Stellungnahme der Bundesärztekammer zum Entwurf des IQWiG vom 24.01.2008 „Methodik für die Bewertung von Verhältnissen zwischen Kosten und Nutzen im System der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung“ (Version 1.0)
31.03.2008
Zur Präambel und Abschnitt 1, Einführung
(1) Der o. g. Entwurf des IQWiG zur Methodik von Kosten-Nutzen-Bewertungen wurde von einem internationalen Expertengremium erarbeitet, dessen Mitglieder vom IQWiG bestellt und beauftragt wurden. Sachverständige mit Tätigkeitsschwerpunkt in Deutschland wurden nicht in das Expertengremium aufgenommen. Die Auswahl- und Entscheidungskriterien für die Experten des internationalen Panels, die vom IQWiG festgelegten formalen und inhaltlichen Anforderungen sowie die konkreten Rahmenbedingungen bezüglich der Erstellung des Methodenvorschlags erscheinen nicht hinreichend transparent und nachvollziehbar offen gelegt. Die „zusätzlichen einschränkenden Bedingungen“, deren Beachtung dem Expertenpanel vom IQWiG aufgegeben wurde, werden nicht explizit dargestellt und nicht begründet. Für den Methodenentwurf wurden vom Wissenschaftlichen Beirat des IQWiG und der Methodengruppe des IQWiG Reviews erstellt, deren Inhalt nicht wiedergegeben wird. Unbekannt bleibt auch, welche Vorschläge und Änderungswünsche der Wissenschaftliche Beirat nach erfolgtem Review-Verfahren zum Methodenvorschlag vorgebracht hat, und ob bzw. wie diese ggf. berücksichtigt wurden.
Ein Abschlussbericht des internationalen Expertengremiums zur Erstellung des Methodenvorschlags einschl. „teilweise divergierender Meinungen bezüglich einiger methodischer Detailfragen“ und möglicherweise abweichender Empfehlungen liegt dem IQWiG vor. Die Bundesärztekammer hat mehrfach darum ersucht, diesen Abschlussbericht einsehen zu dürfen; leider wurde dieser Bitte seitens des IQWiG nicht entsprochen.
Insgesamt erfüllt die Dokumentation des IQWiG zur Erstellung des Methodenpapiers nicht die Anforderungen an Transparenz und Nachvollziehbarkeit, wie sie angesichts dessen weitreichender Bedeutung für das deutsche Gesundheitswesen wünschenswert gewesen wären. Nach Auffassung der Bundesärztekammer wäre es sachdienlicher gewesen, zur Frage der Methodik der Bewertung von Kosten-Nutzen-Verhältnissen über ein öffentliches internationales Ausschreibungs- und Vergabeverfahren ein Health Technology Assessment mit systematischer Aufarbeitung und Darstellung der verschiedenen methodischen Ansätze anhand einer umfassenden Literatursuche und –sichtung unter Beteiligung von Gesundheitsökonomen aus Deutschland anfertigen zu lassen.
(2) Der vorliegende Methodenvorschlag (Version 1.0) ist in allen wesentlichen Teilen durch technische Anhänge zu konkreten Anwendungs- und Durchführungsbestimmungen ergänzungsbedürftig. Erwähnt werden im Bericht diesbezüglich „insbesondere Details zur Effizienzgrenze, Kostenabschätzung, Modellierung sowie Aspekten der Budget-Impact-Analyse“. Wir gehen davon aus, dass sich in den technischen Anhängen auch noch Regelungen zur Auswahl und Beteiligung von internen und externen Sachverständiger sowie von Peer Reviewern im Rahmen der Erstellung eines Berichts zur Kosten-Nutzen-Bewertung finden werden. Das Fehlen der für die Anwendung und Durchführung der im Entwurf aufgeführten Methoden maßgeblichen Bestimmungen und Vorgehensweisen verunmöglicht eine abschließende Beurteilung des Methodenpapiers. Die Bundesärztekammer bedauert, dass diese wichtigen Informationen zur konkreten Durchführung der vorgeschlagenen Bewertungsmethodik vom IQWiG nicht zur Verfügung gestellt werden konnten und erlaubt sich den Hinweis, dass insofern vorerst nur auf die aktuell vorliegende Fassung des Methodenpapiers i. S. e. vorläufigen Stellungnahme eingegangen werden kann.
Zu Abschnitt 2, Grundlagen der ökonomischen Bewertung
Effizienzgrenze
(1) Zur vergleichenden Effizienzanalyse mittels Frontier-Ansätzen existieren eine Reihe methodischer Möglichkeiten mit unterschiedlichen generellen theoretischen Voraussetzungen und konkreten Bedingungen für die praktische Anwendung. Mit dem vom IQWiG befürworteten Methodenkonzept der Effizienzgrenze wird offenbar ein vereinfachter non-parametrischer Frontier-Ansatz zur relativen Effizienzanalyse präferiert. Die methodischen Voraussetzungen für einen Einsatz im Rahmen des vorgeschlagenen Konzepts der Effizienzgrenze und die Überprüfung deren Vorliegens sollten näher erörtert werden. Ebenfalls sollte dargelegt werden, mit welcher Methodik Nutzen und Kosten für das vorgeschlagene Konzept der Effizienzgrenze unter Berücksichtigung statistischer Unsicherheit unter welchen Bedingungen einer Vergleichbarkeit aggregiert werden sollen.
Eine derartige Benchmark-Vorgehensweise ist unseres Wissens bei gesundheitsökonomischen Evaluationen so gut wie nicht gebräuchlich und kann insbesondere für die Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln oder von medizinischen Behandlungsmaßnahmen nicht als hinreichend validiert angesehen werden. Dieser Methodenvorschlag entspricht daher unseres Erachtens nicht dem nach dem Wortlaut von § 35b Abs. 1 SGB V für die Erarbeitung von Kosten-Nutzen-Bewertungen geforderten „anerkannten Standard der Gesundheitsökonomie“. Die Gründe für die Wahl der vorgeschlagenen Methode zur Effizienzanalyse werden nicht hinreichend spezifiziert, eine vergleichende Abwägung von Vor- und Nachteilen im Kontrast zu anderen Optionen zur Kosten-Nutzen-Bewertung wie z. B. dem Konzept der Nutzenmessung über qualitätsadjustierte Lebensjahre (QALY) fehlt.
(2) Die vorgesehene Konstruktion der Effizienzgrenze folgt deskriptiven Prinzipien und basiert auf kontingenten Bedingungen, welche u. a. auch die vorherige bzw. bestehende Preisbildung von Arzneimitteln betreffen. Unseres Erachtens ist ohne einen externen normativen Bezug eine Definition von künftigen Effizienz- oder Dominanzbereichen im Bereich des Segments höherer Kosten bei größerem Nutzen nicht möglich; diese lassen sich auch nicht aus den verschiedenen Steigungen von Liniensegmenten der Effizienzgrenze ableiten. Überdies kann durch die vorgeschlagene Methode keine Vergleichbarkeit der Bewertungsbedingungen zwischen verschiedenen Indikationsbereichen – und vermutlich auch nicht immer innerhalb dieser – gewährleistet werden. Grundsätzlich erscheint es sogar möglich, dass bei der Anwendung der Effizienzgrenzen-Methode vorhandene Ineffizienzen fortgeschrieben werden.
Nutzenbegriff und -erfassung
(1) Das IQWiG hat bisher – so auch in der Entwurfsfassung für Allgemeine Methoden (Version 3.0) vom 15.11.2007 – einen eher restriktiven Nutzenbegriff vertreten und dabei Nutzenaspekte konträr Schadensaspekten gegenübergestellt, anstatt letztere i. S. e. Nettonutzens in erstere zu integrieren. Ein konsistenter Nutzenbegriff, welcher differenziert unterschiedliche, auf die klinische Wirksamkeit bezogene Nutzenqualitäten bei verschiedenen Krankheitsbildern und Patientengruppen abbildet, dabei konzeptuell neben tangiblen auch intangible Effekte sowie Graduierungen der Eintrittswahrscheinlichkeit und der Unsicherheit der Effektschätzung berücksichtigt sowie – mit entsprechender Gewichtung – intermediäre oder Proxy-Surrogatparameter in die Bewertung mit einbezieht, wurde jedoch vom IQWiG bisher nicht erarbeitet. Unseres Erachtens sollte der patientenrelevante Nutzen breit abgebildet werden; laut § 35b Abs. 1 SGB V sollen beim Patienten-Nutzen insbesondere die Verbesserung des Gesundheitszustandes, eine Verkürzung der Krankheitsdauer, eine Verlängerung der Lebensdauer, eine Verringerung der Nebenwirkungen sowie eine Verbesserung der Lebensqualität berücksichtigt werden.
(2) Der Methodenvorschlag des IQWiG sieht vor, einer Kosten-Nutzen-Bewertung eine separat auf Basis eines restriktiven Kosten-Nutzen-Begriffs vorgenommene Beurteilung des therapeutischen Nutzens bzw. Zusatznutzens vorzuschalten und diese dann bei der gesundheitsökonomischen Bewertung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses zu Grunde zu legen. Wir hielten es dagegen für angemessener, einen umfassenderen, gesundheitsökonomische Aspekte berücksichtigenden Nutzenbegriff bereits bei der isolierten Bewertung des therapeutischen Nutzens als konstitutiv anzusehen und auf diese Weise eine weitgehende Koextensivität der Nutzenbegriffe sicher zu stellen. Unseres Erachtens wäre es zur Gewährleistung von Transparenz und Nachvollziehbarkeit wünschenswert, wenn das IQWiG die zu verwendenden Nutzenkonzepte klassifizieren und operationalisieren würde. Es sollte überdies dargelegt werden, ob bei der Kosten-Nutzen-Bewertung auch nutzenindexierte oder monetär bewertete Outcomes den Kosten gegenüber gestellt werden sollen.
Bewertungsperspektive
(1) Es ist vorgesehen, die Kosten-Nutzen-Bewertung eingeschränkt aus der Perspektive der gesetzlichen Krankenversicherung vorzunehmen und demgemäß die Abschätzung der Kosten durchzuführen. Unseres Erachtens sollte demgegenüber eine gesamtgesellschaftliche Perspektive mit möglichst umfassender Berücksichtigung aller relevanten Kosten- und Nutzenaspekte gewählt werden. Dies entspricht auch etablierten internationalen Standards.
(2) Auch eine sog. Sozialversicherungsperspektive unter Einbezug der Pflege- und Rentenversicherung in die Bewertungsperspektive hielten wir nicht für ausreichend. In § 35b Abs. 1 wird auf die „Angemessenheit und Zumutbarkeit einer Kostenübernahme durch die Versichertengemeinschaft“ abgehoben. Es ist fraglich, ob hiermit lediglich die GKV-Versichertengemeinschaft gemeint sein kann, weil derzeit schon Sozialversicherungsausgaben für Kranken- und Rentenversicherung teilweise über Steuerzuschüsse finanziert werden; künftig sollen diese Steuerzuschüsse noch angehoben werden. Im Zweifel sollte zur Frage der rechtlichen Definition des Begriffs der Versichertengemeinschaft ein unabhängiges juristisches Gutachten eingeholt werden.
Zu Abschnitt 3, Kostenabschätzung
Kostenbegriff und -erfassung
(1) Im Methodenvorschlag wird empfohlen, dass nur die Gesamtnettokosten pro Patient in die Effizienzanalyse einfließen sollen; indirekte Kosten (z. B. durch krankheitsbedingte Produktivitätsverluste) und intangible Kosten sollen nicht berücksichtigt werden. Unseres Erachtens sollte demgegenüber – wie auf der Nutzenseite – auch bei den Kosten ein möglichst breiter Evaluationsansatz auf der Basis einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive gewählt werden.
(2) Die vorgesehenen Methoden zur Quantifizierung und Bewertung des Ressourcenverbrauchs, zur Kostenkalkulation, dessen Zeitrahmen und der Frage der Diskontierung einschl. Modellierungen und Sensitivitätsanalysen werden hinsichtlich der Anforderungen teils global skizziert, teils nur erwähnt, bedürfen aber in wesentlichen Punkten einer weiter gehenden Konkretisierung. Indirekte Kosten durch Produktivitätsausfälle aufgrund von Mortalität oder Morbidität sowie nach Möglichkeit auch intangible und externe Kosten sollten berücksichtigt werden.
Zu Abschnitt 4, Budget-Impact-Analyse
(1) Auch die vorgesehenen Methoden zur Budget-Impact-Analyse müssen noch in wesentlichen Details ergänzt werden, u. a. zu Datengrundlagen, Zeithorizont, Modellierungen und Sensitivitätsanalysen.
(2) Darüber hinaus sollte zur Bedeutung von Krankheitskosten-Analysen, von potentiellen Festlegungen von Budgetgrenzen sowie von möglichen Priorisierungsregeln Stellung genommen werden. Weiterhin ergibt sich die Frage, ob im Rahmen einer Budget-Impact-Untersuchung eine Marginalanalyse mit Hilfe von Grenzgrößen unter Zielsetzung einer „Nutzenmaximierung“ durchgeführt werden soll.
Weitere Bemerkungen
Ausdehnung der Bewertungsmethodik auf andere Versorgungssektoren
Im Methodenpapier sollte explizit Stellung dazu genommen werden, ob und inwieweit bzw. unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Modifikationen die offenbar mit einem Anwendungsschwerpunkt im Arzneimittelbereich entworfene Methodik der Effizienzgrenze auch auf nichtmedikamentöse therapeutische Interventionen angewandt werden soll.
Scoping-Workshop
Es wäre wünschenswert, wenn – in Anlehnung an das Vorgehen bei NICE – nach der jeweiligen Auftragsvergabe vor den einzelnen Kosten-Nutzen-Bewertungen ein Scoping-Workshop zu Fragen wie der inhaltlichen Ausfüllung der Fragestellung, relevanten Vergleichstherapieverfahren und patientenrelevanten Zielgrößen sowie zur konkreten Ausgestaltung der anzuwendenden Methodik unter Einbeziehung der in § 91 Abs. 4 bis 8a und § 139a Abs. 5 genannten Organisationen, Verbände und Vertreter vorgesehen werden könnte.
Anhörung zu den eingegangenen Stellungnahmen
Es wird vorgeschlagen, die eingegangenen Stellungnahmen zum IQWiG-Entwurf „Methodik für die Bewertung von Verhältnissen zwischen Nutzen und Kosten im System der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung“ (Version 1.0) im Zusammenhang mit dem IQWiG-Entwurf „Allgemeine Methoden“ (Version 3.0) im Rahmen einer mündlichen Anhörung zu diskutieren.
Berlin, den 31. März 2008
Dr. med. Regina Klakow-Franck, M.A.
Leiterin Dezernate 3 und 4
stellv. Hauptgeschäftsführerin