soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 12 (2014) / Rubrik "Sozialarbeitswissenschaft" / Standort Graz
Printversion:
http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/333/573.pdf
Christian Reutlinger 1 :
Hellsehen, Orakeln, Interpretieren
Ein Spiel mit den Zukünften der Sozialen Arbeit
Unter Mitarbeit von Christina Vellacott
Festvortrag im Rahmen der Tagung „Sozialarbeit – falsch verbunden? Zukunft von
Praxis und Forschung, Profession und Wissenschaft“ am 25. April 2014 an der FH
JOANNEUM Graz.
„Die Zukunft kann man am besten voraussagen, wenn man sie selbst gestaltet.“
(Kay 1989)
1. Einstieg: Mögliche Zugangsweisen zur Zukunft
Ich (alleine) weiß, wie die Zukunft der Sozialen Arbeit sein wird. Vertrauen Sie mir!
Ich werde Sie gleich in die verborgenen Geheimnisse einweihen und Sie und Ihre
Einrichtung im Anschluss auch gerne fachlich beraten. Kaufen Sie meine Rezepte,
denn sie lösen all Ihre Probleme. Mit meinem Wissen und meinen Leitsätzen haben
Sie die Garantie, dass Sie und Ihre Arbeit auch morgen und übermorgen noch
gebraucht werden. Wir werden zusammen die Gesellschaft verändern. Gemeinsam
bauen wir eine bessere Welt auf der Basis der besten Bestandteile unserer
Profession. Folgen Sie mir in die Zukunft, denn nur ich vertrete die Wahrheit!
Hätte ich, meine sehr geehrten Damen und Herren, eine solche Vision von Sozialer
Arbeit, könnte ich zu Ihnen heute als Heilsbringer und Prophet sprechen. Ich würde
in ähnlichem Duktus weiterreden und Sie in den folgenden 45 Minuten von meiner
Zukunftsvision für die Soziale Arbeit überzeugen, Sie mitreißen – man könnte auch
sagen, Sie bekehren.
Besonders erfolgversprechend für ein solches Unterfangen wäre es aufzuzeigen, wie
schlecht sich in den vergangen Jahren alles entwickelt hat: Ökonomisierung,
sozialstaatlicher Abbau, Bürokratisierung, Entfremdung, Entpolitisierung oder
Entprofessionalisierung wären wichtige Schlagworte. Ausgehend von der Analyse
des Vergangenen, welche zu einem negativen Ist-Zustand führte, würde ich der
Sozialen Arbeit eine düstere, ja schwarze Entwicklung prognostizieren. Meine
Zukunftsvision wäre hingegen hell, gut und vor allem einfach verständlich.
Wäre die Welt so einfach, dann hätte ich mich bei den Vorbereitungen des heutigen
Referates nicht so schwer tun müssen. Leider muss ich Sie enttäuschen. Ich kann
Ihnen heute keine einfache Vision der Sozialen Arbeit und ihrer Zukunft mitbringen,
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geschweige denn ein klares Zukunftsbild der Sozialen Arbeit zeichnen. Denn die
soziale Realität ist dermaßen komplex, dass ich lediglich versuchen kann, Ihnen
anhand möglichst differenzierter und vielfältiger Farbtöne einige Gedanken zu
skizzieren. Das Ziel ist für mich erreicht, wenn wir im Anschluss über zentrale Fragen
ins Gespräch kommen. Dieser vielleicht ernüchternde Anspruch hat letztlich damit zu
tun, dass ich mich persönlich nicht als Hellseher und Heilsbringer verstehe.
Gleichzeitig stecke ich in folgendem Dilemma: Ich kenne die Zukunft nicht, kann sie
nicht vorhersehen. Trotzdem bin ich kein Fatalist und will nicht alles dem Zufall
überlassen, vielmehr habe ich den Anspruch im Hier und Jetzt bewusst zu agieren.
„Wir dürfen nie vergessen, daß die Zukunft zwar gewiß nicht in unsere Hand
gegeben ist, daß sie aber ebenso gewiß doch auch nicht ganz außerhalb
unserer Macht steht.“ (Epikur/Laskowsky 1988: 42)
Als Konsequenz daraus bleibt mir die Möglichkeit, Anhaltspunkte oder Hinweise zu
skizzieren, die verschiedenste Interpretationen zulassen. Wählt man diesen Weg, so
ergeben sich mindestens zwei mögliche Figuren. Einmal wäre es möglich, Hinweise
oder Zeichen von mir zu geben, die gegenwärtige oder zukünftige Entwicklungen
zwar ansprechen, letztlich aber vage bleiben. Diese Variante kennen wir von den
alten Griechen, die nach Delphi pilgerten und dort das Orakel Pythia befragten und
darüber Kontakt mit Apollon, dem Gott der Weissagung, aufnahmen. Da Pythia sich
kompliziert und abstrakt ausdrückte, benötigten die Griechen weitere Figuren, wie
bspw. die Priesterin, die das Orakel interpretierte. Hinter beiden Figuren liegen
verschiedene Schwierigkeiten. In der Rolle des Orakels müsste ich eine direkte
Verbindung nach ganz oben haben, sonst wären die Zeichen aus der Luft gegriffen
und ich könnte kaum glaubhaft was zum heutigen Thema sagen. Die Rolle des
Interpreten benötigt wiederum eine nachvollziehbare Datenbasis, denn nicht jede
eignet sich für stichhaltige Zukunftsvisionen.
Diese Schwierigkeiten sind all denjenigen bekannt, die einmal im Jahr an Silvester
Bleigießen. Auch wenn das Vorhersagen von Entwicklungen fürs kommende Jahr in
zentralen Lebensbereichen wie der Liebe, dem Beruf oder der Gesundheit ein
schönes Familienevent darstellt und die gemeinsame Zeit mit Kindern und Freunden
bis zum Feuerwerk verkürzt, so ist die Aussagekraft doch ziemlich zweifelhaft. Auch
ein gut sortiertes Deutungsbüchlein für Bleiguss vermag diese Zweifel nicht zu
zerstreuen. Hier sind also sowohl Datenlage wie Interpretation problematisch. Da
Orakeln für mich wegen mangelnden Verbindungen zu höheren Mächten nicht in
Frage kommt, bleibt für mich als Wissenschaftler lediglich das Interpretieren. Hierfür
benötige ich eine Datenbasis, der ich einigermaßen vertrauen kann.
Schließlich müssen wir auch mit folgender Tatsache umgehen: Auch wenn wir eine
Datenbasis haben, der wir vertrauen können und mir eine nachvollziehbare
Interpretation gelingt, können bei der Ausgestaltung des Lebens und damit der
Zukunft viele unberechenbare Faktoren hinein spielen. Der französische Schriftsteller
Marcel Proust schrieb hierzu:
„(…) wir stellen uns eben die Zukunft wie einen in einen leeren Raum
projizierten Reflex der Gegenwart vor, während sie oft das bereits ganz nahe
Ergebnis von Ursachen ist, die uns zum größten Teil entgehen“ (Proust 2000)
Die Konsequenz aus Prousts Überlegung ist, dass immer mehrere, nicht in Stein
gemeißelte Möglichkeiten existieren. Denn es geht nie genau gleich weiter wie
geplant oder wie das Sprichwort besagt: Erstens kommt es anders und zweitens als
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man denkt. Deshalb spreche ich nicht von der Zukunft, sondern angesichts mehrerer
Möglichkeiten von Zukünften.
In diesem Sinne werde ich in meinen Ausführungen eine Auslegeordnung
unterschiedlicher Anhaltspunkte zukünftiger Entwicklungen von Sozialer Arbeit
anbieten. Ich werde mich dabei auf meine Rolle als Sozial- und
Erziehungswissenschaftler beziehen, der sich seit Jahren forschend sozialen und
genauer sozialräumlichen Zusammenhängen nähert und versucht, diese zu
verstehen.
Meine
Schlussfolgerungen
sollen
jedoch
für
mehrere
Interpretationsmöglichkeiten offen bleiben. Ihre Aufgabe ist heute, selber eigene
Schlüsse zu ziehen und sich dadurch die Zukünfte zu eigen machen. Dieses
Vorgehen sollte durchaus auch einen spielerischen Charakter haben. Wie beim
Bleigießen lässt die Datenbasis vielfältige Spielräume für Interpretationen zu.
2. Zukunftsforschung: Was dürfen wir hoffen? (Platon)
Bei den vorbereitenden Überlegungen zu meinem Referatsthema, welches bei der
Anfrage „Die Zukunft der Sozialen Arbeit“ lautete und sich dadurch überfordernd
mächtig anhörte, ist mir als erstes folgendes aufgefallen: In unserem Alltag berufen
wir uns ständig auf Zukunftsszenarien; die Wettervorhersage ist beispielsweise für
viele unglaublich wichtig für ihre Freizeit- oder auch Arbeitsplanung. Andere stützen
sich auf Horoskope in Tageszeitungen oder von astrologischen Gutachtern und
verhalten sich entsprechend. Umso vager eine Zukunftsvorhersage formuliert wird,
desto weniger anfällig ist sie für eindeutige Fehler und daraus resultierende
Enttäuschungen. Aber weshalb sind wir überhaupt angewiesen auf Prognosen der
Zukunft? Um diesem Sachverhalt systematischer nachzugehen, konsultierte ich
Literatur zur so genannten Zukunftsforschung.
Zweck der Zukunftsforschung: Zukunftsforschung soll laut dem Physiker und
Zukunftsforscher Rolf Kreibich Zukunftsmodelle entwickeln, Entwicklungen und
Dynamiken transparent machen, Optionen eröffnen und aufzeigen, wie es weiter
gehen sollte oder könnte und dabei handlungsleitend sein, ohne direkte
Handlungsanweisungen zu geben (vgl. Kreibich et al. 1997). Der Zukunftsforscher
Matthias Horx, einer der profiliertesten und einflussreichsten Zukunftsforscher im
deutschsprachigen Raum, meint in seinem 2013 erschienen Buch „Zukunft wagen“:
„Es geht nicht in erster Linie darum, nach vorne zu schauen. Es geht darum,
wie wir auf uns zurück blicken, wenn wir nach vorne blicken. Wir wollen uns mit
der Zukunft beschäftigen, damit wir uns besser kennenlernen.“ (Horx 2013: 12)
Methoden der Zukunftsforschung: Aktuelle Zukunftsforschung arbeitet mit einem Mix
aus komplexen Berechnungen und Prospektionen, mit Visionen und Szenarien:
Zukunftsforscher schaffen damit Entwürfe, an denen sich Wünschenswertes
diskutieren lässt. Hierzu nehmen sie zuerst eine historische Auswertung vor
(Vergangenheitsfundierung), überlegen dann, wohin die Entwicklung daraus folgernd
weitergehen könnte heute (Gegenwart) und morgen (Zukunft). (vgl. Albert 2003: 64f)
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Diese drei Schritte bedeuten konkret:
2.1 Schritt 1: Vergangenheitsfundierung
Durch Vergangenheitsfundierung soll herausgearbeitet werden, was war und wie sich
die Entwicklung folglich fortsetzen könnte. Aber, auch die Vergangenheit ist nicht als
bare Münze zu nehmen:
„(…) selbst das, was wir für das „sicher Vergangene“ halten – Erinnerungen –
fälschen wir. Es ist also ein Irrtum, zu glauben, dass die Vergangenheit, anders
als die Zukunft, sicher ist, weil sie ja schon passiert ist. Die Vergangenheit ist
genauso ein Vermutungs- und Interpretationsraum wie die Zukunft.“ (Horx
2013: 14)
2.2 Schritt 2: Gegenwartsanalyse
In einem zweiten Schritt gilt es, mit qualitativen Methoden herauszuarbeiten, was an
Entwicklung denkbar und wünschenswert ist (vgl. Albert 2003: 66). Dies tun wir aus
unserer Gegenwart heraus, mit unseren aktuellen Bedürfnissen und Wünschen, aus
unserem jeweiligen Kontext.
2.3 Schritt 3: Megatrendanalyse
In einem dritten Schritt gilt es herauszufinden, wie wünschbare Entwicklungen mit
den zu erwartenden vereinbar sind. Beachtet werden müssen eintretende Störungen,
die durch den historischen Blick nicht zu erfassen waren und auf die reagiert werden
muss (vgl. ebd.). Bei den „zu erwartenden Entwicklungen“ handelt es sich um so
genannte Mega-Trends. Hierzu Horx:
„Megatrends markieren die großen Veränderungen der Gesellschaft, sie wirken
global, langfristig, tiefgreifend: die Globalisierung etwa, die Verschiebung der
Altersstruktur, Individualisierung oder die immer wichtigere Rolle der Frauen.“
(Horx 2011)
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Abbildung 1: Megatrend-Map 2
Die Megatrend-Map wird als U-Bahn-Karte mit klaren Stationen dargestellt, dies ist
zwar sehr übersichtlich, grafisch attraktiv. Obwohl darauf hingewiesen wird, dass
Megatrends nicht linear sind, suggeriert die Anordnung auf der Karte aber genau
dies – als wären die Trends in einer unabänderlichen Reihenfolge angeordnet.
3. Wie wird Zukunftsforschung in der Sozialen Arbeit betrieben?
Mit diesen Überlegungen der Zukunftsforschung im Kopf suchte ich nach einer
geeigneten Datengrundlage, anhand derer ich verstehen kann, wie in der Sozialen
Arbeit über Zukunft nachgedacht wird. Für geeignet hielt ich folgende zwei ganz
unterschiedliche Korpora: Einerseits das Themenheft der Zeitschrift Sozialmagazin
von Anfang 2013 mit dem Titel „Zukunft der Sozialen Arbeit“. Darin kommen
Kolleginnen und Kollegen zu Wort mit unterschiedlichsten zukunftsrelevanten
Themen. Als Ergänzung zu diesem Korpus, welcher aus fachpolitischen und
wissenschaftlichen
Einschätzungen
besteht,
beziehe
ich
mich
auf
Forschungsprojekte, die wir am Institut für Soziale Arbeit der FHS St. Gallen
durchführten
(http://www.fhsg.ch/fhs.nsf/de/ifsa-fhs-forschungsschwerpunkteabgeschlossene-projekte). Die Befunde beider Korpora werde ich ihnen
nacheinander darlegen und abschließend einige übergreifende Überlegungen
anstellen. Vorwegnehmen kann ich jetzt schon: Ich werde nicht alle Themen
anschneiden, welche Sie in den vergangenen zwei Tagen in den vielen Workshops
diskutiert haben – hierzu ist das Spektrum einfach zu groß. Beim Abgleich zwischen
meiner Referatsstruktur und dem Tagungsprogramm fiel mir jedoch auf, dass viele
Aspekte in beiden auftauchen. Insofern werden hoffentlich etliche Querbezüge und
einige übergreifende Zugänge möglich.
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4. Korpus 1: Sozialmagazin
Bereits das Titelbild, ein schlaffes, beinahe herunterfallendes Transparent mit der
Aufschrift „Bildung“ – und dahinter weitere unleserliche Worte oder Zeichen –, enthält
eine kritische Botschaft der Zukunft Sozialer Arbeit.
Abbildung 2: Cover Sozialmagazin „Zukunft der Sozialen Arbeit“
Betrachtet man dann die Beiträge genauer, so enthalten alle die drei von der
Zukunftsforschung
propagierten
Schritte
Vergangenheitsfundierung,
Gegenwartsanalyse, Trendaussage. Die Gegenwartsanalyse geschieht auf der Basis
einer Vergangenheitsfundierung. Die Vergangenheit wird dabei stets positiver
dargestellt als die Gegenwart, welche praktisch durchgehend kritisch betrachtet wird.
Durch eine zunehmende Verschlechterung von der Vergangenheit zur Gegenwart
wird darauf geschlossen, dass sich der Trend fortsetzen wird: auch die Zukunft sieht
düster oder noch düsterer aus. Auffallend ist, dass der Krisendiskurs bzw. die
Gegenwartsanalyse jenseits sauberer analytischer Verfahren geführt wird, sondern
eher anhand einer Beschreibung negativer Großwetterlagen. Von den AutorInnen
werden vor allem Risiken aufgezeigt und weniger die Chancen und Potentiale.
Keiner lobt die Gegenwart, utopische Elemente sind insgesamt kaum zu finden.
Vielmehr beziehen sich die AutorInnen auf einen spezifischen Teilaspekt oder
Einzelelemente – also ihre Lieblingsthemen oder die jeweiligen Arbeitsgebiete – und
entwickeln daraus kleine und kleinste Trends. Keiner wagt also den großen Wurf für
die Zukunft, indem beispielsweise eine Perspektive Sozialer Arbeit jenseits des
bisherigen aufgezeigt würde.
Die meisten AutorInnen enden mit Forderungen, jedoch ist unklar, an wen sie sich
richten: an die Profession, die Politik, die Gesellschaft? Durchgehend dominiert die
Vorstellung, dass die negativen Entwicklungen rückgängig gemacht oder aufgehalten
werden können, indem andere, bessere Wege eingeschlagen werden. Diese werden
von den AutorInnen gleich in Form von eher simplen Lösungsvorschlägen
mitgeliefert. Um die Argumentationslinie dieser sozialarbeiterischen „Rede von der
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Zukunft“ genauer aufzuzeigen, habe ich versucht, den ersten Korpus entlang einer
leitenden These aufzuschließen und darauf aufbauend Unterthesen zu formulieren.
4.1 These 1: Der entgrenzte Kapitalismus verändert alle bisher geltenden
Vorzeichen!
Lothar Böhnisch und Wolfgang Schröer betonen in ihrem Beitrag, dass die Welt uns
zunehmend „entbettet“ und entgrenzt gegenüber tritt. Aufgrund von
Globalisierungstendenzen würde die heutige kapitalistische Logik keine Rücksicht
mehr auf lokale Traditionen und soziale Verhältnisse nehmen. Unternehmen sind
immer weniger auf national verfügbare Arbeitskräfte angewiesen. Arbeit kann
vielmehr weltweit ausgelagert und durch neue Produktionstechnologien ersetzt
werden.
„Prekäre Arbeitsverhältnisse werden normal, Berufssicherheit schwindet und
die soziale Hintergrundsicherheit, die der Sozialstaat lange garantierte, ist für
viele Menschen auch in Europa immer weniger spürbar.“ (Böhnisch/Schröer
2013: 84)
Eine entgrenzte Gesellschaft scheint immer weniger sozial oder durch Soziale Arbeit
gestaltbar. Dies hat laut Bönisch und Schröer damit zu tun, dass sich im
kapitalistischen Verdrängungskampf Kräfte durchgesetzt haben, die sich dem
Sozialstaat und seiner Sozialen Arbeit nicht nur entziehen, aber trotzdem auf ihre
Struktur und Entwicklungsmöglichkeiten zurückwirken. Angesichts dieser
Entwicklungen gelten AdressatInnen der Sozialen Arbeit nun schnell als
selbstverschuldete Verlierer in diesem Wettbewerb, die auf keine Hilfe hoffen
können. Diese radikalen Veränderungen führen laut Böhnisch und Schröer dazu,
dass sämtliche Vorzeichen der industriekapitalistischen Moderne, auf die Soziale
Arbeit baut, hinterfragt werden müssen. (vgl. ebd.) Und: Soziale Arbeit ist neu zu
denken. Im konsultierten Sozialmagazin-Themenheft vertiefen nun einzelne
Autorinnen und Autoren einige Aspekte dieser Analyse. Daraus lassen sich folgende
Unterthesen formulieren:
4.1.1 Vielfältige Standards der Sozialen Arbeit sind anderen, fremden Logiken
geopfert worden!
Im Editorial mit der Überschrift „wohin die Reise geht...“ konstatieren Michael Böwer
und Jochem Kotthaus, dass in der Entwicklung der Sozialen Arbeit der jüngsten
Vergangenheit vieles schief gelaufen sei:
„Im rapiden Fortschritt der Post-Moderne und des Post-Wohlfahrtsstaats sind
vielfältig Standards guten fachlichen Werdens, Reifens und Helfens auf dem
Altar
gesellschaftlicher,
sozialtechnologischer
und
organisationaler
Entscheidungen geopfert worden.“ (Böwer/Kotthaus 2013: 3)
Ein Hauptproblem scheint die Ökonomisierung der Sozialen Arbeit zu sein, welches
gleich mehrere AutorInnen ansprechen. Hierauf verweist auch die nächste
Unterthese:
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4.1.2 Das Sozial- und Gesundheitswesen wird kaputtgespart!
Und zwar durch folgende Sparmaßnahmen:
• Das Case Management: Als Symbol für die alleinige Fokussierung der Sozialen
Arbeit auf „Effizienzfragen“ wird nach Manfred Neuffer das Case Management
gesehen. Laut seinen Aussagen ein „(…) Instrument neo-sozialen
Wohlfahrtsdenkens, das die Verantwortung des Sozialstaats reduzieren soll und
die Aktivierung und Eigenverantwortung der KlientInnen in den Mittelpunkt
rückt, um den Sozialstaat zu ersetzen. Wobei mehr oder weniger deutlich eine
Kostenreduzierung als Ziel verfolgt wird.“ (Neuffer 2013: 6)
• Die
Output-Orientierung:
Ebenfalls
auf
die
Problematik
einer
Ökonomisierungslogik zielt Stefan Bestmanns Beobachtung, dass sich in der
Sozialen Arbeit seit mehr als zwei Dekaden eine output-orientierte Logik
durchsetzen würde, bei welcher es um die Steigerung der Effektivität und
Effizienz geht. Diese Entwicklung kann für den Bereich der bundesdeutschen
Kinder- und Jugendhilfe bspw. zu „Versäulungstendenzen“ hoch spezialisierter
Institutionen führen (vgl. Bestmann 2013: 15ff).
• Die Arbeitsanforderungen: Ausgangspunkt des Beitrags von Mechthild Seithe
(2013: 25) Zur Notwendigkeit der Politisierung der Sozialarbeitenden ist die
Beobachtung, dass die Arbeitsanforderungen von Sozialarbeitenden längst
über die Rahmenbedingungen hinausgewachsen seien. Stichworte hierzu sind
Personalmangel, hohe Mitarbeiterfluktuation oder viele „Neufälle“ ohne
Personalaufstockung. Trotzdem wird verlangt, dass Sozialarbeitende die Arbeit
qualitativ genauso gut ausführen.
• Die verkürzte Ausbildung: Beobachtet werden auch massive Sparmaßnahmen
bei der Ausbildung, was bspw. an der kürzeren Dauer des heutigen BAStudiums im Gegensatz zum alten Diplom festgemacht wird. (Kotthaus 2013:
44)
4.1.3 All diese Sparmaßnahmen führen nicht zur Effizienzsteigerung, sondern
zur Entprofessionalisierung Sozialer Arbeit!
Die folgenden Unterthesen zeigen die Inhalte dieser Entprofessionalisierung auf,
gehen auf die Folgen der Sparpolitik in der Sozialen Arbeit ein:
4.1.3.1 Die Ausbildung verliert an Qualität!
Die Ausbildung wird als Schlüssel zur strukturellen und inhaltlichen Veränderung der
Profession (und somit Beeinflussung der Zukunft) gesehen. Da aber das heutige BAStudium weniger lange dauert, seien die AbgängerInnen zu jung, hätten
ungenügende praktische Vorbereitung auf die Berufspraxis und würden nur eine
mangelnde disziplinäre Identität entwickeln. Auch wird Studienabgängern von den
Vorgesetzten in der Praxis oft erklärt, die Theorie des Studiums zähle hier nicht, da
die Praxis nach eigenen Regeln funktioniere. (vgl. Kotthaus 2013: 44ff) Darüber
hinaus würde die Debatte über die Unterschiede Universität/Fachhochschule der
Profession schaden, denn sie wäre wesentlich dadurch kontaminiert, dass das
Berufsprofil des Sozialarbeiters weiterhin (vielleicht notwendigerweise) unscharf
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bleibt und somit nicht nur berufspolitisch engagierte AkteurInnen mitdiskutieren,
sondern auch diejenigen mit akademischen Eitelkeiten und sonstigen dunklen
Interessen, wie Wolfgang Hinte vermutet. (vgl. Hinte 2013: 38)
4.1.3.2 Beschäftigungsverhältnisse in sozialen Berufen werden immer prekärer!
In der Sozialen Arbeit nehmen atypische und prekäre Beschäftigungsverhältnisse
quantitativ zu. Dies zeigt sich in den unterschiedlichen Erscheinungsformen, wie
Teilzeitarbeit, befristeter Arbeit, Mini-Jobs, Midi-Jobs, Ein-Euro-Jobs, unbezahlte
Praktika usw., wie die Analyse von Karin Beher und Kirsten Fuchs-Rechlin aufzeigt.
Die Heterogenität von Beschäftigungsformen wird größer und Erwerbsbiografien
entsprechen immer weniger einem Standard. Ein Arbeitsplatz ist heute nicht mehr
automatisch mit materieller Sicherheit und sozialer Teilhabe verbunden. Besonders
betroffen sind Frauen, unter 25-Jährige und allgemein gibt es mehr Betroffene in der
Sozialen Arbeit als in anderen Berufen. (vgl. Beher/Fuchs-Rechlin 2013: 53ff)
4.1.3.3 Arbeitsbedingungen machen Sozialarbeitende krank!
Seithe (2013: 25) warnt in ihrem Beitrag vor der Gefahr physischer und psychischer
Schäden, wie bspw. dem Burnout.
Aufbauend auf dieser Gegenwartsanalyse der Profession Sozialer Arbeit werden im
Sozialmagazin konkrete Forderungen benannt, um dem negativen Trend entgegen
zu wirken. In dem Zusammenhang heißt es bspw.:
Die Sozialarbeitswissenschaften sollen eigenständig im Kanon anderer
Sozialwissenschaften positioniert und die Forschung besser gefördert werden. Die
Qualität der Ausbildung ist zu steigern. Oder: Sozialarbeitende sollen besser bezahlt,
die Profession besser anerkannt werden. (vgl. Kotthaus 2013: 44ff)
An verschiedenen Stellen wird gefordert, dass sich Sozialarbeitende gegen die
Vorschriften der Politik wehren sollen (Case Management, betriebswirtschaftliche
Erfolgsdefinitionen, Zeitbegrenzungen usw.). Sie sollen sich für soziale Gerechtigkeit
und gegen neoliberale Absichten einsetzen. Seihte (2013: 28f) fordert strategische
Ansätze, damit Sozialarbeitende aus ihrer Ohnmacht erwachen:
1. Selbstbewusstsein der Profession stärken (Hochschulen, Gewerkschaften,
Berufsverband, Fortbildungsträger)
2. Zusammenschließen mit Kollegen gegen täglichen Stress, Angst um Existenz,
paralysierende Identifikation mit dem Arbeitgeber.
3. Soziale Arbeit muss eigene sozialpolitische Wurzeln und Aufgaben neu
durchdenken. Soziale Arbeit wird als wichtige Kritikerin der gegebenen
Verhältnisse gesehen.
Nach den Überlegungen von Lothar Böhnisch und Wolfgang Schröer geht es „um
nichts anderes als eine Neuformierung der Politisierung Sozialer Arbeit, die
angesichts der Entpolitisierung des Sozialstaats und des Rückzugs bisher
sympathisierender Bürger dringend ansteht.“ (Böhnisch/Schröer 2013: 87) Jedoch
können Probleme nicht mehr nur nationalstaatlich oder innereuropäisch gelöst
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werden, sondern es bedarf laut Bönisch/Schröer inter- und transnationaler Allianzen
(ebd.: 88).
Neben diesen professionspolitischen Forderungen werden auch spezifische
Forderungen für die Arbeit mit AdressatInnen formuliert:
Soziale Hilfestellungen sollten zukünftig weniger von der Frage der Verwertbarkeit
und Nützlichkeit, sondern wieder mehr von den Menschen ausgehen (vgl. Neuffer
2013:13). Sozialpädagogische Lösungen sollten deshalb lebensweltbezogen und
sich zugleich in einem sozialökologischen Kontext vollziehen. Zudem gilt es,
AdressatInnen zu beteiligen und ihre Rechtsansprüche zu stärken. (vgl. Bestmann
2013: 20ff)
Nach der Konsultation des ersten Korpus liegt also ein Bild vor, welches geprägt ist
von einer negativen Gegenwartsanalyse mit eindeutig negativ geprägten Szenarien
für die Zukunft.
Abbildung 3: Übersicht Korpus 1
Auch wenn mit ähnlichen konzeptionellen Grundlagen gearbeitet wird, so ist die
Ankündigung zur heutigen Tagung übrigens um ein vielfaches offener, indem es
bspw. im ersten Satz heißt:
„Aus der Vielzahl von Herausforderungen, denen sich Sozialarbeit gegenwärtig
stellen muss, stehen die Folgen des globalisierten Neoliberalismus und die
Entgrenzung von Lebensverhältnissen im Vordergrund.“
Die Ergebnisse der Workshops zeichnen meiner Meinung nach ein viel
differenzierteres Bild, als dies in den aufgezeigten Forderungen des ersten Korpus
der Fall ist. Dies ist ein Anhaltspunkt, dass sich das Gespräch unterschiedlicher
AkteurInnen aus der „Praxis und Forschung, Profession und Wissenschaft“ (siehe
Tagungskonzeption) lohnt.
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5. Korpus 2: Angewandte Forschungs- und Entwicklungsprojekte am IFSA-FHS
In einem zweiten Zugang zur Frage der Zukünfte der Sozialen Arbeit möchte ich
mich auf einen ganz anderen Korpus stützen. Hintergrund bildet meine
Forschungstätigkeit am Institut für Soziale Arbeit der FHS St. Gallen, welches ich
leite und in welchem der ebenfalls von mir verantwortete interdisziplinäre
Forschungsschwerpunkt „Soziale Räume“ angesiedelt ist. Exemplarisch möchte ich
einige Projektbeispiele heranziehen, um aufzuzeigen, wie Sozialarbeitende implizit
oder explizit eine Vorstellung der Zukunft haben, auf welche sie durch professionelles
Tun gestaltend wirken. Meistens geht es darum, das Handeln Einzelner oder von
Gruppen zu verändern. Platt könnte man zusammenfassen, dass es bisher eher
darum ging, einen neuen (pädagogischen) Lebensort zu kreieren, also für jemanden
einen Heimaufenthalt oder das Leben in einer Wohngruppe zu ermöglichen, oder
aber ein Sondersetting zu schaffen. Vieles deutet darauf hin, dass es heute vermehrt
darum geht, ausgehend von der Lebenswelt vor Ort ein für den Klienten geeignetes
familiäres, familienergänzendes oder soziales Umfeld zu schaffen – der Nahraum
wird deshalb immer bedeutsamer (vgl. Kessl/Reutlinger 2010, Reutlinger 2008).
Wiederum anhand einer leitenden These und darauf aufbauenden Unterthesen
möchte ich diese Beobachtung konkretisieren und unterschiedliche Aspekte
möglicher Zukunftsgestaltungen aufzeigen.
5.1 These 2: Die globale Welt ist (zu) groß und unübersichtlich, gestaltbar ist
hingegen der lokale Nahraum!
Durch verschiedenste technologische Veränderungen und komplexe globale
Verflechtungen wird im Alltag vermehrt der ganze Globus („die Welt“) zum
Referenzrahmen. Viele Zusammenhänge erscheinen uns jedoch abstrakt,
unübersichtlich und es droht der Verlust von Handlungsfähigkeit. Schon Anfang der
1990er-Jahre beschrieb der britische Soziologe Anthony Giddens das Phänomen,
dass globalisierte soziale Beziehungen zu einer Verstärkung von lokalen
Autonomiebewegungen und Regionalisierungstendenzen führen. Es kommt, so
Giddens, zur „Neuschaffung von relativ kleinen und frei gestaltbaren Örtlichkeiten“
(Giddens 1995: 177). Deshalb rückt der lokale Nahraum vermehrt in den Fokus –
auch in sozialpolitischen Bemühungen und sozialarbeiterischem Handeln. Gleich
mehrere Projekte, welche wir in den vergangenen Jahren am Institut für Soziale
Arbeit der FHS St. Gallen bearbeitet haben, folgen dieser Logik. Was für implizite
Zukunftsvorstellungen lassen sich herausarbeiten?
5.1.1 Bestimmte Personengruppen sind in besonderem Masse auf diesen
Nahraum und somit auf gestärkte lokale Unterstützungsnetzwerke angewiesen!
5.1.1.1 Alte Menschen sollen möglichst lange möglichst selbständig zu Hause
leben können!
Gesellschaftliche Entwicklungen, wie Individualisierungstendenzen, führen zu
veränderten Werten und zur Auflösung von Solidargemeinschaften wie Familie,
Freundschaft oder Nachbarschaft. Berücksichtigt man die demographische
Entwicklung, so werden wir in Zukunft immer älter. In einer älter werdenden und
überalterten Gesellschaft ist das Gesundheits- und Pflegesystem auf Dauer nicht
finanzierbar und der drohende Kollaps steht bevor. Es droht die Einsamkeit und
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Isolation, insbesondere im Alter. Vor diesem Zukunftsszenario besteht eine der
Herausforderungen darin, wie Menschen möglichst lange und möglichst selbständig
zu Hause wohnen bleiben können. Stichworte hierfür sind „ambulant vor stationär“,
Wohnen im Alter, Generationenwohnen etc. Von uns begleitete und untersuchte
Projekte in diesem Bereich versuchen, den sozialen Kitt wieder anzurühren, die lokal
vorhandenen Menschen und Gruppen zu aktivieren, Menschen unterschiedlicher
Lebensalter zusammen zu bringen, Unterstützungsnetzwerke zu schaffen und neue
Wohnformen auszuprobieren. (vgl. bspw. Beck/Otto 2012 Reutlinger 2013)
5.1.1.2 Menschen mit Beeinträchtigung
selbstbestimmter leben können!
oder
Behinderung
sollen
Nicht nur Menschen im Alter sind vermehrt auf den Nahraum und die dort
vorhandenen Unterstützungspotentiale angewiesen, sondern auch Menschen mit
einer Beeinträchtigung oder Behinderung. Ausgangspunkt der Projekte „benabita“
oder „Personenzentrierte Zukunftsplanung“ ist der Mensch, sein lebensweltlicher
Blick und Fragen wie: „Was ist mir im Leben besonders wichtig, damit es mir gut
geht? Wie sieht eine wünschenswerte Zukunft für mich aus? Was sind die nächsten
Schritte und wer kann wie helfen?“ 3 Eine Personenzentrierte Zukunftsplanung will
das familiäre ebenso wie das soziale und nahräumliche Umfeld, aber auch das
professionelle Hilfesystem in den Hilfeprozess und die Zukunftsgestaltung mit
einzubeziehen. Die Frage der Inklusion hat auch Auswirkungen darauf, wie Häuser,
Wohnungen und Straßen und Plätze im Stadtteil gebaut werden. (vgl.
Reutlinger/Lingg 2012)
5.1.1.3 Kinder sind unsere Zukunft! Deshalb gilt es die Kinder zu fördern und
ihnen ein anregungsreiches nahräumliches Umfeld bereit zu stellen, welches
sie sich selbständig aneignen können.
Vollständig losgelöst und überraschend analog zur Alten- oder BehindertenDiskussionen wird besonders seit dem PISA-Schock auch in der Sozialen Arbeit über
Kinder gesprochen. Jedes Kind soll/müsse von Geburt auf speziell gefördert werden
mit dem Ziel, dass kein Kind zurück gelassen wird bzw. vom Weg abkommt. Deshalb
schließen sich die verschiedensten Akteurinnen der frühkindlichen Bildung und
Betreuung zusammen mit dem Kindergarten, der Schule, den schulergänzenden
Diensten, den Freizeitangeboten, Sportvereinen, den Einrichtungen des
Jugendamtes oder speziellen sozialpädagogischen Angeboten. Sie alle bilden so
genannte lokale Bildungslandschaften (vgl. Reutlinger 2009). Dadurch ist das Kind
umgeben vom Unterstützungs- und Hilfesystem, welches sich nahräumlich im
Wohnquartier aufspannt. Darüber hinaus werden spezielle Lernwelten geschaffen mit
dem Ziel, dass sich das Kind spielend, lernend, manchmal alleine, aber immer öfter
begleitet den Nahraum aneignen kann.
5.1.1.4 Nur ein jugendfreier öffentlicher Raum ist ein guter Raum. Jugend als
verlorene Generation?
Betrachtet man den medialen Diskurs, so hören bei Jugendlichen die lebensweltliche
Zentrierung, das Verständnis und der Schutzgedanke plötzlich auf. Jugend stört –
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insbesondere im öffentlichen Raum. Hier werden Jugendliche durch ihre
Aneignungsformen sichtbar. Gewalttätig, apolitisch, konsumorientiert – so zeichnen
die Medien das Bild der Jugend. Jugendliche geraten im öffentlichen Raum in den
allgemeinen Sicherheits- und Kontrolldiskurs. Aufsuchende und mobile Jugendarbeit
orientiert sich an neuen Paradigmen wie der Allparteilichkeit oder der Aktivierung.
Neu entstandene Teams sind in vielen Städten dazu angehalten, in enger
Kooperation mit der Polizei und Sicherheitsdiensten Jugendliche aus dem
öffentlichen Raum zu entfernen. Die dominante Vorstellung lautet: Sauberkeit bringt
Sicherheit und Sicherheit ist wichtig für das Image eines Stadtteils. Denn, wie ich
aufzuzeigen versuchte, ist der Nahraum die neue Basis sozialarbeiterischen
Handelns. (vgl. Fritsche/Reutlinger 2012)
Angesichts der Zahlen arbeitsloser Jugendlicher in vielen europäischen Ländern
fragt
man
sich,
was
durch
diese
Verdeckungs-Logik
alles
an
Bewältigungsherausforderungen in der Unsichtbarkeit versinkt – eine Frage, die ich
in meinen spanischen Forschungsprojekten ins Zentrum stellte (Reutlinger 2003
Kniffki/Reutlinger 2013). Hat Jugend überhaupt noch eine Zukunft? Oder kann man
von einer „überflüssigen“ oder verlorenen Generation reden, wie dies bspw. Lothar
Böhnisch und Wolfgang Schröer tun?
5.1.2 Die Lösung lautet: neue professionelle Kooperationsformen über den
Nahraum!
Angesichts der aufgezeigten Bedeutung des Nahraums für die verschiedensten
NutzerInnengruppen, wird vielerorts eine nahraumbezogene Kooperation quer zu
den bisherigen Disziplinen und Ressorts gefordert. Beispielhaft kann man dies
anhand des Projekts Spielraum illustrieren, welches in Österreich, Deutschland und
der Schweiz durchgeführt wurde. Ziel dieses von der deutschen Kinder- und
Jugendstiftung verantworteten Projekts lag in der Umgestaltung von Spiel- und
Sportplätzen unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen – fokussiert wurden
neue Formen der nahräumlichen Kooperation. (vgl. Kessl/Reutlinger 2013)
„Das Programm hilft, Zuständigkeitsgrenzen zu überwinden und
Verantwortungsgemeinschaften zu bilden. Unterschiedliche Akteure wie Träger
der Jugendarbeit, Eltern, Jugendamt, Schulen oder Sportvereine helfen dabei,
dass mit SPIELRAUM aus einer unattraktiven Fläche ein sichtbarer, bekannter
Ort und wichtiger Anlaufpunkt für junge Menschen aus der Nachbarschaft
wird.“ 4
Dieser neue Anspruch an nahraumbezogener Kooperation führt zur Hinterfragung
der bisherigen Selbstverständnisse von Einrichtungen und klar definierten
Handlungsfeldern. Einrichtungen müssen sich öffnen und sich bewusst werden, wo
sie sich verorten, wofür sie stehen. Sie müssen sich neu in den nahräumlichen
Zusammenhang denken.
5.1.3 Nahraumorientierung ist nicht per se nur gut!
Angesichts der diffusen und willkürlichen Diskussion von Nahraumorientierung,
besteht jedoch die Gefahr, dass diese fachlich begründbaren Paradigmenwechsel
ins Fahrwasser von Umbau- und Sparplänen kommunaler Verwaltungen geraten.
- 68 -
Denn in der verwaltungslogischen Diskussion wird der Nahraum ebenfalls als
geeignete Größe für neue Steuerungsmodelle gesehen (vgl. Reutlinger/Zychlinski
2013). Mit den daraus resultierenden Spannungen und Widersprüchen befassten wir
uns in den vergangenen Jahren in mehreren Entwicklungs- und Consultingprojekten
von Gemeinden und Städten. Bestimmte Selbstverständnisse von einst klar
umrissenen Handlungsfeldern geraten hier an ihre Grenzen, wie Projekte im Bereich
der Schulsozialarbeit, der offenen Jugendarbeit oder der Gemeinwesenarbeit zeigen.
Wichtig wäre es, dass die Chance der Öffnung genutzt wird, um den Kernfragen auf
den Grund zu gehen. Wofür stehen wir? Was bedeutet es, eine Kinderperspektive
einzunehmen? Welchen Wert hat die Jugend? Welche Form von Gemeinschaft
verfolgen wir, ohne dass die romantisierend und unerreichbar ist? Ist es nicht
widersprüchlich, wenn in einer Kommune unabhängig der Alten-, Behinderten-, und
Jugendhilfebereich nahräumlich umgestaltet wird – man dies gegenseitig gar nicht
wahrnimmt? Was ist der Gewinn einer nahräumlichen Umstrukturierung?
Abbildung 4: Übersicht Korpus 2
5.1.4 Das Reden über den (Nah-)Raum ermöglicht Handlungsfähigkeit und
Gestaltung!
Deutlich wird der Gewinn in einem aktuell laufenden EU-Projekt mit dem Namen
RELETRAN (Red Latinoamerica-Europea de trabajo social transnacional). In diesem
länderübergreifenden Projekt müssen jeweils eine Praxisorganisation zusammen mit
einer Verwaltung und einer Hochschule ein für das jeweilige Land oder die Region
passendes Aus- und Weiterbildungsangebot zum Thema Gemeinwesen konzipieren
und gemeinsam durchführen. Der Austausch und Dialog zwischen Theorie,
Verwaltung und Praxis, aber auch zwischen den 12 Projektpartnern aus
Lateinamerika und Europa soll über den Begriff „comunidad“ bzw. „trabajo social
comunitario“
des
Gemeinwesens
bzw.
Gemeinwesenarbeit
geschehen
(Kniffki/Reutlinger 2013, 2014). Aktuelle Auswertungen zeigen erstens, dass auch
international der Nahraum als die Einheit gesehen wird, um auf die Komplexität der
globalen Veränderungsprozesse zu reagieren. Auch hier reden die unterschiedlichen
Akteure aus den verschiedenen Ländern über den (Nah-)Raum, haben aber kein
gemeinsames Verständnis davon, sondern bleiben bei sich und ihren Interessen: In
Brasilien werden Mädchen aus mehrfach belasteten Verhältnissen in Ausdruck und
Tanz geschult, die Angebote in Kolumbien sind geprägt von der Gewalterfahrung des
- 69 -
schon 50 Jahre dauernden Bürgerkriegs oder Spanien fokussiert die Projekte auf die
Herausforderungen von massiver Jugendarbeitslosigkeit und den Sparmaßnahmen
im Sozialbereich, welche die EU einfordert. Zweitens – und das ist die für mich neue
Erkenntnis – scheinen die verschiedenen Akteure, indem sie über Comunidad bzw.
den Nahraum reden, ihre Handlungsfähigkeit wieder zu erlangen – auch wenn sie
keine gemeinsame Definition der Bedeutung von Nahraum haben. Durch den
Austausch mit anderen – also „der Praxis“, der Verwaltung, oder Teilnehmenden
anderer Länder – ist ein Ausbruch aus der Alltagsroutine möglich. Das Reden über
Comunidad mit anderen scheint dazu zu führen, dass Veränderungen der eigenen
Praxis möglich werden – die Akteure beginnen, die eigene Zukunft mit zu gestalten.
6. Soziale Arbeit – falsch verbunden? Abschließende Überlegungen
Das Ziel der laufenden Tagung ist es, „aus der Analyse der Vergangenheit (...) einen
Blick in die Zukunft zu richten und gemeinsame Wege im Berufsfeld der Sozialen
Arbeit zu entdecken“ – so der Ausschreibungstext. Übergeordnet steht die Frage
„Soziale Arbeit – falsch verbunden?“
Wie ich zu Beginn meiner Ausführungen verdeutlichte, will ich heute keine einfachen
Lösungen, Heilsversprechungen oder Visionen kund tun, da dies weder adäquat
wäre, noch fühle ich mich hierzu in der Lage. Auf der Basis der beiden Korpora liegt
zum Ende meiner Ausführungen eine Auslegeordnung vor, die wir gemeinsam
interpretieren und diskutieren können, ja müssen. Persönlich stimmt mich die
Datenbasis doch ziemlich nachdenklich. Soziale Arbeit scheint sich verstrickt zu
haben – wirklich attraktive Szenarien für die Zukunft liegen keine vor. Wenn es
positive Entwicklungen gibt, so scheinen diese klein, rückbezogen auf den Nahraum
und angesichts der Weltlage unbedeutend. Die Tagungsfrage aufgreifend könnte
dies bildlich bedeuten, dass die Verkabelungen innerhalb der Sozialen Arbeit, wie
auch außerhalb unserer Profession dermaßen verdreht sind, dass die direkten
Drähte und Verbindungen nicht mehr ersichtlich sind. Schlimmer noch, der
Kabelsalat zu Störungen führt oder zum Abbruch bzw. Nicht-Aufbau von Kontakten
und der Kommunikation. Falsch verbunden für AdressatInnen, die mit hilfestellenden
Fachkräften in Kontakt treten wollen. Falsch verbunden, weil vieles noch analog
funktioniert in einer digitalen und ortlosen Welt. Falsch verbunden mit unseren
Wurzeln und Traditionen – und damit mit unserem gesellschaftlichen Auftrag. Falsch
verbunden für andere Professionen, die gemeinsam das Soziale gestalten wollen.
Falsch verbunden mit Entscheidungsträgern aus Politik und Verwaltung und damit
falsch verbunden für die Zukunft?
Dieser negative Blick muss jedoch gar nicht sein. Denn meiner Meinung nach gibt es
vielfältige Spielräume, anhand derer man die vorliegenden Daten anders lesen kann.
Hilfreich wären saubere Analysen des Vergangenen, das Ausloten von wünschbaren
Entwicklungen
aus
der
Gegenwart
heraus
und
die
Suche
nach
orientierungsgebenden Trends. Dies ist nicht Aufgabe von Forschung oder Politik,
sondern kann vielmehr durch gemeinsame Reflexionen zwischen Praxis und
Forschung, Profession und Wissenschaft gelingen.
Ihre Aufgabe war es, sich selber ein Bild zu machen und wie beim Blei-Orakel ein
(oder auch mehrere) Szenarien auszuwählen, die Ihnen am plausibelsten
erscheinen. Genau durch das Auswählen wird konkretes Handeln ermöglicht, so
kann aus Visionen ein echtes Ziel entstehen. Abschließen möchte ich mit dem
- 70 -
anfangs des Textes stehenden Zukunfts-Zitat, welches einen zentralen Aspekt
anspricht; die Zukunft ist sofort und proaktiv anzupacken, oder um es mit Matthias
Horx zu sagen „Zukunft (ist zu) wagen“ (Horx 2013). Ich danke Ihnen für Ihre
Aufmerksamkeit.
Verweise
1
An dieser Stelle möchte ich mich bei meiner Kollegin Christina Vellacott vielmals bedanken. Sie
unterstützte mich bei der Vorbereitung auf das Thema „Zukünfte der Sozialen Arbeit“ in vielfältiger Art
und Weise. Die vorliegende Fassung entstand in einem länger dauernden Prozess, in dem wir uns
beide neue Themenstränge, wie den der Zukunftsforschung, durch gemeinsame Diskussionen
erschlossen.
2
http://www.zukunftsinstitut.de/verlag/studien_detail.php?nr=106
3
http://www.inklusion-als-menschenrecht.de/gegenwart/materialien/persoenliche-zukunftsplanunginklusion-als-menschenrecht/zukunftsplanung-personenzentriertes-denken-und-persoenlichezukunftsplanung/?tx_ttnews%5Bcat%5D=47&cHash=46e1919e77a89f87d9371c067f391282
(07.05.2014)
4
http://www.dkjs.de/unsere-arbeit/verantwortung-wagen/spielraum.html
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Über den Autor
Prof. Dr. phil. Habil., Dipl. Geogr. Christian Reutlinger, Jg.
1971
christian.reutlinger@fhsg.ch
Sozialgeograph
und
Erziehungswissenschaftler,
Privatdozent an der TU Dresden (Fakultät für
Erziehungswissenschaft). Er leitet die Forschungsabteilung
des Instituts für Soziale Arbeit (IFSA) an der FHS St. Gallen,
Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Auch ist er
dort Leiter des Kompetenzzentrums Soziale Räume. Seine
Arbeitsschwerpunkte
sind:
Social
Developement,
Transnationale Soziale Arbeit, Sozialgeografie der Kinder
und
Jugendlichen,
Europäische
Jugendforschung,
Sozialpädagogische
Sozialraumforschung
und
Sozialraumarbeit.
Abstract
Wie wird in der Sozialen Arbeit über die Zukunft geredet? Weshalb sind
Zukunftsszenarien überhaupt wichtig? Da ich kein Hellseher bin und Orakeln für mich
wegen mangelnden Verbindungen zu höheren Mächten nicht möglich ist, bleibt für
mich als Wissenschaftler lediglich das Interpretieren. Soziale Arbeit scheint sich
verstrickt zu haben – wirklich attraktive Szenarien für die Zukunft liegen keine vor.
Wenn es positive Entwicklungen gibt, so scheinen diese klein, rückbezogen auf den
Nahraum und angesichts der Weltlage unbedeutend. In meinen Ausführungen werde
ich eine Auslegeordnung unterschiedlicher Anhaltspunkte zukünftiger Entwicklungen
von Sozialer Arbeit anbieten. Meine Schlussfolgerungen sollen jedoch für mehrere
Interpretationsmöglichkeiten offen bleiben.
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