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An der Grenze zwischen den Welten (Re-)Konstruktion der verlorenen Heimat im Roman Sie kam aus Mariupol von Natascha Wodin Al confine tra mondi (Ri)Costruzione della patria perduta nel romanzo Sie kam aus Mariupol di Natascha Wodin Ievgeniia Voloshchuk (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder) Abstract Der Beitrag befasst sich mit den Konstruktionen der verlorenen Heimat im Roman Sie kam aus Mariupol von Natascha Wodin. Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf vielfaltigen Grenzen und Grenzüberschreitungen, die in Wodins Werk aus einer postmigrantischen Perspektive reflektiert werden. Auf verschiedenen ästhetischen Ebenen wird untersucht, wie die Grenzen zwischen Erinnerung und Vergessen, Heimat und Fremde, mentalen Karten und offizieller Geografie das Mariupol-Bild prägen. Schlüsselwörter: Heimatforschung, Migrationserfahrung, mentale Karte, Osteuropa-Konstruktion, Topografie, Inter- und Transkulturalität Riassunto L’articolo esamina le costruzioni della cosiddetta patria perduta nel romanzo Veniva da Mariupol di Natascha Wodin. L’analisi si concentra sui concetti di confine e del suo superamento così come sono rappresentati in una narrazione condotta da una prospettiva post-migratoria. Su piani estetici differenti, l’articolo mette in luce come il confine tra memoria e oblio, tra paese natale e paese straniero, tra mappa mentale e Ievgeniia Voloshchuk, An der Grenze zwischen den Welten. (Re-)Konstruktion der verlorenen Heimat im Roman Sie kam aus Mariupol von Natascha Wodin, «NuBE», 1 (2020), pp. 9-28. «NuBE», 1 (2020) - Monografica geografia ufficiale, tra mito e storia modellano nel romanzo l’immagine della città di Mariupol. Mariupol, infatti, non funge nel romanzo solo da ambientazione della storia della famiglia, ma è piuttosto rappresentata come un luogo centrale della memoria, che lega tra loro tutti i membri della famiglia stessa, i vivi come i morti. Mariupol diviene una sorta di patria spirituale perenne, che è sì andata perduta, ma che non ha smarrito il suo fascino e la sua forza. L’articolo dimostra come la pluralità dei confini che attraversa l’immagine di Mariupol (ri)costruita dalla protagonista sia riconducibile al superamento del confine tra spazio proprio e spazio altro. Nata in Germania, la protagonista percepisce il paese d’origine dei genitori come un luogo lontano ed estraneo. Ma come post-migrante, radicata nella storia dei suoi antenati, si sente profondamente legata a Mariupol. Questo duplice radicamento implica, infine, la distruzione della classica opposizione tra Ovest e Est nell’immagine di Mariupol. Gli elementi “est-europei” insiti nella topografia della città, ma anche nel romanzo nel suo complesso, aprono quella prospettiva sulla storia tedesca ed europea che può essere vista come parte del nuovo paradigma della cosiddetta “svolta a est” nella letteratura contemporanea in lingua tedesca. Parole chiave: storia locale, migrazione, mappa mentale, costruzione dell’Est Europa, topografia, inter- e transculturalità § Der im Jahre 2017 erschienene und mit renommierten Preisen ausgezeichnete1 Roman Sie kam aus Mariupol rückte seine Autorin, die damals 72-jährige Natascha Wodin, ins Blickfeld des Leserpublikums. Die deutsche Schriftstellerin “russisch-ukrainischer” (laut deutscher Wikipedia) oder ukrainischer (laut ukrainischer Wikipedia) Herkunft legt in diesem Buch 1 Für den Roman Sie kam aus Mariupol erhielt die Schriftstellerin den Preis der Leipziger Buchmesse und den August-Graf-von-Platen-Preis (beide 2017). 10 Ievgeniia Voloshchuk eine autobiografische Familiengeschichte dar, in der die Geschichte des 20. Jahrhunderts ihren Niederschlag findet (Grabowsky 2017; Dell’Agnese 2017). Den Ausgangspunkt für das Erzählen bildet in ihm die Migrationserfahrung mit ihrer Existenz “zwischen den Welten”, welche vielfaltige Grenzen miteinbezieht und Grenzüberschreitungen voraussetzt. Diese werden im vorliegenden Beitrag2 am Beispiel des Bildes der verlorenen Heimat untersucht, dem das “Zwischen-den-Welten”-Paradigma zugrunde liegt. Zwischen Erinnern und Vergessen Viele Aspekte des Romansujets sind durch die spezifische Position der autobiografischen Protagonistin, Tochter von zwei im Nachkriegsdeutschland sesshaft gewordenen Ostarbeitern aus der Ostukraine, bedingt. Angesichts ihrer traumatischen Geschichtserfahrung haben sie gewollt oder ungewollt eine Familie ohne eigene Geschichte aufgebaut. Dies war die Erfahrung der Leute, die vor dem Stalin’schen Totalitarismus nach Nazi-Deutschland flüchteten und sich nach dem Ende des Dritten Reichs als unerwünschte Außenseiter ohne Heimat, ohne Staatsangehörigkeit, ohne Dokumente und sogar ohne Biografien im neuen Deutschland neu erfinden mussten.3 Über ihr vorheriges Leben wollten sie nicht 2 Der Beitrag wurde im Rahmen des durch Fritz Thyssen Stiftung geförderten Projekts “Die Ukraine als Palimpsest: deutschsprachige Literatur und ukrainische Welt von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart” (Az.10.16.2.041 SL) zur Veröffentlichung vorbereitet. 3 Uli Hufen schreibt Folgendes dazu: «Wodins Eltern hatten deutsche Bomben auf Mariupol, sowjetische Bomben auf der Reise nach Deutschland und amerikanische Bomben auf Leipzig überlebt. Aber mit dem Krieg war ihr Martyrium nicht beendet. Schwer traumatisiert sind und bleiben sie Fremde, sie sind von Abschiebung bedroht, 11 «NuBE», 1 (2020) - Monografica weiter reden. Statt sich an die Vergangenheit zu erinnern, sangen die Eltern die Lieder, die sie aus der für immer verlassenen Heimat mitgebracht hatten. Diese Volkslieder, ein paar Erinnerungsfetzen der Mutter, etliche alte Fotografien und eine alte handgemalte Ikone, die aus unerklärlichem Grund alle Wanderungen überstanden hatte, machten das Familienarchiv aus, das die Erzählerin von ihren Eltern vererbte. Mit Blick auf diesen Ausgangspunkt ihrer eigenen Lebensgeschichte präsentiert sich die Romanerzählerin als Migrantin der zweiten Generation bzw. als Postmigrantin, die von ihren durch den Heimatverlust verkrüppelten Eltern jeglicher Familiengeschichte beraubt wurde. Im Nachhinein verbindet sie diese Lücke mit den schwierigsten Erlebnissen ihrer Kindheit, vor allem mit dem bedrückenden Schweigen der Eltern über die Vergangenheit, ihrer Lage als ausgestoßene Tochter von ausgestoßenen Flüchtlingen aus dem unheimlichen “Siegerstaat” und schließlich mit dem Selbstmord der Mutter, den die Protagonistin mit zehn verkraften musste. Gerade das Streben danach, die fehlenden Zusammenhänge zu rekonstruieren und dadurch die eigene Lebensgeschichte zu überdenken, regt die Ich-Erzählerin dazu an, sich auf die Suche nach Familienvergangenheit zu begeben, deren Spuren seit dem Tod der Mutter vor einem halben Jahrhundert als verloren galten. Dem Trend des 21. Jahrhunderts entsprechend gewinnt diese Recherche schnell einen medialen Charakter.4 Mit Google findet die Protagonistin den Kenner der Geschichte von Mariupol, einen gewissen sie leiden unter Hunger, Erniedrigung und Ausgrenzung. Die Familie hat im Westdeutschland der 40er und 50er Jahre kurz gesagt keine Chance. Während Wodins Vater sich in russischen Büchern und Alkohol vergräbt, wird die fragile Jewgenija vor den Augen ihrer beiden Kinder nach und nach verrückt» (Hufen 2017). 4 Die Tendenz zur literarischen Inszenierung von medialen Instrumenten, die in den postmigrantischen Rekonstruktionen der Familiengeschichten verwendet werden, ist 12 Ievgeniia Voloshchuk Konstantin, tauscht mit ihm Mails und erfährt dadurch nicht nur einiges über das Schicksal ihrer Familie, sondern nimmt die Spur ihrer am Leben gebliebenen Verwandten auf. Diese Verwandten wiederum lassen ihr einige neue Dokumente aus dem Familienarchiv zukommen, unter anderem das Tagebuch ihrer Tante,5 das in den Jahren des “Großen Terrors” geführt wurde. So sammelt die Erzählerin Steinchen für Steinchen ihre Familiengeschichte und verortet ihre eigene Biografie in den Koordinaten des Familiennarrativs. Mit Google findet die Protagonistin, die bisher dato weder die Heimatstadt ihrer Eltern, noch die sowjetische oder postsowjetische Ukraine besuchte, auch die Information über ihre altadelige multinationale Familie, die im vorrevolutionären Mariupol zur Creme der Gesellschaft gehörte, hohe Wertschätzung genoss und einen erheblichen Beitrag zum Kulturleben der Stadt leistete. Die Geschichte dieser Familie wird im Roman auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückdatiert, auf die Zeit also, als sich die Urgroßeltern Nataschas – der ukrainische Großgrundbesitzer von adliger Herkunft Jepifan Iwaschtschenko und die hochgeborene Baltindeutschin Anna von Ehrenstein – in Mariupol niederließen. Ihr älterer Sohn (und der Großvater der Erzählerin) Jakow schloss sich der Revolutionsbewegung an und musste dafür für 20 Jahre in Verbannung gehen. Seine Frau hieß Matilda De Martino und war Tochter eines in Mariupol sesshaften italienischen Händlers, der für seinen märchenhaften Reichtum in einer ganzen Reihe der von Gegenwartsautor*innen geschriebenen Texte zu beobachten. Einige Beispiele hierzu sind die Romane Vielleicht Esther (2014) von Katja Petrowskaja und Anatolin (2008) von Hans-Ulrich Treichel. 5 In ihrer Lesung, die am 11.11.2019 in der Stadtbibliothek Frankfurt (Oder) stattfand, unterstrich die Schriftstellerin den dokumentarischen Charakter dieses Tagebuches, dessen Teile sie angeblich ohne wesentliche Veränderungen in den Roman übernommen hatte. 13 «NuBE», 1 (2020) - Monografica und sein wirtliches Haus bekannt war. Aus dieser Ehe waren drei Kinder hervorgegangen, unter ihnen auch die Mutter der Erzählerin. Die tragischen Wendungen, die dieser gesitteten und gebildeten Familie aus Mariupol später das Rückgrat gebrochen haben sollten, werden im Roman eindeutig als Folge des Zusammenbruchs des Russländischen Imperiums und der Oktoberrevolution historisch verortet. Das Zäsurjahr 1917 konturiert Wodin vor allem durch eine Gegenüberstellung von vorund nachrevolutionärem Leben ihrer Familie und der Stadt. Das Erstere erscheint dabei als eine Art verlorenes Paradies; das Zweitere als katastrophaler Absturz in die Tiefe des revolutionären Infernos. Ausgerechnet die Revolution gibt den Auftakt zum Untergang der einst glücklichen Familie Iwaschtschenkos, der mit ihrer Zerstreuung und Entwurzelung einhergeht. Auf diese Weise umreißt die Autorin Mariupol auch als eine Stadt an der Grenze der Epochen. Zwischen hier und dort Bereits am Anfang der Romanhandlung wird das Bild der Mutter, Jewgenia Jakowlewna Iwaschtschenko (geboren 1920 in Mariupol, gestorben 1956 in Bayern), in den Mittelpunkt der zu rekonstruierenden Familiengeschichte gestellt. Ihrem verstümmelten Leben und rätselhaften Tod will die Protagonistin durch Recherche näherkommen. Ein wichtiges Element dieser Rekonstruktion ist die Heimatstadt der Familie, Mariupol. Nicht umsonst wird der Name der Stadt im Buchtitel erwähnt, der als eine Art Schlüsselformel für die ganze erzählte Geschichte gilt. Bei genauer Betrachtung treten im Buchtitel mehrere Facetten des Zusammenhangs zwischen dem Mutter- und dem Stadtbild hervor. Erstens bildet das Toponym “Mariupol” einen auffallenden Kontrast zur verschwommenen Mutterfigur, die im Romantitel als “sie” bezeichnet und hierdurch auf eine unbestimmte Silhouette reduziert ist. Nach dieser Lesart wird das Toponym “Mariupol” zum einzigen biografischen Detail, das 14 Ievgeniia Voloshchuk aber einem rein geografischen Marker gleich ist und die mit dem Pronomen “sie” bezeichnete Person als eine Fremde, einen namens- und merkmalslosen Ankömmling aus der unbekannten Ferne charakterisiert. Zweitens deutet die Formel “Sie kam aus Mariupol” auf die Auswanderung, ihre Herausforderungen und Problemfelder hin. Dabei wird die fürs Migrantendasein inhärente geistige Spaltung zwischen Heimat und Fremde asymmetrisch angedeutet – nämlich als eine Opposition des genannten Herkunftsortes und des ausgeblendeten Ankunftslandes, was den Blick auf den Ausgangspunkt der Familiengeschichte (Anfang, Herkunft, Heimat) fokussiert. Außerdem klingt der Stadtname “Mariupol” im deutschsprachigen Raum als ein fremdes Toponym, der zugleich auf eine exotische südukrainische Stadt am Meerstrand, einen mit mehreren historischen Kontexten codierten “russischen Raum” und einen halbvertrauten-halbfremden osteuropäischen Raum verweist. Somit fungiert der Name “Mariupol” in mehrfacher Sicht als Wegweiser zu einer fremden Heimat und zugleich zu dem Land, das weit von der östlichen Grenze Deutschlands liegt. Zwischen mentalen Karten und Geografie Am Anfang des Romans werden sowohl Mariupol als die Mutterfigur als ein vages Bild mit vielen Lücken entworfen, das an der Schnittstelle zwischen Erinnerung und Vergessen oszilliert. Selbst der Status Mariupols als der Heimatstadt ihrer Mutter bleibt für die Protagonistin fraglich, bis sie mit der Internetrecherche zur eigenen Familiengeschichte beginnt. Mit Blick auf ihre Kindheitsvorstellungen gibt Wodins Erzählerin zu, dass sie «nicht einmal Gewissheit darüber besaß», ob ihre Mutter «wirklich aus dieser Stadt kam» oder ob sie «ihr Mariupol angedichtet hatte», weil ihr «der Name so gut gefiel» (Wodin 2017, 13). Bei der Revision ihrer Kindheitserinnerungen stellt die Protagonistin fest: «Manchmal war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob es eine Stadt dieses Namens überhaupt gab oder 15 «NuBE», 1 (2020) - Monografica ob sie eine Erfindung von mir war wie so vieles andere auch, das meine Herkunft betraf» (Wodin 2017, 13). Im Laufe ihrer Recherche entdeckt die Protagonistin Schritt für Schritt die Geschichte der mütterlichen Heimatstadt. Dabei wird das Mariupol-Bild mehrmals neu entworfen. Aus einem phantasmagorischen Bild, das die Erzählerin den Erinnerungsfetzen der Eltern entnimmt, werden die auf historischen Fakten und Archivmaterialien basierenden detaillierten Beschreibungen. Somit entsteht im Roman ein schillerndes Stadtbild an der Grenze zwischen Fantasie und Geschichte, zwischen mentalen Karten und offizieller Geografie. Besonders anschaulich tritt diese Grenze in dem Heimatbild hervor, das die Protagonistin noch als Kind für sich erfunden hat. Dieses Bild wird in eine bemerkenswerte Weltkarte integriert: Mein ursprüngliches Bild von Mariupol war davon geprägt, dass in meiner Kindheit niemand zwischen den einzelnen Staaten der Sowjetunion unterschied, alle Bewohner ihrer fünfzehn Republiken galten als Russen. Obwohl Russland im Mittelalter aus der Ukraine hervorgegangen war, aus der Kiewer Rus, die man die Wiege Russlands nannte, die Mutter aller russischen Städte, sprachen auch meine Eltern so über die Ukraine, als wäre es ein Teil von Russland – dem größten Land der Welt, sagte mein Vater, ein gewaltiges Reich, das von Alaska bis nach Polen reichte und ein Sechstel der gesamten Erdoberfläche einnahm. Deutschland war dagegen wie ein Klecks auf der Landkarte (Wodin 2017, 12). Bereits in dieser Kontextualisierung durch die Weltkarte wird eine ferne Perspektive erkennbar, aus der die Protagonistin als Postmigrantin die verlorene Heimat ihrer Eltern betrachtet. Zudem kommen in dieser Darstellung auch die Stereotype zum Vorschein, die teils durch den damaligen politischen und historischen Diskurs, teils durch die populären Informationsquellen wie Reiseführer oder Lehrbücher und teils durch die mentalen Karten Osteuropas vermittelt wurden. Die letzteren sind bekanntlich durch eine scharf ausgeprägte Dominanz des Russlandbildes 16 Ievgeniia Voloshchuk und seine kulturgeografische Extrapolierung auf Nachbarländer gekennzeichnet (Wolff 2003; Schenk 2013), wofür die weit verbreitete mentale Kartierung der Ukraine als eines integralen Teils Russlands ein anschauliches Beispiel liefert. Entlang dieser kulturgeografischen Schablone wird auch das Ukraine-Bild in den oben zitierten Erinnerungen gezeichnet. Dabei wird die Herrschaft mentaler Karten über historische Wirklichkeit nicht nur durch erkennbare internationale Toponyme aus gängigen politischen oder touristischen (Selbst-)Präsentationen Russlands apostrophiert, sondern auch durch vermeintlich neutrale Toponyme, die aber die Semantik des “Siegerstaates” im Russlandbild akzentuieren. Diese Konstellation bestimmt in der zitierten Beschreibung den Darstellungsmodus der kartierten Länder, vor allem der verlassen und der ausgewählten Heimat. Denn ausgerechnet im Vergleich mit dem riesengroßen und bedrohlichen Siegerstaat erweisen sich der Verliererstaat Deutschland als winzig und die Ukraine als nicht-existierend. Indem die Erzählerin das Sowjetrussland als einen unüberschaubaren Raum zwischen dem mit Deutschland benachbarten Polen und dem nordamerikanischen Alaska konturiert, macht sie den Maßstab, den Platz, das Gewicht und die Gewalt dieses Landes in der politischen Ordnung der Nachkriegswelt und mithin auch die einschlägige Verortung der ehemaligen Heimatstadt ihrer Eltern kenntlich. Zwischen Schnee-Königreich und adriatischem Himmel Im Rahmen eines solchen Ukraine-Konstrukts verwischen sich nicht nur politische, sprachliche oder kulturelle Differenzen, sondern auch klimatische Unterschiede zwischen dem russischen und dem ukrainischen Raum. Dies ermöglicht eine groteske Übertragung des stereotypen Russlandbildes als eines kalten Landes mit sibirischem Frost auf Mariupol – eine süd- 17 «NuBE», 1 (2020) - Monografica ukrainische Hafenstadt am Asowschen Meer, das die Erzählerin als «das flachste und wärmste Meer der Welt» (Wodin 2017, 12) bezeichnet: wenn ich meine Mutter in ihrem früheren Leben in Mariupol vorstellte, sah ich sie immer im russischen Schnee. Sie ging in ihrem altmodischen grauen Mantel mit dem Samtkragen, dem einzigen Mantel, den ich je an ihr gesehen hatte, durch dunkle, eisige Straßen in irgendeinem unermesslichen Raum, durch den seit Ewigkeiten der Schneesturm fegte. Der sibirische Schnee, der ganz Russland und auch Mariupol bedeckte, das unheimliche Reich der ewigen Kälte, in dem die Kommunisten herrschten. Meine kindliche Vorstellung vom Herkunftsort meiner Mutter überdauerte Jahrzehnte in meinen inneren Dunkelkammern. Auch als ich längst wusste, dass Russland und die Ukraine zwei verschiedene Länder waren und die Ukraine rein gar nichts mit Sibirien zu tun hatte, berührte das mein Mariupol nicht (Wodin 2017, 12). Auf den ersten Blick rekurriert die Protagonistin hier auf das emblematische Stereotyp von Russland als einem Land des ewigen Winters, das im evidenten Kontrast zur realen geografischen Lage Mariupols steht. Doch bei genauerer Betrachtung lassen sich daran einige Konnotationen ablesen, die über dieses erstarrte Bild hinausgehen. Denn in der Kinderfantasie verwandelt sich der Stereotyp über den winterlichen russischen Raum ins Reich “ewiger Kälte” und überschneidet sich zudem mit dem durch den politischen Diskurs geschaffenen Ideologem der “Herrschaft von Kommunisten”. Aus dieser Mischung ergibt sich das Bild eines vereisten Schnee-Königreichs, das Assoziationen mit einem bösen Zauber und zugleich mit dem stalinistischen GULAG hervorruft, in dem der sibirische Frost für Massenfolterungen der Häftlinge instrumentalisiert wurde. Überdies verweist dieses Bild auf das Konzept Russlands als «Reich des Bösen» (Warner 2003) und auf den dadurch geprägten späten “westlichen” Diskurs über den Kalten Krieg. In diesem Kontext verschwimmt die elterliche Heimatstadt im eisigen “Reich des Bösen” und erstarrt in höllischer Kälte der kommunistischen Macht. 18 Ievgeniia Voloshchuk Ein anderes Stadtbild fällt der Protagonistin erst nach vielen Jahren, beim Lesen eines Artikels aus der deutschen Zeitung ein, der über ein Fußballspiel in Mariupol berichtet. Dann stellt sie sich die Mutter als ein romantisches Mädchen in einer schillernden südlichen Stadt vor: Statt im Schnee sah ich sie plötzlich in einem leichten, hellen Sommerkleid auf einer Straße von Mariupol gehen, mit nackten Armen und Beinen, die Füße sind in Sandalen. Ein junges Mädchen, das nicht am kältesten und dunkelsten Ort der Welt aufgewachsen war, sondern in der Nähe der Krim, an einem warmen südlichen Meer, unter einem Himmel, der vielleicht über der italienischen Adria glich. Nichts erschien mir so unvereinbar wie meine Mutter und Süden, meine Mutter und Sonne und Meer. Ich musste alle meine Vorstellungen von ihrem Leben in eine andere Temperatur, in ein anderes Klima übertragen. Das alte Unbekannte, es hatte sich in ein neues Unbekannte verwandelt (Wodin 2017, 13-14). Diese Darstellung zeugt davon, dass das “südliche”, angeblich andere Mariupol-Bild genauso wie das vorherige, nördliche aus Stereotypen zusammengesetzt wird, die den gängigen Beschreibungen der südlichen Region entnommen werden. Dabei gewinnt das Mariupol-Bild die kulturgeografische Zwiespältigkeit eines halbfremden-halbeigenen Ortes. Die Erwähnung der benachbarten Krim markiert einerseits seine Zugehörigkeit zu einem aus deutscher Perspektive fremden Raum – sei es die bedrohliche Sowjetunion, der anziehende exotische Osten oder der idyllische südliche Meerstrand. Andererseits wird aber Mariupol als eine sonnendurchflutete paradiesische Stadt am wärmsten Meer dem kalten “sibirischen” Raum gegenübergestellt, mit dem Russland tendenziell gleichgesetzt wird. Die Merkmale einer exotischen Idylle, die dem Mariupol-Bild anhaften, werden durch Parallele zu Italien zusätzlich hervorgehoben. Schon seit der Goethe-Zeit wurde Italien im deutschen Raum bekannterweise als ein Pilgerland für diejenige poetisiert, die dort nicht nur nach den Anfängen europäischer Kultur und Kunst, sondern auch nach starken Leidenschaften sowie nach der Freiheit von der Macht des 19 «NuBE», 1 (2020) - Monografica kalten Rationalismus und der alltäglichen Routine suchten. Mit solchen Konnotationen, die dem Mariupol-Bild das Gepräge eines “ukrainischen Italien” verleihen, wird die Stadt einigermaßen vom “unbekannten” sowjetischen Raum abgegrenzt und in Zusammenhang mit der “bekannten” Adria-Region im eigenen europäischen Raum gebracht. Anders gesagt wird das Mariupol-Bild durch Manipulationen mit kartografischen Elementen als ein idyllischer Teil des “hellen” Europa umgeben von “dunklem” russischem Raum umgestaltet. Eine solche Umkartierung wird des Weiteren durch Betonung italienischer Motive in der Familiengeschichte und europäischer Elemente im vorrevolutionären Mariupol-Bild verfestigt. Zwischen Mythos und Geschichte Wodins Porträt des vorrevolutionären Mariupol steht in scharfen Kontrast mit dem (post-)sowjetischen kulturgeografischen Mythos (im Sinne Roland Barthes‘) über die Ostukraine, in dessen Mittelpunkt der Donbass mit seinen kulturellen Darstellungstraditionen steht. Dieser Mythos, der sich noch in den Jahren der stalinistischen Industrialisierung herausbildete und seine Geltung zum Teil immer noch behält, erzählt eine propagandistische Geschichte über die phänomenale Modernisierung dieser Region. Dem mythischen Narrativ zufolge war der Donbass über Jahrhunderte hinweg ein weit von jeder Zivilisation entferntes, rückständiges Gebiet, das mit seinen bedrohlichen und unbezwingbaren Steppen in aller Regel gleichgesetzt und auf mentalen Karten als “wildes Feld” metaphorisch bezeichnet wurde. In der Epoche kapitalistischer Industrialisierung galt er als berüchtigtes Beispiel für eine grausame Ausbeutung der Arbeiter. Nach der bolschewistischen Revolution, so machten die sowjetischen Ideologen deutlich, verwandelte sich diese Region in der frühen Stalinzeit dank der “Herrschaft der Kommunisten” in eine Lokomotive der stürmischen Modernisierung. Dem Donbass kam dabei die Rolle der “Allunions- 20 Ievgeniia Voloshchuk schmiede” (vsesojuznaja kuznica) eines neuen Menschen zu.6 Der Bergarbeiter bzw. der “Stachanowist” – der Held der (sozialistischen) Arbeit – wurde, so Karl Schlögel in seinem Buch Entscheidung in Kiew, zur Schlüsselfigur dieses Mythos (Schlögel 2015, 218-219). Das lange Echo dieses Mythos lässt sich auch aus Wodins Beschreibungen der nachrevolutionären Umwandlungen in der Stadt heraushören. So rekurriert auf diesen Diskurs beispielsweise folgender Satz: «Schon vor der Revolution ist Mariupol eine Industriestadt gewesen, in der Sowjetzeit wird die Industrialisierung mit Macht vorangetrieben, Stoßarbeiter stellen Weltrekorde in Arbeitsproduktivität auf» (Wodin 2017, 108). Jedoch sind solche Szenen für den Roman von geringer Bedeutung. Die von Natascha Wodin gezeichneten Bilder von Mariupol vor und nach der Oktoberrevolution sind in diesem Sinne nichts anderes als eine Subversion des sowjetischen Mythos über die Ostukraine. Im Erzählfokus steht deswegen vor allem Mariupol in der vorrevolutionären “goldenen Zeit” – eine multinationale, multikonfessionelle, tolerante Stadt mit europäischem Glanz. Im oberen Stadtteil, wo neben anderen Vertretern der Mariupoler Elite auch die Familie Iwaschtschenko wohnte, befanden sich das Theater, prunkhafte Hotels Imperial und Continental, teure europäische Restaurants und Läden, griechische Tavernen und italienische Trattorien, zahlreiche orthodoxe Kirchen, Synagogen, eine katholische Kirche für dortige Italiener und noch eine für Polen. Vor der Revolution, so legt der Roman nahe, 6 Einen exemplarischen Ausdruck fanden diese Bausteine des sowjetischen DonbassMythos in Dziga Vertovs Enthusiasmus (Donbass-Symphonie) (1930), dem ersten dokumentarischen Tonfilm des “Ukrajinfil‘m”-Studios. Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Etablierung und Verbreitung dieses Mythos übten die Reisen der linken Intellektuellen aus Westeuropa in die UdSSR der Zwischenkriegszeit aus. Verwiesen sei an dieser Stelle nur auf eines der bekanntesten Beispiele hierfür, nämlich das Buch Zaren – Popen – Bolschewiken (1927) von Egon Erwin Kisch. 21 «NuBE», 1 (2020) - Monografica war ausgerechnet der obere Stadtteil für die ganze Stadt tonangebend (Wodin 2017, 161-162). Mit Erstaunen stellt die Erzählerin fest, dass ihre multinationale Familie aus einer multinationalen Stadt stammte, in der die noch Ende des 18. Jahrhunderts von der Krim zugewanderten Griechen mit Ukrainern, Russen, Italienern, Französen, Deutschen, Juden, Türken und Polen Seite an Seite lebten. Die interethnischen Konflikte im vorrevolutionären Mariupol werden im Roman nicht erwähnt. Bezugnehmend auf das Tagebuch ihrer Tante Lidia stellt die Erzählerin nun die Zerstörungen dar, die die Stadt kurz nach der Revolution erlebte. Aus der Sicht der Verwandten, die zuerst das blutige revolutionäre Chaos, dann die Gräuel des Bürgerkrieges und letztendlich stalinistische Repressalien erlitten, wird die russische bolschewistische Revolution im Roman als eine fatale historische Katastrophe, die den Untergang zaristischen Russlands samt seinem Kulturgut, seiner Lebensordnung und seiner alten liberalen Intelligenz auf Schärfste verurteilte. Das durch Oktoberrevolution verwüstete Mariupol wird hierbei zu einer Modellstadt, die die russische Provinz nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches symbolisch repräsentiert. Zwischen Vergangenheit und Zukunft Aus der Perspektive einer stillen Provinz ist die Grenze zwischen dem Ende der alten Welt und dem Anfang des neuen Lebens zunächst kaum sichtbar. Hier erstürmt man keine Paläste. Die neue Realität tritt im Gegenteil fröhlich, ganz unspektakulär [ein]. In den Straßen sieht man lachende Menschen, die neue, unbekannte Lieder singen und rote Fähnchen schwenken. Auch Lidias Eltern feiern zusammen mit den Großeltern und den anderen Verwandten. Sie singen die Marseillaise und stoßen mit Sekt an. Auf die Freiheit! Das Porträt der Zarenfamilie im Salon ist bereits abgehängt. Man ist glücklich, dass sie endlich da ist, die neue, demokratische 22 Ievgeniia Voloshchuk Zeit. Beim Lesen frage ich mich, wie ich das zu verstehen habe. Waren die Großeltern naiv, wussten sie nicht, was ihnen blühte? (Wodin 2017, 171). Doch schon nach wenigen Tagen sieht sich die Stadt Plünderungen, Räuberei und Erschießungen ausgesetzt. Das Haus, in dem die große Familie Iwaschtschenko wohnte, wird zum beliebten Ziel für Beutezüge der Revolutionäre, Konterrevolutionäre, Straßenschläger und sogar der ehemaligen Hausdiener. Unter verschiedenen Parolen werden zuerst die Wertsachen und dann alle möglichen Gegenstände entwendet: Eines Abends tauchen zwei bewaffnete Männer auf und beginnen, mit ihren Bajonetten den Telefonanschluss im Flur aus der Wand zu brechen. «Warum tun Sie das?», will Matilda wissen und bittet die Männer um ihre Dokumente. Einer der beiden hält ihr seine Faust vors Gesicht: «Das ist das Dokument». Dann deutet er auf seinen Revolver: «Und das ist das Argument» […] Ein anderes Mal brechen zwei Betrunkene ein, die nach Alkohol verlangen. In der Küche finden sie noch eine Flasche Branntwein. Sie trinken sie leer und wollen anschließend Eier braten. Sie stellen eine venezianische Kristallschale aufs Feuer und schlagen die Eier hinein. Natürlich zerplatzt die Schale, mit einem lauten Klirren. Die Betrunkenen biegen sich vor Lachen und brüllen ein ums andere Mal: «Tod der Bourgeoisie! Tod der Bourgeoisie!» (Wodin 2017, 173,176). In den Beschreibungen nachrevolutionärer Erschütterungen fokussiert sich die Schriftstellerin weniger auf ethnische, politische oder soziale Gruppen, sondern vielmehr auf das allgemeine Bild der Stadt, die im Zuge der blutigen Geburt einer neuen Welt verunstaltet wurde. Werke und Fabriken von Mariupol wurden lahmgelegt, ganze Stadtviertel verwandelten sich in Ruinen. Epidemien, Hungersnot und Terror verwüsteten die Häuser und ganze Straßenzüge der Stadt. Gewalt und Gesetzlosigkeit, die unter verschiedenen Fahnen marschierten, machten sämtliche Vorzüge der zivilisierten Lebensführung zunichte. Die Stadt versank in Chaos und Raserei. Nach dem Sturz des Russländischen Imperiums degradierte sich die ehemals idyllische Stadt an der Grenze zwischen dem “wärmsten” Meer 23 «NuBE», 1 (2020) - Monografica und dem florierenden Land zur Kampfstätte unzähliger politischer Gruppen und randalierender Banden: Die jeweiligen Sieger geben sich durch eine Fahne zu erkennen, die sie auf dem Bankgebäude hissen. Die Zarenflagge steht für die Weise Garde, die rote für die Bolschewiki, die gelb-blaue für den Nationalisten Simon Petljura, die schwarze für den Anarchisten Nestor Machno. In den fünf Jahren des Bürgerkriegs wechselt in Mariupol siebzehnmal die Verwaltungsmacht. Am gefährlichsten sind die Sieger, die ohne Fahne auskommen. Bei ihnen muss man sich auf besonders brutale Überfalle und Plünderungen gefasst machen (Wodin 2017, 172). Aus dieser Einschätzung der damaligen Situation wird ersichtlich, dass die Erzählerin mit keinem der kämpfenden Lager sympathisiert. Aus einer historisch, geografisch wie kulturell weit entfernten Perspektive interpretiert sie diesen Kampf als ein blindes und blutiges Wechselspiel destruktiver Mächte, die von Dämonen der Revolution ausgelöst wurden. Zwischen den Rivalen, die sich durch verschiedene Farben kennzeichnen oder gar ohne Farben auskommen, sieht die Autorin keinen Unterschied: Für sie sind alle diese Kämpfer bittere Früchte des Chaos, das nach dem Fall des Hauses Romanow eintrat, oder nur Instrumente der Vernichtung der eigenen Heimat und Landsleute. Ein solches Urteil reimt sich mit der Auffassung der bolschewistischen Revolution als eines Fundaments des stalinistischen Totalitarismus zusammen, die dem Roman von Wodin zugrunde liegt. Die Geburt des totalitären Regimes (Grunt-Göbbels 2016) aus dem Geiste der Revolution zeichnet die Autorin an den Schicksalen ihrer Familienangehörigen nach, die nach 1917 wegen ihrer adligen Herkunft immer mehr marginalisiert und am Ende als “Feinde des Volkes” stigmatisiert wurden. Am Anfang der 1930er Jahre, als sowjetische Ideologen über die Erfolge des großen sozialistischen Aufbaus an allen Ecken und Enden posaunten und die Stoßarbeiter im Donbass ihren Soll mit Rekordzahlen übererfüllten, wurde Tante Lidia verhaftet und ins Lager geschickt. Ihre Inhaftnahme 24 Ievgeniia Voloshchuk gab ein Vorspiel zum baldigen Zerfall der Familie und war einer der Faktoren, die Lidias Schwester Jewgenia zur Flucht aus der Stalin’schen Ukraine nach Nazi-Deutschland veranlassten. Die persönliche Tragödie von Tante Lidia wird im Roman im historischen Kontext des durch Stalins Politik verursachten Holodomor, der großen Hungersnot in der Ukraine der 1932/33, verortet, die, wie die Erzählerin es formuliert, die ehemalige Kornkammer Europas in einen Leichenraum verwandelte. Schon zu Beginn ihrer Internetrecherche stößt die Protagonistin auf die Meldungen über den bewaffneten Konflikt, der im ukrainischen Osten im Frühling 2014 entbrannte und Mariupol zu einem Grenzland zwischen dem ukrainischen Territorium und den “separatistischen” Regionen machte. Im Kontext ihrer Familiengeschichte gilt dieser Konflikt in Wodins Augen als ein grausiges Déjà-vu des Bürgerkrieges, den die Ostukraine nach 1917 schon einmal erleben musste. Die ukrainische Zeitgeschichte und die Berichterstattung aus dem Mariupol von heute liefern ihr dokumentarisches Beweismaterial, das ihre Vorstellungen scheinbar bekräftigt: Bald [gemeint ist der 9. Mai 2014, als in Mariupol die erste bewaffnete Auseinandersetzung mit ersten Opfern auf beiden Seiten stattfand, d.V.] sollte die Gewalt auch Mariupol erreichen, und als erstes Haus sollte dort ausgerechnet dasjenige brennen, an dessen Stelle einst das von meiner Großtante Valentina gegründete Mädchengymnasium gestanden hatte. Die ukrainischen Medien berichteten vom “Haus, das dreimal brannte”. Zum ersten Mal war es während des Bürgerkrieges ins Flammen aufgegangen, als es noch Valentinas Gymnasium war. Später hatten an genau dieser Stelle, in der Georgiejewskaja-Straße 69, die deutschen Besatzer ihr Arbeitsamt eingerichtet und bei ihrem Rückzug aus Mariupol angezündet, um die Spuren ihrer Deportationsbehörde zu verwischen (Wodin 2017, 85). Es liegt auf der Hand, dass sowohl hier als auch in ihren Beschreibungen des nachrevolutionären Bürgerkriegs die Autorin keinerlei Unterschied zwischen Konfliktparteien macht bzw. machen will. Sie fragt nicht, 25 «NuBE», 1 (2020) - Monografica wer das ehemalige Gymnasium in Mariupol im Mai 2014 anzündete und wer die Schuld daran trägt, dass in der Heimatstadt ihrer Mutter wieder geschossen und getötet wird. Stattdessen betrachtet die Schriftstellerin die neusten Entwicklungen in Mariupol als ein weiteres Glied in der Kette grausamer historischer Katastrophen, die die Stadt im vorigen Jahrhundert heimsuchten. Aus dieser Perspektive liest sich die dritte Abbrennung des familiären Erinnerungsortes als ein erneuter Angriff – diesmal vonseiten der neusten ukrainischen Geschichte – auf das Familiengedächtnis und das kulturelle Gedächtnis der Heimatstadt von Wodins Mutter, der die Kontinuität von historischen Zeiten und historischen Erfahrungen sichtbar macht. ῀ In diesem Sinne fungiert Mariupol im Roman nicht nur als Schauplatz der Familiengeschichte, sondern vielmehr als zentraler Erinnerungsort, der alle Familienangehörigen, die lebendigen wie die toten, miteinander verknüpft. Mehr noch: Es wirkt als unverrückbare geistige Heimat, die zwar verloren wurde, doch ihre Anziehungs- und Wirkungskraft nicht einbüßte. Die Vielfalt der Grenzen, die durch das von der Protagonistin (re)konstruierte Mariupol-Bild verlaufen, lässt sich aus mehreren Perspektiven auf die Verwischung der Grenze zwischen dem eigenen und dem fremden Raum zurückführen. Als gebürtige Deutsche nimmt die Protagonistin die Heimat ihrer Eltern als einen fernen und fremden Ort wahr. Doch als Postmigrantin, die in der Geschichte ihrer Vorfahren verankert ist, fühlt sie sich mit Mariupol tief verbunden. Diese doppelte Verwurzelung bedingt unter anderem die Abschaffung der klassischen West-Ost-Opposition innerhalb des Mariupol-Bildes. Dabei lässt sich von den “osteuropäischen” Akzenten, die sowohl der Topografie als auch dem ganzen Roman innewohnen, jene Perspektive auf deutsche und europäische Geschichte ablesen, die als 26 Ievgeniia Voloshchuk Teil vom neusten Paradigma der «Osterweiterung» (Bürger-Koftis 2008) bzw. von «Eastern Turn» (Haines 2008) in der deutschen Gegenwartsliteratur betrachtet werden kann. Bibliographie Bürger-Koftis Michaela (Hrsg.) 2008, Eine Sprache – viele Horizonte… Die Osterweiterung der deutschsprachigen Literatur. Porträts einer neuen europäischen Generation. Praesens Verlag, Wien. Dell’Agnese Rita 2017, Auf Spurensuche. https://www.belletristikcouch.de/titel/4062-sie-kam-aus-mariupol [21/07/2020]. Chiellino Carmine 2000 (Hrsg.), Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Metzler, Stuttgart. Grabowsky Dennis 2017, “Sie kam aus Mariupol”: Eine düstere Familiengeschichte, die Weltgeschichte ist. «Vorwärts», 23. 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Isterheld Nora 2020, “Die Russen sind wieder da!” Wie russischstämmige AutorInnen den deutschsprachigen Literaturbetrieb erobern, in Matthias Aumüller und Willms Weertje (Hrsg.), Migration und Gegenwartsliteratur: Der Beitrag von Autorinnen und Autoren osteuropäischer Herkunft zur literarischen Kultur im deutschsprachigen Raum. Brill/Wilhelm Fink, Paderborn, 7190. Schenk Frithjof Benjamin 2013, Mental Maps. Die kognitive Kartierung des Kontinents als Forschungsgegenstand der europäischen Geschichte. In Europäische Geschichte Online. http://ieg-ego.eu/de/threads/theorien-undmethoden/mental-maps/frithjof-benjamin-schenk-mental-mapsdie-kognitive-kartierung-des-kontinents-als-forschungsgegenstandder-europaeischen-geschichte [09/11/2018]. Schlögel Karl 2015, Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen. Carl Hanser, München. Warner Frank 2003, The Evil Empire Speech: The Full Story of Reagan’s Historic Address. http://frankwarner.typepad.com [29/07/2020]. 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