann
bei Rauscher nur dann plausibel und damit wahr sein, wenn es einer
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
immanenten zeitlichen Logik folgt, wobei es dafür egal ist, wann das auf
einer unabhängigen Zeitleiste geschehen ist oder geschehen sein könnte.
Insofern ein Ereignis in seiner temporalen Bestimmtheit wiederholt werden
kann, etwa wenn sich die Leserin oder der Leser – genau wie die betreffende
Figur im Mirakel – für mehrere Stunden hängen lässt ohne zu sterben, ist es
als glaubhaft, als historia erwiesen. Doch indem solche nicht primär
religiösen Logiken, sondern eben ›Eigenlogiken‹ zunehmend an die vergangenen und im Entstehen begriffenen Erzählungen – insbesondere geistliche – herangeführt werden, werden bestimmte Charakteristika mittelalterlichen Erzählens zersetzt. Die wenigen Bereiche hingegen, in denen
älteritäre mittelalterliche Erzähllogiken weiterhin ihre volle Gültigkeit
bewahren können, vornehmlich in der – dann jedoch bereits historischkritisch revidierten – Hagiographie der Katholiken in den Jahrzehnten und
Jahrhunderten nach Rauscher (vgl. Anm. 18), werden immer weiter an die
Ränder eines zunehmend rational(istisch)en Literaturbetriebs gedrängt.
Anmerkungen
1
2
3
Auf eine umfassende Darstellung von Hieronymus Rauschers Biographie verzichte ich an dieser Stelle und verweise auf die einschlägige Literatur dazu:
Hermann 1899; Schenda 1974; Burmeister 1998; Derron 2004; Knedlik/Kipf
2016.
Der ersten Centurie folgten noch weitere durch Rauscher selbst (›Centuria
secunda‹, ›Centuria tertia‹ etc.) sowie eine »um 100 neue ›Lügenden‹ erweiterte
Fassung der drei ersten Centurien« (Knedlik/Kipf 2016), die durch den protestantischen Theologen Kaspar Finck besorgt wurde (Erstdruck: 1614), vgl. dazu
auch Schenda 1974, S. 256. Alle ihm seinerzeit bekannten Ausgaben führt
Schenda, ebd., S. 183–187, an.
Den Umgang mit den Quellen charakterisiert Schenda 1974, S. 204, dabei so:
»Weder Alber noch Rauscher/Finck haben ihre Quellen dem Inhalt nach verändert, nur die alten Sprachen haben sie vulgarisiert oder modernisiert und gelegentlich auch den Ton verändert«. Eine größer angelegte philologisch-komparatistische Studie zu Rauschers Vorlagenaneignung steht bislang noch aus –
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
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5
6
7
Schenda liefert nur sporadische Belege für seine obige Aussage. Bezüglich der
Auswahl und Anordnung der Erzählungen ist meines Erachtens auch noch nicht
das letzte Wort gesprochen, wenn Schenda, ebd., S. 252 und S. 257, meint: »Er
hat sich keine Mühe gegeben, seine variae lectiones in eine Ordnung zu bringen
[…]«; »Rauschers ›Centurien‹ […] stellen variae lectiones dar, buntgemischte
Lesefrüchte, die ohne System aufeinanderfolgen«. In seinen ›Erinnerungen‹
etwa thematisiert er wiederkehrende Motive oder baut Rückwendungen ein, die
so einzelne ›Lügen‹ miteinander in Beziehung setzen. Ein Beispiel: In ›Lüge‹ 91
seiner ›Papistischen Lügen‹, die vom hl. Franziskus und dem Wolf berichtet,
wird in der ›Erinnerung‹ auf die Kappe der vorherigen ›Lüge‹ angespielt, die
noch einmal als Erzählmotiv in ›Lüge‹ 99 vorkommt.
Ein Überblick zur ›Heiligenverehrung und Legende in evangelischer Sicht‹, bei
der auch Hieronymus Rauscher angeführt wird, findet sich bei Rosenfeld 1982,
S. 28–30 und S. 74–76.
Derzeit widmet sich Katharina Koitz den ›Centurien‹ Rauschers in ihrem
Dissertationsprojekt »Konstruktion und Transfer von religiösem Wissen in
Hieronymus Rauschers ›Papistischen Lügen‹ (1562–64)«.
»Nähme man die erzählte Welt mittelalterlicher Erzählungen beim Wort, so
könnte man […] viele Besonderheiten aufzählen, die jeder Erfahrung und jeder
Wahrscheinlichkeit Hohn sprechen. […] Neben der Kritik an der zeitgenössischen Lesepraxis nimmt Cervantes’ Spott also eben jene Erzählweise auf die
Schippe, die über dem Vordergrundgeschehen jede Hintergrundausleuchtung
und Erklärung von Umständen vernachlässigt, ohne dass Wahrscheinlichkeitserwägungen zum Zuge kommen« (Haferland 2018, S. 138f.).
Mit seiner auffälligen Fokussierung auf die ›Unwahrscheinlichkeit des Erzählten‹
setzt sich Hieronymus Rauscher maßgeblich von Luther ab, dessen Legendenkritik etwa an der Chrysostomos-Legende er in formaler Hinsicht adaptiert.
Doch Luther hat die besagte Legende betreffend »nicht so sehr gegen die
›Unwahrscheinlichkeit des Erzählten‹ polemisiert, sondern gegen die Tendenz
dieser lügende, die anderen lügen zu stützen. Dies läßt sich u. a. ablesen an der
Verletzung historischer Wahrheiten, nicht ist schon die ›Unwahrscheinlichkeit
des Erzählten‹ oder das Abweichen von der Historie ein Beweis dafür, daß die
Legende eine lügende ist« (Ziegeler 1999, S. 245). Das »Argument der Wahrscheinlichkeit« sei bei Luther nachgeordnet gewesen (ebd., S. 246). »Denn um
Mirakel, um die Abweichung vom Empirisch-Faktischen ging es Luther nicht
vordringlich« (ebd., S. 249).
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
Als Quelle gibt Rauscher selbst in einer Marginalie an: Ex speculo historiali,
womit das ›Speculum historiale‹ des Vinzenz von Beauvais gemeint ist, in
welchem sich die Erzählung denn auch findet (VII,84). Jedoch dürfte sich
Rauscher, zumindest wenn man Schenda 1974, S. 201, folgt, dieses Marienmirakel eher sekundär angeeignet haben, und zwar über »das ›Speculum
exemplorum‹ eines flämischen Minoriten aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts«, wo es an folgender Stelle zu finden ist: dist. IV, ex. 1. Dieses Werk macht
Schenda, neben der ›Legenda aurea‹ des Jacobus de Voragine sowie den von
Erasmus Alber übersetzten Auszügen aus dem ›Liber conformitatum‹ (1385–
1390) in dessen ›Alcoran‹, als Hauptquelle von Rauschers ersten ›Centurien‹
aus, vgl. ebd. (zum ›Liber conformitatum‹ ebd., S. 191f.). Spätestens ab 1519 war
das ›Speculum exemplorum‹ auch als Druck verfügbar (VD16 A 4353) und
Rauscher somit leicht zugänglich. Wenn Rauscher »nicht weniger als 21 verschiedene« Quellen zitiert (ebd., S. 201), dann hat das seine Ursache sicherlich
darin, dass die vermehrte Nennung von Autoritäten, auch wenn diese nicht aus
ihren Primärquellen übertragen bzw. übersetzt werden, einer größeren Glaubwürdigkeit in Bezug auf deren Originalität dienen sollte. Ohnehin darf man wohl
noch keine neuzeitliche ›Zitiernorm‹ in den Schriften des 16. Jahrhunderts
erwarten. Trotzdem wurde gerade die Quellenarbeit Rauschers von der gegnerischen Konfession angegriffen, vgl. ebd., S. 194. Das Motiv der ›Heilung durch
Marienmilch‹ war in der geistlichen Literatur des Spätmittelalters weit verbreitet, vgl. dazu ebd., S. 216, Anm. 186, und jüngst Eichenberger 2015, S. 172f.
9 Bei Gloy [u. a.] 2004, S. 509, wird der Begriff der ›Handlungszeit‹ folgendermaßen definiert: »Aufbauend auf dem individuellen, subjektiven Zeiterleben
konstituiert sich als eine schon allgemeinere, veräußerlichte Schicht die
sog[enannte] Handlungszeit, die bereits Zeitorientierung und -einordnung –
Topologie – erlaubt. Da die hier anvisierte Zeitauffassung ursprünglich nicht
intellektueller Wißbegierde und theoretischem Interesse entspringt, sondern
menschlicher Lebenspraxis, wird sie Handlungszeit genannt«.
10 Ähnliche Kritik, wenn sie auch nicht auf zeitliche Aspekte einer bestimmten
Erzählung abhebt, sondern auf den Reliquienkult, äußerte etwa schon der
franziskanische Volks- und Wanderprediger Bernhardin von Siena (1380–
1444): »Es gibt Leute, die zeigen als Reliquien Milch der Jungfrau Maria. Ja
hundert Kühe haben nicht so viel Milch, als man von Maria auf der ganzen Welt
zeigt, und doch hatte sie nicht mehr und nicht weniger, als ihr Kind Jesus
brauchte«, zitiert nach Schreiner 1966, S. 37. In dieselbe Kerbe wird wenig
später auch noch Erasmus von Rotterdam schlagen, vgl. ebd., S. 38.
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
11 Diese für Rauscher durchaus typische Art des Nicht-verstehen-Wollens, die ja
gerade in der Nachfolge Luthers üblich wird und immer wieder in ausufernden
Polemiken bar jeder sachlichen Auseinandersetzung mit den gegnerischen Argumenten und Schriften mündet – Ziegeler 1999, S. 258, spricht recht treffend von
einer »Verselbständigung der Polemik in den Kontroversen der Generation nach
Luther« –, wirft er in der Vorrede auch seinen konfessionellen Kontrahenten
vor. Betroffen ist davon insbesondere Friedrich Staphylus, dessen Wechsel der
Seiten hin zum Katholizismus nach eigener Aussage die wesentliche causa
scribendi für Rauschers ›Papistische Lügen‹ war, vgl. dazu auch Schenda 1974,
S. 193. Rauscher greift Staphylus und dessen ›Christlichen gegenbericht an den
Gottseligen gemainen Layen‹ (1561) folgendermaßen an: gehest nur mit liegen
vil lestern vmb / legest vns viel auff / so vns nie getrewmet hat / Citirest die vnsern
Scripta alle Captiose / wuͤlest dar innen vmb / wie ein Saw im Ruͤb acker / zwickest
dorten vnd da etlichs herauss / referirst vnd beruffest dich in sonderheit auff
die Buͤcher Lutheri / vnd begehest darinnen ein gros Boͤsswichts stuͤck / denn
du weist was Lutherus selbs von seinen Buͤchern geschrieben / vnd mit was
Judicio oder vrteil man die selbigen lesen vnd verstehen sol / wie er auch offentlich bekennet / das er im anfang viel geschrieben / vnd nachgelassen hab /
welchs er darnach fuͤr den aller groͤssesten grewel gehalten. (›PL1‹, S. 13f.)
Auch Rauscher zitiert ja seine Quellen wiederholt nur in Ausschnitten und ohne
jeden ursprünglichen Kontext, sieht man einmal von der Angabe der Quelle
selbst ab – und das durchaus auch captiose, also in betrügerischer Absicht.
Ebenso verweigert er der Gegenseite in seinen ›Centurien‹ die Anerkennung
historisch wechselnder Positionen und pauschalisiert vorzugsweise. Gegen eine
vermeintlich statische Position lässt es sich besser polemisieren als gegen ein
Gegenüber, das als kompromissbereit und eventuell auch hier und da einsichtig
beschrieben wird. Dieses recht typische Vorgehen der katholischen Gegner beschreibt Schenda 1970, S. 40f., wie folgt: »Die undifferenzierte Zusammenraffung
veralteter und theoretisch irrelevanter Literatur war indes nicht der einzige
Nachteil der protestantischen Legendenkritik. Was sie aus dem Konformitätenbuch, aus Gregors Dialogen oder aus dem ›Discipulus‹ herauszogen, waren
gerade die akzidentiellen Versatzstücke, die zufälligen und austauschbaren
Ornamente einer substantiellen Lehre von der communio sanctorum und von
der übergreifenden göttlichen Wahrheit. […] Mit dem Zusammenschieben historischer Variablen und dem Herauslösen von Akzidentien geht die Typisierung
Hand in Hand«.
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
12 Dass man prinzipiell zwischen ›Mirakel‹ und ›Wunder‹ unterscheiden kann und
sollte, steht außer Frage. Nach Rosenfeld 1982, S. 25, haben wir »mit ›Mirakelerzählung‹ […] einen klaren Begriff für Wunder, die nicht von einem auf Erden
wandelnden Heiligen vollbracht sind (das erzählt die Legende), sondern Gebetserhörungen, die durch einen erhöhten Heiligen oder ein verehrtes Heiligenbild
gewirkt wurden«. Jedoch kann gerade »für die polemische Literatur jeder Text«
Legende sein, so Schenda 1974, S. 188, »der wunderbaren Charakters und altkirchlich geprägt ist, also vorzüglich die Mirakelerzählungen des frühen und
späten Mittelalters. Das fehlende Argument wird auch hier durch das spöttische
Wort ersetzt: Auf populärem Niveau wird die Legende (im Sinne von Mirakelerzählung) zur Lügende«. Oder andersherum wird der eingängige Kampfbegriff
›Lügende‹ in der Nachfolge Luthers durch die protestantischen Theologen auf
alle ›verdächtigen‹ Texte übertragen, auch solche, die man dem heutigen literarund gattungshistorischen Verständnis nach nicht als ›Legende‹ bezeichnen
würde (wie etwa Mirakelerzählungen). Schon bei Luther ist die Übertragung der
Idee von der Lüge auch auf andere Textsorten zu beobachten, so etwa in seiner
Vorrede zu Erasmus Albers ›Alcoran‹ (1542): da sind so viel Lügen in unsern
Alcoranen, Decretalen, Lügenden, Summen und unzelichen Büchern (zitiert
nach Schenda 1974, S. 188). Der Begriff ›Lügende‹ wird dann in der Folgezeit
wohl im Sinne einer Synekdoche übertragbar auf alle katholischen Schriften, die
der Lüge verdächtigt oder bezichtigt werden; so sprach schon Flögel 1786,
S. 299, von einer um diese Zeit gebräuchlichen »LügenArithmetik«. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang immerhin, dass Rauscher in der ›Centuria
secunda‹ hinsichtlich seines Titels eine Konkretisierung vornimmt: Auff das nun
[…] die Einfeltigen nicht Betrogen werden / Hab ich in dissem Büchlein widerumb / Wie auch zuuor vonn mir Geschehen C. Feiste woll gemeste / Erstunckne /
Bapistische Lugen (wolt sagen Mirackel) zusamen gefast (›PL2‹, Nachwort,
ohne Seitenzählung). Bapistische Luͤge wiederum dient Rauscher in den Marginalien der ersten ›Centurie‹ ja gerade als Bezeichnung für eine einzelne Erzähleinheit seiner Sammlung. Dabei sind für den Regensburger Druck der ersten
›Centurie‹ durch Heinricus Geisler (1562) die sukzessive wechselnden Bezeichnungen der Erzähleinheiten bemerkenswert (vgl. dafür das online als Digitalisat
zur Verfügung gestellte Exemplar der Staatlichen Bibliothek Regensburg, 4°
Theol. syst. 646/2). Heißt es in den Marginalien anfänglich noch Die erste
Legenda und Die zweite Legenda, so folgen im weiteren Verlauf erst Die dritte
Lugend, Die vierdte Lugend, und schließlich ist nur noch von Baepstisch Lueg
am Rand einer jeden weiteren kurzen Erzählung die Rede. Zu beobachten ist so
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eine Transformation der ›Legende‹ qua medialer ›Überschrift‹ bzw. ›Überschreibung‹ – die ›Legende‹ wird zur ›Lügende‹, und schließlich bleibt nur noch
die ›Lüge‹ zurück.
Der Zweck der weit verbreiteten Mirakelsammlungen bestand ja nicht zuletzt
auch darin, regionale wie überregionale Pilgerorte zu propagieren, an denen man
die »plötzliche[] Nähe zu einer vergangenen Gegenwart« (Gumbrecht 2003,
S. 335) erleben konnte. Zu solchen »Zeitstellen im Raum«, wie sie Gumbrecht
(ebd., S. 337) nennt, pilgern auch heute noch Tausende und Abertausende
Menschen, wie das Beispiel Lourdes belegt. »Natürlich läßt sich diese Gewißheit
der plötzlichen Nähe zu einer vergangenen Gegenwart vernunftmäßig ›korrigieren‹ durch die Erinnerung an die als kanonisch und alternativlos geltende
›Linearität der Zeit‹. Und doch kann man der primären, stets übergangslosen
Gewißheit von der plötzlichen Nähe einer vergangenen Gegenwart, wie sie durch
räumliche Annäherung entsteht, kaum widerstehen. […] allein diese Interferenz
erklärt es, meine ich, warum wir Orte des uns faszinierenden historischen
Geschehens besuchen – uns in ihre räumliche Nähe bringen – wollen, auch wenn
wir sie schon hundert Mal dank genauester photographischer Dokumentation in
unserer Vorstellung abgeschritten sind« (Gumbrecht 2003, S. 335).
Wunder sind nach Schneider 2014, Sp. 1035, ubiquitär und dennoch kulturspezifisch, »d. h. verschiedenen Plausibilitätsstrukturen zufolge kann ein ungewöhnliches Phänomen als real und damit als W[under] anerkannt oder als
Täuschung oder Lüge deklariert werden«.
Dazu auch Schenda 1974, S. 203: »Das sichtbare Ergebnis waren […] Sammlungen, die nicht mehr didaktisch, sondern unterhaltsam waren. Die Exempel,
aus ihrem Kontext gelöst, illustrieren nun nicht mehr einen lehrhaften Gedanken
und mußten also ohne den erklärenden Rahmen doppelt kurios und überraschend
erscheinen«.
So heißt es etwa zur 38. ›Lüge‹: Marcolphus / Eulenspiegel / der Pfaff vom
Kalenberg / haben so grob nicht liegen kuͤnnen / als diese hellige geistliche Leut /
das ist jr Bibel / damit sie jre Lere bestetigen. (›PL1‹, S. 117f.) Die 83. ›Lüge‹, in
welcher der hl. Antonius eines Tages am Meer steht und predigt, woraufhin ihm
viele Fische lauschen, die nach der Predigt wieder fröhlich von dannen schwimmen, kommentiert Rauscher in der ›Erinnerung‹ mit: Dieses weren wir wol
zufrieden / wenn diese Gottlose Moͤnch nur den Fischen vnd wilden Thieren
predigten / die koͤndten sie nicht verfuͤren / Aber Eulenspiegel vnd Marcolphus
hetten sich solcher offentlicher feisten vnd wolgemesten luͤgen geschempt / vnd
nicht von sich sagen duͤrffen / das die Fisch jnen zugehoͤret hetten / Aber dieses
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
Teuffels geschmeis schemet sich solcher luͤgen gar nicht. (›PL1‹, S. 198f.) Freilich gibt es auch hier eine Tradition, an die Rauscher anknüpfen kann, wie schon
der Titel des Werks zeigt, das Schenda als eine der direkten Vorlagen von
Rauschers ›Papistischen Lügen‹ ausgemacht hat: Erasmus Albers ›Der Barfüsser
Münche Eulenspiegel und Alcoran‹ (kurz ›Alcoran‹), vgl. Anm. 8.
17 Dass die Ausbildung solch einer Kritikfähigkeit bei den Rezipienten gerade
durch die Art der paratextuellen Kommentierung, wie sie auch durch Rauscher
vorgeführt wurde, erfolgen sollte, macht Schnyder 1979, S. 129f., eingängig:
»Indem die Glossen weder vom Autor der Legende stammen, noch überhaupt
primär von einem Autor an den Leser gerichtet sind, sondern von einem Leser
an andere Leser, nehmen sie einen besonderen Status ein. Das übliche Gegenüber von Autor und Rezipient tritt hier zurück, die späteren Leser schauen dem
ersten Leser bei seinem Glossieren über die Schulter. So betrachtet enthalten die
Glossen einen Appell ans Publikum, sich seine eigenen Glossen auf den Text zu
finden«. Auf solche handschriftlichen Glossen stößt man bei der Durchsicht der
erhaltenen Druckexemplare tatsächlich immer wieder und es könnte sehr erhellend sein, diese Kommentare einmal zu sammeln und auszuwerten. Vielversprechend erscheinen zudem jene Bemerkungen in den protestantischen Schriften, die nachgewiesenermaßen von katholischen Lesern stammen, könnten sie
doch die »dialektische[] Abhängigkeit« der katholischen und protestantischen
Legendensammlungen (Schenda 1970, S. 47) tiefergehend ergründen helfen.
18 »Hier wird nicht mehr theologisch argumentiert, sondern lediglich ein säkularisiertes Wahrheitsverständnis rationalistischer Prägung an den Text gelegt
(Historien!), der als Parabelerzählung im Gefolge von Lc. 15,7 entstanden war
und im Mittelalter meist so aufgefaßt wurde«, so der Kommentar zu Rauschers
›Erinnerung‹ dieser Erzählung bei Williams-Krapp 1986, S. 374. Darin folgt
Rauscher einer generellen zeitgenössischen Tendenz, wie sie sich im Protestantismus Bahn bricht: »Für die Vielschichtigkeit theologischer Wahrheitskriterien,
auf die sich mittelalterliche Hagiologen beriefen, fand das polemische Schrifttum nach Luther kein Verständnis mehr. Daß der Wahrheitsanspruch einer
Legende sich vor allem auf das ›bei Gott ist alles möglich‹ gründen konnte und
deswegen keine Übereinstimmung mit dem Historisch-Faktischen aufzuweisen
brauchte, vermochte unter den religiösen Pamphletisten und ihrem bereitwilligen Publikum, das allein das säkularisierte Wahrheitsverständnis streng
rationalistischer Prägung als Maßstab an die Texte legte, nur Spott hervorzurufen.« (Williams-Krapp 1984, S. 698); vgl. auch Brückner 1974, S. 37: »Was
der mittelalterlichen Theologie die Philosophie bedeutete, nämlich ancilla, Magd
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
zu sein, entspricht (natürlich auf einer anderen Ebene) der Funktion der Historie
für das heilsgeschichtliche Selbstverständnis der reformatorischen Theologie
und die daraus abzuleitende pastorale Praxis.« Die Reaktion der Gegenseite bestand denn auch darin, die Kritik der Protestanten am Geschichtsverständnis der
Legenden anzunehmen, teilweise verwendeten sie diese auch explizit gegen die
Protestanten selbst. So schreibt Johannes Nas in seinen antiprotestantischen
Centurien etwa, dass »der große Wind an des Staphylus Haus zu Ingolstadt […]
nicht von bösen Geistern [stammte], wie Thomas Rörer geschrieben hatte,
sondern von dem benachbarten Turm« (Schenda 1974, S. 42). Die flächendeckende Übernahme dieses Geschichtsverständnisses führte dann in den ›Acta
Sanctorum‹ der jesuitischen Bollandisten im 17. Jahrhundert zu einer immer
weiteren Entwertung der spirituellen Logik in den Legenden: »Historisch
Unzuverlässiges sollte ausgemerzt werden. Indem man aber die Viten zu sichern
suchte, zerfiel ihr Kern. Denn nicht eine historische Biographie wollten sie
bieten, sondern eine ›spirituelle‹, oder besser: eine modellhafte. […] Sobald nun
die Heiligen-Legenden im Rahmen des immer stärker aufklärerisch geprägten
Weltbildes historisch-kritisch bearbeitet wurden, mußte man dabei allzu oft
feststellen, daß die spirituelle und historische Biographie auseinanderklafften,
und in dem Maße, wie die Neuzeit für die historisch-kritische Wahrheit optierte,
verneinte sie die spirituelle« (Angenendt 1997, S. 233f.).
19 Eine Differenzierung und Hierarchisierung bestimmter Lügentypen nach
»Lügen in Glaubenslehren, Lügen mit Schadenswirkungen zum Nachteil eines
anderen, Notlügen, Scherzlügen etc.«, wie sie noch Luther nach mittelalterlichem Vorbild vornahm (Ziegeler 1999, S. 251) kennt Rauscher nicht. Für ihn
sind alle von ihm aufgeführten ›Lügen‹ zumindest potenziell schädlich, was er
in kaum einer ›Erinnerung‹ zu bemerken vergisst. Aus einer deskriptiven (nicht
ästhetisch-normativen!) Perspektive lässt sich festhalten: Bei ihm regieren
Absolutheit und Pauschalurteil jegliche theologische Differenzierung, er blendet
die Komplexität des Sachverhalts, der sich Luther noch argumentativ stellte,
komplett aus.
20 Dazu Ziegeler 1999, S. 260, für den im 16. Jahrhundert »ein Verständnis von
Literatur etabliert war, das – und das ist entscheidend – nicht unbedingt ›neu‹
war, aber breitenwirksam und auf Autoritäten gestützt unter den Chiffren
›Wahrheit‹ und ›Lüge‹ Rezeptionsperspektiven vorgab, die von bestimmten
literarischen Gattungen ›Wahrheit‹ in einem empirisch-faktischen, in einem so
verstandenen ›historischen‹ Sinn forderte und von anderen ›Lüge‹ im Sinne von
tichten, erfinden erwartete«; vgl. auch ebd., S. 255f.
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
21 Schenda 1970, S. 46: »Die protestantische Partei versucht, den Sinn der katholischen Imitatio in Frage zu stellen, indem sie die Vorbilder, die katholischen
Heiligen, lächerlich macht. Damit gefährden sie bewußt die Stabilisierungsfunktion der Tradition. Die Katholiken sind daher gezwungen, diese Tradition
durch historische Untersuchungen zu sichern«.
22 Vgl. Schreiner 1966 zur stetig gesteigerten Praxis der Heiligsprechung und der
daran geknüpften unkontrollierbaren Zunahme von Legenden und Mirakelberichten.
23 Eine weitere ›theologische Beweisführungsstrategie‹ stellt in diesen Erzählungen,
genau wie realhistorisch etwa auch in der Prozessführung der Heiligsprechungen,
der Augenzeugenbericht dar. Dass Hieronymus Rauscher solche Zeugnisse nicht
anführt, kritisiert beispielsweise Johannes Nas in seiner Replik auf die ›Centurien‹
aus dem Jahr 1565, die den provokativen Titel ›Das Antipapistisch eins und
hundert‹ trägt. In seiner 23. Euangelisch Warhait – die Bezeichnung ist natürlich als polemische Verkehrung von Rauschers ›papistischen Lügen‹ zu verstehen – versucht Nas die Wahrheit von Mirakeln durch einen ausführlichen,
den Kriterien einer historia genügenden Bericht aus dem Jahr 1563 zu beweisen,
in welchem in Augsburg ein Exorzismus stattgefunden habe. Rauscher solle
nicht irgendwelche uralten Mirakel ausgraben, sondern nach Augsburg gehen,
und den aktuellen Bericht von Nas nachprüfen, denn dort würden ja wohl noch
genügend Zeugen zu finden sein. Vgl. Schenda 1974, S. 196f., zu Johannes Nas
als einem Gegner Rauschers.
24 Die Darstellung von den (Zeit)Wundern des Heiligen bzw. durch den Heiligen
posthum gewirkte (Zeit)Mirakel gehörte gleichsam zur Typisierung innerhalb
der hagiographischen Erzählgattungen und ist daher als Kriterium einer Typologie anzusehen. Daher kann die folgende Aussage auch auf das hagiographische
Schrifttum im weiteren Sinn übertragen werden: »So ist für die mittelalterliche
Vita festzustellen, daß sie in dem Maße an Plausibilität gewann, je stärker sie den
Typ herausarbeitete. Daß dabei, wie wir heute bedauern, die Historizität zu kurz
kam, bekümmerte nicht« (Angenendt 1997, S. 231). Diese Problematik kann hingegen kaum losgelöst vom Kommunikationsrahmen betrachtet werden, in welchem
diese Erzählungen gewirkt haben. Ausgehend von der Erbauungsfunktion der
Legende als hagiographischer Textsorte im christlichen Kontext meint Ecker 1996,
Sp. 857, daher: »Da es bei solchen Kommunikationszielen eher auf Exemplarik
denn auf hist[orische] Detailtreue ankommt, liegt eine Verdrängung der
hist[orischen] Wahrheit im modern-westl[ichen] Sinne zugunsten sinnhaftprägnanter, fiktiv-wunderbarer Geschehnismomente nahe«.
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Holtzhauer: Destruktion der Wunderzeit
25 Denn nach gängiger mittelalterlicher Auffassung war der Glaube der Vernunft
vorzuziehen, so Schreiner 1966, S. 10: »Vernünftige Argumente reichten allein
noch nicht aus, um ein sicheres, endgültiges Urteil zu fällen. Kritik war nicht
reine Vernunftsache. Der Glaube, der wesentlichere Einsichten gewährte, relativierte die Erkenntnisse des prüfenden Verstandes und setzte ihm Grenzen«.
Gleichwohl war im Hochmittelalter die ratio zumindest in klerikalen Kreisen ein
probates Mittel, um jenseits spekulativer Überlegungen kritisch mit der Heiligenund Reliquienverehrung umzugehen, vgl. ebd., S. 25; s. auch ebd., S. 31: »Für die
›vernünftig‹ gestimmte Welt des 12. Jahrhunderts war der Rückgriff auf die
Omnipotenz Gottes nichts als leere Rhetorik, die mit frommen Ausflüchten den
Schweiß anstrengender Wahrheitssuche meidet. […] Ehe man zur Deutung eines
außergewöhnlichen Phänomens bei Mirakeln seine Zuflucht sucht (ad miracula
confugere), ist es ein Gebot intellektueller und theologischer Redlichkeit, zuvor
alle natürlichen Erklärungsmöglichkeiten auszuschöpfen«.
26 Sie wird denn auch nur ganz besonderen, gottgefälligen Menschen zuteil, das ist
Rauscher durchaus klar, wie etwa an diesem – natürlich zutiefst ironischen –
Kommentar abzulesen ist, der ebenfalls auf ein Zeitwunder bezogen ist: vns [den
Protestanten, S. H.] widerferet solches nicht / denn wir sind nicht so heilig als
sie (›PL1‹, S. 136).
27 Schenda 1974, S. 254, spricht von »grobianische[n] Randglossen«, wiewohl
Rauscher selbst diese Grobheit in seiner Vorrede thematisiert und in einem
Duktus der Apologie begründet: Es moͤcht vielleicht jemand gedencken / ich
were in dieser Prefation / vnd auch in den Erinnerungen / welche ich auff die
folgende luͤgen gestelt / zu grob gewest / der sol wissen / das es die grosse Noth
erfordert / dieweil die Geistlichen im Bapsthumb / vnd ihr Knecht Staphylus
also halstarrig sind / vnd also mit lestern zu vns einstuͤrmen. (›PL1‹, S. 19) Vgl.
zum Motiv der Skatologie bei Rauscher und generell im protestantischen Schrifttum Horn 1989, S. 56–58; Soergel 1993, S. 649–652.
28 Dem mittelalterlichen Zahlenverständnis entsprechend verweisen gerade die 30
Jahre des Aufenthalts in der Wüste auf eine ›spirituelle‹ Lesart, da es sich bei
der 30 um eine ›typische Zahl‹ handelt, eine Zahl also, die in bestimmten Kontexten in der Bibel immer wieder auftritt (gerade auch im Zusammenhang mit
der Zeit). Solche numerischen Chiffren für eine spirituelle Lesart sind in der
mittelalterlichen Hagiographie üblich gewesen und wurden teilweise auch narrativ verdichtet eingesetzt, was zu einer ganz eigentümlichen Semantisierung
ganzer Erzählstoffe führen konnte, vgl. das Kapitel 3.2 ›Sed omnia in mensura,
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et numero, et pondere disposuisti – der Gebrauch und die Bedeutung von Zahlen
in unterschiedlichen Textformationen des Brandan-Corpus‹ bei Holtzhauer 2019.
Weitere Beispiele, die hier aber nicht analytisch entfaltet werden sollen, sind:
›Lüge‹ 69 (Ein kunst wider die brunst der Liebe, ›PL1‹, S. 174f.); ›Lüge‹ 76 (Von
den fuͤnff Wunden Francisci, ›PL1‹, S. 185–187).
Dazu Brückner 1974, S. 37: »Das heißt konkret gesprochen für die Reformationstheologie: Der Rückgriff allein auf die Bibel setzt die Lehre von der Verbalinspiration, von dem unmittelbaren, wörtlichen Diktat der hl. Schrift sozusagen aus
Gottes eigenem Mund voraus; ein quasi-historisches Dokument, aber zugleich
über historische Ereignisse chronikalisch exakt berichtend. Der Wirklichkeitsgehalt solch unmittelbarer und direkter Offenbarung entspricht genau der Vorstellung von hier noch tragbaren ›Geschichten‹, sofern sie der Geschichte entstammen, also für wahr, das heißt tatsächlich geschehen zu gelten haben. Darum
sind nach Luther fromme Legenden = Lügenden und erbauliche Berichte =
Gedichte«.
Die Legendenkritik, die das gesamte Mittelalter durchzog, fand so auch in den
›abergläubischen Geschichten‹ der ›Legenda aurea‹ Ansatzpunkte für ›Teufelswerk‹, vgl. Horn 1989, S. 55, und Nikolaus von Kues etwa verbot 1455 auf der
Brixener Synode, solche Geschichten in der Predigt zu benutzen, vgl. Angenendt
1997, S. 233.
So auch Schenda 1974, S. 195: »Freilich verblaßt der Aufklärer-Glanz um
Rauschers Haupt, wenn er die nicht erdichteten Regensburger Mirakel [der
vierten ›Centurie‹, S. H.] dem Teufel zuschreibt«. Den Katholiken hingegen wird
Rauscher ein ums andere Mal selbst zum Teufel: »Die Hundert papistischen
Lugen lösten katholische Gegenschriften aus, zuerst eine Predigt des Ingolstädter
Theologieprofessors Martin Eisengrein (QR1), in der Rauscher − anknüpfend an
einen Schwankroman des 15. Jh.s (2VL 1, 1043−1045), in der der Teufel unter
diesem Namen auftritt, − als Bruder Rausch tituliert wird […]« (Knedlik/Kipf
2016).
Dazu etwa Schneider 2014, Sp. 1037: »In ihrem Kampf gegen den Mißbrauch des
Heiligenkultes und des Reliquienwesens griff die Reformation auf das augustinische Wunderverständnis und dessen Kritik zurück, ohne die Realität von
Wundern grundsätzlich in Frage zu stellen. Die Aufklärung dagegen verwies
Wunder in den Bereich der Fiktion und des Aberglaubens«. Ähnlich differenziert
sieht es auch Brückner 1974, S. 36: »Die Reformation förderte schließlich die
radikale inhaltliche Abkehr von dem, was das Mittelalter unter dem ›geistlichen
Sinn des Wortes‹ verstanden hatte, nämlich die vielfach entfaltbare, künstlich-
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kunstvolle Bedeutungsexegese des Allegorisierens, Moralisierens, Etymologisierens und dergleichen mehr. Diese Art hermeneutischer Prinzipien steht jedoch
in gewandelter Form auch noch auf dem für die Neuzeit charakteristischen Wege
der Geisteswissenschaften zwischen Humanismus und Historismus, auf dem
Wege zu rationalistischen Denkformen hin durch sich entwickelnde Geistesbeschäftigung mit dem meßbaren Faktischen, dem exakt Tatsächlichen an greifbarer ›Wahrheit‹«.
34 Dass eine unterschiedliche Bestimmung von ›Wunder‹ zu wesentlichen Problemen, ja bis hin zu Paradoxien führen kann, wird nirgends deutlicher als hier.
Denn sicherlich kann man bei Rauscher wie bei den meisten anderen Protestanten, die sich am Heiligenwunder abgearbeitet haben, davon ausgehen,
dass sie einen Wirklichkeitsbegriff hatten, der darauf fußte, »dass sich das Göttliche in der Welt offenbart«, und damit bei ihnen »eine Repräsentation der
›Realität‹« anzusetzen ist, die »ohnehin schon das Wunderbare mit umfasst«
(Manuwald 2017, S. 216). Solch ein Wirklichkeitsbegriff aber verträgt sich nach
heutiger Auffassung kaum mit der stellenweise äußerst rationalen Herangehensweise Rauschers. Man würde doch eher meinen, dass Wunder entweder Teil der
Realität sind und damit auch in den Erzählwelten Plausibilität beanspruchen
können, oder aber, dass sie eben nicht real sind und daher auch keine Existenzberechtigung in Erzählungen mit konkretem Wirklichkeitsbezug haben. Eine
Zwischenstellung aber, wie sie Rauscher einnimmt, bei der das Wunder, nämlich
das göttliche bzw. biblische, prinzipiell für real gehalten wird, nicht aber in den
Erzählwelten ganz bestimmter Erzählungen, mutet widersprüchlich an. Denn
warum gibt sich Rauscher so viel Mühe, die Wunderzeit wieder und wieder mit
rationalen Mitteln zu destruieren – womit er ja einer generellen Wunderkritik
Tür und Tor öffnet –, anstatt einfach mit Luther ganz apodiktisch zu behaupten,
dass Heilige keine Wunder und Mirakel wirken können, Gott aber schon?
35 Dazu Haferland 2014, S. 107, weiter in Bezug auf Luthers Kritik an der Heiligenverehrung: »Es mag Schwierigkeiten bereiten, den Protestantismus als Säkularisierungsbewegung zu verstehen, aber er bedeutet kirchengeschichtlich sehr
wohl eine Säkularisierung, und das nicht nur im Sinne der Auflösung überkommener katholischer Alltagspraktiken«.
36 So Soergel 1993, S. 643: »[…] the popularity of these prodigies points to a general
explanatory crisis that afflicted Lutheranism in the wake of its attempts to do
away with the traditional functionalism of the medieval Church«. Dazu auch
Schenda 1970, S. 43: »Sie brauchten einen ungeheuren Aufwand von Exempla
und Prodigiengeschichten […], die keineswegs weniger phantastisch waren als
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die Mirakel der Katholiken, und für die sie charakteristischerweise das katholische Wort ›Wunderwerk‹ übernahmen, um auf ihre Auffassung von der Macht
Gottes und von moralischen Normen ihren Gläubigen sinnfällig zu machen. Sie
brauchten das Instrument Legende ebensosehr wie die Katholiken […]«.
Nach Feistner 2001, S. 256, hat die Wirklichkeitsverankerung der Legende ihre
Funktion darin, dass sie »in der Figur des Heiligen eine Brücke zwischen Immanenz und Transzendenz sichtbar zu machen strebt, nicht bloß die Wahrnehmung einer Differenz zwischen beiden Ebenen indiziert, sondern geradezu
daraufhin angelegt ist, im Medium der Thematisierung dieser Differenz Wirklichkeit zu reflektieren […]«. Auch Münkler 2009, S. 42f., erkennt im Protestantismus wachsende Anforderungen an den Gläubigen: »Der Weg zum Heil muss
nunmehr allein bestritten werden, und dieser Weg ist gekennzeichnet von
Ängsten und Anfechtungen, in denen keine Heiligen mehr angerufen werden
dürfen, sondern in denen der Christ allein vor Gott bestehen können muss.
Gerechtfertigt werden kann der Mensch allein durch den Glauben, aber dieser
Glaube wird von jeder institutionellen Verbindlichkeit gelöst und von allen
Praktiken entbunden, die mit Heilsgarantie versehen waren. Damit ändern sich
auch die Geltungsbedingungen der Legende fundamental. Die Erzählungen von
dem im Leben der Heiligen sich verwirklichenden Heil, vom Hineinragen der
Transzendenz in die Immanenz, von den Wundern, die die Heiligen vor und nach
ihrem Tod vollbracht haben sollen, […] negieren aus evangelischer Sicht das
Prinzip der sola gratia und fördern damit den Aberglauben«.
Feistner 1995, S. 362f., fasst es treffend zusammen: Rauscher führe die Legenden
ad absurdum, indem er »sie mit zunehmender Rigorosität jeglicher bildlicher
Überhöhung entkleidete, auf die Folie alltagspraktischer Erfahrungswirklichkeit
gleichsam ›abstürzen‹ ließ und daraus nebenbei noch einen propagandistisch
wirksamen komisch-satirischen Effekt erzielte. Die materia wurde hier derart
radikal in Frage gestellt, daß die diskursive Vermittlung überhaupt nur mehr
darin bestand, sie zu pulverisieren«.
Bei Vergerio, der 52 Legenden aus den ›Dialogi‹ Gregors extrahierte, sind die
Randbemerkungen – wie ja auch der Rest von ›De Gregorio Papa‹ – auf Latein
abgefasst, und der Beurteilung von Schenda 1974, S. 190, kann man sich nur
anschließen: »Diese Marginalien sind weder originell, noch tragen sie Wesentliches zur Legendenkritik bei«, seine Ausrufe erinnerten »eher an Parlamentsdebatten als an theologische Gespräche«; vgl. dazu ebenfalls Schenda 1970, S. 36.
Dass diese Auseinandersetzung gerade in den mit ›Erinnerung‹ betitelten Abschnitten von Rauschers ›Papistischen Lügen‹ stattfindet, ist mit Sicherheit kein
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Zufall. Dem frühneuhochdeutschen Lexem ›Erinnerung‹ kommen je nach Gebrauchskontext unterschiedliche Bedeutungen zu, im geistlichen Diskurs am
ehesten ›Vergegenwärtigung, Vergewisserung, Erinnerung, Gedächtnis‹ bzw.
metonymisch: ›Erinnerungszeichen‹, aber auch ›geistliche Belehrung, Unterweisung‹, vgl. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Bd. 5,2, Sp. 3403f. Im konfessionellen Streit wird die den Heiligen in der Catholica zukommende Art von
memoria, was mit ›Gedächtnis‹ oder eben ›Erinnerung‹ übersetzt werden kann,
hier gewissermaßen ›überschrieben‹: »Die Verschärfung der Gegensätze zwischen
den christlichen Konfessionen führte dazu, daß auch Gedächtnis, Lobgesang,
Dankgebet und Nachahmung der Heiligen entgegen der ›Augsburgischen Konfession‹ von 1530 schwanden« (Rosenfeld 1982, S. 29). Dazu mochte geführt
haben, dass die ›Confessio Augustana‹ lediglich »in einer Kann-Bestimmung die
memoria sanctorum, ut imitemur fidem eorum et bona opera iuxta vocationem«
gestattete (Schenda 1970, S. 31); vgl. dazu auch Münkler 2015, S. 141f.
Eine ähnliche Beschreibung dieses Phänomens findet sich auch bei Ehlert 1995,
S. 201: »Erst mit dem Aufkommen der mechanischen Uhren, dem zunehmenden
kulturellen Gewicht der Städte und dem wachsenden wirtschaftlichen Einfluß
der Kaufleute entgleitet die Zeit der Bestimmung durch Theologie und Kirche
[…]; Zeitgeber ist nicht mehr (oder nicht mehr ausschließlich) das Geläut der
Kirchenglocken, sondern ist die Rathausuhr, der Zeitbegriff wird säkularisiert
und präzisiert«.
Bei Gloy [u. a.] 2004, S. 529, werden folgende Parameter festgesetzt, anhand derer
sich das Verhältnis zwischen modernem und neutestamentlichem Zeitbegriff
beschreiben lasse: »a) quantitativer versus qualitativer Zeitbegriff; b) objektivchronometrische Bestimmung von Zeit versus subjektives Zeitempfinden; c) globale Vertaktung von Zeit versus mehrere voneinander unabhängige Zeitmaße;
d) physikalischer versus religiöser Zeitbegriff. Es ist jedoch eher von einer deutlichen Akzentverschiebung in einigen Parametern als von einem pauschalen
Gegensatz auszugehen«.
Vgl. zu den theoretischen Prämissen meines Vorgehens insbesondere Ehlert
1995, S. 202f.: »Untersucht man also die Zeitkonzeption (oder Zeitkonzeptionen)
eines Werkes, eines Autors oder einer Epoche, so erhält man zugleich Aufschlüsse über die Mentalität, die darin sedimentiert ist und zum Ausdruck
kommt.«
Die Strategie Rauschers ist also allem Anschein nach aufgegangen, vgl. Derron
2004, Sp. 366: »R[auscher] schrieb die ›Centurien‹ für eine breite Leserschicht;
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Sprache und Stil seines Werks paßte er gekonnt dem Geschmack eines Publikums an, das in erster Linie Unterhaltungsliteratur wünschte«.
Auch Williams-Krapp 1984, S. 704, ist der Meinung, Rauscher prangere »nicht
mehr – wie Luther – die in diesen Texten anzutreffenden theologischen Widersprüche an, sondern begnüg[te] sich weitgehend mit einer mit Spott glossierten
Wiedergabe von Fabulösem«.
Insofern muss man auch dem Urteil widersprechen, dass Rauscher in seinen
›Erinnerungen‹ nichts Wesentliches zu bieten habe, weswegen sich der Leser
dessen Lektüre oftmals sparen könne (Schenda 1974, S. 239). Darüber hinaus
findet sich die »gezielte Kritik«, die Schenda (ebd., S. 252), in Rauschers Kommentaren vermisst, durchaus, wie aufgezeigt werden konnte. Überhaupt ist das
Urteil Schendas im Großen und Ganzen sehr vernichtend: Rauscher habe Intelligenz und höhere Einsicht gefehlt (ebd., S. 255) und selbst zum Polemiker habe
er wenig getaugt, da es ihm »zu sehr am Wissen und am Witz« fehlte (ebd.,
S. 258). Spätere Forscher waren da schon etwas gnädiger, wenn sie sich im
Grunde auch nicht weit von der Position Schendas entfernten: »Wie auch immer
man die Intelligenz Rauschers einschätzen möchte, die Bände stellen einen
Fundus an kleineren Wundererzählungen des Mittelalters dar – gesehen durch
die Brille eines kampfeslustigen protestantischen Theologen, der Geschmack an
der Darstellung der aus seiner Sicht absurdesten ›Historien‹ aus der Glaubenswelt seiner katholischen Gegner gefunden hatte und seine Ausgabe ganz zeitgemäß mit beißendem Spott und zotigem Humor und ohne besondere theologische
Tiefgründigkeit kommentierte« (Burmeister 1998, S. 191f.). Einen wertneutralen
und an den literarischen Funktionen der Gattung orientierten Ansatz bietet mit
dem Konzept der ›Lügende‹ als ›Metalegende‹ neuerdings Sablotny 2019, hier
insbesondere S. 163.
Auch Sablotny (2019, S. 162), die sich in Ihrem Aufsatz zur Metalegende ebenfalls mit Rauschers ›Centurien‹ befasst, führt ›Don Quichote‹ als frühes Beispiel
für »literarische Selbstreflexivität im engen, spezifischen Sinne einer Gattung
über die Gattung« an.
An dieser Stelle muss noch einmal betont werden, dass Rauscher als Hofprediger (!) eben gerade n i c h t die dem genuin mündlichen Medium zugehörigen
Predigten nutzte, um Kritik an der Catholica zu üben (»Im Gegensatz zu seinen
›Centurien‹ wird für seine Predigten die denunziatorische Polemik gegen die
kath[olische] Kirche nicht bestimmend« [Knedlik/Kipf 2016]). Vielmehr verlagerte er seinen Fokus auf die Legenden- und Mirakelsammlungen, die über Jahrhunderte das Verständnis von ›Erzählung‹ im schriftlichen wie im mündlichen
Bereich (Tischlesungen) und unter den Geistlichen wie auch den Laien, wenn
auch überwiegend unbeabsichtigt, so doch maßgeblich mitbestimmten.
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Anschrift des Autors:
Dr. Sebastian Holtzhauer
Universität Hamburg
Fakultät für Geisteswissenschaften
Ältere deutsche Literatur
Institut für Germanistik
Überseering 35
22297 Hamburg
E-Mail: sebastian.holtzhauer@uni-hamburg.de
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