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Artikel 1 / 47

HERR SORGE SASS MIT ZU TISCH

Porträt eines Spions
aus DER SPIEGEL 24/1951

Wissen Sie überhaupt, wie die Japaner ihre Gefangenen hinrichten? Hübsch langsam, Stück für Stück, ziehen sie die Drahtschlinge zu, damit man noch ordentlich zappeln kann. Sie hängen nicht auf, sie erdrosseln. Solche feinen Leute sind das, unsere Japanerchen! Keyserling*) hatte recht: Ein kleines, aber mieses Volk. Prost!«

Der Mann, der, noch den Whisky der Freiheit schlürfend, diese Feststellung traf, hatte am 7. Oktober 1944 Gelegenheit, seine harte Meinung durch persönliche Erfahrung zu revidieren. Um 10 Uhr 20 öffnete sich unter ihm der Boden des Gefängnisgalgens in Tokios »Sugamo«-Gefängnis. Um 10 Uhr 36 war er schon für tot erklärt. Seine letzten Worte waren an die Gefängnisbeamten gerichtet: »Ich danke Ihnen für all Ihre Freundlichkeiten.« »Festen Schritts«, so vermerkt der japanische Bericht, sei er auf die Falltür unter der Schlinge zugegangen. Dieser 7. Oktober war der 27. Jahrestag der Russischen Revolution.

Japanische Regierungsbeamte berichteten später, der Delinquent habe mit geballter Faust in deutscher Sprache ein Hoch auf die Sowjetunion ausgebracht. Später widerriefen sie: sie seien bei der Hinrichtung nicht dabeigewesen.

Mit frappierender Sicherheit, aber ohne handfeste Argumente, tuscheln Bekannte und Verwandte in aller Welt, er sei gar nicht gehängt, sondern in die Sowjetunion ausgetauscht worden und lebe in Moskau, wie überhaupt der moderne Kyffhäuser in Richtung Ural zu liegen scheint. Die Legende bemächtigt sich des Toten, durch die Gazetten und durch die illustrierten Blätter geistert der »Mann, der Stalin rettete«, ausgestattet mit den vornehmsten Requisiten der seligen Mata Hari**), als da sind Liebe und Verrat. Eine bildschöne Tänzerin, ein Halbblut natürlich, soll ihn, nach einer Nacht der Erfüllung, den Japanern ausgeliefert haben, im Widerstreit von Pflicht und Zuneigung.

Aber auch der Geheimdienst MacArthurs konnte sich der mythenbildenden Kraft des Stoffes nicht entziehen. Aus dem japanischen Gerichtsmaterial, das die Amerikaner bei ihrer Landung in Tokio vorfanden, wurde ein 54 Seiten starker, blumiger Warnruf vor den kommunistischen Agenten in aller Welt, überschrieben: »Der Sorge-Spionage-Ring, ein Studienbeispiel internationaler Spionage in Fern-Ost.«

Die Hauptperson des »Rings«, den der amerikanische Bericht den »vermutlich kühnsten und erfolgreichsten der Geschichte« nennt, ist Dr. Richard Sorge, langjähriger Korrespondent der »Frankfurter Zeitung«. Von ihm sagt Mac Arthurs Geheimbericht: »Wenn Stalin ihm nicht nachträglich den kostbarsten Orden verleiht, den er zu vergeben hat, ist er wirklich ein Geizhals.«

Denn: »Als die deutschen Armeen in Westrußland vorstießen, als große russische Einheiten zerschmettert und vernichtet waren, wurde die Frage sibirischer Verstärkung lebenswichtig. Aber die Rote Armee konnte ihre sibirische Flanke nicht entblößen, solange die japanische Armee angriffsbereit stand. Sorge konnte glaubhaft zusichern, die Japaner würden nicht angreifen. So konnten die sibirischen Truppen nach Westen abgezogen werden und erschienen rechtzeitig zur erfolgreichen Verteidigung Moskaus.«

Aber nicht nur an der Entscheidungsschlacht vor Moskau hat Sorge nach Ansicht der Amerikaner hervorragenden Anteil, auch am Nichtangriffspakt zwischen Ribbentrop und Stalin schreibt der MacArthur-Bericht Sorge ein Hauptverdienst zu: »Nachdem die Russen von Sorge erfahren hatten, daß die Deutschen im Frühjahr 39 in Tokio vergeblich eine Allianz gegen Rußland und England vorgeschlagen hatten, schloß die Sowjet-Regierung den berühmten und berüchtigten Nichtangriffspakt mit Nazi-Deutschland ab, der den Angriff auf Polen erst ermöglichte.« Kurz vorher hatte Sorge durch genaue Stärkemeldungen dazu verholfen, daß die Russen den Japanern an der mandschurischen Grenze die schwere Niederlage von Nomonhan beibringen konnten, die den Japanern einen Spaziergang nach Sibirien ungeraten erscheinen ließ. Unter den ungezählten politischen, wirtschaftlichen und militärischen Informationen, die Sorge der russischen »Abwehr« zehn Jahre lang übermittelte, befand sich auch die Meldung vom 20. Mai 1941, 170-190 deutsche Divisionen stünden bereit, am 20. Juni mit Hauptstoß Moskau anzugreifen.

Wie man weiß, war der 20. Juni tatsächlich der »Tag X«, und der Angriff erfolgte »X + 2«, am 22. Juni. Er traf die Russen zwar in Bereitstellungen, aber unvorbereitet. Sie hatten Sorge ebensowenig glauben wollen wie den Engländern, deren nicht minder genaue Warnung (Angriff am 22.) sie in der »Prawda« öffentlich und entschieden als üble Verdächtigung zurückwiesen.

Nach den Kesselschlachten von Minsk und Orel waren die Russen äußerst besorgt, die Japaner könnten den gerade abgeschlossenen Nichtangriffspakt annullieren und den bedrängten Roten Truppen in die sibirische Flanke fallen. Im August 41 meldete Sorge, Japans Flotte habe für zwei Jahre Oel, die Armee für ein halbes Jahr.

Dann, am 15. Oktober, gab er die entscheidende Parole: Japan habe sich entschlossen, südwärts gegen die Angelsachsen anzugreifen, mit einem Ueberfall der Kwantung-Armee auf Sibirien sei nicht mehr zu rechnen. Drei Tage später waren Sorge und seine engsten Mitarbeiter verhaftet. Von den 35 Leuten, die man im Zusammenhang mit Sorge verhaftete, wurden 18 später für unschuldig befunden.

Mit einem Schlage löste sich den Japanern das Rätsel bis dato ungeklärter Funksprüche, hinter denen sie seit sechs Jahren her waren. Nie hatten sie durch Funkpeilungen den Sender ausmachen können, da Sorges Funker Max Klausen den Standort jedesmal wechselte und da er vorzugsweise in einem Fischerboot von See aus sendete. Im Jahre 1939 waren das, laut Klausens Tagebuch, 23 139 Wortgruppen, im Jahre 1940 29 179 Wortgruppen.

Ueber Klausens Geschäftskonto erhielt die Gruppe Geld von den Sowjets eingezahlt. Als die Ueberweisungen zu riskant wurden, bat Klausen den Sowjetkonsul um eine Verbindungsstelle in Tokio. Vielfach wurde das Geld dann Zug um Zug gegen Mikrofilmrollen, die im fülligen Busen der Frau Klausen transportiert waren, ausgezahlt. Einmal im Jahr ließ Sorge Einnahmen und Ausgaben aufstellen und per Mikrofilm nach Moskau gelangen. Weder Funken noch Mikrofilme noch Geldüberweisungen führten zur Entdeckung der Gruppe Sorge. Vielmehr kam sie der Polizei auf die Anzeige eines Mannes hin unters Messer, der bis vor kurzem einer der sechs führenden Kommunisten Japans war.

Mit Sorge festgesetzt (und als einziger später mit ihm gehängt) wurde der frühere Privatsekretär des ausgleichswilligen Ministerpräsidenten Fürst Konoye, der zwei Tage vor Sorges Verhaftung zurücktrat und dem Kriegskabinett Tojo Platz machte. Mit Sorge verdächtig wurde der deutsche Botschafter in Tokio, Eugen Ott, von dem MacArthurs Akten mit vollem Recht behaupten, Sorge habe mit ihm »auf vertrautem Fuß« gelebt. Sorge war eine Zeitlang ständiger Frühstücksgast des Botschafters, hatte Zugang zum Chiffrier-Raum und arbeitete völlig unbeaufsichtigt in den Räumen der Botschaft, um den »Deutschen Dienst«, ein inoffizielles Nachrichten-Bulletin, zusammenzustellen.

Wenn allerdings der MacArthur-Bericht feststellt, Botschafter Ott habe Sorge zur Unterzeichnung des Drei-Mächte-Paktes hinzuziehen wollen, was der Sonderbeauftragte Stahmer verhindert habe, so liegt insofern eine Verwechslung vor, als Ott, nach Aussage Stahmers, den Sorge nicht zur Unterzeichnung, sondern zu den Verhandlungen hinzuziehen wollte. Das freilich hat Stahmer nach seiner eigenen Aussage abgelehnt.

Jedenfalls gab es nichts aus dem Sektor der deutschen Botschaft, was Sorge nicht erfuhr, und es gab nichts aus dem Bereich der kaiserlichen Politik, was ihm verborgen bleiben konnte. In der kritischsten Zeit ihres Bestehens hatten die Sowjets in der für sie kritischsten Hauptstadt einen Spion, der sie über die Absichten ihrer beiden einzigen potentiellen Gegner zuverlässig ins Bild setzte. Das ist ein in der modernen Geschichte ganz beispielloser Vorgang, umsomehr, als Sorge kein sich in anonymes Dunkel hüllender Berufsagent, sondern ein individualistischer Einzelgänger war, der jahrelang in aller Oeffentlichkeit seinen keineswegs asketischen Bedürfnissen anhing und dessen zahlreiche Gruppe die Sowjets pro Monat keine 1000 Dollar Spesen kostete. »Das ist weniger als das Gehalt eines mittelbezahlten Militärattachés«, stellt MacArthurs Bericht bewundernd fest.

Daneben hatte Sorge zu den Amerikanern, Engländern und Franzosen so gute Kontakte, daß er bei Freunden und Gegnern als der »bestinformierte Mann Ostasiens« galt. »Na, für ganz umsonst halten wir uns den Mann ja auch nicht«, sagte Botschafter Ott gönnerhaft, als sich der deutsche Militärattaché General Kretzschmer nach einem Gespräch mit Sorge Mitte Juli 1941 über dessen sichere Einschätzung verwunderte. Und das alles vollzog sich unter den Augen der japanischen Polizei, deren Spionenfurcht sich gegenüber Fremden in geradezu lächerlichen Uebertreibungen austobt.

Wie weit Sorge den Kriegsverlauf entscheidend beeinflußt hat, läßt sich nicht sagen, solange die Entschlüsse des Kreml in hemmungslosem Dunkel liegen. Man weiß es ebensowenig wie beispielsweise, ob der Verrat der britischen Staatsangehörigen Fuchs und Pontecorvo den Sowjets tatsächlich in der Herstellung von Atom-Bomben entscheidend weitergeholfen hat. Und hat der Sowjet-Agent und Acheson-Freund Alger Hiss den Vereinigten Staaten auch nur einen Bruchteil soviel geschadet wie die Kriegs- und Nachkriegspolitik des State Department?

Welchen Nutzen haben die Deutschen daraus gezogen, daß sie durch den Kammerdiener des britischen Botschafters in Ankara, des Sir Hughe Montgomery Knatchbull-Hugessen, ein Jahr lang über die geheimsten Absichten der Alliierten informiert wurden? Keinen, sie haben den Verräter »Cicero« betrogen, dessen Mikrofilme sie mit 300 000 Pfund Falschgeld honorierten, und sie haben sich selbst betrogen, da Ribbentrop sich nicht dazu verstehen konnte, an die Echtheit der so romanhaft gewonnenen Dokumente zu glauben. Und doch waren darunter die Originalberichte der Konferenzen von Casablanca, Moskau, Kairo und Teheran!

Dies ist das Handicap der technisch so raffiniert sich überschlagenden Nachrichtendienste: Man glaubt ihnen nicht, man befürchtet politische Zweckfärbung (wie die Nazis bei Canaris), man argwöhnt eine Falle des Gegners, man mißtraut den Agenten insgesamt. Die Kampfflugzeuge der Russen mußten erst am Boden in Flammen aufgehen, bis die Sowjets an den deutschen Ueberfall glaubten. Molotow verfärbte sich in Moskau, und Botschafter Dekanosow starrte fassungslos auf die Kriegserklärung, die Ribbentrop ihm herunterschnarrte. Wo Dekanosow doch nur gegen deutsche Grenzüberflüge protestieren wollte! Und doch hatten die Russen das genaue Datum des Angriffs vorher erfahren.

Sibirische Truppen

So läßt sich auch nicht feststellen, ob es tatsächlich sibirische Truppen waren, die Moskau retteten. Nach Guillaume »Warum siegte die Rote Armee?« wurden Marschall Schukow vor Moskau »unter anderem mehrere sibirische Divisionen« zugeführt. Nun weiß der französische General das auch nicht genau, er fußt hauptsächlich auf deutschen Quellen.

Deutsche Ic-Experten bestreiten aber, daß damals überhaupt geschlossene Einheiten der Fernost-Armee an der russischen Westfront eingesetzt worden seien. Der Transport einer einzigen Division hätte die Transsibirische Eisenbahn auf Wochen blockieren müssen, so daß die viel wichtigeren Materialtransporte gestockt hätten. Außerdem sei auch die von Marschall Blücher aufgebaute Fernost-Armee, die hauptsächlich aus leichter Artillerie, breitspurigen Panzern und Kavallerieverbänden bestand, rein zahlenmäßig nie so stark gewesen, daß sie die Westfront irgendwie hätte entlasten können. Die vor Moskau hineingeworfenen Reserven, so sagen die deutschen Experten, seien in Mittelrußland aufgestellt und ausgebildet worden. Diese Elite-Truppen seien von den deutschen Landsern fälschlich als »sibirische Truppen« angesprochen worden.

Wie dem auch sei, feststeht, daß alle russischen Reserven in den Jahren 41/42 ohne Rücksicht auf die kriegslüsterne Kwantung-Armee in den Kampf geworfen werden konnten, nicht nur vor Moskau, sondern auch vor Stalingrad. Feststeht, daß die Japaner die Kriegstüchtigkeit der russischen Fernost-Armee auf Grund der Grenzniederlagen von Tschang Kufeng und Nomonhan überschätzten, an denen Sorge seinen rechtschaffenen Anteil hatte.

Feststeht, daß diese Ueberschätzung der russischen Stärke in Fernost die Japaner daran hinderte, sich mit Hitler gegen Rußland und, potentiell, gegen England zu verbünden. Hitlers Russenpakt war eine direkte Frucht dieser Weigerung. Denn einerseits mußte Deutschland sich seine Bundesgenossen jetzt da suchen, wo es sie fand, und andererseits hatte Stalin, durch Sorge informiert von der japanischen Absage, für absehbare Zeit die Sicherheit, daß die Japaner mindestens so lange nicht an einem Krieg gegen Rußland interessiert waren, wie sie in China hart zu kämpfen hatten.

»In Kürze«, summiert der MacArthur-Bericht, »Sorge war imstande, die Sowjet-Union umfassend über die militärischen, politischen und industriellen Absichten der Japaner von 1933 bis 1941 zu informieren. Die Rote Armee kannte immer den Status der jeweiligen japanischen Pläne und konnte ihre eigenen Pläne und Entscheidungen danach treffen.

»Es ist erstaunlich, daß die Japaner trotz ihres eingewurzelten Verdachts gegen Ausländer, trotz ihrer Wachsamkeit gegenüber den leisesten Anzeichen von Spionage und kommunistischen Sympathien, trotz ihrer Genauigkeit, mit der sie Kuriere zwangen, ihr Land durch gut bewachte Häfen zu passieren, nicht das leiseste Mißtrauen gegenüber Sorge und den Leuten seiner Gruppe hatten.«

»Ich möchte bemerken«, sagt denn auch Sorge in seinem Geständnis, »daß meine Nachrichtenarbeit in China und Japan völlig neu und erstmalig war. Das trifft besonders auf Japan zu, wo ich der erste und einzige bin, der je imstande war, eine solche Aufgabe so lange und erfolgreich zu erfüllen.«

Unter eigener Flagge

Man muß tatsächlich in die Zeit vor dem 1. Weltkrieg zurückgehen, um einen ähnlich erregenden Spionagefall wie den »Sorge-case« wiederzufinden, der allerdings die erste moderne Affäre dieser Größenordnung überhaupt ist. Aber der k. u. k. Oberst Alfred Redl, Leiter der österreichischen Abwehr und Dezernent des Kriegsministeriums für Spionage-Prozesse, der den Russen in den Jahren 1910/11 die Aufmarschpläne für den Fall eines Krieges gegen Rußland übergab, stand unter Druck: Er war unglücklich veranlagt und wurde erpreßt. Als man ihm nach Aufkommen des Skandals 1913 die Pistole in die Hand drückte, konnte man zwar nicht mehr die Festungsanlagen, wohl aber die Aufmarschpläne ändern. Da die Russen niemals in die Verlegenheit kamen, während des 1. Weltkrieges österreichischungarische Festungen zu belagern, war der Schaden nur prestigemäßig groß.

Als Sorge hingegen mitten im 2. Weltkrieg verhaftet wurde, war das Unheil schon geschehen. Drei Tage vorher hatte er seinen Funker Klausen beauftragt, mit den Auftraggebern über eine Abberufung nach der Sowjet-Union zu verhandeln, da er das Gefühl habe, im Sinne seines Auftrags nicht mehr viel tun zu können. Das Entscheidende war getan.

Sorge arbeitete auch nicht unter Druck wie Oberst Redl und erst recht nicht für Geld. Ebensowenig ist er aber der Proto-Typ des kommunistischen Agenten, den der MacArthur-Bericht in ihm sieht.

Das Vergnügen, unter eigner Flagge zu segeln, hat Sorge sich nie nehmen lassen. Aber er glaubte an die weltumspannende Zukunft des Sowjet-Staates und behielt die pazifistischen und menschheitsbeglükkenden Ressentiments des doktrinären Marxisten sein Leben lang bei. Er verschrieb sich dem russischen militärischen Nachrichtendienst für das ganz große Spiel, weil er nur hier die Freiheit des Abenteuers witterte, die er zum Leben brauchte.

Je heftiger es auf den 2. Weltkrieg zuging, desto stärker war die Linie der Sowjet-Union seine eigene Linie. Denn Sorge trug es als heilige Ueberzeugung mit sich herum, daß die faschistischen und die halbfaschistischen Länder die Welt in einen Krieg stürzen würden. Dieser Gefahr zu begegnen, bediente er sich nicht nur seines Nachrichtendienstes: Er suchte auf eigene Faust Politik zu machen. Sein späteres Zerwürfnis mit Botschafter Ott rührte hauptsächlich daher, daß Ott sich nach Ansicht Sorges den »Kriegsbrandstiftern in Berlin« aus Posten-Ehrgeiz nicht mehr widersetzte.

Politisch »lag« Sorge damals richtig, und über weltanschauliche und historische Konsequenzen zerbrach er sich den Schädel nicht. Die moderne Zwiespältigkeit des »Konspirateurs mit dem guten Gewissen«, verursacht durch grandiose Leere, prägt sich auch in dem aus, was von Privatleben bei ihm übriggeblieben war. Der Quartalssäufer, der die zahlreichen Frauen, die ihm anhängen und anhingen, nur des Zotenreißens für wert hält, kultiviert in einem Eckchen seines Herzens ein romantisches Frauenbild, das von seiner russischen Mutter bestimmt wird, und erfindet Frauen diesen Typs, die er in Erzählungen als Ehefrauen vorstellt.

»Sekretär von Karl Marx«

Dieser geborene politische Spieler, der die Politik nur über die Hintertreppe erreichen kann, ist ein guter Freund und führt seine besten Freunde hinters Licht. Er ist musisch halbgebildet und gebärdet sich fast irre mit Johann Sebastian Bach. Phantasiearmut bei vollblütigem Temperament ist die interessanteste Triebfeder dieses ideologischen Sportlers, der sich nachts auf dem Motorrad vom Sozius aus die Augen zuhalten läßt, »um zu lernen, blind, nur nach Weisung zu fahren«. Und der somit für uns Leute des 20. Jahrhunderts viel interessanter ist als ein linientreuer Sowjet-Agent.

Sein Schicksal verläuft sich in dem strudelnden Panorama des fernöstlichen Gigantenkampfes um Land, Oel, Prinzipien und Schrott. Es ist so durchsetzt mit Lebensgier und Lebensverachtung, mit Wissensdurst und Zynismus, mit Prahlen und Ueberdruß, mit Frauenverachtung und cherchez la femme, daß sich Autoren aller Herren Länder, von Zeitung, Buch, Funk und Film todsicher längst über dieses Gottesgeschenk von Stoff hergemacht hätten, wenn ihnen mehr überliefert worden wäre als einige zusammenhanglose oder ersponnene Stoff-Fetzen.

Auch in der obskursten Enthüllung wird verzeichnet, daß Sorges Großvater »Sekretär von Karl Marx« war. Erich Kordt schreibt es in seinem Buch »Nicht aus den Akten«, der MacArthur-Bericht behauptet es und knüpft daran die Vermutung, Richard Sorge sei »ziemlich jung von den Erinnerungen an seinen väterlichen Großvater Adolph Sorge beeindruckt worden.«

Wirklich gibt es in der marxistischen Literatur einen Friedrich Albert Sorge, dessen Name in seinem Todesjahr 1906 vom »Biographischen Jahrbuch 1906« als Friedrich Adolph Sorge geführt wird. Er war Musiklehrer, nahm am »Badischen Aufstand« teil, wurde 1848 zum Tode verurteilt, flüchtete nach Genf und Lüttich und 1852 nach Amerika.

Er war nie der »Sekretär von Karl Marx«, wohl aber ein alter Mitstreiter und Freund der beiden Marx und Engels, seinen Briefwechsel mit ihnen und anderen Alt-Marxisten nennt Lenin eine Sache »von immenser wissenschaftlicher und politischer Bedeutung«. In New York gründete F. A. Sorge den »Deutschen Allgemeinen Arbeiterverein«, er wurde Sektionsleiter der ersten Internationalen und, nach der Ueberführung des Generalrats nach New York, Generalsekretär. 1874 legte er seine Aemter nieder. Engels schrieb darüber an Marx: »In New York haben die Krakeeler und Wichtigmacher im Generalrat die Majorität erhalten, und Sorge hat abgedankt und sich ganz zurückgezogen.«

Dieser Friedrich Albert Sorge, der 1906 starb, hatte mit seiner Frau Katharina einen Sohn Adolph, der Sorges Vater gewesen sein müßte. Sorges Vater heißt aber Hermann Alfred Richard Kurt nur eben nicht Adolph. Nun würden differierende Vornamen allein nicht viel besagen, denn Vornamenswechsel ist in der Familie Sorge nichts Erschütterndes. Als beispielsweise jüngster Sohn Richard, der Japan-Sorge, sich im Internat Schulpforta auszuzeichnen begann, wurde er der Liebling Vater Sorges, der seinen Rufnamen Kurt fallen ließ und sich hinfort nur noch Richard nennen ließ. Und Japan-Sorges Bruder, der Zweitjüngste, hieß eigentlich Martin, nannte sich aber Ernst, da seine zwei besten Freunde im Kadettenkorps auch Ernst hießen.

Aber abgesehen von der Namensdifferenz stimmen auch andere Daten nicht. Großvater Sorge wurde in Tübingen geboren und lebte meistens in Hildesheim. Der »Sekretär von Karl Marx«, Pfarrerssohn aus Sachsen, starb aber 1906 in Hoboken bei New York, wo er über ein halbes Jahrhundert gelebt hat. Die Sorges, die den Spion Richard hervorgebracht hatten, waren kaisertreue Leute, was man von den Marx-Jüngern nicht gut behaupten kann.

Andere Daten sind nicht erhältlich. Der einzige überlebende Bruder Richards (von vier Brüdern und drei Schwestern) ist der in München lebende Chemiker Dr. Hermann Sorge, mit nunmehr 68 Jahren der älteste Bruder. Er ist über Herkunft und Verbleib aller Sorges nur höchst mangelhaft unterrichtet. »Von dem Tode eines Bruders und der zwei Schwestern Martha und Anna haben wir nichts gehört.«

Von dem Lebenslauf seines Vaters weiß Dr. Hermann Sorge wenig, von dem seines Großvaters fast nichts. Auch das Sterbejahr seiner und Richards Mutter ist unbekannt. Das nimmt nicht weiter wunder, wenn man bedenkt, daß die schriftlichen Aufzeichnungen sich auf Eintragungen in einer alten Familienbibel beschränken, wobei es vorkommen konnte, daß für Bruder Ernsts Geburtstag nicht durchweg der 20. 10. 1894 angegeben wurde, was richtig gewesen wäre, sondern der 4. 10. 95, und das war Richards Geburtstag. Die Brüder Sorge kugelten fast durchweg auf Internaten herum, da die Familie erst ab 1912 richtig seßhaft wurde.

Vater Kurt Sorge war nämlich durch Vermittlung Sven Hedins in die Dienste der Kaiserlich-Russischen Oel-Kompagnie getreten, nachdem er schon früher für eine europäische Firma in Rußland gearbeitet und die Jekaterina Lwowna (genannt »Aina"), geborene Kobeleff, geheiratet hatte, ein lebhaftes, gemütvolles Mädchen aus Kiew. Vater Sorge war Mineningenieur. In Balachanz bei Baku wurde Richard Sorge geboren, das jüngste Kind. Es sollte später zwar sein Vaterland verraten, aber zugunsten seines Mutterlandes.

Sorge hatte in der Oel-Gesellschaft ziemlich bald freie Hand. Als Einkäufer von Maschinen und Materialien in Westdeutschland war er gern gesehener Gast bei Mannesmann, Thyssen und Phönix, mit Industriellen wie Springorum und Poensgen war er befreundet.

1898 kehrte Vater Sorge nach Deutschland zurück, blieb aber bis 1906 Einkäufer der russischen Gesellschaft. Er wohnte lange in Hildesheim, da er hoffte, bei den Oelbohrungen in der Lüneburger Heide einsteigen zu können, und in Koblenz, von 1911 bis 1912 in München. Die warmherzige Mutter bedauerte ihre Internatssprößlinge innig. 1912 zog die Familie Sorge nach Berlin-Lankwitz. Richard selbst wurde schon zehn Jahre früher Berliner. In dem von ihm selbst unterschriebenen Lebenslauf seiner Promotionsakten heißt es:

»Von meinem 6. Lebensjahr an besuchte ich die Oberrealschule zu Berlin-Lichterfelde, nachdem meine Eltern von Rußland während meines 3. Lebensjahres übergesiedelt waren. Die Lichterfelder Oberrealschule besuchte ich ohne Unterbrechung bis zum Ausbruch des Krieges, bei welchem ich mich sofort zum Heeresdienst meldete und Oktober 1914 als Freiwilliger nach Belgien ins Feld rückte. Eine 1915 erlittene Verwundung ermöglichte es mir, das Abiturienten-Examen nachzuholen und mich auf der Berliner Universität zu immatrikulieren.

»Nach weiteren, mehrmaligen Verwundungen, die einen Besuch der Universität zuließen, verließ ich im Frühjahr 1918 Berlin und bezog die Universität Kiel, an der ich mich in der staatswissenschaftlichen Fakultät immatrikulierte. Durch die Ausarbeitung meiner in Kiel begonnenen Dissertation veranlaßt, begab ich mich im Frühjahr 1919 nach Hamburg, um bei der Errichtung der hiesigen Universität an dieser zum Abschluß meiner Studien zu gelangen.«

Maikäfer mit hoher Hausnummer

Richard Sorge war in das Ersatzbataillon IR 91 eingetreten, und zu einem Infanterie-Regiment mit hoher Hausnummer ins Feld gezogen, für das die Berliner »Maikäfer« Ersatztruppenteil waren. »Vadder war ooch bei den Maikäfern gewesen, sollte es der Junge auch.« Ende 1916 war Richard Unteroffizier, als Unteroffizier war er zum Ersatztruppenteil der »Maikäfer« entlassen worden. Daß er noch Leutnant geworden sei, gehört zur Sorge-Legende. 1916 wurde er in Laon mit dem EK II gesehen.

Er war ein draufgängerischer Soldat, aber schon kaum mehr ein begeisterter Patriot. Er wurde im ganzen viermal verwundet, August 1917 in Rußland so schwer, daß aus einer Fraktur des rechten Oberschenkels eine Beinverkürzung von 2½ cm zurückblieb. Richard wurde aus dem Heeresdienst entlassen und zog zu seiner Mutter, die 1917 aus Lankwitz weg zum Reichskanzlerplatz 5 umgezogen war, nach dem Tode von Richards Vater Dezember 1914 in Bad Nauheim.

Diese Angaben der Frühzeit sind so lückenhaft, obwohl Richards Bruder Dr. Hermann Sorge, der in München-Pasing lebt, mit kramen geholfen hat. Dr. Hermann Sorge ist in den letzten Jahren so von der in- und ausländischen Presse überlaufen, daß seine 26jährige Tochter Barbara sich als seine Nichte ausgibt, um alle Besucher, die über Dr. Richard Sorge etwas wissen wollen, radikal abwimmeln zu können. Immerhin genügen die vorgebrachten Zeugnisse, um die Behauptung, Sorges Großvater sei der »Sekretär von Karl Marx« gewesen, absurd erscheinen zu lassen.

1919 zerstreitet sich der Student Sorge mit seiner kaisertreuen Familie. Der Titel der Arbeit, mit der er am 8. August 1919 zum Dr. rer. pol. promovierte, gibt keinen Aufschluß über die Verstimmung: »Die Reichstarife des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine«, 218 Seiten Maschinenschrift. Eher könnte der letzte Satz seines Lebenslaufs Aufschluß geben: »Nach erfolgreicher Prüfung werde ich als Assistent des Volkswirtschaftlichen Instituts der Technischen Hochschule in Aachen tätig sein.« Was tut Sorge in Aachen?

Lenin wälzte sich

Der weißhaarige Funktionär mit dem Seehundsbart und spätere »Außenminister der Ukraine« Dimitrij Zakharowitsch Manyilskij hatte ursprünglich enge Beziehungen zu Trotzkij, was im Stalin-Staat einem Todesurteil gleichkommt. Viele sind gestorben, die ein kleineres Sündenregister als Manyilskij, aber auch weniger Humor hatten als er. Schon Lenin wälzte sich vor Lachen in seinem Sessel, wenn Manyilskij ihm in den schwersten Stunden der Revolution durch trockene Witze die Sorgen vertrieb. Manyilskijs bekanntester Witz ist, daß jeder gute Witz in der Sowjet-Union von Manyilskij stamme.

Dieser humorige Herr hatte sein lebelang die schwere Sünde des Trotzkismus gutzumachen. Als ein Zwitter zwischen einer Art Hofnarr des Kreml und einer Art Erzpriester des orthodoxen Stalinismus hatte er dauernde Frontbewährung in der Komintern, dem Führungsorgan der kommunistischen Parteien aller Länder, um die Proletarier aller Länder fest an die kommunistische Partei der großen Sowjet-Union anzuketten.

Heute ist er, dem Vernehmen nach, bei Mao eingesetzt, Anfang der 30er Jahre betätigte er sich, zur gleichen Zeit wie Sorge übrigens, schon einmal in China. Im April 1924 sollte er den Zusammenbruch der deutschen Kommunistischen Partei, der durch die Moskauer Taktik verursacht worden war, rückgängig machen und die Partei erneut und stärker an Moskau binden.

Daß ihm dies im Jahre 1924 nicht gelang, verdankt er in erster Linie seiner Hauptwidersacherin Ruth Fischer. Sie schreibt über Manyilskij in ihrem Buch »Stalin und der deutsche Kommunismus": »Er behandelte die deutschen Genossen wie eine Bande allzu begeisterter und lästiger Jungen, die sich ständig in Erwachsenenprobleme einmischten, jene Probleme, die er mit seinem Kreis russischer Agenten, zu dem kein Ausländer Zugang hatte, zu diskutieren pflegte.«

Weiter im Kabel der Fischer: »Manyilskij hatte jedoch besseren Erfolg bei einem anderen wichtigen Auftrag, der ein Teil seiner Mission für Deutschland war. In Begleitung von GPU-Experten sollte er begabte deutsche Kommunisten aussuchen, die geeignet waren, in den russischen Geheimdienst einzutreten. Sorge wurde Manyilskij als ein Mann vorgestellt, der bereits mit kleineren Geheimaufträgen in der deutschen KP beauftragt worden war.

»Wir im Zentralkomitee wußten, daß deutsche Kommunisten für russische Dienste angeworben wurden, aber wir hatten in diesem Punkt keinen Einfluß - ein Grund für dauernde Reibungen zwischen uns und Manyilskij.

»Von da an nahm Sorge an der eigentlichen Parteitätigkeit nicht mehr teil, aber er hielt sorgfältig gesellschaftlichen Kontakt mit Parteifreunden, vielleicht zu Informationszwecken. Er reiste durch Deutschland und die europäischen Länder, mal unter falschem Namen, mal mit richtigem Paß, und erwarb sich große politische Erfahrung sowie eine ausgezeichnete Technik.« Soweit die kenntnisreichste Feindin Stalins und Sachverständige für Fragen der deutschen KP Ruth Fischer.

Sorge tat sogar noch ein übriges, indem er 1924 aus der KP austrat, angeblich, weil er sich mit seinem Mentor Professor Gerlach verzankt hatte. Der ist aber schon im Winter 22 auf 23 an Zucker gestorben. Zuletzt war er Direktor am neugegründeten »Institut für Sozialforschung« in Frankfurt, wo wiederum ab 1924 auch Sorge als Seminarist in einer der mönchsartigen Klausen anzutreffen ist. »Er zeigte jedoch seltsam wenig Interesse für die marxistische Theorie und widmete seine Aufmerksamkeit von Anfang an der Gegenwartspolitik«, berichtet Ruth Fischer. »Er überraschte seine marxistischen Genossen durch sein großes Interesse für Nazismus, Faschismus und Antisemitismus. Er richtete über diese Sparten ein Archiv ein und wurde bald einer der bestinformierten Experten für Nazismus, der damals noch eine unbedeutende Macht in Deutschland war und der marxistischen Gelehrten eines besonderen Studiums nicht wert erschien.«

Beide Sorges wohnten Ende 1924 in Frankfurt. Richard hat Christiane mitgebracht, sie wird Bibliothekarin im Institut.

Das Frankfurter Institut stand als Privatstiftung eines millionenschweren Frankfurter Kaufmanns Weyl in loser Verbindung zur Universität und hieß allgemein die »Kommunistenhochburg«, da es sich die Erforschung des wissenschaftlichen Marxismus zum Ziel gesetzt hatte. Wirklich waren die Lehrer mehr Kommunisten als irgend etwas sonst, aber sie haben, soweit sie heute noch leben, Stalin und dem Stalinismus fast ausnahmslos abgeschworen.

Der heutige Dekan für die philosophische Fakultät der Universität Frankfurt, Dr. Max Horkheimer, kennt Frau Christiane Sorge als »platinblond, sehr hübsch und etwas spitznasig«. Sie hieß allgemein nur »Ikarette«, da Richard »Ika« genannt wurde, von seinem Kindernamen her.

Auch Professor Horkheimer und der heutige Redakteur der »Deutschen Zeitung und Wirtschaftszeitung« Ernst Tripp, der Sorges Kommilitone von 1925 bis 1928 war, wie auch Ruth Fischer, kennen Sorges Großvater nur als »den von Marx und Engels geschätzten wissenschaftlichen Marxisten F. A. Sorge«. Christiane bestätigt: »Wir wußten nur sehr wenig von dem Großvater und sind der Namensgleichheit (Adolph Sorge = F. A. Sorge) zum Opfer gefallen. Wir merkten den Irrtum später durch Zufall.«

Damit ist klar, wieso der Irrtum in Frankfurt zustande kam. Merkwürdig ist, wieso er sich in den Bericht MacArthurs einschleichen konnte. Ja, wenn MacArthurs Nachrichtenchef Generalmajor Willoughby die Abstammung abgeleitet hätte! Der ist in bezug auf Vorfahren ein fixer Junge*). Aber als »Sekretär von Karl Marx« wird Sorge nicht nur in Willoughbys Bericht, sondern auch schon in den japanischen Akten apostrophiert. Sorge selbst hat diese Abstammung wider besseres Wissen den Japanern vorgeblasen. Man wird später noch darauf kommen, warum.

Sorge versäumte nicht, seinem Bruder Hermann und seinen sonstigen Verwandten ausführlich von seinem Bruch mit den Kommunisten zu erzählen. Laut Christiane tritt er sogar in die Anthroposophische Gesellschaft ein und beginnt den Anthroposophen-Vater Dr. Rudolf Steiner zu verehren. Nun ist unter Richards skurrilen Ideen auch für anthroposophische Metaphern Raum, beispielsweise seine »Wiedergeburt« zwischen dem Stacheldraht am Toten Mann. Aber Christiane scheint von Richards anthroposophischen Bindungen selbst nicht überzeugt zu sein. Nach ihrer Scheidung von Richard gestand sie dem Professor Dr. Leopold von Wiese in Köln, bei dem sie über ein soziologisches Thema aus Tolstois »Krieg und Frieden« promoviert hatte: »Es gab eine Zeit, da war ich nahe daran, in das politische Fahrwasser meines Mannes zu kommen.«

Die heute 60jährige amerikanische Staatsbürgerin hat naturgemäß ein Interesse daran, ihres »tapferen und mutigen Richard« Kommunisten-Verdienste klein zu schreiben. Aber vom Kommunismus, zu dem sie sich mehr wegen der großen russischen Schriftsteller hingezogen fühlte, hat sie sich bald losgesagt. Sie sattelte nach 1933 hauptberuflich auf Steiners Goethe-Kult um, wurde Waldorf-Lehrerin in Stuttgart und verließ 1938 mit der Schließung der Waldorf-Schulen Deutschland. Heute ist sie Abteilungsleiterin an der Rudolf Steiner School in New York.

Ueber die Jahre ab 1924 heißt es bei MacArthur: »Drei Jahre arbeitete Sorge im Moskauer Hauptquartier der Komintern, vermutlich, um die Grundlagen kennenzulernen. 1927 ging er über See, um seine Hasardeurkarriere zu beginnen. Unter dem Deckmantel eines obskuren deutschen Magazins verbrachte er zwei Jahre in skandinavischen Ländern und England als Sonderdelegierter des Nachrichtendienstes und des Organisationsbüros der Komintern.«

Das ist nun die Zeit von 1924 bis 1929, in der er, nur unterbrochen durch Reisen, am Soziologischen Institut in Frankfurt war. Das »obskure deutsche Magazin«, das ihm als Deckmantel gedient haben soll, wird an anderer Stelle als »Soziologisches Magazin« eingeführt. Der Schluß liegt nahe, daß hier das »Soziologische Institut« gemeint ist. 1925 war er mehrere Monate in den USA, 1927 mit seiner Frau Christiane in Italien und Südfrankreich, 1927/28 fast sieben Monate in USA und Kanada. Er schrieb für holländische, dänische, schwedische und deutsche Blätter und verdiente gut. Auch zur »Frankfurter Zeitung« hatte er schon Kontakt. Klar, daß die engsten Verwandten Sorges sich angesichts solcher Unstimmigkeiten weigern, den MacArthur-Bericht für echt zu halten. Sie sind aber nicht unerklärbar. Sorge schrieb sein Geständnis zwar selbst auf einer geliehenen Schreibmaschine. Aber es mußte ins Japanische übersetzt und zu diesem Zwecke von den Japanern mißverstanden werden. Dann mußte die schwierige Materie ins Englische rückübersetzt werden. Die Amerikaner konnten aber bei Sorge nicht mehr rückfragen, er war tot. Sie verstanden ihrerseits alles Mögliche falsch. Und endlich hatte Sorge in einigen Punkten ein offensichtliches Interesse, zu frisieren. In MacArthurs Bericht stehen Dinge, die nur Sorge selbst zu Papier gebracht haben kann, beispielsweise, daß Dimitrij Manyilskij sein Freund und Gönner geblieben sei.

Laut MacArthur war es Sorges Aufgabe 1927 bis 1929, »mit den lokalen kommunistischen Parteien hinsichtlich der Sammlung, Verwertung und Uebermittlung von Informationen über Arbeiterprobleme und kommunistische Initiative zusammenzuarbeiten. Teilweise scheint es auch seine Aufgabe gewesen zu sein, die lokalen kommunistischen Organisationen zu beraten und aufzumuntern.« Das ist nun zweifellos keine erschütternd wichtige Aufgabe. Die Komintern-Oberen scheinen Sorge Zeit und Gelegenheit gegeben zu haben, zu reisen und sich Erfahrungen zu sammeln, wie es ihm paßte. Entweder war er ihnen nicht wichtig genug, um von ihnen in die Mache genommen zu werden, oder sie hatten erkannt, daß sie damit bei ihm kein Glück haben würden.

Jedenfalls findet sich in keiner Veröffentlichung eines abgefallenen Kommunisten der Name dieses fabelhaften Richard Sorge. Nur Hede Massing, Gerhard Eislers erste Frau, will durch Sorge beim Chefagenten der GPU für Westeuropa, dem 1937 ermordeten geheimnisvollen »Ludwig«, eingeführt worden sein.

Für mich war er der Mann

»Soweit ich wußte, war Sorge Forschungsgehilfe am Marx-Engels-Institut in Moskau«, schreibt unrichtigerweise Frau Massing, deren vornehmster Ehrgeiz zu sein scheint, mit möglichst vielen Agenten entweder verheiratet oder in eine nach ihrer Meinung erotische Sphäre eingetaucht gewesen zu sein. »Das war Ika Sorge, der mir beibrachte, wie einsam und asketisch das Leben eines 'Apparatschik' sich abspielt, ohne Freundschaften, ohne Bindungen, ohne Sentimentalitäten. Ich sah in ihm einen Helden der Revolution, den wahren Helden, den stillen Helden, über den niemand spricht. Für mich war er der Mann, von dem Rilke in seinem Gedicht sagt: 'Ich bin der Eine' ...« und weiter so in dieser Tonart.

Das Milieu der beiden Sorges in Frankfurt wird von Hede Massing treffend beschrieben: »Ihre Wohnung war der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens dieser Gruppe. Ich erinnere mich, wie altmodisch alles war, mit den antiken Möbeln, die Christiane aus ihrer Vergangenheit als Frau eines reichen bürgerlichen Wissenschaftlers mit herübergebracht hatte. Da war eine feine Sammlung moderner Bilder und seltener alter Stiche. Ich war beeindruckt durch die Leichtigkeit, mit der sich das Leben im Hause abspielte. Ich mochte diese Mischung von ernsten Gesprächen und Lebensfreude.

»Ika, der einfache, unkonventionelle Kleider bevorzugte, war ein Feinschmecker und Weinkenner und erzählte gern Tierfabeln. Er paßte nicht in das Schema des deutschen Durchschnittskommunisten, er so wenig wie Christiane. Sie entfalteten mehr Feingefühl und Geschmack, als in deutschen Kommunistenkreisen üblich war. Ich mochte sie beide sehr gern. Wir haben uns einige Male gesehen«, bis hierher stimmt die Erzählung, »da verzogen sie plötzlich nach Moskau, um am Marx-Engels-Institut zu arbeiten«, und davon stimmt kein Wort.

Kein Wort stimmt davon, daß Christiane im Auftrag des Marx-Engels-Instituts für viele Jahre nach England ging. Sie war nie länger in England. Von Hede Massings Feststellungen bleibt übrig, daß Sorge sie an »Ludwig« vermittelt habe - er ist so tot wie Sorge - , daß sie im Auftrag Sorges drei russischen Genossen europäische Manieren beigebracht habe, und daß Sorge ihr im Jahre 1928, aus Moskau kommend, Grüße von ihrem zukünftigen dritten Gatten Paul Massing überbracht habe. Auch Massing ist tot.

Durch Hedes zweiten Mann dagegen lernte Sorge Agnes Smedley kennen, seine spätere »Mitschuldige« nach der Version des MacArthur-Berichts. Dieser zweite Mann, Dr. Julian Gumperz, war in Berlin Verlagsbuchhändler und Besitzer des nichtamtlichen kommunistischen Malik-Verlages. Er war in Amerika geboren und hatte die amerikanische Staatsbürgerschaft, mit deren Teilhaberschaft sich Hede später zu »Stalins Spionin in den USA« aufschwingen konnte. (Sie bereute inzwischen und sagte in dem Prozeß gegen Alger Hiss aus).

Julian Gumperz las in Berlin das noch unveröffentlichte Skript der amerikanischen Studentin Agnes Smedley, die 1927/28 in Berlin studierte. Er übersetzte es für die »Frankfurter Zeitung«, wo es unter dem Titel »Eine Frau allein« herauskam. Es war ihre eigene Biographie Ihre Mutter war Farmerstochter, mußte aber als Waschfrau gehen, während der trunksüchtige Vater die Familie prügelte Agnes stahl für ihre jüngeren Geschwister. Sie wurde Werkstudentin und trat während des ersten Weltkrieges in die Reihen der indischen Revolutionsbewegung, wo sie die Kolonialmethoden (und die Engländer) hassen lernte. Sie hat selbst Indianer- und jüdisches Blut sowie Quäker-Vorfahren. In ihrem Kampf gegen die Unterdrückung verrannte sie sich in den Gedanken, die Liebe sei die Feindin der Frau.

Sorge sagte in Frankfurt über sie: »Das ist eine ganz herrliche Frau. Sie rührt die mit dem Kommunismus dilettierenden Söhne und Töchter der Frankfurter Kapitalisten auf. Ja, sie ist imstande, das soziale Gewissen eines ohnehin menschenfreundlichen Fabrikanten aufzuschrecken. Logisch-mathematisch, systematisch ist sie eine Null, allerdings eine, die eine davorgesetzte Ziffer zu ihrem zehnfachen Wert erhöht.«

Die Smedley kam 1928 zum Abschluß von »Eine Frau allein« nach Frankfurt. Die »Frankfurter Zeitung« engagierte sie als Fernost-Korrespondentin. Der Sinologe Richard Wilhelm, der die »Frankfurter Zeitung« bis dahin vertreten hatte, wollte nämlich heim nach Frankfurt. Er wurde Leiter der Deutsch-Chinesischen Gesellschaft, in deren Auftrag Sorge nach China gehen sollte, und wenn es stimmt, daß auch die Smedley eine Agentin war, dann hat er indirekt zwei Sowjet-Spionen nach China weitergeholfen.

Opfer Ott

Wieder Ruth Fischer: »1928 entschlossen sich Moskauer Behörden, eine Anzahl deutscher und amerikanischer Kommunisten für den Fernost-Sonderdienst auszubilden. Sorge erhielt Anweisung, sich eine seriöse Tarnung für eine wichtige Fernost-Mission aufzubauen Freunde im Institut rieten ihm, die Mitgliedschaft der Deutsch-Chinesischen Gesellschaft zu erwerben, deren Empfehlung ihm Zugang zu angesehenen bürgerlichen Institutionen und Organisationen mit Kanälen nach Ostasien verschaffen würde.«

Durch seine fachwissenschaftlichen Arbeiten im Bankfach fand sich diese privatgeförderte Gesellschaft dazu bereit, Sorge 1929 mit dem Auftrag nach China zu schicken, Ursprung und Entwicklung des chinesischen Bankwesens, des alten chinesischen Wechsel- und Scheckrechts zu erforschen. Der Vertrag zwischen Sorge und der Deutsch-Chinesischen Gesellschaft lief zuerst einmal auf zwei Jahre mit vorgesehener Verlängerung um ein weiteres Jahr. Sorge erhielt ein monatliches Gehalt von 500 US-Dollar außer besonderen Reise- und Forschungsspesen. Diese Summe, die in jener Zeit 1400 Dollar max. betrug, sicherte Sorge ein ungebundenes und sorgenfreies Leben.

China war die erste kürzere Etappe zu der weit wichtigeren Aufgabe Japan. China war nur ein Uebergang, wobei sich Sorge auch in China hauptsächlich mit der Beobachtung der japanischen Absichten beschäftigte. In Japan erst traf er das Opfer seines Lebens, den Oberstleutnant im Generalstab Eugen Ott.

Fortsetzung folgt

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*) Hermann Graf von Keyserling, Kulturphilosoph, 1880-1946. **) Tochter eines holländischen Hutmachers, richtiger Name Gertrud Margarete Zelle, Tänzername javanisch: Mata = Auge; Hari = Tag; Mata Hari = Sonne. Am 15. Oktober 1917 von den Franzosen wegen Spionage hingerichtet.*) Im »Who''s who in America«, Ausgabe 1950/51, steht Willoughby als Sohn des Freiherrn T. von Tscheppe und Weidenbach und der Emma von Tscheppe und Weidenbach, geb. Willoughby, geboren in Heidelberg am 8. März 1892. Unter dem 8. März 1892 ist im Heidelberger Register aber nur die Geburt eines Adolf August Weidenbach eingetragen, als Vater der Seilermeister August Weidenbach, als Mutter die Emma, geborene Langhäuser. So entstehen Legenden.

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