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Franziska Dübgen Erwiderung auf Salah Mosbah Salah Mosbah eröffnet in seinem Artikel ein höchst beeindruckendes Tableau an unterschiedlichen, methodologischen Strategien der Aneignung und Übersetzungen des Begriffs der Toleranz im arabischsprachigen Kontext. Dabei setzt er ›arabisch‹ nicht mit ›islamisch‹ gleich (wie Akteure im Westen durch unzureichende Kenntnisse oft geneigt sind), sondern eröffnet eine Vielfalt an im Arabischen geführten Diskurssträngen über den Begriff, welche die christlichen, jüdischen, islamischen, islamistischen, säkularen, panarabischen und sozialistischen ›Hermeneutiken‹ umfassen. Er unterscheidet zwischen zwei grundlegend verschiedenen Antwortstrategien, welche den Diskurs um die Frage nach der Toleranz im arabischsprachigen Kontext strukturiert haben: Erstens, die Möglichkeit des Imports ›westlicher‹ Ideen und die dadurch resultierende Imitation westlicher Diskurse und Praktiken sowie, zweitens, die Wiederbelebung klassischer arabischer und islamischer Antworten auf kollektive Problemlagen. So würden im Rahmen der ersten Strategie beispielsweise westliche Toleranzdiskurse ins Arabische übersetzt oder danach gefragt, wie sich Fortschritt und Aufklärung in der arabischen Welt konzeptualisieren lässt. Im Rahmen der zweiten Variante werden klassische Koranverse in Bezug auf Fragen der Toleranz neu interpretiert oder aufgezeigt, inwiefern arabische politische Gemeinschaften historisch Toleranz praktiziert haben. Letzteres hat zum Ziel nachzuweisen, dass ›Toleranz‹ auch ein arabischer Wert ist und in diesem Kulturraum Wurzeln hat. Eine dritte Gruppierung, die beide Variationen ablehnt, ist die jihadistische Variante, welche sich radikal gegen den Westen wendet. Ihr Horizont ist die Umma, die Gemeinschaft und Einheit der Gläubigen, und ihr Ziel besteht in der Rückkehr zu einem ›reinen Ursprung‹. Die vorgestellte Einheit würde durch den Toleranzdiskurs gefährdet. Es bedürfe also einer Intoleranz gegen die Toleranz. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums gibt es ebenfalls Tendenzen, die sich dieser Zweiteilung entziehen, aber auf eine ganz andere Art und Weise: und zwar die (säkularen) sozialen Bewegungen, die sich für globale Gerechtigkeit aktivistisch einsetzen und Werte wie ›Freiheit‹ und ›Gleichheit‹ als kollektives Gut der Menschheit – und eben nicht als ›westlich‹ – begreifen. Damit entziehen sie sich der Dichotomie zwischen Ost und West und negieren die Vorstellung, eine Idee habe einen fixierbaren kulturellen oder geografischen Ursprung und sei damit dieser Kultur angehörig. Wo können wir Mosbahs eigenen Standort in dieser vielschichtigen Debatte verorten? Sein dekolonialer Ansatz verfolgt zunächst die Strategie, die Toleranzdebatte zu provinzialisieren, indem ihre spezifisch 70 https://doi.org/10.5771/9783748911845-70 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 22:30:09. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. ERWIDERUNG europäisch-christliche Genese und Imprägnierung sowie der orientalistische Unterton einiger ihrer Schriften betont wird. Als weiteren Schritt übt Mosbah, in Anlehnung an Walter Mignolo, »epistemischen Ungehorsam«1 : Er lehnt die durch den Westen vorgegebene Fragestellung ab und plädiert stattdessen dafür, darüber nachzudenken, wie sich über Vielfalt auch jenseits des Toleranzdiskurses konstruktiv nachdenken liesse. Dabei okkupiert eine solche dekoloniale Herangehensweise nicht den Standpunkt des Universellen (wie es die Toleranz als eine Art Meta-Norm vorgibt), sondern bemüht sich um eine friedliche, transkulturelle Debatte auf der Basis einer ›pluralen Universalität‹. Als weiteren zentralen Begriff führt Mosbah denjenigen der Menschenwürde ein, der als neues Fundament und als ein Referenzpunkt für diese neue Debatte über Vielfalt dienen soll. Diese vermeintliche Fokusverschiebung weicht gewissen Problemen jedoch eher aus, als sie zu lösen. Der dekoloniale Blick Mosbahs scheint um normative Enthaltsamkeit bemüht: Er will keine universelle Norm fixieren, um sie Anderen aufzuoktroyieren. Er verharrt auf dem taktischen Plateau eines antihegemonialen Stellungskriegs gegen den Imperialismus westlicher Normen aus einer postkolonialen, subalternen Position heraus. Um diesen Zustand der Hegemonie zu überwinden, scheint es jedoch dringlicher denn je, einen machtreflexiven, transkulturellen Polylog über die Bedingungen des globalen Zusammenlebens zu führen. Schließlich stellt sich auf der Basis der – legitimen – Forderung nach einem respektvollen, gleichwertigen Miteinander der ›Vielfalt‹ menschlichen Lebens erneut die Frage nach den globalen und lokalen Bedingungen einer solchen Koexistenz. Was sind Normen, die alle Menschen respektieren sollten, damit radikale kulturelle und soziale Vielfalt in der Welt weiterhin möglich bleiben? Gibt es innerhalb der bestehenden Vielfalt auch eine Andersartigkeit, welche die bestehende Diversität bedroht? Denken wir hier nur an totalitäre Ideologien, welche auf die Homogenisierung des Sozialen abzielen oder an extreme Formen von Ausbeutung und Ungleichheit. Und zuletzt stellen sich auch folgende Fragen dringlicher denn je: Wie gehen wir mit der Heterogeneität innerhalb der eigenen Gesellschaft um? Transkulturalität ereignet sich nicht vorrangig zwischen Staaten, Kulturen oder Kontinenten, sondern innerhalb des sozialen Nahbereichs. Ein solcher ›postkolonialer‹ Diskurs muss seinen Ausgangspunkt vielleicht in der Tat nicht bei einem Toleranzbegriff nehmen, welcher u. a. historisch prominent als Duldung Andersgläubiger konzeptualisiert worden ist – eben weil Duldung in der Tat eine hierarchisierende, abwertende 55 1 Walter D. Mignolo, Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Lo­ gik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität, Wien/Berlin: Turia + Kant 2012. 71 https://doi.org/10.5771/9783748911845-70 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 22:30:09. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. FRANZISKA DÜBGEN Komponente enthält.2 Statt den Begriff neu zu kodieren, sich anzueignen oder eine progressive Variante dieses Diskurses zu befürworten, kann ein transkultureller Dialog auch von anderen Begriffen, beispielsweise demjenigen der Menschenwürde, seinen Ausgang nehmen. Hierin stimme ich mit Mosbah völlig überein. Die mit diesen Konzepten verbundenen Fragen werden damit jedoch nicht notwendig Andere; allein das Register, in dem sie gestellt werden, ändert sich. Wenn diese Verschiebung oder Pluralisierung der Register eine Voraussetzung für einen angemesseneren Polylog über das gemeinschaftliche Zusammenleben in einer heterogenen, postkolonialen Welt ist, so kommt dieser Forderung auf einer Ebene der epistemischen Gerechtigkeit unbestreitbar Berechtigung zu. Die dekoloniale Position lässt diesen Polylog jedoch nicht obsolet werden, vielmehr führt sie uns die Dringlichkeit einer solchen normativen Debatte in der zeitgenössischen Welt verstärkt vor Augen. 56 2 Vgl. R. Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gestalt und Gegenwart ei­ nes umstrittenen Begriffs, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. 72 https://doi.org/10.5771/9783748911845-70 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 22:30:09. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.