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«Unser Ziel? Irgendwann zu verschwinden»

Wieweit sollen Eltern das Genmaterial ihrer Kinder beeinflussen können? Dignitas-Gründer Minelli verweist auf die Menschenrechtskonvention.
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Zuerst eine begriffliche Frage: Die Medizin unterscheidet zwischen Beihilfe zum Suizid und Sterbehilfe. Sterbehilfe ist es nur dann, wenn der Prozess des Sterbens bei einem Patienten schon begonnen hat. Machen Sie diese Unterscheidung auch?Ludwig A. Minelli: Der Begriff Sterbehilfe ist ein ungenauer Sammelbegriff für viele verschiedene Formen von Hilfe beim und zum Sterben. Was Exit und Dignitas leisten, ist Suizidbegleitung.

Inwiefern ist das etwas anderes?Die Tätigkeit des Vereins geht weit über Sterbehilfe hinaus. Dignitas ist primär eine Organisation, die sich für Lebenshilfe, Lebensverlängerung und Suizidversuchsprävention einsetzt. Nur drei Prozent unserer Mitglieder nehmen eine Freitodbegleitung in Anspruch. Wer umfassend beraten ist und Wahlmöglichkeiten in Leidenssituationen hat, hat weniger Druck, weniger Stress und Leid, und kann somit ruhiger, besser und länger leben.

Als Sie 1998 Dignitas gründeten, schlugen ihnen viel Kritik und auch Hass entgegen. Hat sich die Opposition unterdessen gelegt?Hass habe ich keinen wahrgenommen. Kritik kam und kommt vor allem von religiös-fundamentalistischen Personen und Organisationen und solchen, die egoistische Machterhalt- und Finanzinteressen verfolgen. Es ist viel ruhiger geworden, seit die Zürcher Stimmberechtigten am 15. Mai 2011 ein Verbot der Suizidbegleitung mit beinahe 85 Prozent und ein Verbot des Zugangs dazu für Personen ausserhalb des Kantons mit mehr als 78 Prozent der Stimmen abgelehnt haben.

Steckt dahinter eine gesellschaftliche Werteverschiebung?Nein, die grosse Mehrheit trat und tritt seit jeher für Wahlfreiheit, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Vernunft ein.

Verstehen Sie die Gegner der Sterbehilfe?Gegner der Sterbehilfe, wie sie in der Schweiz seit 1985 praktiziert wird, sind Gegner der Wahl-Freiheit. Sie wollen ihre weltanschauliche Sicht mit Hilfe des Staates anderen aufzwingen, als ob heute noch der Staat über religiöse Fragen seiner Untertanen zu entscheiden hätte. Deshalb sind Gegner der Sterbehilfe Gegner eines liberalen, aufgeklärten und laizistischen Staates mit pluralistischer Bevölkerung.

«Die Gegner wollen ihre weltanschauliche Sicht mithilfe des Staates anderen aufzwingen.»

Ihre Kritiker aus religiösen Kreisen sagen: Gott bestimme über Leben und Tod, nicht der Mensch. Wie wollen Sie das entkräften?Niemand hat etwas dagegen, wenn Menschen das für sich glauben und auf sich selbst anwenden wollen. Das ist Religionsfreiheit. Doch niemand darf von anderen verlangen, Unvernünftiges zu übernehmen. Übrigens zählen wir etliche Gläubige zu unseren Mitgliedern: Christen, Buddhisten, Juden, die manchmal auch mit ihren Geistlichen zu uns kommen – eine Freitodbegleitung erfolgte selbst für einen Moslem.

Sie sagten einmal, ein Suizid sei gerechtfertigt, wenn sich jemand seiner Sache sicher ist, wer rational argumentiert, sei ein legitimer Suizidkandidat. Diskriminieren Sie damit nicht Leute, die schlecht argumentieren können?Es kommt darauf an, ob jemand seine Lage, seine Chancen und Risiken richtig einzuordnen vermag: Er muss seine Lage verstehen, muss allfällige Alternativen kennen und einen vernunftgemässen Entscheid fällen können. Deshalb beraten wir tagtäglich auch im Bereich der Vorsorge mittels Patientenverfügung und über Alternativen zur Sterbehilfe, insbesondere der Palliativbehandlung.

Sie zitierten auch schon Kant: Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines Anderen zu bedienen. Wie entscheidet sich, wann ein Mensch nicht mehr urteilsfähig ist?Darüber wurden und werden viele Bücher geschrieben. Das Gesetz geht davon aus, dass jeder Mensch grundsätzlich urteilsfähig ist. Ist er noch Kind, oder betrunken, oder sonst ohne Fähigkeit, vernunftgemäss zu handeln, darf vermutet werden, er sei nicht urteilsfähig.

Sterbehilfe grundsätzlich gutzuheissen, ist das eine. Das andere ist, wenn man wie Hausärzte in den Prozess involviert wird, etwa ein Medikament in tödlicher Dosis verschreiben soll. Verstehen Sie Ärzte, die sich weigern?Selbstverständlich dürfen sich auch Ärzte auf ihre Religions- oder Gewissensfreiheit berufen. Die Erfahrung zeigt erfreulicherweise, dass ungefähr jeder zweite Hausarzt bereit ist, ein entsprechendes Rezept auszustellen.

Indem Sie die Sterbehilfe institutionalisiert haben, haben Sie die Schwelle für den Suizid gesenkt. Können Sie sagen, dass jeder, der mit Dignitas aus dem Leben ging, dies zurecht tat?Dignitas hat die Sterbehilfe nicht institutionalisiert. Es gab schon immer Sterbehilfe, schon lange vor Exit und Dignitas: Im Mittelalter brachte der Apotheker den Theriak, eine Opium-Zubereitung, ans Bett eines Schwerleidenden. Sie übersehen zwei wichtige Punkte: Erstens ist Suizidbegleitung, wie man sie bei Exit und Dignitas kennt, nicht dasselbe wie ein üblicher Suizid, und zweitens wurde Dignitas vor allem deshalb gegründet, weil der damalige Exit-Vorstand und die Exit-Generalversammlung es im Jahre 1998 abgelehnt haben, sich vermehrt dafür einzusetzen, dass Suizide und Suizidversuche vermieden werden können. Die Suizidversuchsprävention ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit.

Ihre Gegner sagen, sie hätten aus dem Sterben auch ein Geschäft gemacht. In der Kritik steht etwa, dass Sie Spenden von Menschen annehmen, die mit Dignitas aus dem Leben scheiden.Die Arbeit von Dignitas – Beratung, Büro und Begleitung – wird mittlerweile von 23 Teilzeitbeschäftigten geleistet. Also braucht es Einnahmen. Freitodbegleitungen sind im Übrigen kein Geschäft. Die gesamten Aufwendungen von Dignitas im Jahre 2016, geteilt durch die im selben Jahr erfolgten 201 Freitodbegleitungen, ergeben einen Kosten-Durchschnitt von gegen 15 000 Franken pro Fall. Dignitas berechnet den Mitgliedern höchstens 10 500 Franken, der Rest wird aus allgemeinen Mitgliederbeiträgen gedeckt.

Nach der Vereinsgründung ist Ihr Vermögen stark gewachsen, wie der Beobachter 2010 in einem Artikel nachzeichnete. Für einzelne Vermögenszuwächse konnten Sie keine Erklärung beibringen, etwa um 617 000 Franken von 2005 bis 2007.Mein Vermögenszuwachs beruht ausschliesslich auf Erbanfall.

Braucht es Dignitas irgendwann nicht mehr?Ziel von Dignitas ist es, irgendeinmal zu verschwinden: Wenn niemand mehr gezwungen wird, diese Freiheit ausserhalb seines Wohnsitzstaates zu suchen, braucht es uns nicht mehr. Wenn das, was wir tun, in das Gesundheits- und Sozialwesen jedes Landes integriert ist, können Dignitas, Exit und alle ähnlichen Organisationen getrost verschwinden.

Die Schweiz war früh unter den progressiven Ländern in Europa, was zum sogenannten «Sterbetourismus» geführt hat. Wie hat sich die Sterbehilfe international entwickelt?Es gibt Länder, die progressiver sind als die Schweiz, wie zum Beispiel die Niederlande, Belgien, Luxemburg und Kanada. Und es handelt sich nicht um Sterbetourismus, sondern – wenn überhaupt – um einen Medizin- und Freiheitstourismus. Menschen suchen die Freiheit, ihr Leben und damit auch ihr eigenes Lebensende abseits von Verboten gestalten zu können. Wo ein Gefälle herrscht, bewegen sich Menschen vom zu stark Reglementierten zum Freiheitlicheren. Das war und ist bei der Abtreibung oder der gleichgeschlechtlichen Ehe genau dasselbe. Deshalb arbeitet Dignitas international, und primär auf dem juristischen Parkett: die Rechtslage in anderen Länder muss so geändert werden, dass die Menschen dort ebenfalls Wahlfreiheit erlangen, ohne ihr Land verlassen zu müssen.

«Wenn niemand mehr gezwungen wird, diese Freiheit ausserhalb seines Wohnsitzstaates zu suchen, braucht es uns nicht mehr.»

Die Palliativpflege hat in den letzten Jahren grosse Fortschritte gemacht. Die Zahl der Diagnosen, die Sterbehilfe – nach ihrer Auslegung – moralisch rechtfertigen, sinkt also.Es geht nicht um eine moralische, sondern um eine persönliche Sache. Es liegt an jedem einzelnen Menschen, zu entscheiden, wie er sterben will. Wir arbeiten mit einigen Palliativmedizinern zusammen, verweisen täglich Patienten an sie – gleichzeitig kommen viele zu uns, die ausgezeichnet palliativ versorgt werden und doch die ultimative Wahlfreiheit in Anspruch nehmen wollen. Es ist eben nicht ein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch.

Sie befassen sich nicht nur mit dem Tod, sondern auch mit dem Beginn des Lebens und plädieren für weitreichende Freiheitsrechte der Eltern. Wann hat ein Fötus eigene Rechte?Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat es bislang abgelehnt, einem Fötus eigene Menschenrechte zuzuerkennen. Im Zivilrecht jedoch kann ein noch zu gebärender Mensch – der Nasciturus – schon vor der Geburt beispielsweise ein Haus kaufen; der Kauf gilt aber nur, wenn er lebend geboren wird.

Sehen Sie auch Gefahren in der Reproduktionsmedizin?Die Reproduktionsmedizin ist ein weites Feld, und oft beruhen Gefahrenargumente wiederum auf nichts anderem als religiös-weltanschaulichen Haltungen. Die Diskussion darüber muss deshalb bei jeder Art von Reproduktionsmedizin sorgfältig abklären, ob und in welcher Weise Interessen der Gemeinschaft derart betroffen sein können, dass sich eine Einschränkung nach den Regeln der Europäischen Menschenrechtskonvention rechtfertigen lässt. Im Streitfall entscheidet darüber der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte letztinstanzlich.

Dass Eltern die totale Kontrolle über den Genpool ihrer Kinder erhalten, ist noch Sience Fiction. Trotzdem: Würden Sie in einem solchen Szenario für unbegrenzte Rechte der Eltern eintreten?Unbegrenzte Rechte gibt es grundsätzlich nicht; jedes Recht geht nur so weit, als es nicht Rechte Anderer oder wichtige Interessen der Gesellschaft beeinträchtigt.

Was heisst das in der Praxis: Wenn Eltern wählen könnten, ob ihr Kind sprachlich oder mathematisch stark begabt sein soll, sollten Sie diese Wahl haben?Persönlich meine ich, dass dieses Kriterium weder Rechte Dritter noch Interessen der Gemeinschaft verletzt.

Zum Schluss eine sehr persönliche Frage. Sie sind jetzt 84. Haben Sie Angst vor dem Tod?Vor dem Tod muss niemand Angst haben. Denn erstens kommt er sowieso und zweitens, damit er nicht ein langsames, leidvolles Wegdämmern wird, kann man ja mittels einer Patientenverfügung vorsorgen. Also selbst bestimmen, wofür man selbst Verantwortung übernehmen muss.

Vortrag von Ludwig A. Minelli: «Selbstbestimmt von der Geburt bis in den Tod», heute 19.30 Uhr, ZHAW, Technikumstrasse 9, Eingang TP.