ISSN 2516-4309
Kleine Schriften 3
Schlitzgruben: Funktionsinterpretationen
Teil 1
Seltenere Deutungen, Kult- und Opfergruben,
Webgewichtsgruben
Eric Biermann
https://archdenk.rkarl.org/
Wien 2023
Eric Biermann, Schlitzgruben: Funktionsinterpretationen, Teil 1
Titelbild:
LBK-Siedlung Köln Lindental (rechts: nach Buttler & Haberey 1936); Leather Dresser, von William
Henry Pyne, aus 'Costume of Great Britain' von William Miller, 1805 (oben links); Windecken,
Lkr. Hanau (D) (Mitte, oben: nach Wolff 1911, 22, Abb. 3); Latrine mit kaiserlichen Soldaten
(Mitte, 2tes von oben: nach https://images.derstandard.at/img/2014/07/17/HellLR008
ApocalypseWorld.jpg?w=1600&s=2c0fb54d [9/4/2021]); Elchjagd in Schweden (Mitte, 3tes von
oben: nach Verlinde 2004, 73, Abb. 8); Windschirm Nordamerika (Pueblo) (mittig rechts, nach
Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon, 5. Auflage, Band 1. Leipzig 1911, 538-539,
Ethnographie I, Abb. 9). Schlitzgrubenbefund in Münster-Sarmsheim, Lkr. Mainz-Bingen (D),
Befund 48 (unten links: nach Lehner 1917, Abb. 6)
Impressum
Herausgeber:
Prof.em. PD Mag.Dr. Raimund Karl FSA FSAScot MCIfA
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Eric Biermann, Schlitzgruben: Funktionsinterpretationen, Teil 1
Inhalt
Vorwort.......................................................................................... 1
Einleitung ....................................................................................... 4
Topografische Differenzierung ...................................................... 7
Seltenere Deutungen................................................................... 10
Kult- und Opfergruben ................................................................ 15
Webgewichtsgruben.................................................................... 19
Zusammenfassung ....................................................................... 22
Bibliografie................................................................................... 23
i
Über den Autor:
Dr. Eric Biermann, geboren 1965 in Köln, studierte Ur- und
Frühgeschichte, Klassische/Provinzial-römische Archäologie und
Völkerkunde in Köln und promovierte in Halle (Saale). Er arbeitet zur Zeit
als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einer archäologischen Fachfirma
und freiberuflich. Zuvor war er bei verschiedenen Landesämtern und im
universitären Bereich (Lehraufträge und -grabungen) tätig.
ii
Eric Biermann, Schlitzgruben: Funktionsinterpretationen, Teil 1
Vorwort
Schlitzgruben bilden insbesondere bezüglich ihrer Funktion eines der bis
in unsere Zeit weitgehend ungelösten archäologischen Rätsel.
„Wenn auch die Bedeutung dieser eigentümlichen Erdschlitze
damit positiv noch nicht sicher festgestellt ist, so dürfte (…)
zusammen mit den neuen daran gemachten Beobachtungen
allmählich auf den Weg zu ihrer richtigen Erklärung führen“.
(Lehner 1917, 127).
Diese vor über 100 Jahren durch Hans Lehner gehegte Hoffnung hat sich
letztlich bis heute nicht erfüllt. Die funktionalen Deutungen der
„rätselhaften“ Befundgattung der Schlitzgruben (Eckmeier 2015; Jahn
2002/2003) werden seither in fast jeder Publikation, die zumindest am
Rande Schlitzgruben betrifft, rege diskutiert (z.B. Biermann 2001/2003,
182-184; Fries-Knoblach 2006, 34-35; Lenneis et al. 1995, 18; Lenneis
2013; Neth 1999, 116-118; Verlinde 2004, 76-79). Ein Konsens konnte
bislang nicht erreicht werden. Zwar wurden zwischenzeitlich u.a. auch
interessante naturwissenschaftliche Details bekannt, aber eine
zufriedenstellende oder gar abschließende Lösung konnte dennoch
nicht erarbeitet werden. Insofern kam man nach wie vor behaupten:
„Nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.“
(Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 - 1900); Nachgelassene
Fragmente. Ende 1886 – Frühjahr 1887).
Die Grundproblematik ist einfach zu beschreiben. Bedingt durch eine
generelle Fundarmut (z.B. Bernhardt 1986, 155; Hüser & Döhle 2011, 37;
Lenneis 2009, 47; Van de Velde 1973, 51, 60; Wührer 2008) und eine
große chronologische Spanne, aber vor allem auch durch die
siedlungsgeographische und naturräumliche Vielfalt des Schlitzgrubenbefundvorkommens, muss es eigentlich mehrere Lösungsansätze zur
1
Vorwort
Funktion geben (ganz ähnlich z.B. Friederich 2013, 229; Geelhaar &
Fassbinder 2014, 210; Küßner 2015, 176; Lenneis 2009, 53; Lettmann
2013, 194; Mahnkopf 2013, 228; Petzold et al. 2018, 63). Als Analogie:
Dies gilt zumindest für den technisch z.T. sehr ähnlich ausgeführten
„Befundtyp Graben“ (Abb. 1), der ebenfalls unterschiedlichste
Funktionen übernehmen kann (Be- oder Entwässerungsgräben,
Landwehrgräben, Leitungsgräben, Schützengräben, div. Befestigungsgräben etc.).
Abb. 1: Profile der mittelneolithischen Kreisgrabenanlage Künzing-Unternberg, Lkr.
Deggendorf (D). Die extremen Spitz-gräben waren noch bis zu 4 m tief, wobei die unteren
1,5 m eine Breite von lediglich 15-30 cm aufwiesen (Nach: https://www.landkreisdeggendorhttps://www.landkreis-deggendorf.de/media/17060/kuenzing-unternberg_
abb-4_-mn7_profil-1_neu.jpg (links) und https://www.landkreis-deggendorf.de/media
/16965/kuenzing-unternberg_abb-5_4.jpg (rechts) [17/5/2021]).
Aus diesem Grunde soll im Rahmen einer kleinen Reihe das Thema
Schlitzgruben aus verschiedenen Perspektiven heraus beleuchtet
werden. Zunächst sollen die im Laufe der Forschungsgeschichte
2
Eric Biermann, Schlitzgruben: Funktionsinterpretationen, Teil 1
vorgeschlagene Funktionsinterpretationen vorgestellt und auf ihre
Plausibilität hin überprüft werden. Dazu sollen u.a. geographische,
typologisch-metrische, technische und chronologische Aspekte
einbezogen werden, die diese bestätigen oder widerlegen könnten. Der
erste Teil befasst sich mit den eher seltener in der Literatur
thematisierten Deutungen, enthält aber auch einige allgemeine bzw.
erläuternde Bemerkungen. Bei letztlich unklarer Problemstellung und
mehreren Lösungsmöglichkeiten soll im Folgenden versucht werden mit
divergenten Denkansätzen die bislang von der Forschung erarbeiteten
Fakten zu sortieren und ggf. zu erweitern und zu ergänzen.
3
Einleitung
Einleitung
Schlitzgruben sind ein von Ungarn (z.B. András 2009) bis nach
Zentralfrankreich im Westen und bis Italien im Süden (z.B. Cavulli 2008)
beobachteter und dokumentierter, insgesamt recht gleichartiger
Befundtyp (Z.B. Petzold et al. 2018, 62). Die Befundkategorie wurde
ursprünglich schlicht als „Schlitze“ (Butler & Haberey 1936, 65; Lehner
1917, 115; Modderman 1992, 36) oder „Erdschlitze“ (Lehner 1917, 127)
bezeichnet. Alternativ finden sich auch die Bezeichnungen
„Spitzgräbchen“ (Gall 1975), „Schlitzgraben/Schlitzgräbchen“ (z.B.
Büttner/Kneipp 1989, 4-8; Kind 1989, 98-100; Reim 1991, 83; Rück 2007,
7, Tab. 1; McCabe 2001; Struck 1984) oder „Schachtgrube“ (Schietzel
1965, 22). Der Terminus Schlitzgrube hat sich inzwischen auch
international u.a. sowohl in der englisch- (z.B. Golitko 2010, 180
“Schlitzgrubbe”) und französischsprachigen (z.B. Bosquet et al. 2013;
Marcigny 2013), der niederländischen (z.B. Van Wijk 2006), als auch in
der osteuropäischen Forschung (z.B Dzięgielewki 2011) eingebürgert.
Die ggf. früheste Beschreibung und Abbildung einer Schlitzgrube - hier
als „Graben“ bzw. „Erdspalte“ bezeichnet - findet sich wohl in Oscar
Paret´s Aufsatz „Das Steinzeitdorf bei Monrepos“ (Paret 1910, 7, mit
Abb. 1).
Die Metrik und Chronologie der Befunde wird an dieser Stelle nicht
eingehender behandelt, da dies einem eigenen Band vorbehalten sein
soll. Daher folgen hier nur einige grundsätzliche Angaben.
Die als „typische“, „echte“ oder „klassische“ Schlitzgruben bezeichneten
Befunde zeichnen sich in der Planumsaufsicht als langrechteckige,
rechteckige mit gerundeten Enden oder langovaloide Verfärbungen ab.
Als grobe Richtwerte sollte die maximale Breite höchstens ein Drittel der
maximalen Länge betragen (z.B. Metrik Stephansposching: Die Breite
beträgt im Schnitt 34 % der Länge; Pechtl 2018, 313). Die Breite sollte
außerdem unter 100 cm, idealerweise bei maximal 50 cm liegen (z.B.
4
Eric Biermann, Schlitzgruben: Funktionsinterpretationen, Teil 1
Lenneis 2013, 154; vgl. hingegen die wesentlich größere
Variationsbreite der „Allgemeingruppe“: Achard-Corompt et al. 2013,
15, Fig. 8.; der höchste Anteil „klassischer Schlitzgruben“ ist in der I/Yförmigen Teilgruppe vertreten: Achard-Corompt et al. 2013, 17). Zudem
war die (ursprüngliche) Tiefe der Gruben stets größer als ihre Breite
(„the ratio Length : Width : Depth = (2-10) : 1 : (1-4) encompasses all of
them”; Van de Velde 1973, 50) und scheint mit dieser zu korrelieren
(Lenneis 2009, 48). In der französischen Forschung hat man auf
Grundlage der metrischen Unterschiede bereits eine entsprechende
Typologisierung vorgenommen (Achard-Corompt et al. 2013, 13, Fig. 3;
Achard-Corompt & Riquier 2014, 367, Fig. 2; Achard-Corompt et al.
2017, 16, Fig. 3, Type 6-7; Achard-Corompt 2017, 32, Fig. 4: Typ 6: Plan
oblong, parfois irrégulier, profil en I, U, V, ou Y, petite Schlitzgrube und
Typ 7: Plan oblong ou ovale, profil en I, U, V, ou Y, Schlitzgrube typique).
Die zahlenmäßig meisten Schlitzgrubenbefunde sind in der
Gesamtbetrachtung tatsächlich aus Siedlungen der Linien/Linearbandkeramik (LBK) bekannt. Jedoch sind sie auch hier, auf die
Gesamtzahl der Siedlungen bezogen, selten und scheinen daher nicht zu
deren regelhafter Ausstattung gehört zu haben (Lenneis 2009, 180-181;
Stäuble & Wolfram 2012, 41). Dies mag auf den ersten Blick ein
forschungsimmanenter Faktor sein, der mit der Größe der jeweils
aufgedeckten Flächen sowie deren Lage innerhalb bandkeramischer
Siedlungen in Verbindung stehen könnte (z.B. Lenneis 2013, 151:
„Charakteristisch für diese Befunde ist, dass sie jeweils nicht einzeln,
sondern immer in größerer Zahl vorkommen. Letzteres ist nur bei
ausreichend großflächig untersuchten Plätzen festzustellen“; ähnlich:
Stäuble & Wolfram 2012, 41). Das kann allerdings nicht der alleinige und
ausschlaggebende Grund für die Seltenheit der Schlitzgrubenbefunde
sein. Denn trotz flächig durchgeführter Grabungen wurden in einigen
LBK-Siedlungen mit langer und umfangreicher Siedlungsaktivität, z.B. in
Vaihingen a.d. Enz, Kr. Ludwigsburg (D), keinerlei Hinweise auf
5
Einleitung
Schlitzgruben entdeckt (Bogaard et al. 2017, 5, Fig. 4). Daher ist der
Gedanke naheliegend, dass ihre Anlage mit Tätigkeiten in
Zusammenhang stand, die nicht in/von allen Gemeinschaften ausgeübt
wurden (Lönne 2003, 60; Stäuble & Wolfram 2012, 41) und ggf. mit einer
wie auch immer gearteten Spezialisierung einhergegangen sind (Frirdich
1994, 347; Lüning 1982a, 148; Reps 2011, 21; Stehli 1994, 93). Denn
gerade LBK-Schlitzgruben sind durch eine sehr typische Ausformung
charakterisiert, da sie grundsätzlich stets einem sehr ähnlichen Bauplan
mit geringer Variabilität in Maßen und Proportionen folgen (Lenneis
2009, 48, Abb. 33; 2013, 147, Abb. 7-8). Im Planum weisen sie eine
langrechteckige Form von zumeist 200-300 cm Länge bei einer geringen
Breite von lediglich 15-50 cm (ähnlich Lenneis 2018, 85: „Es handelt sich
um 20 bis 40 cm breite und 2 bis 4 m lange Gruben unterschiedlicher
Tiefe.“; Schade-Lindig 2012, 123: „Vom Grundriss her nur wenige
Dezimeter schmal (15-40 cm), aber bis zu mehreren Metern lang (0,802,5 m).“) auf. Ihr „keilförmiges“ Querprofil zeigt nahezu senkrechte I bis
V-förmige Wände bei einer ebenen, gerundeten oder auch spitz
zulaufenden Sohle. Im Längsprofil herrschen wannenförmige Konturen
vor (ähnlich bereits Van de Velde 1973, 60). Ihre Tiefe kann, je nach
angetroffenen Erhaltungsbedingungen, bis über zwei Meter betragen.
Die Schlitzgruben scheinen aber auch dort, wo sie in Siedlungen
vorkommen, eine insgesamt eher seltene Befundgattung zu sein. So
errechnete Joachim Pechtl für die LBK-Siedlung Stephansposching, Lkr.
Deggendorf (D) lediglich 0,11 Schlitzgruben pro Hausgrundriss (Pechtl
2018, 325).
6
Eric Biermann, Schlitzgruben: Funktionsinterpretationen, Teil 1
Topografische Differenzierung
Grundsätzlich kann man zwischen Schlitzgrubenbefunden innerhalb von
Siedlungen („On-Site-Befunde“) und solchen außerhalb der
„Siedlungsinseln“ („Off-Site-Befunde“) unterscheiden. Bezüglich der
innerhalb von Siedlungen gelegenen wäre auch, da oftmals auch
innerhalb von Graben- und/oder Palisadenanlagen befindlich, die
Bezeichnung „In-Site-Befunde“ durchaus treffend. Des Weiteren
kommen Schlitzgruben vor, die sich im Bereich des Siedlungsrandes
befinden. Sie liegen also mehr oder weniger an der Grenze der
eigentlichen Bebauung, die ansonsten z.B. auch durch Grabenund/oder Palisadenanlagen gekennzeichnet ist. Diese werden in Folge
„Rim-Site-Befunde“ genannt. Letztlich sind noch solche Schlitzgruben zu
nennen, die zwar bereits im Vorfeld einer Siedlung liegen, aber aller
Wahrscheinlichkeit nach dennoch im gerodeten Nutzungsareal der
Ansiedlung zu verorten gewesen sind („Inbetween-Site-Befunde“) (Abb.
2).
Abb. 2: Schematische Darstellung zu Schlitzgruben mit und ohne direkten Siedlungsbezug
(E. Biermann).
7
Topografische Differenzierung
Innerhalb alt- und mittelneolithischer Siedlungen („In-Site-Befunde“)
gibt es wiederum keine regelhafte Verteilung der Schlitzgruben. Sie
treten zwischen den Bauarealen der Häuser verstreut, in Reihenanordnung oder in lockeren Gruppen (Z.B. Lenneis 2009, 180-181, Abb.
29-31, Tafel 42-56; 2013, 148; Pechtl 2018, 317, 321) auf. Die Befunde
lassen sich zudem meistens keinem spezifischen Hausgrundriss
zuordnen (z.B. Stephansposching, Lkr. Deggendorf (D): Pechtl 2018, 319;
Langenleuba-Oberhain, Stadt Penig (D): Schell 2013, 136; Gammelsdorf,
Lkr. Freising (D): Wild 2018, 86; Vörstetten, Gewann Grub, Lkr.
Emmendingen (D): McCabe 2001, 24; Uffenheim-Wallmersbach, Lkr.
Neustadt an der Aisch-Bad Windsheim (D): Nadler 2011) und bei ihrer
Verteilung „keine strategische Zusammengehörigkeit erkennen“
(Lippmann 1985, 206). Jedoch mag es auch hier Ausnahmen geben (z.B.
Weisweiler 111, Kr. Düren [D]: Die Befunde 1104 und 1156 können
aufgrund ihrer Form und ihrer Maße als Schlitzgruben angesprochen
werden; Van de Velde 1973. Zwei der insgesamt vier beobachteten
Schlitzgruben der Siedlung lägen somit in unmittelbarer Nähe des
Grundrisses; vgl. auch Rück 2007, 7, Tab. 1; Endrőd 119, Komitat Békés
[H]: „Sechs von den neun ausgegrabenen Opfergruben entsprechen dem
Typus der Schlitzgruben und es scheint, daß zu jeder größeren
Abfallgrube je eine Schlitzgrube gehörte“; Makkay 2002, 202).
Aus der im Siedlungsbezug recht unterschiedlichen Verteilung der
schlitzgruben folgt auch, das einige der interpretativen Hauptansätze für
„On-/In-Side-Fundplätze“ (z.B. Gerberei, Latrinen) und „Off-SideFundplätze“ (Wildfallen) zwar zunächst in sich schlüssig sind, sich aber
gegenseitig weitgehend ausschließen. Ohne an dieser Stelle bereits auf
detaillierter auf diese Interpretationen einzugehen, ergeben Wildfallen
bei nachweislicher Gleichzeitigkeit innerhalb von Siedlungen, gerade
auch, wenn letztere von Palisaden, Gräben etc. umgeben sind (z.B.
Bremer 1913, 389; Buttler & Haberey 1936, 65; Cichy et al. 2016, 51;
Lippmann 1985, 206; Marti et al. 2013 [deutschsprachige Zusammenfassung]), keinen nachvollziehbaren Sinn (bereits Lehner 1917, 127). Des
8
Eric Biermann, Schlitzgruben: Funktionsinterpretationen, Teil 1
Weiteren sind bereits seit der Bandkeramik Wach- und Hütehunde
(bereits Müller 1964, 65) in größerem Umfang in den Siedlungen
vertreten gewesen (z.B. Biermann 2001/2003, 585, Tab. 25; Kroll 2004
[mit Welpen]; Schwarz 1950, 210 [Baalberge: 12 Nachweise]), die Wild
zusätzlich abgeschreckt hätten. Umgekehrt sind aber auch „einsame
Gerbgruben“ oder Latrinen ohne Bezug zu jedweder Infrastruktur („OffSite“) sehr unwahrscheinlich.
9
Seltenere Deutungen
Seltenere Deutungen
Einer der frühen Vorschläge zur Funktion von Schlitzgruben war der der
Nutzung als „Windfang“ oder Windschirm (Bremer 1913, 389-390). Als
Analogie dienten bereits damals bekannte völkerkundliche Beobachtungen (Abb. 3; vgl.: Brockhaus, Windschirm. http://brockhaus.de/
ecs/enzy/article/windschirm [6/4/2021]; völkerkundlicher Vergleich:
https://skd-online-collection.skd.museum/large/376/e242ed20-a948443c-a6e5-0153adca0b18.jpg). Ähnlich wie bei Pfostengrubenverfüllungen böte diese Interpretation zumindest eine Erklärung für die
immer wieder beobachtete
Fundarmut der Befunde. Diese
von Walther Bremer bzgl.
rössenzeitlicher Schlitzgruben
(Lich-Eberstadt, Lkr. Gießen
(D)) angeregte Diskussion wetterfester Schutzwände (indem
verbundene Pfosten senkrecht
in die Gruben gestellt wurden)
mag aus heutiger Sicht
verwundern. Jedoch ging man
zu dieser Zeit generell davon
aus, dass die Menschen des
Neolithikums in eckigen oder
runden Wohngruben, sogenannten „KurvenkomplexAbb. 3: Windschirm der Pueblo-Indianer
(Tusayan, Nordamerika) Nach: Brockhaus' bauten“, gewohnt hätten (z.B.
Kleines Konversations-Lexikon, 5. Auflage, Bursch 1937; Crome 1929;
Band 1. Leipzig 1911, 538-539, Ethnographie I,
Abb. 9. Permalink: http://www.zeno.org/nid/ Frickhinger 1929; Koehl 1912,
20001705466 [5/4/2021].
59-60; Schliz 1900). Erst durch
10
Eric Biermann, Schlitzgruben: Funktionsinterpretationen, Teil 1
die Ausgrabungen im Bereich der bandkeramischen Siedlung KölnLindenthal (D) (Buttler & Haberey 1936) wurde klar, dass auch große
Pfostenbauten zum Siedlungsbild gehört haben müssen. Ein
Nebeneinander beider Bauformen, z.B. im Sinne einer sozialen
Differenzierung/Stratifizierung, ist jedoch unwahrscheinlich, da die
Häuser regelhaft gleichartige, ggf. an der Hauptwindrichtung
ausgerichtete Orientierungen aufweisen (Mattheußer 1991; dazu
kritisch: Einicke 2011). Die ohnehin nicht in allen Siedlungen
vorkommenden Schlitzgruben weisen jedoch unterschiedlichste
Orientierungen auf. Innerhalb oder randlich der Siedlungen könnte man
allenfalls postulieren, dass solche Schirme zum Schutz des Viehs
aufgestellt wurden, da dieses wohl nicht in den Häusern aufgestallt
wurde (bereits Engelhardt 1997, 44; Nieszery 1995, 12 [mit weiterer
Literatur]. Eine Stallhaltung innerhalb der Häuser ist, zumindest in der
ältesten/älteren Bandkeramik, auch auf Grundlage von Phosphatanalysen sehr unwahrscheinlich; Stäuble & Lüning 1999). Dafür sollte
man allerdings dauerhaftere Lösungen erwarten. Zwar sind gelegentlich
– tatsächlich bislang nur innerhalb von Siedlungen – Pfosteneinbauten
in Schlitzgruben nachgewiesen worden (z.B. Bremer 1913, 389-390;
Conrad et al. 2016, 174-176; Einwögerer & Schmitsberger 2012, 16-17,
Abb. 16-17; Lehner 1917, 116; Reps 2011, 19), aber diese sind dennoch
nicht die Regel. Auch hier stellt sich, zumindest in Bezug auf die
Hauptwetterrichtung, die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Ausrichtung
der Schlitzgruben sowohl innerhalb als auch am Rande („Rim-Site“) von
Siedlungen. So waren z.B. bei einer LBK-Siedlung nahe Kürnach, Lkr.
Würzburg (D), im ergrabenen Teil die über 20 nachgewiesenen
Schlitzgruben zifferblattartig/(halb)kreisförmig um die Siedlung herum
angeordnet (Müller 2018, 17, Abb. 13).
Dennoch könnten außerhalb von Siedlungen gelegene Befunde
entsprechend als Windfang gedeutet werden, da solche Bauten auch
11
Seltenere Deutungen
von mobilen Gruppen oder bei Jagdausflügen genutzt worden sein
könnten (Münzel 2015, 31). Jedoch sind Schlitzgruben als Verankerung
für solche aus der Völkerkunde bekannten Windschirme viel zu massiv,
da deren Bauweise regelhaft leichter ist (vgl. z.B. https://phaidra.
univie.ac.at/detail/o:1210842 und https://universal_ lexikon.deacade
mic.com/59292/V%C3%B6lkerkunde_III, Nr. 35 [26/1/2023]). Auch das
Vorkommen langer Grubenreihen (z.B. Biermann/Meyer 2021, Abb. 3)
lässt sich auf diese Weise kaum erklären, selbst wenn diese die Hauptwindrichtung berücksichtigen sollten. Die „Windschirmfunktion“ ist
daher insgesamt kaum praktikabel und sollte als forschungsgeschichtlich durchaus interessante, aber nicht belegbare Deutung
betrachtet werden.
Für die Siedlung Neuville-sur-Oise, Dép. Val-d’Oise (F), wurde vorgeschlagen, dass die dortigen fünf Schlitzgruben mit V- oder U-förmigem
Querschnitt (Marti et al. 2013, bes. Fig. 3) der endneolithischen
Kulturschicht als Vorrichtungen zum Trocknen von großen Netzen oder
Nahrungsmitteln in Zusammenhang mit Aktivitäten am Flussufer
standen (Marti et al. 2013 [deutschsprachige Zusammenfassung]). Die
Gruben liegen mit Breiten von 1,0 bis 2,8 m allerdings außerhalb des
Bereiches der „klassischen“ Schlitzgruben und sind in der Planumsaufsicht eher oval als langoval (Marti et al. 2013, bes. Fig. 3). Auch wenn
dahingestellt sei, ob für diese Funktion eine solch massive Eintiefung
notwendig gewesen wäre, mag die Interpretation für diesen Einzelfall
zutreffend sein. Eine generelle Erklärung, insbesondere für „klassische“
Schlitzgruben, bietet sie allerdings nicht.
Insbesondere für metallzeitlich datierend Schlitzgruben wurden zudem
weitere alternative Funktionsvorschläge gemacht, die grundsätzlich
allesamt Produktionsprozesse implizieren. Es handelt sich um „InSite“/“On-Site“-Befunde im Innenbereich von sogenannten „Herrenhöfen“ (z.B. Niedererlbach: Müller-Depreux 2005, 39; Altheim: Nagler
1993, 32) und unbefestigten Siedlungen der Hallstattzeit (z.B. Schlitz12
Eric Biermann, Schlitzgruben: Funktionsinterpretationen, Teil 1
gruben [ohne datierende Funde!] in der späturnenfelder- und
älterhallstattzeitlichen Siedlung bei Etting, Stadt Ingolstadt; Wührer
2008). Entsprechende Schlitzgruben wurden aufgrund des Fundes
zahlreicher verbrannter Spelzgerstereste als Darrgruben interpretiert
(Biel 1992, 100; vgl. auch Tappert 1994, 67-71). Schlitzgräbchen aus der
frühlatènezeitlichen Siedlung „Reps“ bei Eberdingen-Hochdorf, Kr.
Ludwigsburg (D), wurden als Darren gedeutet, da sich größere Mengen
Holzkohle an den Befundsohlen befanden. Zwei der Schlitzgruben aus
„Reps“ enthielten zudem verkohltes Malz, weshalb diese als Gräbchen
(quasi als Bottichersatz) zum Ankeimen von Gerste für das Brauen von
Bier interpretiert wurden (Stika 2009, 175). Auch diese per se
symphatische Interpretation erscheint jedoch funktional nicht wirklich
einleuchtend. Denn auf einem, allerdings jungneolithischen Fundplatz,
wurde neben Schlitzgruben auch eine potentielle „echte“ Darre
dokumentiert (McCabe 2001: Vörstetten, Lkr. Emmendingen [D]).
Entscheidend ist aber, das weder die Interpretation des „Keimens“ noch
des „Darrens“, die beide zum „Mälzen“ gehören, zu den tatsächlichen
technischen Abläufen dieser Vorgänge passen würden (Krüger
2014/15).
Für bronze- bis eisenzeitliche Schlitzgruben wird außerdem die Funktion
als Flachsrotten/Flachsrösten postuliert (Dzięgielewki 2011; Lausitzer
und Pommerellische Gesichtsurnenkultur). Für diese Zeitstellung sind
Flachsrotten u.a. aus Dänemark (Andresen & Karg 2011) und Großbritannien (Martin & Murphey 1988) bekannt. Geerntete Flachshalme
wurden für mehrere Tage bis Wochen in einer mit Wasser gefüllten
Grube fermentiert. Das sogenannte Rotten/Rösten fand auch noch in
historischer Zeit, allerdings überwiegend in stehenden Gewässern statt.
Die entsprechenden Flachsrotten wurden bevorzugt abseits der
Siedlungen angelegt. Grund war
„die abscheulich stinkende, auf ansehnliche Entfernung sich
verbreitende Ausdünstung, welche nicht selten für die Gesundheit
13
Seltenere Deutungen
der Umwohner nachtheilig wird; das Sterben der Fische in dem
Rottwasser, und der Schaden, welchen das Vieh erleidet, wenn es
solches Wasser zur Tränke hat“ (Dingler 1845, 86).
Der Fäulnisprozess verursacht also einen starken Geruch. Die Interpretation könnte daher für abseits („Off-Site“) oder zumindest etwas
außerhalb der Siedlungen („Inbetween-Site“) gelegene Schlitzgrubenbefunde herangezogen werden. Die von den polnischen Fundplätzen
Brońsko Podłęże, Modlnica und Brzezie bekannten rechteckigen bis
ovalen Gruben liegen passend dazu in der Siedlungs-Peripherie. Die
Unterkanten scheinen allerdings in den vormaligen Grundwasserspiegel
hineingereicht zu haben (Dzięgielewki 2011, 101 [English abstract]) und
zudem waren Spuren von zaunartigen Staken- oder Flechtwerkskonstruktionen am Boden der Gruben vorhanden (Dzięgielewki 2011, 126127, Fig. 13, 14C, 15; Pawlak & Pawlak 2008). Diese Merkmale weisen
die „klassischen“ Schlitzgruben regelhaft nicht auf (die Konstruktion
gleicht aber norwegischen Rentierfallgruben des Spätmittelalters in
Norwegen: Andersen et al. 2006, 24, Abb. oben; Bergstøl 2015, 51, Fig.
4). Die polnischen Rottgruben hatten zudem eine wesentlich größere
Breite. Daher ist die Interpretation zwar im o.g. Kontext plausibel, dürfte
aber nicht auf alt- und mittelneolithische Befunde übertragbar sein.
Letztlich sei bzgl. technischer Anlagen noch auf Teersiedegruben
unterschiedlichster Zeitstellung verwiesen, die gleichfalls ein Y-förmiges
Profil aufweisen können. Die Befunde sind aber einerseits im Planum
rund-oval (z.B. Jauch 1994, 115, Abb. 7-8), andererseits fehlen in den
Schlitzgruben auch die typischen Rückstände.
14
Eric Biermann, Schlitzgruben: Funktionsinterpretationen, Teil 1
Kult- und Opfergruben
Bereits Eberts Universallexikon betrachtet das Opfer als eine der
ältesten Institutionen der Religion, welches Speise und Trank für die
Götter darbietet (Ebert 1927, 192). Die Vergleichende Religionswissenschaft sieht dabei den Ursprung des Opfers bereits im
Schamanismus altsteinzeitlicher Jägergesellschaften (Witzel 2012, 393394). Insofern ist es nachvollziehbar, bei einer ohnehin seltenen
Befundgruppe, die in einigen Fällen mit Deponierungen in Verbindung
zu bringen ist, eine Interpretation als Kult- oder Opfergruben in
Erwägung zu ziehen. Zudem wären solche kultisch motivierten
Schlitzgruben sowohl als „In-Site-Befunde“ als auch als „Off-SiteBefunde“ vorstellbar. So wurden bereits die 14 mittelneolithischen
(Lengyel IV) Schlitzgruben des Fundplatzes von Branč/Berenč, Okres
Nitra (SVK), entsprechend interpretiert (Vladár & Lichardus 1968, insb.
318). Allerdings wurde diese Deutung auch rasch angezweifelt (Van de
Velde 1973, 57). Von den wohl ältesten bekannten neolithischen
Schlitzgruben aus einer Körös-Siedlung in Endröd 3, Komitat Békés (H),
enthielten drei von sechs gleichfalls Deponierungen (Keramik,
Hundeskelett, Idol). Auch diese wurden kultisch gedeutet (Makkay 1989,
243-244; 1992, Sacrificial pits A2, A3, A4, A5, A6 und A7, Abb. 1-4; 2002,
202-203; 2007, 125-188). Abgesehen davon, dass auch diese Gruben in
ihren Maßen nicht den „klassischen“ Schlitzgruben entsprechen,
stammen die Funde allerdings aus den oberen Grubenbereichen. Daher
ist auch eine sekundäre Nutzung für die Deponierung nicht auszuschließen, die mit dem ursprünglichen Gebrauch nicht in Zusammenhang zu stehen braucht (so auch Lenneis 2009, 51). Gleiches gilt wohl
für eine Schlitzgrube in der zur Münchshöfener Kultur (4500-4200 v.
Chr.) gehörenden Siedlung Murr, Lkr. Freising (D), in der eine Doppelbestattung aufgedeckt wurde (Meixner 2009, 107-108, 138-139;
Neumair 1996, 21-23, 41; 1998). Auch aus Maissau, Bez. Hollabrunn (A),
liegt eine menschliche Bestattung aus einer Schlitzgrube (LBK?) vor
15
Kult- und Opfergruben
(Schmitsberger 2008/2009, 454). Siedlungsbestattungen in verschiedensten Grubenformen sind allerdings per se nicht ungewöhnlich. Zudem
wirkt der Kontext eher wie eine „Entsorgung“ in eine zumindest z.T.
noch offenstehenden Grube (Vgl. auch Chilly-Mazarin/La Butte-auBerger IV, Dép. Essonne [F], Bef. Grube 5110, die allerdings laténezeitlich oder jünger datiert; Bruant et al. 2013).
Eine Schlitzgrube aus Tuchoměřice, Bezirk Prag-West (CZ) ist
wahrscheinlich die bislang einzige ihrer Art in Zusammenhang mit der
Řivnáč-Kultur (Badener Horizont). Sie enthielt neben Keramik einen auf
letzterer liegenden Auerochsenschädel (Bos primigenius; 14-C-Datum:
3121–2741 BC), der im unteren Bereich der Verfüllung der 3,4 m tiefen
Grube lag. Interpretativ soll es sich um eine Opfergrube handeln, die
vermutlich mit Tieropfern und indirekt mit den Rinderzüchtern der
Řivnáč-Ökonomie verknüpft sein soll (Sankot & Zápotocký 2011, 112,
113, Abb. 16; Foto 9). Eine kultische Interpretation ist hier sicherlich
nicht unwahrscheinlich, jedoch weist der Wildrindfund meines
Erachtens eher auf Jagd, denn auf Rinderzucht. Parallelen mögen aber
z.B. ein Auerochsenschädel aus Arcis-sur-Aube, Dep. Aube (F) (AchardCorompt et al. 2013, 26, Fig. 27; 14-C-Datum: 3540 ± 40 BP; dort auch
Listen weiterer Faunenfunde Fig. 20-26, die allerdings nicht alle aus
Schlitzgruben stammen!) und der aus Bleichheim, Lkr. Emmendingen (D)
bekannte Fund einer potentiell jungneolithischen Schlitzgrube mit
Rindergehörn sein (Struck 1984, 16). Von einer systematischen
Deponierung im Rahmen einer kultisch religiösen Opferhandlung wird
von den Autoren auch bei zehn Schlitzgruben der frühen Spätbronzezeit
(1300-1000 v. Chr.) in Kalzendorf, Saalekreis (D), ausgegangen, von
denen zwei die Skelette von Rothirschkälbern in Rückenlage mit
Schnürungen der Vorderläufe enthielten. Zudem wurden diese Gruben
wohl intentionell wiederverfüllt (Hüser 2010).
„Die Stellung der Extremitäten kann nur durch menschliche
Manipulation am toten Tier entstanden sein, d.h. beide
16
Eric Biermann, Schlitzgruben: Funktionsinterpretationen, Teil 1
Hirschkälber wurden bewusst niedergelegt. All dies schließt
unseres Erachtens auch aus, dass es sich bei den Hirschkälbern um
einfach entsorgte Kadaver handelt, zumal man dafür wohl keine
speziellen (Schlitz-)Gruben genutzt hätte“ (Hüser & Döhle 2011,
40).
Allerdings findet die Geburt der Rothirschkälber („Setzzeit“) von Mai bis
Juni (Bunzel-Drüke et al. 2008, 54; https://wildtierrettung.de
/erstversorgung/daten.html; https://www.jagdfakten.at/rotwild-steck
brief-hirsch-kahlwild-hirschkalb/) statt. Da das Alter der beiden Hirschkälber mit etwa drei Monaten angegeben wird (Hüser & Döhle 2011,
39), dürften sie mit hoher Wahrscheinlichkeit im August erlegt worden
sein. Das heißt, dass gerade zu dieser Jahreszeit eine schnelle
Verarbeitung notwendig gewesen wäre und sonst ggf. tatsächlich
„verdorbenes Fleisch“ geruchsdämmend entsorgt werden musste.
„Der wohl wichtigste Faktor beim Thema Wildbrethygiene ist der
Faktor Zeit. Es gilt, das Zeitfenster vom Schuss bis zum Aufbrechen
möglichst gering zu halten, ideal ist eine Dauer von maximal 45
Minuten. (…) Insbesondere bei starker Sonneneinstrahlung auf
den Wildkörper oder Stress vor dem Schuss, der die
Körpertemperatur steigen lässt, sollten die 90 Minuten auf keinen
Fall überschritten werden.“ (https://www.natuerlich-jagd.de/imrevier/sommer-sonne-wildbrethygiene.html).
Entsprechend ist hier eine „Entsorgung“ in offenstehenden, nicht mehr
in Originalfunktion genutzten Schlitzgruben m.E. gar nicht so
unwahrscheinlich. Auch das sofortige Zuschütten der Gruben und die
Schnürungen - für den ursprünglich geplanten Heimtransport nach der
Jagd (?) - wären damit nachvollziehbar zu erklären. Eine ebenfalls in die
späte Bronzezeit datierende „Y-Schlitzgrube“ in Amiens (F) bildet eine
Mischung aus Tierdeponierung und Bestattungsfundkomplex. Sie
enthielt sowohl die Relikte von fünf Schweinen als auch eine
17
Kult- und Opfergruben
menschliche Bestattung. Die Autoren vermuten hier ebenfalls eine
mögliche sekundäre Nutzung zu rituellen Zwecken (Rapone et al. 2018).
Die Deutung als Opfer- bzw. Kultgruben wurde auch für die LBK immer
wieder in Betracht gezogen (z.B. Fritsch 1998, 40 [mit weiterer
Literatur]), jedoch gibt es für die insgesamt fundarmen Schlitzgruben
der LBK keine Deponierungsbelege. Die vergleichsweise seltenen
Siedlungen mit Schlitzgrubenkonzentrationen, aber auch Reihen oder
Gruppen in Off-Site-Situationen, gänzlich als Kultplätze oder -zentren zu
betrachten erscheint daher insgesamt wenig wahrscheinlich.
18
Eric Biermann, Schlitzgruben: Funktionsinterpretationen, Teil 1
Webgewichtsgruben
Detlef Gronenborn schlug eine Funktion als Webgruben/Webgewichtsgruben für die Schlitzgrubenbefunde in Siedlungen („On-Site/In-Site“)
vor (Gronenborn 1989). Als möglichen Beleg zog er die stilisierte
Darstellung einer webenden Person auf einer hallstattzeitlichen Urne
aus Ungarn heran. Die Kettfäden des Webstuhls hängen weit unter die
Standfläche der webenden Person in eine Grube hinab (Eibner-Persy
1980, 225, 226, Taf. 16-17). Funde von Gewichtswebstuhlstandorten der
Hallstattzeit, belegt durch die noch nebeneinander aufgereihten
Gewichte, können - ähnlich den Schlitzgruben - bis zu vier Meter Länge
haben (Grömer 2012, 64). Entsprechende Webstuhlkonstruktionen sind
also denkbar. In Häusern auf der Heuneburg (Hundersingen, Lkr.
Sigmaringen [D]) gibt es Gräbchen, die parallel zur Hauswand verlaufen.
Diese werden als Fundamentschwellen für solche Gewichtswebstühle
interpretiert (Gersbach 1995, 110). Ähnliches wurde z.B. auch für die
urnenfelderzeitliche Flachlandsiedlung im „Aufeld“ bei Atting, Lkr.
Straubing-Bogen (D) in Betracht gezogen (vgl. auch z. B. in Neufahrn i.
NB, Lkr. Landshut [D]: Koch 2005; Eberdingen-Hochdorf, Lkr. Ludwigsburg [D]: Biel 1992). Dort befand sich im Inneren eines Hauses parallel
zur Längswand eine langschmale Grube, aus der Fragmente von
Webgewichten stammen (Zirngibl 2012, 58-59). Weitere Befunde dieser
Art wurden bei der Grabung „Künzing Umspannwerk“, Lkr. Deggendorf
(D) (Zuber 2010, bes. 168-170, Abb. 35-40; vgl. ausführlicher auch:
Mahnkopf 2013. Allerdings sind natürlich auch Funde unabhängig von
Schlitzgruben bekannt: z.B. Vohburg-Menning, Lkr. Pfaffenhofen a. d.
Ilm, Siedlung der Urnenfelderzeit mit drei isoliert liegenden Grubenkomplexen mit Keramik und Webgewichten; Berg et al. 2019, 172-173),
festgestellt. Als Voraussetzung muss jedenfalls angenommen werden,
dass die Kettfäden mit den Webgewichten (innerhalb der Häuser)
unterhalb des Fußbodenniveaus hingen (Geelhaar & Fassbinder 2014,
210). Allerdings zeigen Darstellungen auf ca. 1.650-1.400 v.Chr.
19
Webgewichtsgruben
datierenden Felszeichnungen in der Val Camonica, Lombardei (I)
(Zimmermann 1988, insbes. Abb. 1-5) und griechischen Vasen (6.-4. Jh.
v.Chr.) (Thalmann 2007, 7-8, Abb. 2-3) keine entsprechenden Grubenanlagen. Der wohl auf indogermanischen Ursprung zurückgehende
griechische Begriff für Webstuhl selbst, histos orthios, bedeutet wörtlich
„aufrechtes Gestell“ (Thalmann 2007, 7 [mit weiterer Literatur]; Abb. 4).
Er ist daher eine beschreibende
Erklärung des übernommenen
Gerätes ohne eine implizierte
Grube. Für die Bandkeramik und
das Mittelneolithikum wäre
dieser Sprachbezug allerdings
kaum von Belang. Jedoch wird in
einer neueren Publikation zum
urnenfelderzeitlichen Fundplatz
Künzing, Lkr. Deggendorf (D) der
Abb. 4: Gewichtswebstuhl auf einem Unterschied zwischen diesen in
griechischem Vasenbild, ca. 540 v. Chr. (Kolb der Aufsicht zwar ebenfalls lang1994, 89).
schmalen Gruben und „echten“
Schlitzgruben gerade auf Grund der mangelnden Tiefe der Befunde
herausgearbeitet (Zuber 2021 [mit weiterer Literatur]).
Es gibt daher für die „echten“ Schlitzgruben bislang keine wirklich
belastbaren Hinweise die auf eine (neolithische) Nutzung als Webgewichtsgruben (vgl. dazu auch Lindig 2002, 169-170, Anm. 47). Zwar
könnte man spezialisierte LBK-Siedlungen mit Weberhandwerk
postulieren, jedoch erscheinen weder die interne Verteilung der
Schlitzgruben noch die wenigen geborgenen Funde damit vereinbar
(gegenteilig: Müller 2018, 17). Zwar kennen wir Webgewichte, Spinnwirtel und wohl gleichfalls als Wirtel genutzte Tonrondelle, d.h. mit
Faser- und Gewebeherstellung verbundenen Artefakte, aus mehreren
dieser Siedlungen (z.B. Bad Nauheim-Nieder-Mörlen, „Auf dem
Hempler“, Wetteraukreis [D]: Webgewichte/Spinnwirtel: Schade-Lindig
20
Eric Biermann, Schlitzgruben: Funktionsinterpretationen, Teil 1
2002, 132, Abb. 13; Schade-Lindig & Schmitt 2003; Spinnwirtel:
Biermann 2001/2003, 177-178, Texttab. 13, Anhang Tab. 27.;
Tonrondelle: Biermann 2001/2003, 178-180, Texttab. 14, Anhang Tab.
28; Webgewichte: Biermann 2001/2003, 180, Anhang Tab. 30), jedoch
besteht nirgends ein feststellbarer Zusammenhang mit dem
Vorkommen von Schlitzgruben (Biermann 2001/2003, 182, Anm. 512).
Auch naturwissenschaftliche Untersuchungen der Schlitzgrubenverfüllungen, wie z.B. Phosphatanalysen, wären in diesem Zusammenhang
kaum zielführend, da deren Einbringung und Zusammensetzung nichts
mit dem eigentlichen Arbeits-/Nutzungsprozess, d.h. „weben“, in den
offenen Gruben zu tun haben muss.
21
Zusammenfassung
Zusammenfassung
Der erste Teil zu Schlitzgruben betreffende Interpretationsansätzen
befasst sich mit einigen selteneren und insgesamt, zumindest auf den
alt- und mittelneolithischen Kontext bezogen, eher unwahrscheinlichen
Deutungen. Die Windschirm/Windfangfunktion erscheint unpraktikabel
und ist eher von forschungsgeschichtlichem Interesse. Verschiedene
technische Ansätze wie Trockengestelle, Darren, Rottgruben und
Webgewichtsgruben mögen für einzelne, in der Bauausführung ähnliche
Befunde zutreffend sein, gehören aber meist jüngeren Zeitstellungen an
und sind formal nicht zu den „typischen“ Schlitzgruben zu zählen.
22
Eric Biermann, Schlitzgruben: Funktionsinterpretationen, Teil 1
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