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ISRAEL Absolute Gerechtigkeit

Mit dem Prozeß gegen den SS-Schergen Demjanjuk will Jerusalem die Erinnerung der jungen Generation an den Holocaust schärfen. *
aus DER SPIEGEL 11/1986

Der El-Al-Flug 004 aus New York landete pünktlich. Ein breitschultriger, untersetzter Mann in braunem, zerknittertem Anzug verließ als erster den Jumbo-Jet in Tel Aviv. Er lächelte, als er die Gangway herabstieg, und machte Anstalten, den Boden des Heiligen Landes zu küssen.

Doch seine Begleiter rissen ihn hoch und verwehrten den Kniefall. Der Besucher war kein frommer Pilger, sondern der erste je von den USA an Israel ausgelieferte Kriegsverbrecher: John Iwan Demjanjuk, 66.

24 Jahre nachdem Adolf Eichmann wegen Völkermordes gehängt, seine Leiche verbrannt und die Asche über dem Mittelmeer verstreut wurde, sitzt Demjanjuk seit vorletzten Freitag als »Vollstrecker des Grauens« - so der Untersuchungsoffizier Menachem Russek - im israelischen Ajalon-Gefängnis. Er wird beschuldigt, 1942/43 in Treblinka als sadistischer Handlanger der SS bei der Vergasung von 875000 Juden mitgewirkt, viele eigenhändig mißhandelt, gefoltert und ermordet zu haben. »Er war grausamer, als Worte es zu schildern vermögen«, erinnert sich Aharon Gelbar, ein Treblinka-Überlebender.

Nach Eichmann, dem Schreibtisch-Täter, wollen die Israelis nun den Henker Demjanjuk richten. Der Prozeß könnte ähnlich starke Emotionen auslösen wie das Verfahren gegen Himmlers obersten Organisator des Juden-Transportes in die Vernichtungslager.

Von allen nach Treblinka deportierten Juden - darunter fast die gesamte Bevölkerung des Warschauer Gettos - überlebten nur einige Dutzend. Etwa 30 SS-Männer besorgten diesen systematischen Massenmord, unterstützt von rund 120 ukrainischen Gehilfen - in deutsche Gefangenschaft geratenen Rotarmisten.

Unter denen tat sich Demjanjuk, von den Häftlingen als »Iwan Grosny« (Iwan der Schreckliche) gefürchtet, besonders hervor. Der Mann hatte als Artillerist bei der Roten Armee gedient. Im Krim-Feldzug geriet er in Gefangenschaft und meldete sich freiwillig zu Hilfsdiensten für die SS, die ihn in der »Todesfabrik Treblinka« einsetzte. 1945 floh er nach Deutschland und wanderte sieb-en Jahre später in die USA aus.

Über zwei Jahre lang wehrte sich Demjanjuk gegen Israels Auslieferungsbegehren: Er sei nie in Treblinka gewesen, Zeugen, die ihn identifizierten, irrten sich. Alle Dokumente und Photos seien »Fälschungen des KGB«.

Vergebens - nach seiner Überführung muß sich der Häftling vor drei Richtern in Jerusalem verantworten, aufgrund eines im August 1950 erlassenen »Gesetzes gegen Nazis und Nazi-Helfer«. Höchststrafe: Tod durch den Strang.

Der geplante Prozeß löst in Israel nicht nur Genugtuung aus. Wie im Eichmann-Verfahren werden auch diesmal juristisch spitzfindige Einwände vorgebracht. So sei es fragwürdig, einen Ausländer zu verurteilen, der Verbrechen gegen Juden zu einer Zeit verübt habe, als es den Staat Israel noch gar nicht gab - man hätte ihn deshalb, meinen viele Israelis, besser den Sowjets aushändigen sollen, die von Washington auch die Auslieferung verlangt hatten: »Die hätten sich seiner zuverlässig entledigt.«

Die Behörden in Jerusalem beanspruchen zumindest ein moralisches Recht. Wenn Israel - als Erbe des jüdischen Volkes - von den Deutschen Wiedergutmachungszahlungen erhalte, dann habe es auch das Recht und die Pflicht, Nazi-Massenmörder zu verurteilen.

Das sei »ein wichtiges Warnzeichen, daß Völkermord nicht unbestraft bleibt«, glaubt Jizchak Arad, Direktor der Jad-Waschem-Gedenkstätte in Jerusalem. Außenminister Schamir versichert, dieser Prozeß bringe »absolute

Gerechtigkeit, und Justizminister Nissim bezeichnet ihn gar als »für die Erziehung unserer Jugend bedeutsam«.

Daß ein solcher Erziehungsbedarf besteht, scheint unbestritten. 60 Prozent der israelischen Staatsbürger sind nach dem Krieg geboren, und bei Israels selbstbewußter Jugend ist die Erinnerung an die Zeiten des Holocaust wieder verblaßt. So deckte eine Zeitungsumfrage unter Tel Aviver Mittelschülern ein »erschütterndes Unwissen« auf:

Ein 15jähriger Schüler wähnte, der Genozid an den europäischen Juden habe sich »im Ersten Weltkrieg abgespielt«. Ein anderer wußte mit Auschwitz nichts anzufangen und definierte Nazis als »grausame Ägypter«. Ein dritter befand, nie über die Bedeutung des Holocaust nachgedacht zu haben.

Solche Unkenntnis seiner Jungbürger hofft Israel, dessen staatliche Identität auch auf das Erlebnis des Holocaust gegründet ist, durch den Prozeß gegen »diesen monströsen Agenten der Endlösung« ("Jerusalem Post") zu beseitigen. Es gelte nicht, die Vergangenheit zu bewältigen, sondern vielmehr, die Erinnerung zu wahren. Daß die bei den Jungen so rasch verblassen konnte, haben die Israelis sich nach eigenem Bekunden selbst zuzuschreiben. Es sei ein Skandal, »daß Israel nicht mehr tat, um Nazi-Massenmörder zu fassen«, schimpft der Jurist Gideon Greif. »Die Jagd nach Nazi-Kriminellen müsse weitergehen«, fordert auch der ehemalige Mossad-Chef und Eichmann-Häscher Isser Harel.

Jizchak Raveh, einer der drei Richter Eichmanns, fürchtet dagegen, der Demjanjuk-Prozeß werde weder pädagogisch noch juristisch sein Ziel erreichen. Spektakuläre Kriegsverbrecher-Prozesse sollten ausschließlich gegen prominente Nazis, nicht gegen Handlanger geführt werden. Auch der Historiker Jehoschua Arieli hätte es vorgezogen, »wenn Demjanjuk an Cholera gestorben wäre«.

Den Einwand, der Henker sei nur ein kleiner Fisch, sein Verfahren werde daher die symbolische Bedeutung des historischen Eichmann-Prozesses entwerten, lassen Holocaust-Überlebende und ihre Nachkommen nicht gelten. Auch Eichmann sei ja letztlich nur ein kleiner (Schreibtisch-)Täter gewesen. Wichtig sei »damals wie jetzt, den ganzen Nazi-Apparat an den Pranger zu stellen, Politiker, Wissenschaftler, Erzieher, Soldaten - ein ganzes Volk, das die Endlösung betrieb«, so die Leiterin des Holocaust-Museums im Kibbuz Lochamej Haghetaot.

Die Lehrerin Zippi Kichler-Gilad, 39, Tochter von Überlebenden des KZ Bergen-Belsen, hofft: »Das wird der Jugend die Bedeutung des Zionismus und unseres Staates zeigen. Vielleicht werden dann weniger vor der US-Botschaft Schlange stehen, um die Einreise nach Amerika zu beantragen.«

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