Die Befreiung aus den medizinischen Denksystemen

Dr. Jörg Woweries war 25 Jahre lang als Arzt und Lehrbeauftragter am Krankenhaus Neukölln tätig und hauptsächlich mit der Betreuung von Neugeborenen beschäftigt. Im Zuge dieser Arbeit begegnete er bei Erstuntersuchungen Neugeborenen, deren Genitale nicht der medizinischen „Norm“ entsprachen. In diesem Artikel setzt er sich mit der gängigen Herangehensweise von Ärzten auseinander, die bei Neugeborenen Intersexualität feststellen, und zeigt wünschenswerte Alternativen der Betreuung von Eltern und ihren betroffenen Kindern auf.

Wer sich mit einem Neugeborenen, das am Genital etwas anders aussieht, an einen Arzt wendet, wird hören, dass dieses Kind ein Patient sei. Das Genital entspricht nämlich nicht der Norm; das Kind habe ein Problem und sei deshalb nicht gesund. Man sagt ihm das aber selbstverständlich in weich gewaschener Sprache – diplomatischer. Man redet von Disorder of  Sex Development (DSD), von Störung oder neuerdings vielleicht nur noch von „differences“, also Unterschieden, der sexuellen Entwicklung. Die Klassifikation der Ärzte, die „International Classification of Diseases“ (ICD 10), hat viele verschiedene Benennungen zur Auswahl. Natürlich bieten die Ärzte auch sofort Hilfen an: „geschlechtsangleichende Operationen“.

Da greifen Eltern, die überrascht und natürlich schwer betroffen sind, gleich zu und übernehmen fast immer und dann meist diskussionslos den Vorschlag zu Prozedere und Terminplan des behandelnden Arztes. Wer will sein Kind denn nicht geheilt sehen und es mit einem Problem ins Leben schicken, ohne wenigstens das bestmögliche zu seiner Lösung versucht zu haben?

Es ist natürlich wichtig, dass nach der Geburt ein Kinderarzt die Kinder genau untersucht. Wenn er aber eine lebensbedrohliche Erkrankung ausgeschlossen hat, sollte er zurücktreten. Schon die Anwesenheit der Ärzte wird den Wunsch der Eltern verstärken, den Arzt um Hilfe anzuflehen. Wer sich an Mediziner wendet, wird selbstverständlich ins System von Krankheiten verwiesen. Die Ärzte werden den Eltern Operationen als Hilfe anbieten – der finanzielle Druck, unter dem die Klinik steht, ist selbstverständlich auch zu berücksichtigen.

Die Eltern sollten vielmehr sogleich mit solchen Mitmenschen in Kontakt treten, die ihnen helfen, den neugeborenen Menschen in den Arm zu nehmen und ihm Liebe zu geben, die Beziehung von Kind und Eltern zu fördern. Ein neugeborenes Kind sollte nicht, provoziert durch die Anwesenheit der Medizin, unter Kategorien wie „normal oder nicht normal“ und „Glück oder Unglück“ eingestuft werden.

Viel wichtiger wäre es, wenn der Arzt oder die Ärztin signalisiert: Wir haben die Besonderheit erkannt und es ist nichts Gefährliches. Sie sollten nun erfahren, wie und wo sie sich Hilfe holen können. Dann ist auch der Kontakt zu Selbsthilfegruppen für die Eltern anzubieten und professionelle, aufgeklärte Hilfe zur Hand zu haben.

Die Mediziner und ihr Denksystem sollten sich danach in den Hintergrund zurückziehen. Es ist leider eine Tatsache, dass sich die hauseigenen Psychologen in den Klinken ihren Arbeitgebern (meist Endokrinologen oder Chirurgen) anpassen und in vielen Fällen für die Fragestellungen nicht ausgebildet sind.

Wir haben keine Studie, die zeigt, dass eine Operation im Säuglings- oder Kleinkindesalter nötig ist. Wir haben keine seriöse Studie, die zeigt, dass ein Aufschieben der Operation schädlich ist. Es gibt aber sehr wohl Studien, die zeigen, dass junge Menschen sowohl ihre Besonderheit, als auch die Therapie auf ihre Art verarbeiten können, dies aber nicht immer auf eine positive Art und Weise tun. Zu sagen, dass deshalb eine Operation gut ist und zuerst das Gegenteil gezeigt werden müsste, ist eine ethisch schwer zu begründende Umkehr der Beweislast. Es darf nicht sein, dass operierte, intersexuelle Menschen eine phobische Abwehr von medizinischen Einrichtungen entwickeln. Sie brauchen später wie jeder andere Mensch in Wahrnehmung ihres Selbstbestimmungsrechts Zugang zu Chirurgen, Endokrinologen und Psychologen.

Es sollte dementsprechend zum Ziel werden, primär eine nichtoperative professionelle Unterstützung flächendeckend und qualitativ gesichert als selbstverständlich anzubieten und die Diskussion über die medizinische Indikation in den Hintergrund treten zu lassen. Wer heute noch denkt, Intersexualität „heilen“ zu können, hat die Problematik nicht verstanden und sollte von den Kindern ggf. mit rechtlichen Mitteln ferngehalten werden.

In juristischer Hinsicht steht bis jetzt letztlich den Eltern die Entscheidung über medizinische Eingriffe zu. Dies ist mit dem geltenden Recht gedeckt. Genau hier muss Einspruch eingelegt werden. Die Eltern sind nicht befugt, das Selbstbestimmungsrecht des Kindes in einer so grundlegenden Frage zu vertreten. Der Betroffene muss sein Selbstbestimmungsrecht auch selbst wahrnehmen.

Ein Psychologe, der unabhängig denkt, darf solche medizinischen und nicht überlebenswichtigen Behandlungen nicht zulassen. Es gibt keine Notwendigkeit, dass diese Kinder operiert werden. Diese Kinder brauchen Liebe und nicht solche psychologischen Tröster, die mit Endokrinologen und Chirurgen die Kinder mit „genitalangleichenden Operationen“ auf eine falsche Fährte lenken. Wird der Ethikrat sie zurückholen?

 

Dr. Jörg Woweries war 25 Jahre lang als Arzt und Lehrbeauftragter am Krankenhaus Neukölln tätig. Weitere Informationen gibt es hier.

Themenschwerpunkt: Medizinische Eingriffe

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11 Kommentare zu Die Befreiung aus den medizinischen Denksystemen

  1. C.LARA sagt:

    Sehr geehrter Herr Dr. Jörg Woweries,
    ich war erst wirklich skeptisch, weil Sie ja auch Arzt sind. Sie haben es aber verstanden, sich auf meiner Seite zu positionieren, dafür danke ich Ihnen und freue mich darüber. Vieles ist gut beobachtet. Phobie vor Ärzten, dem geldverdienenden Medizinapparat zum Beispiel.
    Ein Heilpraktiker, dem ich mich “anvertraut” habe zwecks Beratung, meinte, dass ich wohl Vertrauen hätte, soweit ich ein Klavier werfen könne.
    Es wird Zeit, dass sich für die nachfolgenden Generationen etwas zum Guten ändert.
    Schön, Sie an der Seite zu wissen.
    MfG C. Lara

  2. Jen sagt:

    Sehr geehrter Herr Dr. Jörg Woweries,
    in ihrem Artikel drücken sie das aus, was ich mir wünsche.
    Schön, dass jemand aus dem medizinischen Betrieb solche Worte findet.
    MfG Jen

  3. Reno sagt:

    Was wünschen sich junge, verliebte Eltern? Ein gesundes Baby!
    Vielleicht ein Mädchen, das hübsch und ebenso klug ist. Sie könnte mal Studieren, findet einen tollen Mann …
    Oder aber einen Jungen, der groß und stark wird, am besten Arzt wird, eine tolle Frau findet …
    Aber selten werden sie sich einen Zwitter wünschen, außer es ist die Adam`s Family. Er wird ohne Menschenrechte depressiv, isst oder trinkt zu viel, OP`s können dazu schiefgehen, wenn er sich dem einen oder anderen System nicht fügt, sitzt er nächtelang am PC, um beim Ethikrat-Diskurs Kommentare zu schreiben. Auch wird es schwer werden, eine Frau oder einen Mann zum Leben zu finden. Enkelkinder sind selten.
    Ich kann schon verstehen, dass Eltern völlig überfordert sind, man kennt einige “erfolgreiche” Herms aus der Presse: Sportler. Das wars dann aber auch.
    Kann so ein Mensch beruflich was erreichen? Ist für seinen Lebensunterhalt gesorgt oder versagt er auf ganzer Linie? Die frühe Zuordnung hat wohl den Zweck, dass man bis zum Berufsleben die Einordnung in ein anerkanntes Geschlecht vollzogen hat. Das ist der Wunsch dieser Menschen gewesen. Wenn es den Eltern verboten wird, ihre Kinder früh zuzuweisen, reisen reiche Leute ins Ausland, um es da machen zu lassen. Wie sehr werden Familien gemieden, in denen jemand an Krebs stirbt? Wer wird mit sowas fertig? Die gesamte Familie zieht sich mitunter zurück, weil niemand der “anderen” damit klar kommt.

    Es muss für alle Menschen möglich werden, so zu leben, wie sie sind. Es muss bekannt gemacht werden, das ist Aufgabe des Staates. Wenn alle Ärzte so bedacht wären, wie Sie es sind, wäre das ein Segen für alle Menschen. Dadurch, dass wir nicht sichtbar für die Öffentlichkeit sind, gehen wohl die meisten davon aus, dass die gängige Praxis schon erfolgreich sei. Diesen Fehler zu erkennen braucht es Größe und Mut. Auch muss die Verantwortung einem Menschen gegenüber wahr genommen werden und nicht dem Profit und des schnellen Erfolges nachgegeben werden. Sie haben aber Recht, dass nur Gesetze dies schaffen können. Man muss die Regierung dazu zwingen, nur wie? Wir brauchen hier beim Ethikrat eine/n Ökonomen, der die geldwerten Vorteile so deutlich aufzeigt, dass jeder Politiker erkennt, dass das der einzigst richtige Weg ist. Der Schlüssel ist Kostenvermeidung (weniger Behandlungskosten, Hartz IV und Frührente) und Gewinnmaximierung (mehr Steuern) durch glückliche, fertile, produktive und anerkannte zwischenmenschliche Mitglieder einer zukunftsweisenden Gesellschaft. Das bisher ungenutzte Menschen-Potential kann zudem zu einer konkurrenzfähigeren Gesellschaft beitragen. Auch sollte die Angst bei den zuständigen Ärzten und Politikern geschürt werden vor Regresszahlungen.

    Ich danke Ihnen für Ihre aufrichtige Unterstützung und Hilfe im Kampf für die Kinder.

    Sie Hr. Dr. Woweries haben erkannt, dass diese frühe Zuordnung nicht funktioniert hat. Jetzt müssen andere Wege gesucht werden. Ich sehe da nur ein großes Problem, wenn die Kinder nicht mehr früh zugewiesen werden, werden sie vielleicht solche A…, wie ich einer bin und lehnen jede Zuweisung ab. Für kein Geld der Welt, für keine noch so tolle Karriere, für keinen noch so tollen Mann würde ich mich “behandeln” lassen. Es müssen Wege gefunden werden, auch für zwischengeschlechtliche ein lebenswertes, glückliches Dasein zu schaffen. Erst dann werden Eltern und Psychologen frei und stark genug sein, die Kinder zu schützen. Die Gesellschaft muss darauf vorbereitet werden.

  4. Nachhaker sagt:

    Sehr geehrter Herr Dr. Woweries,

    Ich habe nachfolgenden Aufsatz hier unter die Überschrift “Befreiung aus den medizinischen Denksystemen” platziert, weil ich damit letztlich ebenfalls ein medizinisches Denksystem angreife, nämlich alles als psychisch gestört zu entmündigen, zu entrechten und Zwangsbehandlungen zu unterwerfen, was nicht den Maßen dieser selbsternannten medizinischen Übermenschen entspricht.

    Am 8.6.2011 wurde von einer Philosophin des Instituts für Sexualforschung und forensische Psychiatrie am UKE behauptet, “Transsexuelle” seien biologisch eindeutige Männer bzw. Frauen.
    Diese Eindeutigkeit ist seit langem durch zahlreiche Untersuchungen widerlegt, die bei “Transsexuellen” ganz ähnliche Ursachen feststellten, wie bei anderen, offensichtlicheren Ausprägungen von Zwittrigkeit.

    Definition der Intersexualität:

    “Intersexualität bedeutet übersetzt “zwischen den Geschlechtern”. In der medizinischen Terminologie werden Störungen als intersexuell bezeichnet, wenn sich die äußeren und/oder inneren Geschlechtsorgane in unterschiedlich starker Ausprägung entgegen dem chromosomalen Geschlecht entwickeln.”

    Quelle: AWMF-006/105 (2003): Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften: Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie: Intersexualität, Störungen der sexuellen Differenzierung. AWMF-Leitlinien-Register Nr. 006/105. http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/II/006-105.htm

    Auch das Gehirn ist ein Geschlechtsorgan. Neben der Steuerung des hormonellen Regelkreises sind dort die psychischen Voraussetzungen des Geschlechtsverkehrs festgelegt.

    Definition der Transsexualität

    F64.0 Transsexualismus
    “Es besteht der Wunsch, als Angehöriger des anderen anatomischen Geschlechtes zu leben und anerkannt zu werden… Es besteht der Wunsch nach hormoneller UND chirurgischer Behandlung…
    Die transsexuelle Identität muss mindestens 2 Jahre durchgehend bestanden haben und darf nicht ein Symptom einer ANDEREN psychischen Störung, wie z.B. einer Schizophrenie, sein.
    Ein Zusammenhang mit INTERSEXUELLEN, genetischen oder geschlechtschromosomalen Anomalien muss AUSGESCHLOSSEN sein.”

    Quelle: WHO: Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10, Kapitel V (F): Klinisch-diagnostische Leitlinien. Bern; Göttingen; Toronto; Seattle: Huber, 1993, Kategorie F64.0 (Hervorhebung von mir)
    Link zum Katalogeintrag der DNB: http://d-nb.info/931327199

    “Transsexuaiismus”/”Transsexualität” ist danach eine “psychische Störung” mit einem “Wunsch” nach hormonellen UND chirurgischen Maßnahmen, wobei das Vorliegen von Intersexualität ausgeschlossen ist.

    Weiter wird zur “Transsexualität” angegeben:

    F64.0 Transsexualismus
    “Die charakteristischen und dauerhaften inneren Erfahrungs- und Verhaltensmuster der Betroffenen weichen insgesamt deutlich von kulturell erwarteten und akzeptierten Vorgaben («Normen») ab.”

    Quelle: internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10, Kapitel V (F); Forschungskriterien/Weltgesundheitsorganisation. Hrsg, von H. Dilling… 1. Aufl. Bern, Göttingen…: Huber, 1994, ISBN 3-456-82522-6
    Link zum Katalogeintrag der DNB: http://d-nb.info/941723364

    Der Krankheitsbegriff wird hier also nicht an somatischen Kriterien festgemacht, sondern an “kulturell erwarteten und akzeptierten Vorgaben”.

    Ich bitte, dies mit besonderer Aufmerksamkeit zu registrieren

    Tatsächlich gibt es diese in vorstehenden Definitionen beschriebenen Menschen nicht. Zahlreiche Untersuchungen erbrachten bei als “transsexuell” diagnostizierten Personen Befunde, die sie eindeutig als Menschen ausweisen, bei denen eine Ausprägung von Zwittrigkeit vorliegt, also als Intersexuelle.

    Lindner (1996) gibt in seiner Arbeit einen kleinen Überblick über Erkenntnisse zur sexuellen Differenzierung des Gehirns.

    “Die geschlechtsspezifischen neuronalen und psychischen Funktionen des Gehirns unterscheiden sich durch 1. Die Form der Sezernierung des Luteinisierungshormon-Freisetzungshormons (tonisch oder zyklisch), 2. die Präferenz des sexuellen Partners und 3. Das Geschlechtsrollenverhalten und die Geschlechtsidentität.” (S. 12)

    “Mit der Aufklärung der Struktur des Luteinisierungshormon-Freisetzungshormons (LHRH) und seiner biologischen Aktivität zur Stimulierung des die Gonadenfunktion steuernden Luteinisierungshormons durch Schally et al. (1973) und der immunoreaktiven Darstellung des LHRH im Hypothalamus von Meerschweinchen durch Barry and Dubios (1973) war gesichert, dass der Hypothalamus das die geschlechtsspezifische Gonadenfunktion steuernde Zentrum enthält.” (S. 12, 1. Absatz)

    “Die geschlechtsspezifischen Dimorphismen der Zellkernvolumina im nucleus ventromediales hypothalami entsprachen nach frühpostnataler Kastration von Rattenmännchen bzw. nach frühpostnataler Androgenbehandlung von Rattenweibchen dem späteren heterotypischen Sexualverhalten und nicht dem Phänotyp (Dörner und Staudt 1969)” (S. 13 mitte)

    “Dörner et al. (1975) bewerteten den Nachweis eines bei homosexuellen Männern im Unterschied zu heterosexuellen Männern auslösbaren positiven Östrogenfeedbacks als Zeichen eines zumindest partiell weiblich organisierten Hypothalamus. Ähnliche Befunde lieferten transsexuelle Männer, die zusätzlich homosexuell waren. Bei transsexuellen Männern ohne homosexuelle Triebrichtung war der positive Östrogenfeedback wie bei heterosexuellen Männern nicht auslösbar (Rohde et al. 1986). Die Möglichkeit der Induktion eines positiven Östrogenfeedbacks bei männlichen Homosexuellen wurde von Gladue et al. (1984) bestätigt.” (S. 14)

    “Beim ausgeprägten 5alpha-Reduktasemangel – nach der Autorin seiner Erstbeschreibung Imperato-McGinley-Syndrom genannt – wird zuwenig Testosteron in Dihydrotestosteron, das für die pränatale Ausbildung der männlichen äußeren Genitalien verantwortlich ist, umgewandelt. Infolgedessen werden bei genetisch männlichen Föten vorwiegend weibliche äußere Geschlechtsorgane gebildet. Bei der Geburt werden genetisch männliche Nachkommen als Mädchen angesehen und als solche erzogen. Mit Pubertätsbeginn wird von den abdominal oder inguinal vorhandenen Hoden vermehrt Testosteron synthetisiert und es kommt zu einer deutlichen Ausprägung männlicher äußerer Geschlechtsmerkmale. Parallel entwickeln die meisten betroffenen Individuen männliches Sexualverhalten, nehmen eine männliche Geschlechtsrolle und männliche Identität an und fühlen sich von Mädchen erotisiert, obwohl sie in einer weiblichen Rolle erzogen wurden (Imperato-McGinley et al. 1979).
    Dieses Experiment der Natur wurde im Tierversuch durch Behandlung mit 5alpha-Reduktasehemmern in der perinatalen Periode an Frettchen nachvollzogen. Die behandelten männlichen Tiere zeigten im Erwachsenenalter kein von den männlichen Kontrolltieren abweichendes Sexualverhalten (Baum et al. 1983).” (S. 14-15)

    “Aiman and Boyar (1982) beobachteten bei 7 von 13 Mann-zu-Frau Transsexuellen Spermiogenesestörungen, die nicht durch aktuelle Sexualhormonniveaus erklärbar waren, Die Autoren fanden jedoch Veränderungen der hypothalamischen-hypophysären Sexualhormonreaktivität bei diesen Patienten.” (S. 15 unten)

    “Futterweit et al. (1986) und Balen et al. (1993) wiesen bei hormonell unbehandelten transsexuellen Frauen eine hohe Prävalenz polyzystischer Ovarien und Zyklusstörungen nach. Ausgehend von der Hypothese der Ätiogenese eines hohen Anteils der Zyklusstörungen und des polyzystischen Ovarsyndroms infolge intrauteriner Defeminisierung der Gonadotropinsekretion (Dörner et al 1992) würden diese Befunde den in Tierversuchen durch Sexualhormonanwendung in der perinatalen sensiblen Prägungsphase induzierten Oligo- und Amenorrhoen entsprechen (Dörner 1976).” (Lindner 1996: 15 unten)

    “Als Experiment der Natur zum Nachweis der pränatal prägenden Wirkung des Testosterons auf die psychosexuelle Differenzierung können klassische 21-Hydroxylasedefizienzen bei weiblichen Individuen angesehen werden. Da beim klassischen, durch 21-Hydroxylasemangel hervorgerufenen AGS bei weiblichen Geburten eine postnatal und lebenslang notwendige Glukokortikoidbehandlung die adrenale Androgensekretion supprimiert, ist die psychosexuelle Entwicklung der weiblichen Individuen tatsächlich nur in der fetalen Phase von deutlich höheren Androgenmengen beeinflusst worden.

    Mehrere Arbeitsgruppen, die AGS-Patientinnen hinsichtlich ihrer psychosexuellen Entwicklung untersuchten, erhielten übereinstimmende Ergebnisse, die ein signifikant häufigeres Auftreten von männlichem Geschlechtsrollenverhalten in der Kindheit und Jugend sowie von Homosexualität und Störungen der Geschlechtsidentität im Erwachsenenalter nachwiesen (MONEY and Schwartz 1977, Erhardt ans Meyer-Bahlburg 1981, MONEY et al. 1984, Dittmann et al. 1992).” (Lindner 1996: 16-17; Hervorhebung durch mich)

    Quelle: Lindner, Rolf (1996): Untersuchungen zur Bedeutung partieller 21-Hydroxylase- und 3beta-Hydroxysteroiddehydrogenasedefizienzen für die Ätiogenese von Formen psychischer Intersexualität. Dissertation. Berlin: Humboldt-Univ., Institut für Experimentelle Endokrinologie der Charité, 1996.
    Link zum Katalogeintrag der DNB: http://d-nb.info/948413921

    Die Literaturangabe Lindners (1996) zur hier am Schluss angegebenen Studie von John Money:

    MONEY and Schwartz 1977:
    Money, J., and M. Schwartz: Dating, romantic and nonromantic friendships, and sexuality in 17 early-treated adrenogenital females, aged 16-21. In: Lee, P.A. et al. (eds) Congenital Adrenal Hyperplasia. Univ. Park Press, Baltimore, Maryland, 419-451, 1977

    Wie ich schon an anderer Stelle im Online Diskurs erwähnt hatte, wusste John Money durch eigene Untersuchungen an AGS-Patienten bereits zu der Zeit, als er das Experiment David Reimer führte und als Erfolg publizierte bis es nicht mehr ging, dass eine sexuelle Identität körperlich festgelegt und nicht das Ergebnis sozialer Lernvorgänge ist.

    Lindner (1996) selbst hat im Rahmen einer kontrollierten Studie folgende Ergebnisse erhalten:

    “Partielle 21 Hydroxylasedefizienzen und/oder Hinweise auf partielle 3beta-HSD-Defizienzen wurden bei 2/3 aller Probanden mit Formen psychischer Intersexualität gefunden. Dass partielle 21-Hydroxylasedefizienzen und hormonanalytische Auffälligkeiten, die auf 3beta-HSD-Defizienzen hinweisen, ätiogenetische Faktoren der Entstehung von Formen psychischer Intersexualität sind, ist somit als wahrscheinlich anzusehen.” (Lindner 1996: 44 unten)

    Hormonanalytische Untersuchungen brachten aufgeschlüsselt folgende Ergebnisse: Bei 8 von 20 (40%) Mann-zu-Frau Transsexuellen und bei 10 von 18 (56%) Frau-zu-Mann Transsexuellen, aber nur bei 1 von 25 (4%) der männlichen Kontrollen sowie 1 von 17 (6%) der weiblichen Kontrollen gab es Hinweise auf partielle 21-OHD ((21-Hydroxylasedefizienzen). Bei 14 von 39 (47%) Mann-zu-Frau Transsexuellen und bei 6 von 17 (35%) Frau-zu-Mann Transsexuellen, aber bei keiner einzigen der 23 männlichen und 16 weiblichen Kontrollen wurden hormonelle Auffälligkeiten festgestellt, die auf eine partielle 3beta-HSDD (3beta-Hydroxysteroiddehydrogenasedefizienz) hinweisen. Bei 36 (67%) von 54 hinsichtlich beider Enymdefizienzen untersuchten Probanden (einschließlich Homosexueller) gab es Hinweise auf mindestens eine der beiden partiellen Enzymdefizienzen. (Lindner 1996, Einleitung)

    Quelle: Lindner, Rolf (1996), Angaben oben.

    Kurz darauf wurde eine zweite Studie veröffentlicht:

    Krähner, Robert (1997): Adrenale Enzymaktivitäten bei Patienten mit Transsexualismus. Diss. Erlangen: Univ., 1997
    Link zum Katalogeintrag der DNB: http://d-nb.info/953869040

    Auch Krähner (1997), musste in seiner kontrollierten Studie an der Universität Erlangen signifikant körperliche Befunde bei “Transsexuellen” gegenüber heterosexuellen Kontrollgruppen feststellen. Es wurden Mann-zu-Frau-“Transsexuelle” mit heterosexuellen Männern und Frau-zu-Mann-“Transsexuelle” mit heterosexuellen Frauen verglichen. Beispiele:

    “Bezüglich des basalen Kortisol-Wertes ist die unbehandelte f→m Transsexuellen-Gruppe im U-Test SIGNIFIKANT niedriger (10,11±469 μg/dl) als die Kontrollgruppe. … Gleiches bleibt nach Stimulation mit 250μg Synacthen festzuhalten. Die unbehandelten bleiben signifikant niedriger (p=0,008) (18,16±5,91 vs. 26,5±4,79 μg/dl)” (Krähner 1997: 38; Hervorhebung durch mich)

    “Die basalen 21-Desoxykortisol-Werte sind im U-Test sowohl bei unbehandelten (3,88±2,87 ng/dl), als auch behandelten f→m Transsexuellen (3,01±2,89 ng/dl) SIGNIFIKANT niedriger als bei der Kontrollgruppe (12,61±8,65 ng/dl) (p=0,0016 bzw. p=0,0033).” (Krähner 1997: 40; Hervorhebung durch mich)

    “Bei Dehydroepiandrosteronsulfat basal zeigt die Kontrollgruppe (Mittelwert 183,67±95,15 μg/dl) GRENZWERTIG SIGNIFIKANT niedrigere Werte als die unbehandelten m→f Transsexuellen (Mittelwert 370±195 μg/dl) (p=0,0106). Die behandelten m→f Transsexuellen (Mittelwert 374,58±146,25 μg/dl) besitzen signifikant höhere Werte für DHEAS als die Kontrollgruppe (P=0,0006).” (Krähner 1997: 53; Hervorhebung durch mich)

    “Basal findet sich kein Unterschied für 17-OHP zwischen Kontrolle und unbehandelten m→f Transsexuellen im U-Test (p=0,5). Stimuliert allerdings zeigen die unbehandelten (Mittelwert 139 ± 50 ng/dl) SIGNIFIKANT niedrigere Werte (p=0,01). … Kontrollgruppe (Mittelwert basal 101±30 ng/dl, stimuliert 201±40 ng/dl).” (Krähner 1997: 55; Hervorhebung durch mich)

    “Basal (p=0,049) weisen die unbehandelten m→f Transsexuellen keinen signifikanten Unterschied im U-Test für 17-Hydroxypregnenolon auf, stimuliert (Mittelwert 543±210 ng/dl besitzen sie grenzwertig niedrigere Werte (P=0,01). … Kontrollgruppe (Mittelwert basal 241±64 ng/dl, stimuliert 798±263 ng/dl).” (Krähner 1997: 57)

    Auf Seite 71 dieser Arbeit stellt Krähner Ergebnisse seiner Untersuchung für sogenannte “Mann-zu-Frau-“Transsexuelle”” (Alter 29,5 Jahre) der Kontrollgruppe (Alter 28,4 Jahre) gegenüber. Darin finden sich.

    SIGNIFIKANTE Unterschiede bei den Werten von
    - DHEA stimuliert,
    - Androstendion nicht stimuliert und stimuliert
    - Androstendion stimuliert
    - 17-Hydroxy-progesteron (17-OHP) stimuliert
    - 17-Hydroxy-Pregnenolon (17-OHPreg) nicht stimuliert
    - 17-Hydroxy-Pregnenolon (17-OHPreg) stimuliert

    Die hier von Krähner festgestellten signifikant von Kontrollgruppen abweichenden Befunde wirken sich nicht nur auf das Gehirn aus, sondern natürlich auch auf andere Organe, deren Entwicklung in Richtung männlich oder weiblich von Hormonspiegeln abhängt.

    Es liegt also bei den für “transsexuell” erklärten Personen ganz eindeutig Intersexualität vor und gerade keine “Transsexualität”.

    Damit sind auch Aussagen von “Transsexualität” als eine Form der Intersexualität (was sie übrigens schon nach obiger Definition der ICD-10 nicht ist) oder hirnorganischer bzw. psychischer Intersexualität nicht zutreffend.

    Intersexualität ist manchmal offensichtlich, manchmal weniger offensichtlich. Trotzdem handelt es sich um Intersexualität und nicht um
    - ICD-10 F64.0 “Transsexualismus”
    - ICD-10 F64.1 “Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen”
    - ICD-10 F64.2 “Störungen der Geschlechtsidentität im Kindesalter”
    - ICD-10 F65.1 “fetischistischer Transvestitismus”
    Quelle: ICD-10, Angaben oben.

    Die Grundaussage der Arbeit von Lindner, dass bei “Transsexuellen” tatsächlich Intersexualität vorliegt, ist also durch die Arbeit von Krähner bestätigt worden.

    Und das ist auch der Grund, weshalb Umpol-Psychotherapien bei “Transsexuellen” bisher durchgängig nicht erfolgreich waren, auch wenn es immer wieder Leute gibt, die das Gegenteil behaupten.

    Natürlich gefallen den Geschlechtsidentitätsentwicklern, den hier kritisierten Zwitter- und “Transsexuellen”-Behandlern aus dem Umfeld der sogenannten Sexualwissenschaft diese Ergebnisse nicht.
    Da sie diese Ergebnisse aber nicht widerlegen können, werden sie von ihnen ignoriert und – wenn das nicht funktioniert – eben stur abgestritten.

    Wissenschaftlich stehen diese Zwitter-/”Transsexuellen”-Behandler auf absolut verlorenem Posten.

  5. MichelReiter sagt:

    Mir scheint auch, was bislang unter ‘Intersexualität’ begriffen wird, ist ein iatrogenes Problem. Ich habe mich mit einem Arzt unterhalten, der keiner mehr sein will. Er arbeitete z.B. im Emergency Room in London. Als keine Ärzte mehr da waren, senkte man die Wochenarbeitszeit von 100 auf 48 Stunden.

    An Intersexuellen vergreift sich, wer gerade will. Besonders gerne wird in diesem Bereich geforscht, mit Ratten und Mäusen wie bspw. an der Volkswagenstiftung. Die Patienten haben dann Tierstatus ohne Tierrechte, weil es diese im Forschungsbereich für sie nicht gibt. Gerne profiliert sich auch ein Chefarzt der Klinik, der arbeitet dann nur von Montag – Freitag.

    Bremen hat Intersexuellen mit dem Koalitionsvertrag 2011-2015 als erstes Bundesland Menschenstatus eingeräumt. Ob der Ethikrat dazu Stellung nehmen wird, vermag ich nicht zu bestimmen.

    Der Schaden dürfte meiner Schätzung durch die Behandlung Intersexueller zufolge mehrere Milliarden Euro alleine in Deutschland betragen, rechnet man Einkommensverlust und damit entgangene Steuerzahlungen des Patientengutes mit. Alles was reicht für diesen circulus vitiosus ist Blödheit und Autoritätshörigkeit von Sorgeberechtigten. Noch heute steht auf der Webseite der TKK zu AGS: „Mädchen, die bereits ein stark vermännlichtes äußeres Genitale aufweisen (zum Beispiel Klitorisvergrößerung), kann gegebenenfalls mithilfe von Korrekturoperationen geholfen werden. Diese Eingriffe erfolgen meist im ersten Lebensjahr und werden von spezialisierten Chirurgen durchgeführt.“ Es gibt also nicht nur einen echten oder vorgeblichen Kostendruck der Kliniken, sondern auch jene, die das bezahlten.

    Ärzte sollen wissen, dass die dafür aufgewendeten Mittel nicht im Einklang mit der Zustimmung zumindest der Bremer Bevölkerung stehen.

  6. eade sagt:

    Sehr geehrter Herr Dr. Woweries, sehr geehrte Mitglieder des Ethikrates,

    nachdem ich die Simultanmitschrift der öffentlichen Anhörung sowie einen Großteil der anschließend erschienenen Beiträge und Kommentare gelesen habe fällt es mir schwer, meine Gedanken zu ordnen und meinen Kommentar an der richtigen Stelle zu platzieren, daher wähle ich diesen Kommentar zu obigem Artikel.

    Als Mutter eines intersexuellen Kindes möchte ich mich zu den Bereichen Geschlechtszuweisung, kosmetische Operationen und Gonadektomie äußern und mich hierbei auf mögliche Verbesserungen in der Zukunft beziehen.

    Es ist uns als Eltern vor nunmehr 6 Jahren gelungen, die für uns zuständigen Ärzte und Psychologen davon zu überzeugen, dass wir keine kosmetische Operation und keine Entfernung der Gonaden bei unserem Kind wünschen. Die Ärzte haben dem mit Bedenken zugestimmt und sehen vor allem in der nicht erfolgten Gonadektomie eine “aufgeschobene Gonadektomie”. Da es gelungen ist, die unterentwickelte Gonade durch operative Verlegung unter die Haut tastbar und im Ultraschall gut kontrollierbar zu machen, kann eine mögliche Entartung durch regelmäßige Kontrolle (zunächst ca. 1x jährlich, die Abstände werden nach jeder Untersuchung variabel besprochen) hoffentlich rechtzeitig erkannt werden.

    Wir sind zufrieden mit der Situation, wie sie sich im Bereich der ärztlichen Betreuung im Moment für uns darstellt. Wir konnten uns mit den Ärzten auf einer Ebene finden, auf der es sich “zusammenarbeiten” lässt, und unser Kind freut sich immer, wenn es wieder zur Untersuchung geht (“Gonadenfernsehen”, außerdem schulfrei…).

    Was ich mir in diesem Zusammenhang wünschen würde, wäre, dass ein Vorgehen, wie wir es uns “erkämpft” haben, von den Ärzten nicht nach reiflichem Überlegen und mit Bauchschmerzen akzeptiert würde, sondern als Möglichkeit an erster Stelle den Eltern dargelegt würde. Würden in Deutschland intersexuell geborenen Kinder verpflichtet an Kompetenzzentren weitergeleitet, in denen ein Team aus (spezialisierten) pädiatrischen Endokrinologen, Urologen und Psychologen zur Verfügung steht, wäre zunächst einem “unkontrollierten Wildwuchs” von schnell operierenden Ärzten Einhalt geboten.

    Dies nützt natürlich nichts, wenn in diesen Kompetenzzentren nicht Menschen sitzen, denen es (vielleicht trotz ihrer Ausbildung) möglich ist, diese abwartende Haltung einem chirurgischen Eingriff vorzuziehen und die dies auch aus Überzeugung den Eltern nahe legen können. Es mag sein, dass es Eltern gibt, die sich hier sträuben (so wie wir uns umgekehrt gegen einen Eingriff gesträubt haben). Ich könnte mir aber vorstellen, dass viele Eltern den Vorschlägen des Arztes folgen würden. Damit wäre ein großer Teil von frühen Kastrationen abgewendet und es wäre Zeit gewonnen, wie von Frau Kriegler gefordert.

    Ich weiß nicht, ob ein solches Umdenken der zuständigen Ärzte durch ein gesetzliches Verbot von Gonadektomien erreicht werden kann. Ich möchte das erhöhte Krebsrisiko bei Gonadendysgenesien nicht unter den Tisch kehren. Vielleicht ist es eine Möglichkeit, dass Ärzte eindeutig nachweisen müssen, dass eine Entartung bereits vorliegt, bevor eine Gonade entfernt wird. Ich habe z.B. von einem Fall gehört, bei dem eine Entartung scheinbar diagnostiziert worden war, woraufhin die Gonade entfernt wurde, und im Nachhinein stellte es sich heraus, dass die Diagnose falsch war. Wie es bei Fehldiagnosen mit der Haftung aussieht, weiß ich nicht.

    Nun zu den kosmetischen Operationen. Ich denke, dass sich hier Eltern schwerer tun, denn ein auffälliges Genitale ist im Gegensatz zu einer unterentwickelten Keimdrüse für jeden sichtbar. Für die einen ist es ein Fluch, für die anderen ein Segen, dass man ein auffälliges Genitale operieren kann. Und ebenso gibt es von Mensch zu Mensch unterschiedliche Gefühle, wenn sie ein solches auffälliges Genitale sehen. Die meisten Menschen haben es noch nie gesehen und werden es auch nie zu sehen bekommen. Für die einen Eltern ist es eine Sache der Gewöhnung, für die anderen ist es unerträglich. Ich weiß nicht, woran es liegt, dass es Menschen gibt, denen machen abstehende Ohren gar nichts aus, anderen wiederum sind sie unerträglich. Grundsätzlich finde ich, dass Eltern lernen können sollten, das auszuhalten. Das ist aber meine persönliche Meinung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man deswegen in eine tiefe Krise stürzen kann, dass man deswegen sein Kind nicht lieben könnte. Aber ich will diesen Aspekt nicht herunterspielen. Ich denke, man kann Eltern helfen, durch psychologische Betreuung, durch Austausch mit anderen Eltern, durch Aufklärung der Gesellschaft, beginnend bei den Kindern in der Schule, alles Dinge, die bereits gefordert wurden und die, so denke ich, in der Umsetzung nicht schwer sind und auf allgemeine Zustimmung stoßen. Wenn dies greift, wäre sicher auch hier ein Teil von medizinisch nicht notwendigen frühen kosmetischen Operationen abzuwenden.

    Bleiben die Fälle, in denen Eltern hiervon nichts wissen wollen. Ich stehe einem gesetzlichen Verbot sehr zwiespältig gegenüber, eben weil ich mir nicht vorstellen kann, was es mit Menschen macht, die immense Probleme damit haben, ein (äußerlich) geschlechtlich uneindeutiges Kind zu haben. Will man auch hier eine Umkehrung der Situation erreichen, nämlich dass das Nichtdurchführen einer Operation der Standard ist und die Operation die Ausnahme von der Regel, so wäre es vielleicht eine Möglichkeit, eine Art “Härtefallregelung” einzuführen, bei der nachgewiesen werden muss, dass die Eltern schwere psychische Schäden dadurch erleiden, dass sie ein auffälliges Kind haben, was dann wiederum Auswirkungen auf die Psyche des Kindes hat. Aber ist das realistisch? Oder müssen erst die äußeren Umstände (aufgeklärte Gesellschaft, breite Akzeptanz) geändert sein, bevor man diesen Eltern das vom Gesetz her zumuten darf? Wie lange würde das dauern?

    Wie gesagt, für mich halten sich die “Probleme” im täglichen Leben mit meinem unoperierten Kind (auch ohne psychologische Betreuung) wirklich in Grenzen, aber ich maße es mir nicht an, über andere zu urteilen.

    Nun noch zum Thema Geschlechtszuweisung. In einem ersten Gespräch mit den für uns zuständigen Ärzten und Psychologen wurde uns angeraten, unser Kind als Jungen aufwachsen zu lassen (mit entsprechenden kosmetischen Operationen). Als wir erwiderten, dass wir unser Kind lieber so lassen wollen, wie es ist, und es zunächst bei dem eingetragenen Geschlecht “weiblich” zu belassen, dabei aber unserem Kind gegenüber absolut und nach außen hin relativ offen zu sein, wurde uns mit vielen Worten davon abgeraten. Die Erziehung eines Kindes in einem “dritten Geschlecht” würde bedeuten, dass wir unser Kind dadurch einem gesellschaftlichen und psychologischen Experiment aussetzen würden, dessen Folgen wir nicht vorhersehen könnten.

    Leider bin auch ich nicht in der Lage, in die Zukunft zu sehen. Vielleicht werden die Ärzte und Psychologen recht behalten, werden wir eines Tages von unserem Kind zu hören bekommen, dass wir unverantwortlich an ihm gehandelt haben; vielleicht werden wir in 5 bis 10 Jahren umgezogen sein müssen um in einer neuen Umgebung, an einer neuen Schule nochmal neu anfangen zu können; wird unser Kind in der Schule gehänselt werden, wird es unglücklich, werden wir es durch Selbstmord verlieren, werden wir uns schwere Vorwürfe machen, weil wir uns entschieden haben, nicht frühzeitig für unser Kind zu entscheiden. Vielleicht wird es auch genau anders sein. Und selbst wenn wir es jetzt bereits wüssten, lässt sich noch lange nicht davon ableiten, dass dieser Weg für andere Eltern und deren Kinder genauso gut oder schlecht, empfehlenswert oder abzuraten wäre.

    So differenziert das Thema Intersexualität ist, so verschieden können “richtige” Lösungen sein. Ärzte und Psychologen stehen vor der schwierigen Aufgabe, für jeden Einzelfall ein “maßgeschneidertes Programm” zu finden, herauszufühlen, was für diese oder jene Familie der gangbarste Weg sein könnte.

    Die vielen, vielen negativen Erfahrungen mit dem bisherigen Vorgehen allerdings sollten hierbei auf jeden Fall ein Umdenken weg von der “frühen Anpassung an Normen” hin zu “Abwarten” als Priorität wo nur irgend möglich einleiten. Dies müssen Ärzte und Psychologen richtig finden, sie müssen es wollen, sie müssen es in der Ausbildung lernen und wir brauchen diese Leute in den Kompetenzzentren.

    Auch wenn ich keine neuen Erkenntnisse beitragen konnte, wollte ich doch nicht versäumen, kurz vor Schluss eine weitere Elternsicht einzubringen.

    Mit den Wünschen für den Ethikrat möchte ich mich folke (6. August 2011 um 01:15) anschließen:

    „Ich wünsche dem Ethikrat vor allem Mut und Weisheit!“

    • claudia sagt:

      @eade:
      zunächst mal herzlichen Glückwunsch, dass Ihr Euer Kind vor für die Gesundheit nicht erforderlichen Eingriffen bewahren konntet.

      „Dies nützt natürlich nichts, wenn in diesen Kompetenzzentren nicht Menschen sitzen, denen es (vielleicht trotz ihrer Ausbildung) möglich ist, diese abwartende Haltung einem chirurgischen Eingriff vorzuziehen…“
      Allerdings. Ich meine, wenn das „Prinzip abwarten“ nicht mehr länger einzelene Glücksfällen vorbehalten bleiben, sondern bald zum Standard werden soll, braucht man eine gesetzliche Regelung. Zur Selbstentscheidung über Eingriffe, die kein gesundheltlichger Notfall sind.
      Ihre Beschreibung zeigt, dass das Prinzip Selbstentscheidung manchmal durch einen kleinen Eingriff aufrechterhalten werden kann. Manchmal ist es auch ein sehr vorsichtig dosiertes Hormon. (Zu Gonaden, Fruchtbarkeit und Entartungsrisiko hat ja kwhal Einiges geschrieben.

      Um noch mal Misseverständnisse auszuräumen. Natürlich geht es bei einem festgeschriebenen Re cht auf Selbstenscheidung nicht um ein generelles Behandlungsvervbot, sonderm darum, dass alles, was vor einer Selbsterklärung geschieht, eindeutig als medizinischer Notfall begründet werden muss. Begründungen wie „Geschlechtsidentät festlegen“ oder „reparieren, was die Natur verbockt hat“ und dgl. wären dann als rechtswidrig erkennbar.

      „Ich könnte mir aber vorstellen, dass viele Eltern den Vorschlägen des Arztes folgen würden.“
      Das denke ich auch. Nur halte ich es zur Zeit im Sinne von „gleiches Recht für Alle“ für notwendig, dass die ärztlichen Empfehlungen einer klaren Rechtslage folgen. Diese Rechtslage sollte kein koplexes Regelwerk mit Ein- und Ausschlüssen sein, sondern nicht gesundheitsrelevante Eingriffe klar und umfassend vom medizinischen Notfall abgrenzen können.

      Man sollte auch mal fragen: Wenn das „Prinzip abwarten“ durchgesetzt werden kann, braucht man dann noch so viele Endokrinologen, Genetiker, Urologen, Gynäkologen, “DSD-Manager” am Babybettchen?
      Ich meine: Man muss feststellen, ob das Kind gesund ist. Falls ja, raus aus der Klinik und rein ins Leben, oder?
      Geschlechtsdiagnostik ohne Gesundheitswert hat dann auch keine Eile mehr.


      „…so wäre es vielleicht eine Möglichkeit, eine Art “Härtefallregelung” einzuführen, bei der nachgewiesen werden muss, dass die Eltern schwere psychische Schäden dadurch erleiden, dass sie ein auffälliges Kind haben, was dann wiederum Auswirkungen auf die Psyche des Kindes hat. Aber ist das realistisch?“
      Man kann eine psychische Störung der Eltern nicht am Kind operieren.
      Für realistischer hielte ich, dass Eltern, die ihrem Kind aus welchem Grund auch immer keine gute Entwicklung/Entfaltung bieten können, das Kind zur Adoption freigeben. Nur sollte man solche Eltern nicht als „Rabeneltern“ beschimpfen, denn sie handeln verantwortungsvoll, wenn sie das tun.

      „Als wir erwiderten, dass wir unser Kind lieber so lassen wollen, wie es ist, und es zunächst bei dem eingetragenen Geschlecht “weiblich” zu belassen, dabei aber unserem Kind gegenüber absolut und nach außen hin relativ offen zu sein, wurde uns mit vielen Worten davon abgeraten. Die Erziehung eines Kindes in einem “dritten Geschlecht” würde bedeuten, dass wir unser Kind dadurch einem gesellschaftlichen und psychologischen Experiment aussetzen würden, dessen Folgen wir nicht vorhersehen könnten.“
      Na ja, wer immerdavon schwadroniert, dass man Kinder unbedingt „als Jungen oder als Mädchen aufziehen“ muss, bekommt natürlich die Krise, wenn jemand das nicht will.
      Diese Leute können sich nicht vorstellen, dass eine nicht streng geschlechtsspezifische Erziehung gerade nicht bedeutet, ein Kind „zum Zwitter zu erziehen. Sondern Entwicklungs- und Enfaltungsfreiheit zuzulassen, wie sie von Grundgesetzartikel 2 gefordert wird. Das geht in konservative Köpfe nicht hinein.
      Lieber sagen sie, „Das Kind kann ja im Erwachsenenalter das Geschlecht wechseln. Das haben wir vollstens im Griff.“. Ich weiss nicht, ob sie es in Eurem Falle so gesagt haben, aber es wird noch allzu oft gesagt.

    • @ Eade,
      Bleiben die Fälle, in denen Eltern hiervon nichts wissen wollen. Ich stehe einem gesetzlichen Verbot sehr zwiespältig gegenüber, eben weil ich mir nicht vorstellen kann, was es mit Menschen macht, die immense Probleme damit haben, ein (äußerlich) geschlechtlich uneindeutiges Kind zu haben. Will man auch hier eine Umkehrung der Situation erreichen, nämlich dass das Nichtdurchführen einer Operation der Standard ist und die Operation die Ausnahme von der Regel, so wäre es vielleicht eine Möglichkeit, eine Art “Härtefallregelung” einzuführen, bei der nachgewiesen werden muss, dass die Eltern schwere psychische Schäden dadurch erleiden, dass sie ein auffälliges Kind haben, was dann wiederum Auswirkungen auf die Psyche des Kindes hat. Aber ist das realistisch? Oder müssen erst die äußeren Umstände (aufgeklärte Gesellschaft, breite Akzeptanz) geändert sein, bevor man diesen Eltern das vom Gesetz her zumuten darf? Wie lange würde das dauern?

      Wenn Eltern sich ihren Phobien oder Vorannahmen bezüglich Geschlechternormen nicht stellen und damit umgehen lernen wollen, kann es keine Lösung sein, das Kind zu verstümmeln. Der Zweifel oder ein Unwohlsein wird bestehen bleiben, dass das Kind ja nicht “wirklich” ein Mädchen oder ein Junge ist. Wenn es sich dann später anders als erwartet / zugewiesen verhalten wird, ist der nächste Schritt eine psychologische Behandlung des Kindes (wie sieht es mit homosexuellen Kindern und deren homophoben Eltern aus?).
      Die einzige Alternative für solch resistente Eltern und das Kind ist, sie zu trennen (Adoption, wie Claudia im vorigen Kommentar schon sagte). Zur sozialen Aufklärung muss auch gehören, dass Menschen mit Kinderwunsch sich darüber im Klaren sein müssen, dass sie auch eine(n) Herm bekommen könnten.
      So ein Prinzip von “Härtefall” löst die Situation nicht – eher muss klar sein dass ein Kind kein Produkt ist, das mensch sich zusammenstellen kann ganz nach Wunsch (noch nicht jedenfalls – aber das ist eine andere Diskussion: PID etc).
      Wie schon an anderen Stellen mehrfach genannt: bis auf tatsächlich medizinisch indizierte Eingriffe zur Abwendung eines akuten schweren gesundheitlichen Leidens sollten alle Eingriffe verboten sein bis der Mensch selber entscheiden kann, ob und welche Eingriffe gewünscht sind.
      Abgesehen davon sehe ich ihren Beitrag als ein sehr positives Beispiel für den Umgang mit einem jungen Herm!

    • kwhal sagt:

      @eade,
      einen Großteil von dem, was Sie geschrieben haben, finde ich gut und richtig; bitte erlauben Sie mir, daß ich ungeachtet dessen auf die anderen Aspekte eingehe, vergleichbar wie es auch schon Claudia und Ins Kromminga taten. (Hoffentlich klappt das gleich mit der Kursivschrift.)

      “Würden in Deutschland intersexuell geborenen Kinder verpflichtet an Kompetenzzentren weitergeleitet, in denen ein Team aus (spezialisierten) pädiatrischen Endokrinologen, Urologen und Psychologen zur Verfügung steht, wäre zunächst einem “unkontrollierten Wildwuchs” von schnell operierenden Ärzten Einhalt geboten.”
      Den meisten intersexuell geborenen Kindern sieht man nicht an, daß sie intersexuell sind. Die Diskrepanz zwischen 1:2000 bei Geburt auffälligen Personen und 1:50 insgesamt irgendwie intersexuellen Personen bedeutet, daß von je 40 Zwittern nur einer bereits bei der Geburt klinisch als solcher auffällt. Aus der Selbsthilfe her ist bekannt, sobald ein Mensch geschlechtlich auffällt, besteht ein großes Risiko durch invasive diagnostische Maßnahmen und Operationen. Wichtig beim Neugeborenen sind Entgleisungen der Blutsalze, Störungen der Ausscheidung, und einige andere (nicht-intersexuelle) Stoffwechselstörungen zu erkennen und ggf. zu behandeln.

      Welche besseren Alternativen es für sog. “Härtefälle” gibt, haben ja schon Claudia und Ins Kromminga beschrieben, dem schließe ich mich an.

      Ich bin auch nicht in der Lage, für Sie und Ihr Kind in die Zukunft zu blicken, aber ich habe das Gefühl, Sie sind auf einem guten gemeinsamen Weg.

      Ich war anders als die anderen Kinder, schon als Kleinkind mußte ich ins Krankenhaus, schlechte Erlebnisse mit Ärzten, unangenehme Genitaluntersuchung, eine “Blinddarmoperation”, bei der sie mir den halben Unterbauch aufschnitten. Dazu noch oft geweint, mußte zur “Erziehungsberatungsstelle”, zunehmend von den anderen Kindern geärgert, unsportlich, und ein Außenseiter ohne Freunde. Das klingt alles sehr negativ, und noch heute kann ich nicht mit meinen Eltern drüber reden, für sie war doch alles normal, vielleicht wußten sie es auch nicht besser oder schämen sich. Aber viel lieber denke ich an die positiven Seiten, an die Offenheit die mir meine Eltern gewährten. Häkeln und Stricken durfte ich lernen, spielte auch mit Eisenbahn, Darda-Autos und Fischer-Technik, machte mit den anderen mit beim Gummi-Twist, hatte paar Sarah-Kay-Bildchen, einen Hulla-Hup-Reifen und einen Zauberwürfel, später auch einen Homecomputer. Meine Eltern billigten mir zu, daß ich nur geschlechtsneutrale Sachen anziehen mochte, und ließen mich gewähren, daß ich ab zwölf meine Haare wachsen ließ. In der Schule wurde es besser ab der Oberstufe, und auch die Lehrer ließen mich gewähren, wie ich mich einordnete. Trotz einiger Mißlichkeiten machte ich danach ein Studium, bin berufstätig und seit vielen Jahren in einer guten Beziehung. Rückblickend freue ich mich trotz manchen Details über die Offenheit und die Möglichkeiten, die ich hatte, mein Leben zu gestalten, und hoffe, daß es vielleicht auch gut weitergeht.

  7. kwhal sagt:

    Lieber Dr. Woweries,
    Liebe Mitglieder des Ethikrates,

    die Befreiung aus den medizinischen Denksystemen ist wichtig. Dazu gehört auch, daß die Medizin die Frage nach der Diagnose zurückstellt, auch die Frage, “ob denn überhaupt Intersexualität vorliegt”. Leider sind das unheimlich beliebte Fragen.

    Seit dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten aus dem Jahre 1794 fordern Juristen und Bürokraten von der Medizin wenigstens dann das letzte Wort übers Geschlecht eines Menschen, wenn die Rechte eines Dritten davon abhängig sind. Der Befund der Sachverständigen entscheidet, auch gegen die Wahl des Zwitters, und seiner Aeltern. (PrALR Erster Theil, Erster Titel §§ 22, 23)

    Hiermit sei ganz eindeutig gesagt, Geschlecht braucht nicht “diagnostiziert” zu werden, man wiegt sich sonst in falsche Sicherheit. Noch weniger darf ein Mensch sich anmaßen, “Geschlecht” an einem minderjährigen Betroffenen herbei operieren zu können oder zu dürfen. Relevante Zahlen an Intersexen (und anderen) weisen adult ihr Zuweisungsgeschlecht zurück oder entziehen sich all dem so gut wie möglich.

    Ungeachtet dessen braucht es aber in den vielen Fällen, in denen kein akute Gesundheitsgefahr besteht, auch gar keine genauere Intersex-Diagnose. In 50% der Fälle von “46Xy-Dsd” wird auch von unseren heutigen besten Experten bislang keine konkrete Diagnose gefunden.

    Diagnostische Untersuchen an Minderjährigen im Allgemeinen und an Säuglingen und Kleinkindern im Besonderen sind durchaus problematisch und sollten so weit als vertretbar unterbleiben. Sonst wird das Kind bereits als “kleiner Patient” etikettiert und in die Patientenrolle reinsozialisiert, mit entsprechenden Folgen, das sollte man ihm ersparen.

    Diagnostische Maßnahmen sind an sich schon mit ihrem jeweiligen Komplikationsrisiko behaftet, darüber hinaus bergen sie das Risiko, daß das Ergebnis -egal ob klar oder unklar- zu weiterer invasiverer Diagnostik oder gar zu Operationen ermutigt. Wehret den Anfängen!

    Biopsien, Laparoskopie und andere Endoskopie beinhalten Risiken wie Infektion, Vernarbung, Nebenverletzungen, und Durchblutungsstörungen mit ggf. (Teil-)Nekrose. Deswegen dürfen an Minderjährigen Biopsien nur dann durchgeführt werden, wenn Bildgebung oder Tumormarker auf das zu biopsierende Organ hinweisen, und keineswegs “um eine genauere Intersex-Diagnose zu finden”, oder weil man “grad mal untersuchungstechnisch gut drankommt”. Untersuchungen mit ionisierender Strahlung (Röntgen, CT, Szinti, PET, SPECT, etc.) sollten nur dann durchgeführt werden, wenn dies unumgänglich ist, um ein aktuell manifestes und behandlungsbedürftiges Gesundheitsproblem einzugrenzen, dabei ist das Verfahren mit der geringsten zu erwartenden Strahlendosis zu wählen.

    Probatorische Hormonapplikationen erfolgen in vielen Fällen nicht, um eine manifestes Gesungheitsproblem einzugrenzen, sondern oft als Vorbereitung zu zuweisenden Operationen, darum sollten sie nach Möglichkeit unterbleiben.

    Dagegen ist es sinnvoll und geboten, wenn erwachsene Zwitter sich ärztlich vorstellen, und ihre Diagnose wissen wollen, und insbesondere, wenn sie wissen wollen, welche Möglichkeiten sie haben, oder ob und wie die Medizin ihnen helfen kann, nach entsprechender Aufklärung umfassende Diagnostik zu ermöglichen. Wie sich leider mehrfach zeigte, sind einige der Experten anscheinend recht zurückhaltend, gradezu scheu (oder knausrig?), wenn erwachsene Menschen mit diesen Bedürfnissen an Sie herantreten.

    Und um jemandem Menschenrechte zu gewähren, reicht die Diagnose “Mensch”.

  8. Reno sagt:

    Dem Kommentar von Kwahl schließe ich mich mal einfach so an.

    Jeder möchte wissen, warum er so ist und es schriflich haben, was man immer wusste. Die Selbstzweifel kann man dann wenigstens mal a bisserl vergessen. Ich wurde wiederholt weggeschickt, obwohl ich es doch immer wusste. Ich fand dann die Diagnose selbst heraus, ließ mir einen Ü-Schein ausstellen und hatte Glück, dass da wenigstens der 2. Arzt wissen wollte, ob ich denn Recht habe. Er freute sich dann riesig mit mir, das war toll.

    Es gibt bestimmt hunderte da draussen, die von genetischen Behandlungszentren so übel rausgeworfen worden, von Ärzten als verrückt abgestempelt werden, weil sie wissen, dass sie keine Frau und auch kein Mann sind. Sowas ist voll schrecklich, man kommt sich vor. Auch will man wissen, ob man vielleicht irgendwann mal eine Behandlung braucht, ich dachte immer, dass jemand wie ich vielleicht nicht alt wird, die Nieren versagen oder so. Da tut es gut, aufgeklärt zu werden. Zudem musste das Amalgan aus den Zähnen, die Krankenkasse zahlte das durch die Diagnose. Ob ich eine Prostata habe, frage ich mich manchmal, ich hoffe nicht, dass die Krebs kriegt und ich keine Vorsorge machen kann, als Frau. Niemand macht sich wichtig und belästigt Ärzte zum Spaß, wir sind Menschen und wir benötigen die Hilfe von ihnen, manchmal. Es tut sehr weh, wenn einem niemand glaubt.